Der heilige Kaiser am Ende der Zeit

In Bamberg gedenkt eine Ausstellung des Mittelalter-Kaisers Heinrich II.

Daniel Körtel

Lediglich rund 80.000 Einwohner umfasst die oberfränkische Kleinstadt Bamberg. Und doch war sie im Mittelalter über eine längere Phase das politisch-religiöse Zentrum des frühmittelalterlichen Deutschlands. Kaiser Heinrich II. (973/978 – 1024) gab ihr den entscheidenden Schub, als er sie 1007 zum Sitz des neugegründeten Bistums Bamberg erhob. Für den Bayernherzog aus einer Seitenlinie der Ottonen, der 1002 nach dem unerwarteten Tod seines Vetters Otto III. die Königskrone ergriff, war sie die Lieblingsresidenz.

Gemeinsam mit seiner Gemahlin Kunigunde, mit der er ein einzigartiges Duo bildete, formte der zusätzlich 1014 in Rom zum römisch-deutschen Kaiser gekrönte Herrscher das Reich nach seinem Selbstverständnis als von Gott gesandter Regent gemäß christlicher Prinzipien, wobei er sich insbesondere der Reform kirchlicher Institutionen wie der Klöster verschrieb. Diese war für viele seiner Zeitgenossen in Anbetracht der millenaristischen Erwartungen ihrer Zeit über die baldige Wiederkehr Christi überfällig.

Aus Anlaß des 1000. Jahrestages des Todes ihres großen Förderers, der gemeinsam mit Kunigunde im Bamberger Dom bestattet wurde, eröffnete im Oktober vorigen Jahres das Historische Museum der Stadt mit „Vor 1.000 Jahren. Leben am Hof von Kunigunde und Heinrich II.“ eine Ausstellung über das Leben des Herrscherpaares und der Menschen ihrer Zeit.

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Die von der Museumsdirektorin Dr. Kristin Knebel im Begleitband betonte „Vielfalt und Differenziertheit, Dynamik und Mobilität der mittelalterlichen Gemeinschaften“, die gegen das inzwischen überkommene Bild dieses scheinbar dunklen und rückschrittlichen Zeitalters steht, werden durch die Exponate in der Ausstellung perfekt abgebildet. Gleich zu Beginn werden Werkzeuge aus dem Dombau vorgestellt, an deren Form sich bis heute nicht wesentlich viel geändert hat.

Spielsteine und -würfel sowie Schachfiguren belegen, daß durch alle Schichten das Leben nicht allein durch Arbeit bestimmt war, auch wenn von einer Trennung von Arbeit und Freizeit im modernen Sinne nicht die Rede sein kann. Vor allem das Schachspiel nahm für den Adel eine wichtige soziale Funktion ein, denn es war durchaus von Bedeutung, wer es mit wem spielte.

Wie ein optischer Gegensatz zum Klischee des „dunklen Mittelalters“ wirkt die bunte Wand mit den 28 mit allen Farben des Lichtspektrums gefärbten Stoffmustern. Unter der Verwendung heimischer Pflanzen und Insekten wußte das Volk durchaus Farbe in seinen Alltag zu bringen.

Das Aufkommen von Münzen und ihre Verbreitung markieren den wirtschaftlichen Aufschwung, den Europa um die Jahrtausendwende nahm. Das dafür nötige Silber kam aus dem Reichsgebiet. Doch indische Münzen zeigen Handelskontakte sogar bis nach Asien auf.

Breiter Raum wird in der Ausstellung auch Heinrichs Kriegszügen gewidmet. Obwohl sich Heinrich vor allem als christlicher Herrscher nach innen verstand – missionarisch nach außen war er nicht aktiv -, so wenig hatte er Bedenken, gemeinsam mit den heidnischen Liutizen gegen den gleichsam christlichen Polen-König Boreslaw Chrobry vorzugehen, zur Empörung der Zeitgenossen! Gezeigt werden die waffentechnischen Ausrüstungen der beteiligten Parteien, wobei der Kettenpanzer eines Ritters besonders eindrucksvoll wirkt. Videoeinspielungen mit Schauspielern wiederum stellen die Sorgen und Nöte der zum Heeresdienst verpflichteten Bauern dar.

Zum Ende des Rundgangs kommt der Besucher zu den Repliken der Reichskleinodien aus Reichskrone und Heiliger Lanze, in die angeblich ein Nagel aus dem Kreuz Christi eingearbeitet sein soll. In einer Zeit, in der Macht vor allem auf Symbolen beruhte, waren sie von enormer Bedeutung. Heinrich vermochte sich erst durch den raschen Zugriff auf die Heilige Lanze seinen entscheidenden Vorsprung zum Königtum zu sichern.

Heinrich II. verband die Gründung des Bistums Bamberg nicht allein als Werk zu seinem Seelenheil. Ohne Nachkommen, verschaffte er sich damit als letzter der Ottonen-Dynastie damit ein weitreichendes Gedenken, dem in seinem Nachleben besondere Ehrung zuteilwurde. Die Kinderlosigkeit wurde sakral überhöht als Folge einer „Josephsehe“, in der Heinrich und Kunigunde in einem besonders religiösen Lebenswandel dem Vorbild der Jesus-Eltern Maria und Joseph nacheifernd, sexuell nicht miteinander verkehrten. Dies und ihr Einsatz für die Kirche führten zu ihrer Heiligsprechung, zuerst im Jahr 1146 der Heinrichs – als einzigem mittelalterlichen Kaiser – und nachfolgend in 1200 Kunigunde, wobei diese in ihrer Popularität inzwischen ihren Gatten weit überholt hat.

Die Ausstellung „Vor 1.000 Jahren. Leben am Hof von Kunigunde und Heinrich II.“ ist bis zum 27. April 2025 in Bamberg im Historischen Museum, Domplatz 7, täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr zu sehen. Der Katalog mit 256 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen kostet im Museum 29,00 Euro.

Die perverse Macht der Presse

„Stellen Sie sich vor, Sie schlagen die Morgenzeitung auf und Ihr Leben wäre die Schlagzeile der Titelseite. Und was da steht, ist exakt. Aber es ist nicht die Wahrheit.“ (deutscher Original-Trailer „Die Sensationsreporterin“)

YT-Trailer „Die Sensationsreporterin“ (1981)

Hollywood-Titan Paul Newman war Hauptdarsteller in einer ganzen Reihe an Filmen, die zu Klassikern wurden. Sei es „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ (1958), „Der Unbeugsame“ (1967) oder „Die Farbe des Geldes“ (1986). Doch aus Anlaß seines 100. Geburtstages – Newman wurde heute vor 100 Jahren am 26. Januar 1925 in Shaker Heights, Ohio geboren – soll einer seiner unbekannteren Filme vorgestellt werden, der dennoch eine bis heute anhaltende beklemmende Aktualität über die Macht der Presse zur sozialen Existenzvernichtung entfaltet. Die Rede ist von dem Film-Drama „Die Sensationsreporterin“ von 1981.

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Newman spielt darin Mike Gallagher, einen Spirituosen-Großhändler in Miami/Florida. Gallagher führt einen einwandfreien Lebenswandel und gerät dennoch in das Visier von Staatsanwalt Ellliot Rosen (Bob Balaban). Seit dem spurlosen Verschwinden des Gewerkschaftsfunktionärs Joey Diaz steht der eifernde Staatsanwalt unter Druck, in der Sache voranzukommen. Gallagher soll für ihn dazu Mittel zum Zweck werden. Denn der ist der Spross einer Mafia-Familie, von deren Aktivitäten sich der gesetzestreue Gallagher fernhält. Gallagher soll entweder als Täter überführt oder derart unter Druck gesetzt werden, daß er die entscheidenden Hinweise zu dessen Ergreifung liefert.

Rosen verfällt dazu auf einen Trick. Scheinbar unbeabsichtigt läßt er bei einem Bürotermin die Reporterin Megan Carter – dargestellt von der Oscar-Preisträgerin Sally Field („Norma Rae – Eine Frau steht ihren Mann“) – Einblick in die Akte Gallaghers nehmen. Und so nehmen die Dinge ihren Lauf.

Carters Zeitung berichtet, daß gegen Gallagher in der Sache Diaz ermittelt werde. Die Quelle bleibt dabei schwammig. Die Journalisten sind sich unsicher, doch ihr Justiziar beschwichtigt und führt vor, warum man nicht nach einer Leiche im Keller graben muß, um jemanden in Verruf zu bringen:

„Wenn Zeitungen immer nur die Wahrheit drucken würden, dann wären Anwälte vollkommen überflüssig. Wir dürfen über Mr. Gallagher behaupten, was wir wollen, und er ist machtlos, uns Schaden zuzufügen.“

Gallaghers Ruf gerät unmittelbar unter die Räder. Die Gewerkschaft beginnt sein Geschäft zu bestreiken. Verzweifelt versucht Gallagher gegenüber Carter seine Lauterkeit zu beweisen. Seine Situation ist geradezu kafkaesk, denn Carters Zeitung weigert sich weder die Quelle zu benennen, noch bestätigen die Behörden, überhaupt zu ermitteln. Doch es soll noch schlimmer kommen.

Teresa Perrone (Melinda Dillon), eine offenkundig psychisch schwer belastete Freundin Gallaghers, der er helfend zu Seite steht, vertraut sich Carter an. Denn sie kann für Gallagher zum Zeitpunkt von Diaz‘ Verschwinden das entscheidende Alibi liefern. Doch dazu müßte sie ein persönliches Geheimnis preisgeben, dessen Offenlegung ihr gefährlich würde. Carter nimmt darauf jedoch keine Rücksicht, ohne die Folgen zu bedenken. Verhaltene Skrupel wischt ihr Vorgesetzter beiseite und versteckt sich hinter der apodiktischen Floskel: „Das Volk hat ein Anrecht das Alibi zu erfahren“. Mit dem absehbaren Suizid von Perrone erreicht das Drama seinen vorläufigen Höhepunkt.

Gallagher fädelt nun eine geschickte Intrige ein, mit der er zwei Ziele verfolgt: Die Reinwaschung seines Namens und Rache an den Verantwortlichen für Perrones Suizid.

Regisseur Sidyney Pollack (1934 – 2008) war Hollywoods Spezialist für die Umsetzung gesellschafts- und sozialkritischer Themen in gutes Kino. Zu seinen bekanntesten Werken gehören „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß“ und „Die drei Tages des Condor“. „Die Sensationsreporterin“ ist eine weitere kreative Perle, in Pollacks wie Newmans Lebenswerk, die fast in Vergessenheit geraten ist. Ein Film aus einer Zeit, in der Hollywoods Studios sich noch nicht dem Franchise-Wahn von Marvel und Star-Wars unterworfen haben. Es war aber auch eine Zeit, in der die Studios ein Publikum vorfanden, das echtes Kino noch belohnte.

In dem typischen, unangebrachten Selbstlob seiner Zunft lobte vor nicht allzu langer Zeit der Chefredakteur einer Lokalzeitung „die akribische Recherche und die Wahrheitsliebe“ seiner Journalisten. Wie so oft ist die Realität weitaus komplexer als es dieses vollkommen überhöhte Selbstbild nahelegt, eher grau statt schwarz-weiß.

1981, als „Die Sensationsreporterin“ auf die Leinwand kam, dachte man wahrscheinlich nicht im Traum daran, daß der Journalismus einmal einen Claas Relotius hervorbringen würde. Zwar kam 1983 der Skandal um die „Hitler-Tagesbücher“ im STERN auf, doch war dieses Ereignis noch kein Beleg für einen systemischen Ausfall wie es Relotius für den SPIEGEL darstellte. Ebenso wenig war absehbar, daß die als journalistischer Verein getarnte, regierungsnahe Aktivistengruppe Correctiv mit ihren Märchenerzählungen über ein angeblich rechtsextremes „Vertreibungstreffen“ in Potsdam fast ein ganzes Land in Aufruhr bringen könnte. Doch die Fähigkeit und der unbedingte Wille zur Existenzvernichtung, zum instrumentellen Mißbrauch von Fakten, so daß die Wahrheit dahinter nicht mehr erkennbar wird – der war bereits damals angelegt.

Die Sensationsreporterin (1981)
1 Stunde und 56 Minuten
DVD, BluRay und Streaming
Mit Paul Newman, Sally Field

Karriere zwischen Glück und Talent

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 5/25 / 24. January 2025

Karriere zwischen Glück und Talent
Filmgeschichte: Vor hundert Jahren wurde der Hollywood-Schauspieler Paul Newman geboren

Daniel Körtel

Wie sehr kann doch der Zufall den Erfolg eines Lebenswegs bestimmen. Als Paul Newman nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Kenyon College in Ohio eine Ausbildung anstrebte, war Schauspiel nicht seine erste Wahl. Erst der Rauswurf aus dem Footballteam nach einer Studentenschlägerei brachte ihn zur Theatergruppe. Zwar hatte er vorher schon erste Schauspielerfahrungen gesammelt, doch erst hier sollte sich sein Talent, das ihn auf einen Karriereweg zu den Größten Hollywoods führen sollte, voll entfalten.

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Geboren wurde Paul Newman am 26. Januar 1925, vor genau 100 Jahren, in Shaker Heights, einer Vorstadt von Cleveland. Sein Vater war ein alteingesessener Geschäftsinhaber für Sportartikel, während seine Mutter in ihren Jugendjahren aus Habsburg-Österreich einwanderte. Die Familie war wohlhabend und schaffte es sogar unbeschadet durch die schweren Jahre der Weltwirtschaftskrise. Die jüdische Herkunft väterlicherseits – seine Mutter war eine „atheistische Katholikin“ – spielte in der säkular eingestellten Familie keine Rolle. Sie versperrte ihm jedoch aufgrund eines in dieser Zeit weitverbreiteten Antisemitismus manche Wege.

Am Kenyon College der freien Künste zeigte sich, wie sehr Newman – zu seiner eigenen Überraschung – mit seinem guten Aussehen und der energiegeladenen Bühnenpräsenz das Publikum in seinen Bann ziehen konnte. Erste Theaterengagements, auch am Broadway, machten Hollywood auf ihn aufmerksam. Der Durchbruch kam 1958 mit dem Erfolg des Südstaatendramas „Die Katze auf dem heißen Blechdach“, das ihm eine erste Oscar-Nominierung eintrug. Weitere Kassenschlager folgten, und Newman zählte mit Richard Burton und Liz Taylor zu den ersten Schauspielern mit Millionengage.

YT: Tailer „Die Katze auf dem heißen Blechdach“

Newman sprach vor allem zwei Gruppen an: mit seinem Sexappeal die amerikanischen Frauen und seiner souverän-lässigen Art die amerikanischen Männer, wie sie sich am liebsten sahen. So wie in „Der Unbeugsame“ (1967), in welchem Newman einen Sträfling darstellte, der sich gegen ein rigides Gefängnissystem zur Wehr setzt.

Ab den siebziger Jahren war Newman soweit etabliert, daß er sich die Rollen freier aussuchen konnte. Es trieb ihn dabei stärker ins Charakterfach. Ein Höhepunkt war dabei „The Verdict“ von 1982, in welchem er die Rolle eines heruntergekommenen, alkoholkranken Anwalts in einem Schadensersatzprozeß übernahm. In diesem Meisterwerk von Sidney Lumet übertraf er sich selbst, indem er in einer Art Selbstoffenbarung viele seiner eigenen Emotionen preisgab. Wieder wurde er für den Oscar als bester Hauptdarsteller nominiert – und wieder ging er leer aus.

Auf sich selbst hatte er immer den kritischsten Blick

Die begehrte Trophäe erhielt er dennoch wenige Jahre später für „Die Farbe des Geldes“ (1986), ein spätes Sequel seines Dramas „Haie der Großstadt“ (1961) um einen um Geld spielenden Poolbillardspieler. Zusammen mit dem damals noch jungen und aufstrebenden Tom Cruise wirkte der Film von Martin Scorsese wie eine Staffelübergabe zweier Schauspielgenerationen.

Gleichwohl blieb Newmans Privatleben nicht von persönlichen Tragödien verschont. Scott, sein Sohn aus erster Ehe, starb 1978 an einer Überdosis Drogen. So verband ihn mit anderen Hollywood-Größen seiner Generation wie Marlon Brando und Gregory Peck das problembeladene Verhältnis zu einem Sohn, der anscheinend an der schweren Bürde seines berühmten Vaters zugrunde ging.

Zunehmend problematisch entwickelte sich sein exzessiver Alkoholkonsum, bis er kurioserweise durch seine Rolle im Film „Indianapolis“ (1969) in Autorennen den passenden Ersatzkick gefunden hatte, „weil die Ergebnisse so wunderbar eindeutig waren“. Mehrfach nahm er an Spitzenpositionen bis in seinen Siebzigern an bedeutenden Rennen wie in Daytona und Le Mans teil.

Bekannt wurde Newman auch für sein großzügiges karitatives Engagement, oftmals anonym. Seine Kreation „Newman’s Own“, ein mit seinem Namen und Bild auf den Flaschen versehenes Salatdressing, erbrachte Millionengewinne, die vollständig wohltätigen Zwecken zugute kamen. Und obgleich er sich selbst als „emotionalen Republikaner“ empfand, unterstützte er die Bürgerrechtsbewegung sowie den linken Demokraten und Nixon-Gegenspieler Eugene McCarthy.

Als Newman 2008 im Alter von 83 Jahren verstarb, ging mit ihm einer der größten Titanen Hollywoods, der frei von schmutzigen Skandalen blieb, integer und ohne jede Eitelkeit. Auf sich selbst hatte er jedoch immer den kritischsten Blick, so daß man von einem „Hochstapler-Syndrom“ sprechen muß, von jemande, der sein Können chronisch unterbewertet, seine Leistungen mehr dem Glück als seinem Talent zuschreibt und so als unverdient betrachtet. Vielleicht liegt hierin eine der tieferen Wurzeln seines philanthropischen Engagements, als ginge es ihm darum, etwas wiedergutzumachen. Über ihn selbst sagte später seine Tochter Melissa: „Da war jemand, der sich für einen Hochstapler hielt, für einen ganz normalen Mann mit einem außergewöhnlichen Gesicht, der das Glück auf seiner Seite hatte und weit mehr erreichte, als er sich überhaupt vorgestellt hat.“

Paul Newman
Das außergewöhnliche Leben eines ganz normalen Mannes: Die Autobiografie
Heyne Verlag
368 Seiten, 2022
25,00 EUR

„Faschistischer Sprech“

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/24 / 04. October 2024

„Faschistischer Sprech“
Ideologische Schranken: Der Kasseler Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ geht ausgerechnet an die Publizistin Carolin Emcke

Daniel Körtel

Der Kasseler Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ ist sicher nicht der bedeutendste Preis, der in Deutschland verliehen wird. Doch immerhin getragen von einem Verein aus der Bürgerschaft der nordhessischen Region und nicht von der Parteipolitik oder staatlichen Institutionen, zeichnet der erstmals 1991 unter dem Eindruck des Falls des „Eisernen Vorhangs“ gestiftete und mit 20.000 Euro dotierte Preis – symbolisiert durch eine Glasprisma-Skulptur – jedes Jahr Persönlichkeiten und Institutionen aus, „die mit ihrem Wirken den Idealen der Aufklärung – Überwindung ideologischer Schranken, Vernunft und Toleranz gegenüber Andersdenkenden – in besonderer Weise dienen“. In diesem Jahr ging der Preis an die linksliberale Publizistin und Kolumnistin der Süddeutschen Zeitung Carolin Emcke.

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In seiner Begründung teilte der Förderverein mit, Emcke erhalte den Preis „für die analytische Präzision und besonnene Haltung, mit der sie ein universalistisches Wir freilegt und den demokratischen Kompaß in dichten wie unruhigen Zeiten ausrichtet.“ Sie spreche eine Sprache, die Haß und Gewalt etwas entgegensetzen könne. Emckes umstrittener Auftritt auf der Digitalkonferenz re:publica im vergangenen Juni stand der Preisverleihung offenbar nicht entgegen. Dort hatte sie – ganz entgegen den Werten der Aufklärung – die kategorische Abschaffung von Pro-und-Kontra-Diskussionen gefordert.

Zum Festakt am vergangenen Sonntag im Opernhaus des Kasseler Staatstheaters dominierte in den Redebeiträgen und Grußworten die Sorge vor „der Gefährdung unserer Demokratie“, vor allem durch rechte Parteien, festgemacht an der chaotisch verlaufenden konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtages in der vergangenen Woche.

In ihrer Festrede lobte Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München, die Preisträgerin als jemanden, die „die Latte hochlegt und es sich selbst nicht einfach macht“. Im Hinblick auf die Erfolge von AfD und FPÖ warnte sie: „Jede Zeit hat ihren eigenen Faschismus.“

Der Philosoph Martin Saar (Goethe-Universität Frankfurt am Main) arbeitete in seiner Laudatio heraus, wie aus seiner Sicht im Schreiben der an Jürgen Habermas geschulten, promovierten Philosophin die Vernunft im Diskurs und in der Kommunikation entstehe.

In ihrer Dankesrede kritisierte Emcke die verbreitete Angst vor der „angeblichen Bedrohung“ von Abendland und Heimat durch die anhaltende Migration. In ihrer Idealvorstellung von „Demokratie als offenem Prozeß“ griff sie analog auf die „Kunst der Fuge“ von Johann Sebastian Bach zurück, ein unvollendetes und fragmentarisches Werk. Der Korpus an Grundregeln darin stehe für die Grundrechte und die Menschenwürde, die die „Feinde der Demokratie“ aushöhlen wollten. Weiterhin beklagte sie „die Pathologie unserer Zeit und in Europa, daß sie Verschiedenheit nicht aushalten kann“ und sagte schließlich unter dem Beifall des begeisterten Publikums: „Das Reden von normalen Leuten ist faschistischer Sprech.“

www.glas-der-vernunft.de

Die bretonische Außenseiterin auf Irlands Bühnen

Porträt der irischen Schauspielerin Olwen Fouéré

„They see you“, der gerade angelaufene Kinofilm des amerikanischen Filmemachers M. Night Shyamalan ist zurecht wegen seiner Mittelmäßigkeit kritisiert worden. Doch in der Besetzung in dem Plot um eine vierköpfige Gruppe, die in einem öden Betonklotz inmitten eines verwunschenen Waldes in Irland gefangen ist, ragt eine Darstellerin besonders heraus. Olwen Fouéré, die darin die gestrenge Madeline mimt, fällt schon durch ihre optische Erscheinung auf. Zwar nicht von besonders großer Statur, richten sich doch schon automatisch durch ihre wallenden weißen Haare die Blicke auf die raumfüllende Präsenz ihrer alterslosen und würdevolle Erscheinung.

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Der Gothic-Horrorfilm ist Fouérés erster bedeutender Auftritt in einer A-Produktion. Zuvor trat sie in Nebenrollen in Kino- und Fernsehfilmen wie „The Northman“ (2022) oder „The Tourist“ (2024) auf. Besonders bemerkenswert war 2022 ihre Rolle als Texas Ranger Sally Hardesty, die in dem Horrorfilm „Texas Chainsaw Massacre“ dem eine Kettensäge schwingenden Killer Leatherface entgegentritt. Wenn ihre Rollen auf der Leinwand eines gemeinsam haben, so sind es Charaktere, denen kaum ein Lächeln zu entlocken ist.

Olwen Fouéré (Quelle: Facebook)

Im vergangenen März 70 Jahre alt geworden, kann Fouéré als die bedeutendste Schauspielerin Irlands auf eine weit zurückreichende internationale Theaterlaufbahn zurückblicken, darunter so renommierte Häuser wie das Abbey Theater und das Gate Theatre in Dublin, das Londoner Royal National Theatre oder das Lincoln Center in New York. Zusätzlich übersetzte sie Stücke aus dem französischen. In ihrer Vita finden sich bedeutende Preise für ihre Leistungen und Erfolge im Theater. Erst die Covid-Pandemie, in der die Theaterbühnen dem Lockdown zum Opfer fielen, brachte ihrer Filmkarriere einen zusätzlichen Schub.

1954 in Irland geboren und aufgewachsen, liegen Fouérés eigentliche Wurzeln nicht dort. Ihr Vater, der Anwalt und Journalist Yann Fouéré, war ein prominenter bretonischer Nationalist. Nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Anklage der Kollaboration mit den deutschen Besatzern konfrontiert, wählte er das Exil im abgelegenen westirischen Connemara an der Atlantikküste, wo er eine Familie gründete und 2011 verstarb. Die Anklage gegen ihn war von geringer Substanz. Der Vorwurf der Kollaboration war seinerzeit ein effektives Instrument der französischen Zentralregierung, um den vor dem Krieg starken bretonischen Nationalismus nachhaltig zu schwächen.

Obwohl Connemara und die Bretagne durchaus gewisse Gemeinsamkeiten verbinden, fiel Yann Fouérés Tochter Olwen das Einleben nicht leicht. Ihre ersten 20 Lebensjahre verbrachte sie damit, sich in Irland zu assimilieren. Dieses Außenseiter-Dasein befähigte sie zur Schauspielkunst, wie sie der Irish Times berichtete: „Wenn du deinen Platz am Rand findest, dann ist das tatsächlich ein guter Ort zum Sein. Ich kann Einblicke nehmen und sehen, was passiert… Als ein Außenseiter, entdeckst du oder akzeptierst du, wie Identität kein fixes Ding ist. Es bewegt sich alle Zeit, es ist etwas Fließendes. Es ist sehr befreiend.“

Derzeit feiert Fouéré große Erfolge mit der Irland und Australien umspannenden Aufführung des Theaterstücks „Der Präsident“ des österreichischen Dramatikers Thomas Bernhard (1931 – 1989). Sie spielt darin die exzentrische First Lady des Diktators eines namenlosen Landes irgendwo in Europa, dargestellt von Hugo Weaving, besser bekannt als Agent Smith aus „Matrix“ und Elrond aus „Herr der Ringe“. Ihre bizarre, dekadente Existenz ist durch einen Volksaufstand auf Messers Schneide. Ein australischer Kritiker bejubelte die Produktion als „erste Klasse mit der Besetzung und einer kreativen Mischung aus australischem und irischem Talent.“

Hugo Weaving und Olwen Fouéré (Quelle: Facebook)

Die Herausforderungen des Schauspiels auf der Bühne für den Darsteller verglich Fouéré mit „einer Art von kleinem Tod“, wie bei einem Sprung von der Klippe: „Du hoffst auf Gott, daß genug Wasser am Boden der Klippe ist, worin du schwimmen kannst.“ Die dazu erforderliche mentale und körperliche Sportlichkeit erfordere einen unterschiedlichen Muskel für die Darstellung sowohl auf der Bühne als auch im Fernsehen und im Film.

Wo auch immer die bretonische Außenseiterin auf Irlands Bühnen, die alte weise Frau des irischen Theaters aufzutauchen gedenkt, wir werden noch einiges von ihr zu sehen bekommen. Auch mit über 70 Jahren ist in der Karriere der Olwen Fouéré noch viel Potential vorhanden.

Mit Gotteslob im Bollerwagen

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024

Mit Gotteslob im Bollerwagen

Reportage aus Thüringen: Wenige Wochen vor dem Katholikentag in Erfurt fand im Eichsfeld die größte Männerwallfahrt Deutschlands statt

Daniel Körtel

Beim Schlagen der Glocke, die die Gläubigen um neun Uhr zur heiligen Messe ruft, strömen die Pilger herbei. Bereits seit den frühen Morgenstunden füllt sich der Vorplatz der Kapelle des Wallfahrtsortes Klüschen Hagis im thüringischen Eichsfeld, wenige Kilometer südlich der Kreisstadt Heiligenstadt, die über die für den allgemeinen PKW-Verkehr gesperrte Wachstedter Straße herbeikommen. Es ist Christi Himmelfahrt, ein kirchlicher Feiertag, der in dieser katholischen Hochburg an dieser Stelle eine besondere regionale Bedeutung hat. Denn an diesem Tag findet die Tradition der größten Männerwallfahrt Deutschlands statt, zu der sich mehrere tausend Gläubige aus dem ganzen Eichsfeld versammeln.

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„Selig, die den Frieden preisen“ – das im Matthäus-Evangelium hinterlegte Jesus-Wort aus der Bergpredigt ist das Motto der diesjährigen Wallfahrt. Eine naheliegende Wahl in einer Zeit, in der Kriege in Osteuropa und dem Nahen Osten toben, die aber auch erfüllt ist von gesellschaftlichen Konflikten im eigenen Land, auch von Unfrieden im eigenen Leben. Und bereits auf dem Weg wird der Pilger mit Appellen zur Selbstbefragung eingestimmt: „Wie bestimmen Vorurteile dein Verhalten?“ oder auch „Bist du neidisch auf andere?“

Der Hang zwischen der Kapelle und dem Wald ist inzwischen gut gefüllt, fast ausschließlich Männer, zu denen sich auch vereinzelt Frauen gesellen. Ein älterer Wallfahrer bestätigt auf Nachfrage den nach wie vor hohen Stellenwert dieses Ereignisses für die Region, doch mit einem Augenzwinkern weist er auf die Bier- und Imbißtände unterhalb der Kapelle hin: „Es geht nicht nur um Frömmigkeit.“ Schon während des Gottesdienstes dringt ein hörbarer Geräuschpegel durch von jenen Besuchern, denen eher am Vatertag mit Bollerwagen als an spiritueller Einkehr gelegen ist.

Auch ein Büchertisch ist vorhanden. Lagen dort in den vergangenen Jahren sogar Bücher des Linken-Politikers Gregor Gysi und der früheren protestantischen Bischöfin Margot Käßmann und zur LGBTQ-Problematik in der Kirche, so stehen dieses Mal vor allem die aktuellen Titel des Journalisten Peter Hahne und des populären Buchautors Manfred Lütz sowie des früheren Papstsekretärs Georg Gänswein im Angebot.

Erstmals eingerichtet wurde die Männerwallfahrt zum Klüschen Hagis 1957 auf Initiative des katholischen Seelsorgers Ernst Göller (1906–1996). Sie sollte die traditionellen und religiösen Selbstbehauptungskräfte des Eichsfeld gegen die Bedrängung durch das atheistische SED-Regime stärken. Weit über 10.000 Pilger kamen seinerzeit zusammen. In diesem Jahr, so teilte es der für die Wallfahrt zuständige Pastoralreferent Julian Hanstein der JUNGEN FREIHEIT mit, seien es immerhin rund 7.000 gewesen, und damit mehr als die 6.500 im vergangenen Jahr.

Männerwallfahrt zum Klüschen Hagis (Eichsfeld), Himmelfahrt 2024 / © Daniel Körtel

Zu Zeiten der DDR nutzten die Bischöfe solche Wallfahrten, um in ihren Predigten der Staatsführung „durch die Blume“ Botschaften zukommen zu lassen, zuweilen auch offene Kritik. Aber auch nach dem Ende der DDR und damit dem Verschwinden der kirchenfeindlichen Repressionen kommt dem Ereignis nach wie vor über das eigentliche kirchliche „Tagesgeschäft“ hinaus eine besondere Bedeutung zu.

So stellte der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr die im ersten Grundgesetzartikel verankerte Menschenwürde in den Mittelpunkt seiner Wallfahrtspredigt. Darin verknüpfte er die Himmelfahrt Christi mit der Menschenwürde, denn so wie Christus erhöht wurde, so auch der Mensch in seiner Würde. Davon ausgehend verteidigte er das Asylrecht als ein „heiliges Recht“ und bedankte sich „bei allen, die sich um Integration bemühen, auch im Eichsfeld“.

Des weiteren ging Neymeyr auch auf den Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche ein, allerdings in scharfer Abgrenzung von Politikern, denen es dabei nur um den „Erhalt des deutschen Volkskörpers“ ginge, und betonte stattdessen: „Jede Schwangerschaft sollte ein Grund zu Freude sein.“

Doch auch in bezug auf ein für die Kirche besonders schwieriges Thema hatte der Bischof eine Botschaft parat: „Wir müssen auch in unserer Kirche lernen, die Menschen anderer sexueller Orientierung zu respektieren“, ohne allerdings diesen Anspruch näher konkret auszugestalten. Den Gläubigen gab Neymeyr eine Warnung mit, die viele überraschte: „Wer Homosexualität vehement ablehnt, der sollte sich darauf gefaßt machen, daß eines Tages sein Sohn kommt und sich als homosexuell erklärt.“

Abschließend verwies Neymeyr auf die kürzlich erfolgte Erklärung der Bischöfe zur Demokratie, ein faktischer Unvereinbarkeitsbeschluß von Christen und der AfD, ohne daß Neymeyr allerdings die Partei beim Namen nannte.

Der politische Charakter der Predigt des Bischofs irritiert viele

Der spärliche Beifall während und am Ende der Predigt deutet darauf hin, daß sie vermutlich nicht den Anklang unter den Gläubigen gefunden hat, den sich der Bischof wohl gewünscht hatte. Ein Pilger beklagte sich währenddessen hörbar über den politischen Charakter der Predigt, die ihm vorkam wie Wahlkampf, so als ob ihm darin der Artikel eins des Grundgesetzes über die Menschenwürde erklärt würde. Er fühle sich dadurch nicht mitgenommen und wies zusätzlich auf den konservativen Charakter der Eichsfelder hin, unter denen es auch AfD-Wähler gebe: „Gilt für jene die Menschenwürde nicht?“

Doch verfügt die katholische Kirche überhaupt noch über die Autorität, um in einem ihrer besonderen Stammlande die Menschen in ihrem Sinne zu lenken? Noch zu DDR-Zeiten gab es eine feste Bindung von Amtskirche und Kirchenvolk, an der sich die SED regelrecht die Zähne ausbiß. Hierfür waren auch die intakten Familienstrukturen im katholischen Milieu hilfreich. Zwar verzichtete die Kirche auf offenen Widerstand und versuchte stattdessen hinter den Kulissen ihren Einfluß geltend zu machen. In seiner umfassenden Dissertationsschrift „Rosenkranzkommunismus“ von 2019 stellt der Historiker Christian Stöber fest, daß „die SED wieder einmal die bittere Erkenntnis [erlangte], daß eine offene Antikirchenpolitik, die sich ausdrücklich gegen den katholischen Glauben richtete, dauerhaft nur schwer bis gar nicht durchzuhalten war, wollte die Partei einen größeren und nachhaltigen politischen Schaden vermeiden.“

Und vor allem der Klerus erwies sich als besonders resistent gegen die Anwerbeversuche der Staatssicherheit. Mit ihrem Eichsfeld-Plan einer forcierten Industrialisierung sollte stattdessen die strukturschwache, von kleinflächiger Landwirtschaft geprägte Region, die als unmittelbares Grenzgebiet besonders unter der Teilung litt, so entwickelt werden, daß sie von der Fortschrittsideologie der SED überzeugt werde. Dennoch ließen sich die Eichsfelder für den Sozialismus nicht gewinnen.

Das blieb auch nach außen nicht verborgen. So war es kein Geringer als Papst Benedikt XVI., der „in seiner Jugend so viel vom Eichsfeld gehört“ habe und daher im September 2011 auf seiner Deutschland-Visite auch im Eichsfeld Station machte, um so den religiösen Selbstbehauptungswillen der Eichsfelder „in zwei gottlosen Diktaturen, die es darauf anlegten, den Menschen ihren angestammten Glauben zu nehmen“, zu würdigen.

Allerdings scheint es sich auch im Fall des Eichsfelds zu bestätigen, daß – neben anderen Gründen – nach dem Wegfall einer Diktatur und damit auch den politischen Solidarisierungseffekten, die Möglichkeiten einer freiheitlichen Demokratie ernste Auflösungserscheinungen im bislang festgefügten kirchlichen Milieu zur Folge haben.

Im November 2022 bestätigte die Seelsorgeamtsleiterin des Bistums Erfurt Anne Rademacher in der Thüringer Allgemeinen, daß inzwischen auch im Eichsfeld Kirchenaustritte und nachlassende Gottesdienstbesuche zum Alltag gehören. Im Bistum Erfurt, zu dem das Eichsfeld gehört, entfielen von 1.670 Kirchenaustritten allein 543 auf diese Region. Zu den Begründungen führte Rademacher eine an, die besonders überrascht: „Gläubige treten aus der Kirche aus, um ihren katholisch geprägten und bis dahin durchaus kirchlich gelebten Glauben erhalten zu können. Diese Menschen leiden an der Diskrepanz zwischen Glaubensleben und (manchen) Kirchenerfahrungen.“

Katholiken sind im Eichsfeld die dominierende Gemeinschaft

Das Eichsfeld gehört verwaltungstechnisch zum Bistum Erfurt. Seine Sonderstellung darin wird dadurch deutlich, daß es 53,7 Prozent (2022) der Kirchenmitglieder des Bistums stellt. Vollkommen anders hingegen stellt sich die Situation in der Stadt Erfurt selbst dar. Gemäß dem Zensus von 2011 stehen hier 13.810 Katholiken gegen 29.690 Protestanten in der Minderheit, die aber gemeinsam nicht einmal annähernd soviel aufbieten können wie die 151.680 Konfessionslosen. Demgegenüber stellt der Landkreis Eichsfeld mit 71.190 Katholiken die dominierende Konfession, während sich dort 10.940 zur evangelischen Kirche beziehungsweise 18.310 als konfessionslos bekennen.

Und doch wird Erfurt, wo der Reformator Martin Luther sein Theologiestudium absolvierte, in diesem Jahr Austragungsort des Deutschen Katholikentages sein, der vom 29. Mai bis 2. Juni stattfindet. Sein Leitwort „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ aus den Psalmen greift das Kernthema der Männerwallfahrt auf. Die erklärte Absicht des Katholikentages ist es, in Erfurt „sich für unsere gemeinsamen Werte, für Freiheit, Demokratie und eine friedliche und offene Gesellschaft einzusetzen“. Als Gäste angesagt sind unter anderem die Klima-Aktivistin Luisa Neubauer, Bundeskanzler Olaf Scholz und der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow.

Das scheint nicht viel Platz zu lassen für die Konflikte in der Kirche, innerhalb Deutschlands und mit Papst Franziskus, der im vergangenen November in einem Schreiben dem von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken angestoßenen liberalen Reformprozeß „Synodaler Weg“ eine deutliche Absage erteilte. Vor allem die angestrebte Demokratisierung kirchlicher Strukturen ist dem Papst ein Dorn im Auge, und er warnt die deutschen Katholiken davor, sich dadurch von der Einheit der Weltkirche zu entfernen.

Christian Stöber
Rosenkranzkommunismus

Die SED-Diktatur und das katholische Milieu im Eichsfeld 1945–1989
Ch. Links Verlag
424 Seiten, 2020

Der Riss durch Englands Seele

Es war ein Paukenschlag, wie ihn keiner erwartet hatte: Am 23. Juni 2016 stimmte in einem historischen Referendum eine knappe Mehrheit von 51,89 Prozent der Briten für den Brexit, den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Gemeinschaft. Nach langwierigen Verhandlungen zwischen London und Brüssel wurde dieser Austritt am 31. Januar 2020 vollzogen.

Watch: the moment Britain left the European Union (Youtube)

Vielfach rätselte man außerhalb Großbritanniens, vor allem in der EU selbst, über die Gründe und Motive der Briten für das Ergebnis dieses Referendums. Vor allem die Deutschen, für die die EU den Stellenwert eines „goldenen Kalbs“ hat, unterstellten irrationale Gründe. Aber auch in Großbritannien selbst ging man auf Ursachenforschung, akademisch aber auch literarisch. Den überzeugendsten Versuch, den Brexit mittels eines Romans zu erklären, unternahm bereits 2018 der englische Schriftsteller Jonathan Coe mit „Middle England“.

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Im Brexit verdichteten sich die gesellschaftlichen Gegensätze Großbritanniens – vor allem in England – in einer politischen Fragestellung, die nur scheinbar mit dem eigentlichen Gegenstand zu tun haben schien. Stadt gegen Land, Arbeiter gegen Akademiker, prosperierender Süden gegen abgehängten Norden, oder – um die von dem britischen Journalisten David Goodhart formulierten Begriffe zu verwenden – um den Konflikt zwischen Anywheres und Somewheres, zwischen den hochqualifizierten und kosmopolitisch eingestellten urbanen Eliten gegen die auf ihrer jeweiligen lokalen Ebene verwurzelten, traditionellen Milieus. Und nirgendwo ist dieses Milieu stärker präsent, hat entschiedener für den Brexit gestimmt, als in Middle England, der Kernregion der britischen Insel mit seinem Zentrum Birmingham.

Über einen Zeitraum von acht Jahren, beginnend von April 2010 an, verwebt Coe kunstvoll die Geschichte mehrerer Protagonisten eines weitverzweigten Familiengeflechts bis zum September 2018, um dem Leser die Veränderungen im Land zu vermitteln, die das Referendumsergebnis bestimmten.

Doch warum beginnt Coe seine Geschichte des Brexit ausgerechnet im April 2010? Damals vollzog sich eine außergewöhnliche innenpolitische Zäsur, als der Labour-Premier Gordon Brown in der Unterhauswahl abgelöst wurde durch den Tory David Cameron, der später das Brexit-Referendum in Gang setzen sollte. Hauptursächlich für Labours Machtverlust war ein eklatanter Fehltritt Browns im Wahlkampf, nachdem er einer einwanderungskritischen Wählerin hinterrücks bescheinigte, „bigot“ – engstirnig bzw. borniert – zu sein. Was Brown nicht bedachte: Ein Mikro nahm seine Worte auf, die sich anschließend über die Medien wie ein Lauffeuer verbreiteten. Damit war das von seinem Amtsvorgänger Tony Blair initiierte Fortschitts-Projekt „New Labour“ auf einem Schlag am Ende, ohne daß sich die Partei bis heute davon erholt hat.

Coes Protagonisten sind wie in einem Netzwerk miteinander verbunden, ohne daß diese Verbindungen künstlich aufgeblasen wirken oder der Leser den Überblick verliert. Ihre Handlungen bedingen einander, das Verhalten eines Einzelnen wirkt sich fast auf das gesamte Netzwerk aus.

Greifen wir das junge Ehepaar Ian und Sophie heraus: Sophie ist Dozentin an einer Hochschule, während Ian als Fahrlehrer Nachschulungen für Verkehrssünder gibt. Nachdem Ian infolge der Unruhen im August 2011 verletzungsbedingt in einem Krankhaus in Birmingham stationär behandelt wird, kümmert sich Sophie um seine Mutter Helena. Es kommt der Augenblick, wo sich zwischen beiden der entscheidende Riss auftut, der das Land spaltet:

„Er hatte ganz recht. ,Ströme von Blut.‘ Er war der Einzige, der den Mut hatte, es auszusprechen.“

Sophie erstarrte, als sie diese Worte hörte, und die Plattitüden erstarben ihr auf den Lippen. Das Schweigen, das sich jetzt zwischen ihr und Helena ausbreitete, war abgrundtief. Da war es also. Das Thema, das nicht diskutiert werden sollte, nicht diskutiert werden durfte. Das Thema, das die Menschen mehr als jedes andere spaltete, mehr als jedes andere ängstigte, denn wenn man es anschnitt, legte man die eigenen Kleider ab und zog auch dem anderen die seinen aus, sodass beide gezwungen waren, den anderen nackt zu sehen, ungeschützt, und ohne den Blick abwenden zu können. Was immer sie in diesem Moment zu Helena sagte – so es denn ihre eigenen, abweichenden Ansichten widerspiegelte -, es würde gleichzeitig bedeuten, sich der furchtbaren Wahrheit zu stellen: dass Sophie (und alle, die so dachten wie sie) und Helena (und alle, die so dachten wie sie) zwar gemeinsam im selben Land lebten, sich aber gleichzeitig in ihrem jeweils eigenen Universum befanden, getrennt durch eine unendlich hohe, undurchdringliche Wand, eine Wand aus Furcht und Misstrauen und – wer weiß? – vielleicht auch aus jenen englischsten aller Eigenschaften, nämlich Scham und Befangenheit.

Coe spielt hier auf eine der bedeutendsten Reden der britischen Geschichte des 20. Jahrhunderts an, die der britische Politiker Enoch Powell 1968 in Birmingham hielt. Powell warnte darin vor den fatalen Folgen der anhaltenden Einwanderung. Obwohl ihn diese Rede seine politische Karriere kostete, fand sie bis heute ihren Nachhall, weil sie nicht wenige als visionär empfinden.

Helena wählte die konservativen Tories, doch weniger aus Überzeugung. Aus ihrer tiefen Abneigung gegenüber den politischen Eliten macht sie keinen Hehl:

„Wählen ist reine Zeitverschwendung geworden, da alle Politiker dieselben modischen Ansichten vertreten. Natürlich habe ich Mr. Cameron gewählt, aber ohne jede Begeisterung. Seine Werte sind nicht unsere Werte. Tatsächlich weiß er über unsere Werte ebenso wenig Bescheid wie seine politischen Gegner. Sie stehen alle auf derselben Seite – und das ist nicht unsere Seite.“ (…)

„Die Menschen in Mittelengland haben Mr. Cameron gewählt, weil sie keine echte Wahl hatten. Die Alternative war undenkbar. Aber sollten wir je die Gelegenheit bekommen, ihn wissen zu lassen, was wir wirklich von ihm halten, dann, glauben Sie mir, werden wir sie ergreifen.“

Sie sollte ihre Chance dazu bekommen.

Doch auch zu Ian tut sich für Sophie ein Riss auf, als er bei einer Beförderung zugunsten seiner asiatischen Kollegin zurückgesetzt wird. Sind ihr Migrationshintergrund und ihr weibliches Geschlecht die zwei entscheidenden förderungswürdigen Merkmale, die jeden einheimischen weißen Mann ins Hintertreffen geraten lassen?

Aber auch die progressive Sophie droht in den Mahlstrom der Political Correctness zu geraten, nachdem sie mit einer banalen Bemerkung zu einer transgeschlechtlichen Studentin einen – für sie vollkommen unverständlichen – Kreuzzug der woken Bewegung gegen sich entfacht. Wortführerin ist ausgerechnet Coriander, die Tochter von Doug, einem liberalen Journalisten und alten Schulfreund ihres Onkels Benjamin. Ian hält Sophie ihre Doppelmoral vor:

„Ich weiß genau, was das bedeutet. Was du Respekt für Minderheiten nennst, bedeutet im Wesentlichen, dem Rest von uns den Stinkefinger zu zeigen. Von mir aus, beschütze doch deine kostbaren … Transgender-Studenten vor den schrecklichen Dingen, die die Leute über sie sagen. Pack sie ruhig in Watte. Aber was ist, wenn man weiß, männlich, heterosexuell und Mittelklasse ist, hm? Dann können die Leute über einen sagen, was sie wollen, verfluchte Scheiße.“ (…)
lan sah sie direkt an und sagte in bitterem Ton: „Du hast keine Ahnung, nicht wahr?“
„Keine Ahnung wovon?“
„Davon, wie wütend uns das macht, dieses moralische Überlegenheitsgetue, das ihr alle ständig -“
Sophie unterbrach ihn. „Entschuldige, aber wer soll das sein? Wer ist ‚wir‘? Wer ist ‚ihr alle‘?“
Anstatt die Frage zu beantworten, stellte Ian eine andere: „Wie, glaubst du, wird das Referendum ausgehen?“
„Lenk jetzt nicht vom Thema ab.“
„Tu ich nicht. Wie wird es deiner Meinung nach ausgehen?“
Sophie erkannte, dass er nicht lockerlassen würde. Sie blies die Backen auf und sagte: „Ich weiß nicht … Remain, wahrscheinlich.“
Ian lächelte zufrieden und schüttelte den Kopf „Falsch“, sagte er.
„Leave wird gewinnen. Und weißt du, warum?“
Sophie zuckte mit den Schultern.
„Wegen Leuten wie dir“, sagte er mit leisem Triumph. Er hielt ihr den ausgestreckten Zeigefinger vors Gesicht und wiederholte: „Leuten wie dir.“

Ian sollte recht behalten. Die Überforderung der autochthonen englischen Gesellschaft mit der anhaltend hohen Zuwanderung in Verbindung mit der Political Correctness der sie fördernden Eliten fand schließlich ihr Ventil im Brexit-Referendum – und den letzten Nagel auf diesem Sarg der britischen EU-Mitgliedschaft dürfte die deutsche Kanzlerin Merkel mit ihrer Politik der offenen Grenzen eingeschlagen haben. „Take back control – die Kontrolle zurückerlangen“ – der Slogan der Brexit-Befürworter meint vor allem die britische Souveränität darüber, wer in das Land kommt.

Noch 2020 sendete ARTE, der vermeintliche Sender für hohe Ansprüche, die zweiteilige Dokumentation „Das gespaltene Königreich und der Brexit – Rule, Britannia!“, die in ihrer Machart genau die von Coe ausgebreiteten Vorbehalte der Brexiteers vollauf bestätigte, indem sie diese als adipöse, geistig unterbelichtete Eingeborene gegen weltoffene liberale Städter und die Kultur Britanniens bereichernde Migranten stellte. Oder, um in den Worten Browns zu bleiben, eben als „borniert“.

Doch wer sich ein exakteres Bild von den Motiven derer machen will, die für Leave stimmten, der sollte „Middle England“ lesen. Jonathan Coe ist damit ein exzellenter Gesellschaftsroman gelungen, ohne hintergründigen Erziehungsauftrag an die Leser, auf Äquidistanz zu beiden Lagern bedacht, obgleich die Schlagseite für die Remainer deutlich hervortritt. Dafür spricht auch das versöhnliche Ende, das fast alle Beteiligten ausgerechnet in einem französischen Landhaus versammelt. Was Coe ausbreitet, ist der Riss, der sich durch Englands Seele zieht. Und dieser Riss sollte uns wohl vertraut sein, denn er zieht sich in gleicher Weise durch alle Gesellschaften der westlichen Demokratien.

Auch bei seinem Nachfolgebuch ist Coe beim Brexit geblieben: Das 2023 erschienene „Bournville“ setzt als Familienepos das Thema fort.

Jonathan Coe
Middle England
Folio Verlag, 2020
480 Seiten
24,- Euro

Der Waldgänger aus der Schweiz

Obwohl ihr Beginn keine fünf Jahre zurückliegt, scheint es, als hätte die Welt die aufreibende Zeit der Corona-Pandemie längst hinter sich gelassen. In ihre akute Phase trat die Pandemie heute vor vier Jahren ein. Am 22. März 2020, als die Bundesregierung dem Vorbild des autoritären China folgend den ersten Lockdown in der Geschichte der Bundesrepublik verhängte, war dies eine tief einschneidende Maßnahme, der noch weitere folgen sollten. Sie griff gravierend in das Leben und die Selbstbestimmungsrechte der Bürger ein. Die ökonomischen Folgen sind bis heute spürbar. Es gab kaum ein Land, das unter Berufung auf den Gesundheitsschutz, einen liberaleren Kurs in der Pandemiebekämpfung verfolgte. Kritiker wurden regelmäßig mithilfe regierungstreuer Medien als „Querdenker“ oder gar Rechtsextreme gebrandmarkt und so ins gesellschaftliche Abseits gestellt.

Eine der kritischen Stimmen, die aus dem medialen Einheitsbrei herausragten, war die des in der Schweiz lebenden Publizisten Milosz Matuschek. Sein in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlichter Kolumnentext „Was, wenn am Ende ‚die Covidioten‘ recht haben??“ (10.08.2022) war eine scharfzügige Abrechnung mit dem staatlichen Umgang mit der Pandemie:

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Im April starben Menschen an Covid-19, es wurden Ausgangssperren, Lockdowns und Schutzmaßnahmen verhängt, um eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden, die zu noch mehr Toten hätte führen können. Die Bedrohungslage bestand aus schweren Krankheitsverläufen, Hospitalisierungen, Todesgefahr. Heute muss man konstatieren: Der Kollaps des Gesundheitssystems ist nicht eingetreten, vielleicht auch dank den Maßnahmen. In Deutschland meldeten Ärzte und Kliniken Kurzarbeit für 400 000 Menschen an. Von der Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems redet inzwischen übrigens niemand mehr.

Kollabiert ist seitdem aber eines: die Kommunikation über das Virus. Das Virus entfaltet eine ungeahnte Nebenwirkung: Es befällt das Denkvermögen. Nun lautet die neue Gefahr: «Die zweite Welle ist im Anmarsch.» Besonders falsch sind da natürlich gerade Massendemonstrationen gegen die Corona-Politik wie letztes Wochenende in Berlin. Die Ansteckungsgefahr sei zu hoch. Erst versuchte man die Demonstration pauschal zu verbieten. Als das nicht klappte, rief man dazu auf, ihr fernzubleiben, es sei ohnehin nur eine Ansammlung von „Covidioten“, Rechtsextremen und Reichsbürgern. Es ist ungeheuerlich: Politiker und einige Journalisten verunglimpfen pauschal Menschen, die gegen die derzeitige Politik demonstrieren. Man ruft erneut nach dem Wolf, aber immer weniger Menschen glauben offenbar, dass er kommt. Gibt es ihn denn, den Wolf?

https://www.freischwebende-intelligenz.org/p/was-wenn-die-covidioten-recht-haben

Die Reichweite des kontroversen Textes durchschlug alle Brandmauern, die das politisch-mediale Establishment um das Thema gezogen hatte. Der NNZ jedoch war der Erfolg nicht geheuer, und sie trennte sich von Matuschek, der fortan auf seinem Blog „freischwebende-intelligenz.org“ publizierte. Von dort aus setzte er seine kritische Beobachtung des weiteren Pandemie-Geschehens fort und bündelte seine Texte in dem 2022 veröffentlichen Buch „Wenn’s keiner sagt, sag ich’s“.

Auch wenn heute in 2024 Corona abgehakt scheint, der Griff zu dem Buch lohnt sich immer noch und sollte alle paar Jahre wiederholt werden. Denn das, was seinerzeit an Maßnahmen durchexerziert wurde, verschwindet mit der Pandemie nicht aus der Welt, sondern bleibt als Möglichkeit staatlichen Handels im Raum und kann auch unter anderen Umständen wiederholt werden:

Der punktuelle Ausnahmezustand droht zum permanenten zu werden. Sicher geglaubte Errungenschaften werden gerade abgewickelt. Mich erschüttert bis heute, wie aufgeklärte Gesellschaften das haben mit sich machen lassen und es immer noch tun. Wir erleben eine Verengung der Welt.

Die Texte werden von der Gegenseite, den „Zeugen Coronas“, kaum als Diskussionsbasis akzeptiert werden. Von Matuschek aufgegriffene Begriffe wie dem von dem Gründer des World Economic Forum propagierten Great Reset – mehr als eine bloße Verschwörungstheorie – können hier nur als Trigger wirken, als gedankenbeendendes Klischee, das jede sinnvolle Debatte im Keim erstickt. Das nur als Feststellung, nicht als Kritik am Autor.

Was sich wie ein roter Faden durch fast alle Texte zieht, ist die Abrechnung mit der Rolle der Mainstreammedien in der Pandemie. So schreibt Matuschek in „Wir brauchen einen Runden Tisch für die Meinungsfreiheit“:

Man muss kein Freund oder Fan der genannten Protagonisten sein, um das Kernproblem zu verstehen: Eine Demokratie hört irgendwann auf, eine zu sein, wenn die Deutungshoheit darüber, was Wissenschaft, Journalismus oder eine faire Debatte ist, von einer Obrigkeit und ihren Helfern bestimmt wird, egal in welchen Mantel diese Obrigkeit auch immer schlüpft. Wenn der Rest der Medien diese Falle auch noch beschweigt, entsteht zudem ein gesamtgesellschaftliches Problem mit langer Zündschnur: Das Zensierte sieht man nicht, weshalb es den wenigsten akut fehlt. In der Verhaltensökonomie kennt man dieses Phänomen der Sichtfeldverengung als „WYSIATI-Effekt“ („What you see is all there is“). Doch was man nicht sieht, spürt man irgendwann: In den Debatten macht sich erst Fadheit breit und später entsteht eine Fallhöhe zwischen veröffentlichter Meinung und der Realität, die für die etablierten Medien selbst ein massives Klumpenrisiko darstellt.

Matuscheks widerständige Haltung zum übergriffigen Staat erklärt sich wohl am besten durch seine Herkunft aus dem kommunistischen Polen, aus dem seine Eltern gemeinsam mit ihm nach Deutschland geflohen sind. Seine Ausbildung als Jurist schärfte seinen Sinn für die juristische Brisanz vieler Maßnahmen der „Verordnungsdiktatur“, von denen eine ganze Reihe von Gerichten wieder einkassiert wurden.

Sein Eintreten für Julian Assange nimmt da nicht wunder. Und es ist für den Kenner der Materie kaum verwunderlich, daß Matuschek den Bogen von hier zu dem Schriftsteller Ernst Jünger zieht, dessen Essay „Der Waldgang“ (1951) ihm zu einer Inspirationsquelle wurde, wie man sich in bedrohlichen Zeiten seine Freiheit bewahrt:

Der Essay Der Waldgang ist ein Schlüsseltext auch für unsere Zeit. Ja, im Grunde jeder Zeit, die sich wie unsere auch gerade einer Zeitenwende oder einem Verfallsdatum nähert. Denn der Waldgänger ist eine Wiederkehrende Erscheinung jeder Verfallszeit. So wie Hegels Eule der Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt, so ist es der Waldgänger, der sich erst nach Einbruch der Dunkelheit manifestiert. Jünger sah in seiner Zeit einen aktiven Nihilismus am Werk, eine bewusste Umformung der Werte. Die Zeit der „neuen Normalität“ wird nach gleichem Muster von oben verkündet, als unausweichliche Notwendigkeit in Form polit-planerischer Weitsicht und Herrschaftswissen. Doch dafür müssen die Planer erst noch an den Waldgängern vorbeikommen.

Große Hoffnungen verbindet Matuschek mit dem weiteren Aufstieg der Kryptowährung Bitcoin, mit der sich Geldwirtschaft und Staat voneinander entkoppeln lassen sollen. Doch das dahinterstehende Konzept bleibt auch nach Matuscheks Ausführungen nebulös und komplex. Auch ihm gelingt es nicht, Bitcoin von dem Verdacht freizusprechen, lediglich ein leeres Versprechen zu sein, ein Instrument wie ein Perpetuum Mobile, daß aus dem Nichts Werte schaffen soll und letztlich nur auf einem Schneeballsystem beruht. Bitcoin, so warnte erst kürzlich der irische Star-Ökonom David McWilliams, sei nichts anderes als ein Computercode, hinter dem im Gegensatz zu Land oder Häusern kein greifbarer Wert stehe: „Wir haben so etwas zuvor gesehen, und jeder mit einem Sinn für Finanzgeschichte kennt die Weise, wie das endet. Und das ist nicht schön.“

Offiziell ist die Corona-Pandemie nie für beendet erklärt worden. Aber dennoch: Die meisten Menschen haben ihren Frieden mit dem Thema gemacht und für eine politisch-gesellschaftliche Aufarbeitung dieser Zeit in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß wird sich wohl kaum eine Mehrheit finden, weder unter den Politikern der Altparteien noch unter der Wählerschaft, erst recht nicht unter der Journaille. Frage: Was soll da noch die Lektüre eines Buches wie Milosz Matuscheks „Wenn’s keiner sagt, sag ich’s“?

Vielleicht weil uns dieses Thema in der Zukunft schneller wieder begegnet, als wir es uns vorstellen möchten…

Milosz Matuschek
Wenn’s keiner sagt, sag ich’s
Verlag fifty-fifty
2022, 256 Seiten
20,00 Euro

Als England von den Russen besetzt war

Hat Romeo sich selbst ermordet? Sag du nur „ja“
Und dieses bloße Wörtchen „ja“ soll mehr vergiften
Als des Basilisken todverheißend Auge.
Ich bin nicht ich, wenn’s geben sollt ein solches „ja“
Und schlafend jene Augen, die dir das „ja“ entreißen!

Aus: „Romeo und Julia“, William Shakespeare

Der zweite Jahrestag des Beginns des russischen Krieges gegen die Ukraine brachte in den Medien manch merkwürdige Bewertung des militärischen Potentials Russland. Sollten die Russen diesen Krieg gewinnen, so würden dadurch russische Expansionsgelüste nach Westeuropa hinein geweckt; so sah ein Kommentator sogar den weiteren Vormarsch bis in die Schweiz kommen. Warum die Russen in die Schweiz marschieren sollten, blieb allerdings ungeklärt.

Wer alt genug ist, den bis 1990 andauernden Kalten Krieg miterlebt zu haben, dem kommt der Sound dieser Überlegungen merkwürdig vertraut vor. Auch damals machte man sich im Westen viele Gedanken darüber, was kommen könnte, gelänge den Russen der Sieg über den „freien Westen“. Der griffigste Slogan daraus war wohl der aus dem linken Spektrum kursierende Spruch: „Lieber rot als tot.“

Einer der sich damals darüber Gedanken machte, war der Schriftsteller Kingsley Amis (1922 – 1995). Amis gehörte zu den bedeutendsten britischen Schriftstellern seiner Zeit. Zu seinen bekanntesten Werken in Deutschland gehört der 1980 veröffentlichte und 1984 in der Science-Fiction-Reihe des Heyne Verlags erschienene Roman „Das Auge des Basilisken“.

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In dieser dystopischen Satire zeichnet Amis das Bild eines von den Sowjets besetzten Englands. Der Plot spielt sich 50 Jahre nach einem als „Pazifikation“ bezeichneten Krieges ab, der um die Wende zum 21. Jahrhundert stattfand. „Pazifikation“ – ein recht verharmlosender Begriff für eine militärische Auseinandersetzung, die uns heute daran erinnert, daß die Russen ihren Krieg in der Ukraine ebenso wenig beim Namen nennen, sondern zum „militärischen Sondereinsatz“ relativieren. Die Eroberung nahm nur drei Tage in Anspruch, abgesehen vom vergeblichen Widerstand einiger weniger.

50 Jahre danach ist das Land fast auf ein präindustrielles Niveau zurückgeworfen, statt den Weg in ein sozialistisches Paradies zu gehen. Die Analphabetenrate liegt bei 69 Prozent. Statt Autos fahren die Menschen mit Pferdekutschen und bestenfalls mit Fährrädern mit Hilfsmotor. Selbst Moskau steht kurz vor dem totalen Erliegen des motorisierten Verkehrs. Das von den Russen initiierte Entnationalisierungsprogramm hat die Engländer restlos von ihrem kulturellen Erbe entfremdet, selbst von ihrer anglikanischen Religion. Und offenbar haben die Besatzer nur einer ohnehin im Verfall begriffenen Gesellschaft den Todesstoß gegeben:

„Sie, die Anglikaner, sind seit langem von den Kräften der Aufklärung bedrängt, von innen wie von außen. Bekanntlich waren sie schon zur Zeit unserer Großeltern im Niedergang begriffen, sowohl was die Zahl der Gläubigen als auch was den Inhalt ihrer abergläubischen Vorstellungen betrifft: die meisten von ihnen lebten zugleich in einer laizistischen, wissenschaftlichen oder halbwissenschaftlichen Vorstellungswelt, selbst der Klerus und nicht zuletzt der höhere Klerus, und der Rest der Gläubigen war zu demoralisiert, um sie nicht zu dulden. Die Unterdrückung beschleunigte nur das unausweichliche.“

Hingegen haben es sich die russischen Besatzer komfortabel auf der Insel eingerichtet. Sie haben sich an die Stelle des englischen Adels gesetzt und leben dementsprechend in deren früheren Landhäusern. Jedoch stellen sie nur einen billigen Abklatsch dessen dar, was einmal eine ruhmvolle Vergangenheit repräsentierte. Amis beschreibt die Szenerie einer Scheingesellschaft:

„Und alles sah aus hinreichender Entfernung stilvoll und richtig aus; auch den Anwesenden erschien alles richtig. Niemand dachte, niemand sah, daß die Kleider der Festgäste aus minderwertigen Stoffen schlecht geschnitten waren, schlecht verarbeitet, schlecht sitzend, daß die Frisuren der Damen unordentlich und die Fingernägel der Männer schmutzig waren, daß die Oberflächen der Tennisplätze uneben und unzureichend geharkt waren, daß die weißen Jacken der Diener nicht sehr weiß waren, daß die Gläser und Teller, die sie trugen, nicht ordentlich gespült waren, oder daß das Pflaster, wo die Paare tanzten, hätte gefegt werden müssen. Niemand dachte, niemand nahm mit anderen Sinnen wahr, daß der Wein dünn war, die alkoholfreien Getränke voller Konservierungsstoffe und die Gebäcksorten fade, oder daß die Musik des Orchesters holperig und leblos war. Niemand dachte sich etwas bei alledem, weil niemand jemals etwas anderes gekannt hatte.“

Alexander Petrowsky, ein junger Gardeoffizier eines Kavallerie-Regiments und Sohn eines Besatzungsbeamten lebt schon lange in England. Die Stimmung in der Truppe ist von Langeweile geprägt, so daß sich die Soldaten mit lebensgefährlichen Spielchen unterhalten. Alexander wiederum vertreibt sich die Zeit mit sexuellen Eskapaden, sowohl mit den reifen Frauen russischer Funktionäre wie auch den jungen Mädchen der Unterworfenen.

„Daher erfüllte es ihn mit Erbitterung, daß seine jüngere Tochter derart offen und regelmäßig von einem russischen Offizier bestiegen wurde, noch dazu von einem, den er verabscheute und gegen den er eine persönliche Abneigung verspürte. Diese Gefühle behielt er jedoch so gut als möglich für sich; das Mädchen schien keine Einwände gegen den Stand der Dinge zu haben, und die damit verbundenen Vorteile in Gestalt einer gelegentlichen Flasche Cognac oder einigen Kilo Brennstoff waren sicherlich willkommen, vor allem aber war es (oder konnte sich jeden Tag so erweisen) wichtig, sich das Wohlwollen und die Protektion eines der Scheißer zu sichern – ein Begriff, der selbst unter den vielen gebräuchlich war, die keine ernsten Einwände gegen die Anwesenheit ihrer Herren hatten. Schließlich konnte auch das geringste Verständnis die wahrscheinlichen Resultate des Versuches ermessen, einem – und insbesondere diesem – russischen Offizier entgegenzutreten. Nach allen Erwägungen kam er immer wieder zu dem unausweichlichen Schluß, daß da nichts dagegen zu machen sei.“

Da tritt der Kulturfunktionär Theodor Markow an Petrovsky heran und weiht ihn in den Plan einer Verschwörung der sogenannten Gruppe 31 ein, einer weit fortgeschrittenen Verschwörung, die in einem revolutionären Akt England – und auch Russland – die Freiheit wiederbringen soll. Alexander ist von dem Plan ganz eingenommen und wird an führender Stelle eingesetzt. Doch zu spät erkennen die Beteiligten, daß sie nur Marionetten sind in einer großen Intrige, die auf sie selbst abzielt.

Warum brach der englische Widerstand gegen die sowjetrussische Invasion nach nur drei Tagen zusammen? Offenbar befand sich die Moral der Angegriffenen schon vor dem ersten Schuß im Zustand der fortgeschrittenen Zersetzung. Umso leichter gelang es den Besatzern nach ihrem Sieg, den Unterworfenen auch noch den letzten Rest nationaler Würde zu nehmen, und zwar so nachhaltig, daß selbst die nach Jahrzehnten gewagte Aufführung des Shakespeare-Stücks „Romeo und Julia“ in einem Desaster endet und die Abhaltung eines Gottesdienstes auf Gleichgültigkeit stieß.

Doch die Russen stehen keineswegs als überlegene Sieger da, eher wie nackte, da sie nichts an positiven Werten zu bieten haben, weder den Engländern noch sich selbst. Sogar mit der Erlösungsideologie des Marxismus sind sie am Ende:

„Was ihn ersetzt hat, ist nichts, ein Vakuum. Keine Theorie sozialistischer Demokratie, kein Liberalismus oder dergleichen, nicht einmal ein unpolitischer Kodex des Anstands oder Mitleids. Hinter der ausgehöhlten alten Fassade hatten sich keine neuen Ideen gebildet. Und mit den ökologischen Folgen der ungehemmten industriellen Entwicklung brach der Fortschrittsglaube ebenso zusammen, wie die Hoffnung auf eine allgemeine Aufwärtsentwicklung. Das Christentum war längst abgetan, und keine der neuen Sektenreligionen konnte Fuß fassen. Wie stellte sich der Russe dazu? Kein Glaube, kein Zukunftsoptimismus, kein Vorbild. Unsere in einer anderen Zeit für andere Verhältnisse geschriebenen Bücher sagen uns nichts mehr. Wovon leben wir also? Die Befriedigung des Eigennutzes ist den meisten Menschen nicht genug, es gibt zu viele Gebiete, auf denen er keine Entfaltung findet. Sinnliche Genüsse – ein noch begrenzteres Feld. Also schauspielern wir; wir wählen eine Rolle, die mit unserem Alter und unserer Position nicht allzu unvereinbar ist, und spielen sie nach bestem Können. Freilich können wir sie nicht die ganze Zeit aufrechterhalten, aber sie ist da, wenn wir sie brauchen, und Russe zu sein, ist eine große Hilfe.“

Im Original lautete der Titel von Amis Roman „Russian Hide and Seek – Russisches Verstecken und Suchen“, benannt nach dem morbiden und gefährlichen Zeitvertreib der russischen Besatzungssoldaten, mit der Waffe auf im Dunkeln versteckte Kameraden zu schießen. Der Heyne Verlag entschied sich seinerzeit für den Titel „Das Auge des Basilisken“, nach der darin zitierten Sentenz aus dem Shakespeare-Stück „Romeo und Julia“. Der Basilisk ist ein mythologisches Mischwesen aus dem Kopf eines Hahns mit einer Krone auf dem Kopf und dem Körper einer Schlange, der mit seinem Auge tödliche Strahlen aussenden kann. Der Basilisk als mittelalterliches Sammelwort für alles Böse. Das Auge, weil es der Ausgangspunkt einer tödlichen Bedrohung ist. Also eine treffende metaphorische Beschreibung der Russenbedrohung.

Amis schrieb seinen Roman nicht allein unter dem Eindruck des Kalten Krieges, sondern auch in einer Zeit, in der England beziehungsweise Großbritannien, als „kranker Mann von Europa“ wahrgenommen wurde. Seine Infrastruktur im Verfall, von fortwährenden Arbeitskämpfen geschüttelt, seine einst führende Industrie am Rande des Ruins. Erst 1979, ein Jahr vor der Veröffentlichung des Romans, nahm die konservative Margret Thatcher von den Tories, denen sich der Ex-Kommunist Amis verbunden fühlte, der linken Labour Party die Regierung aus der Hand, der von weiten Teilen des Elektorats die Verantwortung für den Niedergang zugeschrieben wurde.

Für die folgenden zehn Jahre führte Thatcher eine Regierung, in der sie dem Land einen tiefgreifenden, aber auch heftig umstrittenen Wandel unterzog, und der sie bis heute für viele Briten zur Haßfigur macht. Und doch bleibt es ihr Verdienst, daß sie damit einem Leichnam nochmal etwas Leben einhauchte.

Kingsley Amis
Das Auge des Basilisken
303 Seiten
Heyne Verlag, 1984
Nur noch antiquarisch erhältlich

Irgendwo in der Zeit treffen wir uns wieder

Vom Hollywood-Schauspieler Christopher Reeve ist einzig seine Rolle als Superman in Erinnerung geblieben. 1978 stellte er erstmals den „Stählernen“ aus der populären Comicserie in der Blockbuster-Verfilmung von Regisseur Richard Donner dar. Es folgten in qualitativ abnehmender Tendenz drei weitere Teile. Seine Schauspielerkarriere erfuhr einen scharfen Bruch, als er 1995 infolge eines Reitunfalls eine schwere Querschnittslähmung erlitt. Kaum 10 Jahre später starb Reeve am 10. Oktober 2004 im Alter von nur 52 Jahren.

Doch es gibt einen Film mit Reeve in der Hauptrolle, kurz nach „Superman I“, der obwohl kommerziell gefloppt, den Status eines Kultfilms erlangte: „Ein tödlicher Traum“ (Somewhere in Time) kam 1980 in die Kinos, neben Reeve mit einem beeindruckenden Cast aus Jane Seymour und Christopher Plummer sowie Teresa Wright, einer Oscar-Preisträgerin von 1943.

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„Ein tödlicher Traum“ ist ein melodramatischer Fantasy/Science-Fiction-Film über Zeitreisen. Reeve spielt den Drehbuchautoren Richard Collier, der während einer Schaffenskrise in ein mondänes Landhotel flieht. Obwohl Collier zum ersten Mal in dem Hotel ist, glaubt der altgediente Page Arthur (Bill Erwin) ihn wiederzuerkennen. In einer Museumsnische des Hotels, entdeckt Collier das Bildnis einer Frau aus dem Jahr 1912. Es ist Elise McKenna (Jane Seymour), eine zu ihrer Zeit beliebte Theaterschauspielerin, die auch an dem dem Hotel angeschlossenen Theater wirkte. Das Bildnis dieser schönen Frau nimmt Collier gefangen. Collier bemerkt nicht, daß er dieser Frau nur wenige Jahre zuvor begegnet ist, in ihrem älteren Ich – dargestellt von Teresa Wright -, und sie zu ihm sagte: „Komm zurück zu mir.“ Auf seiner Spurensuche nach ihrer Geschichte stößt er auf die scheinbar unwahrscheinliche Möglichkeit der Zeitreisen. Sein alter Philosophie-Lehrer Dr. Gerald Finney (George Voskovec) gibt ihm den entscheidenden Hinweis, wie sie ohne jede Technik zu bewerkstelligen ist, allein aus eigener Willenskraft heraus.

Collier bereitet sich akribisch vor, besorgt sich Geld und Kleidung aus der Zeit um 1912. Es gelingt ihm aus seinem Hotelzimmer heraus die Reise durch die Zeit zu der Frau, in deren Bildnis er sich verliebt hat. Doch um endlich Elise für sich zu gewinnen, muß er erst noch die Hürde ihres Agenten William Fawcett Robinson (Christopher Plummer) überwinden, der seine Klientin abschirmt. Und vor allem, kann eine solche Liebe durch die Zeit eine Zukunft haben?

Der Plot geht zurück auf eine Romanvorlage des Scifi-Autoren Richard Matheson (1926 – 2023), der bereits den Stoff für Filme wie „Ich bin Legende“ bzw. „Der Omega-Mann“ und „Die unglaubliche Geschichte des Mister C“ geliefert hat.

Das Grand Hotel auf Mackinac Island im Huronsee im US-Bundesstaat Washington lieferte die ideale Kulisse für die Szenerie der Edwardianischen Epoche am Beginn des 20. Jahrhunderts. Regisseur Jeannot Szwarc urteilte über die Örtlichkeit: „Das bei Weitem Beste für mich bezüglich Mackinac war die Qualität des Lichtes. Das dortige Licht war einfach wunderschön. Es war auf natürliche Weise diffus.“

Um die melodramatische Stimmung durch die Filmmusik zu verstärken, konnte kein besserer Komponist gefunden werden als John Barry (1933 – 2011), der schon den typischen Sound der Bond-Filme schuf.

Doch auch eine noch so perfekte Inszenierung kann nicht verhindern, daß sie beim Massenpublikum durchfällt. Im Fall von „Ein tödlicher Traum“ sind die Gründe rätselhaft. Reeve und Seymour bildeten ein romantisches Traumpaar. Der Film selbst gewann 1981 den renommierten Saturn Award in der Kategorie Fantasy sowie Nominierungen weiterer Preise. Und doch bildete sich im Laufe der folgenden Jahre eine enthusiastische Fan-Gemeinde, die bis heute mit einer jährlichen Convention auf Mackinac Island das Andenken an den Film hochhält.

Das Thema Zeitreisen hat die Science-Fiction immer sehr beschäftigt. H.G. Wells, einer der ersten Zeitreiseautoren, hat 1895 mit „Die Zeitmaschine“ einen Roman vorgelegt, der bis heute seine ungebrochene Faszination auf die Leserschaft ausstrahlt. Wells Vorstellung von der Zeit gleicht darin einem Strom, der seine darauf befindlichen Akteure mit sich reisst. Matheson schreibt zu diesem Modell in „Bid Time Return“, der Vorlage zu „Ein tödlicher Traum“:

Intellektuell ist das unbefriedigend, denn Ströme haben Ufer. Daher müssen wir uns überlegen, was es ist, das stillsteht, während die Zeit dahinströmt. Und wo sind wir? Am Ufer oder im Wasser? Der Gedanke ist auch noch aus einem anderen Grund deprimierend, denn wenn der Lauf des Flusses festgelegt ist, dann existiert die gesamte Zeit bereits, die Zukunft ist unveränderlich, wenn wir sie auch nicht kennen, und von einer freien Entscheidungsmöglichkeit kann nicht die Rede sein. Wir hätten dann keinen freien Willen.

Bislang macht die Wissenschaft wenig Hoffnungen, daß sie irgendwann einmal möglich sein könnten. Anhand von „Ein tödlicher Traum“ schrieb der auf Science-Fiction spezialisierte Sachbuchautor Peter Nicolls: „Nach einer Theorie über die Zeit, die besagt, daß alle Zeit gegenwärtig ist, ist das unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Es widerspricht jedoch dem Prinzip der Kausalität, denn wenn [Richard Colliers] Liebe Erfüllung gefunden hätte, wäre sein Sohn alt genug, sein Vater sein zu können.“ („Science in Science Fiction“)

Ein tödlicher Traum
Mit Christopher Reeve, Jane Seymour
99 Minuten
USA, 1980