Zwischen „Hosianna“ und „Kreuzige ihn“

Aus der christlichen Tradition kommt die Spruchweisheit, daß nur ein kurzer Weg zwischen „Hosianna“ und „Kreuzige ihn“ besteht. Damit bezieht sie sich auf jene Phase der Evangelien, in denen Jesus Christus am Ende seines Lebensweges unter den Hosianna-Rufen (Hosianna: „Hilf doch!“, „Hilf bitte!“) des Volkes in Jerusalem einzieht und nur wenige Tage später auf Zuruf des gleichen Volkes dem Henker überantwortet wird, der ihn ans Kreuz schlägt. Die höhnische Aufschrift über ihm: „Jesus von Nazareth – König der Juden“.

Gewiß, der SPD-Politiker Karl Lauterbach ist von den Medien nicht zum Messias erhoben worden, aber doch zu einer Art Erlösergestalt, die uns aus der Krise der Corona-Pandemie führen soll. Nach jahrelangem Dasein als einfacher Bundestagsabgeordneter hatte er nach der Bundestagswahl endlich den Höhepunkt seiner politischen Karriere erreicht: Im Kabinett der von Olaf Scholz geführten Bundesregierung nahm er den Posten des Gesundheitsministers ein.

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Die Medien waren voll des Lobes für Lauterbachs Aufstieg. Geradezu hymnische Lobgesänge kamen aus den den strengen Corona-Kurs stützenden Mainstreammedien. Auch die nordhessische Monopolzeitung HNA (Hessische/Niedersächsische Allgemeine) bot in einem peinlich zu lesendem Elaborat geradezu schleimige Stilblüten. Nach nur wenigen Wochen im Amt urteilte offenbar in Abwesenheit eines kritischen Sachverstandes am 10. Januar der Leiter des Kasseler Lokalredaktion Florian Hagemann:

Lauterbach hat es in wenigen Wochen im Amt längst zu King Karl geschafft… Lauterbach ist omnipräsent, er ist Karl Überall. (…) Das ist insofern erstaunlich, als dass es diese Art von Politiker bisher eigentlich gar nicht gab. Lauterbach ist nämlich immer noch in erster Linie Professor, der die Dinge versucht, mit seinem Hintergrund als Wissenschaftler zu erklären – untermauert mit dem Hinweis auf diese und jene Studie. Seine Vergangenheit verleiht dem Mediziner dabei die nötige Glaubwürdigkeit. (…)

Dass sehr viele Menschen Lauterbachs Art honorieren und sie sich nach genau einem solchen Fachmann im Amt sehnen, ist ein gutes Zeichen. Die hervorragenden Umfragewerte für einen wie Lauterbach könnten die Besetzung von Ministerposten schließlich nachhaltig verändern – und damit auch den politischen Stil an sich. Der kraftprotzende Machtpolitiker vom Schlage Schröder ist heute sowieso längst Außenseiter und wirkt von vorgestern. Olaf Scholz hat es nicht mit Wumms ins Kanzleramt geschafft, sondern als eine Art zweite Angela Merkel. Vizekanzler Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner fallen eher durch ihre smarte Art auf als durch Gebrüll – der philosophierende Welterklärer Habeck freilich mehr als der temperamentvollere Lindner. Die Beliebtheitswerte von Karl Lauterbach erreichen aber auch sie nicht. Womöglich aus einem einfachen Grund: Weil Karl Lauterbach sich nicht verstellen muss, um einfach Karl Lauterbach zu sein.

HNA vom 10. Januar 2022

Warnende Vorbilder für derart medial gehypte Höhenflüge, die wie Ikarus nach zu starker Annäherung an die Sonne schnell und schmerzhaft auf den Boden der Tatsachen fallen, gab es bis dahin genug: Karl-Theodor zu Guttenberg, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere wegen einer gefälschten Dissertation aus dem Amt des Verteidigungsministers flog, und Matthias Platzek, der mit viel Vorschußlorbeeren aus den Medien bedachte SPD-Vorsitzende, der aber nach nur einem halben Jahr der Überforderung aus dem Amt floh, sind nur zwei prominente Beispiele.

Denn inzwischen dreht sich der Wind aus der Wissenschaft und den dem Mainstreammedien gegen Lauterbach. Seine fortlaufende Masche, apokalyptische Sirenengesänge vorzutragen über die unvorhersehbaren und rein spekulativen Gefahren aus der Zukunft, in der sich das Coronavirus zu einer „Killervariante“ entwickeln würde, haben offenbar bei nicht wenigen Experten den Geduldsfaden reißen lassen. Und das erstaunliche ist: Aus den Mainstreammedien stellt sich kaum einer schützend vor den Minister.

In der HNA vom 20. April waren nun in der „Standpunkt“-Kolumne aus der Feder von Ulrich Riedler folgende erstaunliche Worte zu lesen:

Das Gesundheitsministerium zählt gewiss nicht zu den einfachsten Ressorts der Bundespolitik. (…) Und es erweist sich erst recht in Krisenzeiten mitunter als halsbrecherisch. Zuletzt stürzte ein Hoffnungsträger der Christdemokraten darüber. Dessen SPD-Kollege und Nachfolger Karl Lauterbach ist nun auf dem besten Wege, es Jens Spahn gleich zu tun. (…)

Seither hat sich Lauterbach Mühe gegeben, in der Welt der Realpolitik zu reüssieren, doch einiges mutet bislang befremdlich an. Erst ließ er sich beim Thema des Endes der Corona-Isolationspflicht im Kabinett die Butter vom Brot nehmen, um diese Lockerung wenig später wieder zu kassieren – im Fernsehen. Nun warnt er in der „Bild“-Zeitung vor Killerviren im Herbst, was ihm erneut massive Kritik einbringt.

Wie ministrabel ist Lauterbach überhaupt? Noch immer tut er sich schwer damit, dass man genau abwägen muss, wo man sich in welcher Form äußert. Auftritte in Talk-Shows und Interviews für die Boulevard-Presse sind eher hinderlich, wenn es um Strategien der Pandemie-Bekämpfung geht.

Ein Politiker unterscheidet sich vom Wissenschaftler nicht nur durch Dickfelligkeit, sondern auch durch Pragmatismus und das Gespür für richtiges Timing. All dies fehlt dem Experten Lauterbach noch. Er täte gut daran, es schnell zu lernen.

HNA vom 20. April 2022

Gerade einmal 101 Tage liegen zwischen den beiden vollkommen konträren „Standpunkt“-Kolumnen Hagemanns, der Lauterbach zum König krönte, und Riedlers, der ihn entzauberte. Noch ruft niemand nach Entlassung des Ministers, aber es sieht ganz danach aus, als ob der als Adler gestartete Lauterbach gerade dabei ist, seinen Sinkflug zum Bettvorleger hinzulegen. Von „König Karl“ wie HNA-Redakteur Hagemann oder gar „Karl der Große“ (DIE ZEIT) will niemand mehr reden.

Inzwischen dürfen wir uns verwundert die Augen reiben, wenn uns auf WELT Online die Journalistin Anna Scheider eröffnet, daß Karl Lauterbach in der Bundestagsfraktion der SPD alles andere als beliebt ist. Man beginnt zu ahnen, welch vergiftetes ausgerechnet von jenen auf die Oppositionsbänken verbannten Unionspolitikern kam, die Lauterbach als Idealbesetzung für das Gesundheitsressort empfahlen, so als ginge es ihnen in Wahrheit darum, den „Laden“ von innen her aufzulösen.

Es lichten sich also zunehmend die Schleier und offenbaren uns das Bild eines Mannes, der allein durch seine Talkshowpräsenz als Endzeitprediger und Angsttrompeter glänzte, aber nie als kompetenter Experte, der fähig wäre, ein Ressort wie das Gesundheitsministerium zu leiten, geschweige denn, eine Krankheit wie Covid-19 realistisch einzuschätzen. In seinem Auftreten gab Lauterbach lediglich den Komplementär für die in ihn gesteckten Erwartungen der Medien, mehr aber auch nicht.

Wagen wir zum Abschluß zwei Prognosen:

Karl Lauterbach wird sein Amt nicht bis zum Ende der Legislaturperiode ausüben. Sein Ende als Minister wird alles andere als rühmlich sein.

Und die Mainstreammedien, denen wir seinen irrealen Aufstieg zu verdanken haben, werden dann als allerletzten in sich gehen und selbstkritisch fragen, welchen Beitrag sie zu diesem absehbaren Desaster geleistet haben.

Stalins Weißwäscher in der HNA

Es vergeht keine Woche, in der die HNA nicht wenigstens an einem Tag die Gelegenheit ergreift, einem mit ihrer Machart und tendenziösen Schlagseite den morgendlichen Kaffee bei ihrer Lektüre wieder hochzutreiben. Gestern war es im Leserforum der Leserbrief eines gewissen Klaus Bremer aus Kassel, der einem auf den Magen schlagen konnte.

Herr Bremer ereiferte sich darin über die auf Putin gemünzte Formulierung vom „Wiedergänger Stalins“ eines anderen Lesers. Stalin, so Bremer, genoß „trotz verschiedener Fehler international hohes Ansehen“. Sogar das Time Magazin kürte ihn 1943 zum „Man of the Year“. Erst die „kalten Krieger“ hätten Stalin nach Ende des WK II „systematisch in den Dreck“ gezogen: „Ein Vergleich mit Putin, der das Recht der Völker mit Füßen tritt und von einem reaktionären, großrussischen Reich träumt, verbietet sich also von selbst.“

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HNA vom 11. März 2022

Nun, da muß ich Herrn Bremer recht geben. Putin kann man vieles vorwerfen, aber keinen millionenfachen Massenmord, etwa durch staatlichen Terror (u.a. an Tausenden polnischen Kriegsgefangenen im Massaker von Katyn), GULAGs oder auch gezielt herbeigeführten Hungerkatastrophen. Ansonsten hat auch Stalin das Völkerrecht getreten und Angriffskriege angezettelt. Die Erinnerung an den Winterkrieg 1939 ist den Finnen tief in ihrer Erinnerungskultur verankert und auch der Hitler-Stalin-Pakt sollte hier nicht vergessen werden, der das gesamte Baltikum Stalins „progressiven“ Sowjetimperium überschrieb.

Die kruden Ansichten des Geschichtsschwurblers Bremer werden verständlicher, wenn man folgendes über ihn erfährt: Er ist seit Jahrzehnten aktives Mitglied der MLPD (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands), einer vom Verfassungsschutz beobachteten, linksextremen Polit-Sekte, für die er sich schon mehrfach als Bundestagskandidat zur Verfügung stellte (zuletzt 2021). Ein herausragendes Merkmal der MLPD ist ihre ausgeprägte Sympathie für Massenmörder wie Mao Zedong oder eben Stalin. Stalins Nachfolger Chruschtschow, der den Prozeß der Entstalinisierung einleitete, gilt ihnen selbstverständlich als Verräter.

Aber wenn wir eine Verbindung zwischen Stalin und Putin suchen, so ist der Weg der beiden zueinander bemerkenswert kurz. In den vergangenen Jahren erlebte Russland eine unheimliche Renaissance des Stalin-Gedenkens, in dessen Tradition sich der gegenwärtige Kreml-Herrscher zumindest in der Geschichtsdarstellung und beim Militär offenbar implizit stellt.

Gar so weit geht die MLPD allerdings nicht. Aber immerhin stellte sie vor zwei Jahren eine Statue des Stalin-Vorgängers Lenin vor ihrer Zentrale in Gelsenkirchen aus, wo sie bis heute ungestört steht. Und für all diejenigen, die an dieser Stelle den „guten Lenin“ gegen den „bösen Despoten Stalin“ in Stellung bringen, möchte ich ein Zitat des russisch-sowjetischen Reformpolitikers Alexander Jakowlew (1923-2005) anführen:

„In der Geschichte hat es keinen Menschen gegeben, der Rußland mehr haßte, als Uljanow-Lenin. Was immer er anfaßte, verwandelte sich in einen Totenacker, in ein Riesenfeld mit menschlichen, sozialen und ökonomischen Gräben. Alle wurden ausgeraubt – die Lebenden wie die Toten.“

Es ist mühselig, darüber zu spekulieren, wie jemand wie der Stalin-Apologet Bremer allen Fakten zum Trotz an seinem Weltbild festhalten kann. Leute wie er leben in ihrer eigenen Realität, in der sie nur schwer zu erreichen sind, eher gar nicht. Diskussionswürdiger ist aber vielmehr die Frage, wie eine sich seriös gebende Zeitung wie die HNA dazu kommt, einem wie Bremer ein Forum für seine Geschichtsklitterungen zu eröffnen, während hingegen die Moderation auf HNA-Online schon einen Glückwunsch für den Freispruch von Prof. Kutschera in seinem Gerichtsverfahren wegen Volksverhetzung mit einem Bann unterlegt.

Dabei ist Bremer in der Redaktion kein Unbekannter. In der HNA-Ausgabe vom 25.11.2000 erhielt er als Mitbegründer der „AUF Kassel“, ein angeblich bürgernahes Wahlbündnis, das in Wahrheit eine Tarnorganisation der MLPD ist und inhaltlich auch ihre Handschrift trägt, eine ausführliche Möglichkeit der Selbstdarstellung. An Bremers dabei offen vorgetragenen MLPD-Hintergrund hatte sich schon damals niemand in der HNA-Redaktion gestört.

HNA vom 25.11.2021

Also: Wie kommt es, daß der HNA hier jegliches Problembewußtsein abgeht? Man sollte sich über das Bildungsniveau heutiger Mainstreamjournalisten nicht allzu viele Hoffnungen machen. Hauptsache man weiß, wie korrekt gegendert wird, auch wenn einem der „Holodomor“ ein Fremdwort ist. Gerade beim Nachwuchs läuft alles auf die 3G-Regel des Haltungsjournalismus hinaus: „Gender, Greenpeace und Gerechtigkeit“. So kann es kaum verwundern, wenn schließlich ein Leserbrief wie der von Bremer unkommentiert den Weg in die Zeitung findet.

Solche Entgleisungen sind aber nur ein Symptom, das ein bezeichnendes Licht auf die mentalen Verhältnisse in der HNA wirft, wo die Indifferenz nach Links Trumpf ist und selbst die mutmaßliche Anführerin eines Antifa-Rollkommandos zur „Antifaschistin der Herzen“ geadelt wird. Schärfer ist man hingegen zur anderen Seite, wo jeder Kritiker der Corona-Maßnahmen als „Querdenker“ diffamiert und jeder Impf-Skeptiker zum „Schwurbler“ degradiert wird.

Übrigens konnte sich die MLPD-Tarnliste „AUF Kassel“ immerhin fest im Kasseler Stadtteil Rothenditmold etablieren und stellt dort – auch dank der Unterstützung durch die Vertreter der Altparteien – mit dem MLPD-Mitglied Hans Roth sogar den Ortsvorsteher. Aber wäre an Roths Stelle jemand mit irgendwelchen rechten Verbindungen in dieses Amt gewählt worden, das mediale Trommelfeuer der HNA wäre nicht eher verstummt, als bis diese Wahl rückgängig gemacht worden wäre.

Stéphane Courtois (Autor), Nicolas Werth (Autor), Jean L. Panné (Autor), Andrzej Paczkowski (Autor), & 8 mehr
Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror
987 Seiten; 1998