„Wir müssen zugestehen, dass der Krieg, diese gewalt- und leidvolle Erfahrung, dieses Reich der Dummheit und des Irrtums, zugleich auch ein Realitätstest ist. Der Krieg lässt hinter die andere Seite des Spiegels blicken, in eine Welt, wo Ideologie, statistische Täuschungen, das Versagen der Medien und die Staatslügen – nicht zu vergessen der Verschwörungswahn – allmählich ihre Macht verlieren. Eine schlichte Wahrheit wird zutage treten: Die Krise des Westens ist die treibende Kraft der Geschichte, die wir erleben. Einige wussten das. Nach dem Ende des Krieges wird es niemand mehr leugnen können.“ (Emmanuel Todd, „Der Niedergang des Westens“)
Politisch waren die 1970er Jahre geprägt vom anhaltenden Systemgegensatz zwischen Ost und West. Dabei konnte sich im Westen niemand vorstellen, daß die wie ein fester Monolith erscheinende Sowjetunion als Gegner in naher Zukunft ausfallen könnte. Die Verhältnisse des Kalten Kriegs schienen auf unabsehbare Zeit fortgeschrieben. Und doch traute sich 1976 jemand mit einer gewagten These hervor, die ihn berühmt machen sollte. Emmanuel Todd, französischer Historiker und Anthropologe, legte mit „Vor dem Sturz“ eine statistikbasierte Abhandlung vor, mit der er das baldige Ende der Sowjetherrschaft prognostizierte. Grundlage waren demographische Faktoren wie die in der Sowjetunion steigende Kindersterblichkeit. Todd behielt recht; kaum 15 Jahre später kollabierte die für unbesiegbar gehaltene Sowjetunion und mit ihr ihre Ostblock-Satelliten.
Fast 50 Jahre später wendet der 1951 geborene Todd seine Methode auf einen anderen Gegenstand an und formuliert eine Prognose, die beunruhigender kaum sein könnte: „Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall“. Ausgerechnet der Westen, Vorreiter des technischen Fortschritts und Taktgeber der vor 500 Jahren eingesetzten Globalisierung soll – so wie seinerzeit die Sowjetunion – vor seinem Ende stehen?
Todd veröffentlichte sein Werk im vorigen Jahr vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und vor dem Wahlsieg Donald Trumps. Der Ukraine-Krieg offenbart Todd zufolge die Schwäche und Krise des Westens, die er sogar noch verstärkt. Weder konnten seine großspurig angekündigten Wirtschaftssanktionen Russland – das sich seit Jahren darauf vorbereitete – in die Knie zwingen, noch gelang es ihm, den Rest der Welt für seine Maßnahmen einzuspannen. Stattdessen entfalteten die Sanktionen eine selbstzerstörerische Wirkung, auch weil sie vom Rest der Welt unterlaufen werden. Auch hält das vom Westen geprägte manichäische Bild vom Krieg in der Ukraine als einem zwischen den Werten der liberalen Demokratie gegen denen der autoritären Putin-Diktatur der von Todd vorgenommenen Überprüfung nicht stand.
Doch zuerst einmal ein paar der von Todd eingeworfenen Fakten aus der „Moralstatistik“, die so kaum in das Bild von Putins Russland als Wiedergänger des sowjetischen „Reichs des Bösen“ passen: In die Phase der Stabilisierung Russlands unter Putin fielen der Rückgang alkoholbedingter Todesfälle, die Selbstmorde und die Tötungen teils drastisch aus. Und mehr noch:
„Was die jährliche Kindersterblichkeitsrate betrifft, so fiel sie von 19 pro 1000 ‚Lebensgeborene‘ im Jahr 2000 auf 4,4 im Jahr 2020 und lag damit unter der amerikanischen Rate von 5,4 (UNICEF). Da dieser letzte Indikator die schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft betrifft, ist er besonders aussagekräftig zur Beurteilung des allgemeinen Zustands.“
Todd resümiert sarkastisch:
„Und ein Land, das eine solche Entwicklung durchgemacht hat, soll sich auf einem ‚langen Abstieg in die Hölle‘ befinden?“
Demgegenüber stellen sich die Verhältnisse in den USA, dem Kernland des Westens, deutlich deprimierender dar. Die Lebenserwartung der US-Amerikaner – insbesondere der Weißen – sinkt deutlich infolge von Alkoholmissbrauch, Suizid und Drogen. Die Zahl der Amokläufe steigt, die der Inhaftierten ist die höchste weltweit. Die einst tragende Mittelschicht ist zersetzt. Und die Kindersterblichkeitsrate – „dieser Vorbote der Zukunft“ – liegt mit 5,4 pro 1000 Lebensgeburten über der Russlands. All das „zeichnet das Bild eines gefallenen Landes“.
Die Ursache für den „unumkehrbaren“ Niedergang des Westens sieht Todd in dem Zerfall der Religiosität in seinen protestantischen Kernländern. Die Entwicklung der Religion im Westen ist Todd zufolge in der Phase des Nullzustands angekommen. Das Verschwinden der Taufe, die Zunahme der Einäscherung, die Einführung der „Ehe für alle“ – all das charakterisiert nach Todd, „dass die bestehende Gesellschaft den Nullzustand der Religion erreicht hat“. Der Zustand des Nihilismus, worin an sich eindeutige Wahrheiten aufgehoben sind, wurde mit der Propagierung der Transsexuellen-Ideologie erreicht.
Der Protestantismus, der noch mit der Alphabetisierung der Massen einen ungeahnten Bildungsfortschritt erlebte, erfährt nun ein deutliches Nachlassen der Bildungsleistung. Am Ende dieses Prozesses steht infolge des Verschwindens einer kollektiven Identität ein geschwächtes Individuum, „das sich nun, da es den Rahmen gemeinsamer Werte nicht mehr hat, destabilisiert fühlt“. Demgegenüber hat Russland „genügend kommunitäre Werte, die weiterbestehen – autoritäre und egalitäre, damit das Ideal einer kompakten Nation überlebt und eine besondere Form des Patriotismus wiederaufleben kann“.
Die USA hingegen sieht Todd durch die Etablierung einer liberalen Oligarchie, die nicht mehr das meritokratische Ideal der Vergangenheit abbildet, nicht mehr als demokratisch an. Seine einst industrielle Dominanz ist dahin. Es verbraucht mehr als daß es produziert und das daraus resultierende Handelsdefizit kann es nur deswegen mit dem Drucken von Dollars decken, weil dieser die Leitwährung der Welt ist.
Neben den weiteren Kernländern des Westens wie Frankreich und Großbritannien widmet Todd auch Deutschland seine Aufmerksamkeit, dem er durch seine Energie- und Migrationspolitik eine ausgeprägte Hybris attestiert, „die zugegebenermaßen besonders originell ist, weil sie jeden militärischen Charakter ausschließt“. Man möchte hinzufügen, daß sich das historisch einmalig hohe Schuldenpaket des Landes, das gerade verabschiedet wurde, perfekt in diese Hybris einfügt bis hinein in seine euphemistische Namensgebung als „Sondervermögen“.
Todd hat mit seinem neuesten Buch ein kontroverses Werk vorgelegt, das die Debatte über den Zustand des Westens durchaus bereichern könnte. Seine Thesen werden vielen nicht gefallen. Wer aus der Elite läßt sich gerne vorhalten, daß die größte Gefahr für den Westen nicht von China und Russland herrührt, sondern von einem unumkehrbaren Zerfall in seinem Inneren? Erst recht nicht seine Einschätzungen über den absehbaren Sieg Russlands im Ukraine-Krieg und die Rolle der Ukraine im Vorfeld des Konfliktes. Widerspruch ist garantiert bei seiner Einschätzung, daß die Ukraine seit dem Maidan 2024 keine Demokratie mehr sei, während er Russland als „autoritäre Demokratie“ relativiert.
Gleichwohl sind seine Formulierungen in der Begründung seiner Kernthese bedächtig. Zudem weist Todd ausdrücklich auf ihren Hypothesen-Charakter hin. Gleichwohl, die Feststellung vom „religiösen Nullzustand“ in den westlichen Gesellschaften ist evident und auch außerhalb Todds gut abgesichert. Erst kürzlich reüssierte der Theologe Jan Loffeld mit seinem über Kirchenkreise hinaus diskutierten Buch „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt“ über die weitgehende Entchristlichung in Deutschland. Und damit wären wir an einer entscheidenden Leerstelle bei Todd angelangt: Was wird das Vakuum füllen, das das Verschwinden des Christentums erzeugt? Hierin liegt der „blinde Fleck“ bei Todd, das Fehlen jeglicher Erörterung über die Massenmigration, vor allem aus dem islamischen Raum, und ihrer Folgen für die Zukunft des Westens.
Dennoch: „Der Westen im Niedergang“ wirft eine wichtige Frage auf, die gestellt werden sollte, bevor hemmungslos die Ressourcen verschwendet werden für die Aufrüstung gegen einen Feind, der nach Todd nicht die eigentliche Bedrohung darstellt, zu der er hierzulande massiv hochgeschrieben wird: Was ist nach dem „Tod Gottes“ eigentlich überhaupt noch die kollektive Identität und Idee der westlichen Akteure, mit denen sie sich behaupten wollen in einer multipolaren Welt, die eben nicht der westlichen Utopie der regelbasierten Kooperation der Staaten?
![]() | Emmanuel Todd Der Westen im Niedergang Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall 352 Seiten, 2024 Westend Verlag 28,- EUR |