„Faschistischer Sprech“ Ideologische Schranken: Der Kasseler Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ geht ausgerechnet an die Publizistin Carolin Emcke
Daniel Körtel
Der Kasseler Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ ist sicher nicht der bedeutendste Preis, der in Deutschland verliehen wird. Doch immerhin getragen von einem Verein aus der Bürgerschaft der nordhessischen Region und nicht von der Parteipolitik oder staatlichen Institutionen, zeichnet der erstmals 1991 unter dem Eindruck des Falls des „Eisernen Vorhangs“ gestiftete und mit 20.000 Euro dotierte Preis – symbolisiert durch eine Glasprisma-Skulptur – jedes Jahr Persönlichkeiten und Institutionen aus, „die mit ihrem Wirken den Idealen der Aufklärung – Überwindung ideologischer Schranken, Vernunft und Toleranz gegenüber Andersdenkenden – in besonderer Weise dienen“. In diesem Jahr ging der Preis an die linksliberale Publizistin und Kolumnistin der Süddeutschen Zeitung Carolin Emcke.
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In seiner Begründung teilte der Förderverein mit, Emcke erhalte den Preis „für die analytische Präzision und besonnene Haltung, mit der sie ein universalistisches Wir freilegt und den demokratischen Kompaß in dichten wie unruhigen Zeiten ausrichtet.“ Sie spreche eine Sprache, die Haß und Gewalt etwas entgegensetzen könne. Emckes umstrittener Auftritt auf der Digitalkonferenz re:publica im vergangenen Juni stand der Preisverleihung offenbar nicht entgegen. Dort hatte sie – ganz entgegen den Werten der Aufklärung – die kategorische Abschaffung von Pro-und-Kontra-Diskussionen gefordert.
Zum Festakt am vergangenen Sonntag im Opernhaus des Kasseler Staatstheaters dominierte in den Redebeiträgen und Grußworten die Sorge vor „der Gefährdung unserer Demokratie“, vor allem durch rechte Parteien, festgemacht an der chaotisch verlaufenden konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtages in der vergangenen Woche.
In ihrer Festrede lobte Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München, die Preisträgerin als jemanden, die „die Latte hochlegt und es sich selbst nicht einfach macht“. Im Hinblick auf die Erfolge von AfD und FPÖ warnte sie: „Jede Zeit hat ihren eigenen Faschismus.“
Der Philosoph Martin Saar (Goethe-Universität Frankfurt am Main) arbeitete in seiner Laudatio heraus, wie aus seiner Sicht im Schreiben der an Jürgen Habermas geschulten, promovierten Philosophin die Vernunft im Diskurs und in der Kommunikation entstehe.
In ihrer Dankesrede kritisierte Emcke die verbreitete Angst vor der „angeblichen Bedrohung“ von Abendland und Heimat durch die anhaltende Migration. In ihrer Idealvorstellung von „Demokratie als offenem Prozeß“ griff sie analog auf die „Kunst der Fuge“ von Johann Sebastian Bach zurück, ein unvollendetes und fragmentarisches Werk. Der Korpus an Grundregeln darin stehe für die Grundrechte und die Menschenwürde, die die „Feinde der Demokratie“ aushöhlen wollten. Weiterhin beklagte sie „die Pathologie unserer Zeit und in Europa, daß sie Verschiedenheit nicht aushalten kann“ und sagte schließlich unter dem Beifall des begeisterten Publikums: „Das Reden von normalen Leuten ist faschistischer Sprech.“
„They see you“, der gerade angelaufene Kinofilm des amerikanischen Filmemachers M. Night Shyamalan ist zurecht wegen seiner Mittelmäßigkeit kritisiert worden. Doch in der Besetzung in dem Plot um eine vierköpfige Gruppe, die in einem öden Betonklotz inmitten eines verwunschenen Waldes in Irland gefangen ist, ragt eine Darstellerin besonders heraus. Olwen Fouéré, die darin die gestrenge Madeline mimt, fällt schon durch ihre optische Erscheinung auf. Zwar nicht von besonders großer Statur, richten sich doch schon automatisch durch ihre wallenden weißen Haare die Blicke auf die raumfüllende Präsenz ihrer alterslosen und würdevolle Erscheinung.
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Der Gothic-Horrorfilm ist Fouérés erster bedeutender Auftritt in einer A-Produktion. Zuvor trat sie in Nebenrollen in Kino- und Fernsehfilmen wie „The Northman“ (2022) oder „The Tourist“ (2024) auf. Besonders bemerkenswert war 2022 ihre Rolle als Texas Ranger Sally Hardesty, die in dem Horrorfilm „Texas Chainsaw Massacre“ dem eine Kettensäge schwingenden Killer Leatherface entgegentritt. Wenn ihre Rollen auf der Leinwand eines gemeinsam haben, so sind es Charaktere, denen kaum ein Lächeln zu entlocken ist.
Im vergangenen März 70 Jahre alt geworden, kann Fouéré als die bedeutendste Schauspielerin Irlands auf eine weit zurückreichende internationale Theaterlaufbahn zurückblicken, darunter so renommierte Häuser wie das Abbey Theater und das Gate Theatre in Dublin, das Londoner Royal National Theatre oder das Lincoln Center in New York. Zusätzlich übersetzte sie Stücke aus dem französischen. In ihrer Vita finden sich bedeutende Preise für ihre Leistungen und Erfolge im Theater. Erst die Covid-Pandemie, in der die Theaterbühnen dem Lockdown zum Opfer fielen, brachte ihrer Filmkarriere einen zusätzlichen Schub.
1954 in Irland geboren und aufgewachsen, liegen Fouérés eigentliche Wurzeln nicht dort. Ihr Vater, der Anwalt und Journalist Yann Fouéré, war ein prominenter bretonischer Nationalist. Nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Anklage der Kollaboration mit den deutschen Besatzern konfrontiert, wählte er das Exil im abgelegenen westirischen Connemara an der Atlantikküste, wo er eine Familie gründete und 2011 verstarb. Die Anklage gegen ihn war von geringer Substanz. Der Vorwurf der Kollaboration war seinerzeit ein effektives Instrument der französischen Zentralregierung, um den vor dem Krieg starken bretonischen Nationalismus nachhaltig zu schwächen.
Obwohl Connemara und die Bretagne durchaus gewisse Gemeinsamkeiten verbinden, fiel Yann Fouérés Tochter Olwen das Einleben nicht leicht. Ihre ersten 20 Lebensjahre verbrachte sie damit, sich in Irland zu assimilieren. Dieses Außenseiter-Dasein befähigte sie zur Schauspielkunst, wie sie der Irish Times berichtete: „Wenn du deinen Platz am Rand findest, dann ist das tatsächlich ein guter Ort zum Sein. Ich kann Einblicke nehmen und sehen, was passiert… Als ein Außenseiter, entdeckst du oder akzeptierst du, wie Identität kein fixes Ding ist. Es bewegt sich alle Zeit, es ist etwas Fließendes. Es ist sehr befreiend.“
Derzeit feiert Fouéré große Erfolge mit der Irland und Australien umspannenden Aufführung des Theaterstücks „Der Präsident“ des österreichischen Dramatikers Thomas Bernhard (1931 – 1989). Sie spielt darin die exzentrische First Lady des Diktators eines namenlosen Landes irgendwo in Europa, dargestellt von Hugo Weaving, besser bekannt als Agent Smith aus „Matrix“ und Elrond aus „Herr der Ringe“. Ihre bizarre, dekadente Existenz ist durch einen Volksaufstand auf Messers Schneide. Ein australischer Kritiker bejubelte die Produktion als „erste Klasse mit der Besetzung und einer kreativen Mischung aus australischem und irischem Talent.“
Die Herausforderungen des Schauspiels auf der Bühne für den Darsteller verglich Fouéré mit „einer Art von kleinem Tod“, wie bei einem Sprung von der Klippe: „Du hoffst auf Gott, daß genug Wasser am Boden der Klippe ist, worin du schwimmen kannst.“ Die dazu erforderliche mentale und körperliche Sportlichkeit erfordere einen unterschiedlichen Muskel für die Darstellung sowohl auf der Bühne als auch im Fernsehen und im Film.
Wo auch immer die bretonische Außenseiterin auf Irlands Bühnen, die alte weise Frau des irischen Theaters aufzutauchen gedenkt, wir werden noch einiges von ihr zu sehen bekommen. Auch mit über 70 Jahren ist in der Karriere der Olwen Fouéré noch viel Potential vorhanden.
Reportage aus Thüringen: Wenige Wochen vor dem Katholikentag in Erfurt fand im Eichsfeld die größte Männerwallfahrt Deutschlands statt
Daniel Körtel
Beim Schlagen der Glocke, die die Gläubigen um neun Uhr zur heiligen Messe ruft, strömen die Pilger herbei. Bereits seit den frühen Morgenstunden füllt sich der Vorplatz der Kapelle des Wallfahrtsortes Klüschen Hagis im thüringischen Eichsfeld, wenige Kilometer südlich der Kreisstadt Heiligenstadt, die über die für den allgemeinen PKW-Verkehr gesperrte Wachstedter Straße herbeikommen. Es ist Christi Himmelfahrt, ein kirchlicher Feiertag, der in dieser katholischen Hochburg an dieser Stelle eine besondere regionale Bedeutung hat. Denn an diesem Tag findet die Tradition der größten Männerwallfahrt Deutschlands statt, zu der sich mehrere tausend Gläubige aus dem ganzen Eichsfeld versammeln.
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„Selig, die den Frieden preisen“ – das im Matthäus-Evangelium hinterlegte Jesus-Wort aus der Bergpredigt ist das Motto der diesjährigen Wallfahrt. Eine naheliegende Wahl in einer Zeit, in der Kriege in Osteuropa und dem Nahen Osten toben, die aber auch erfüllt ist von gesellschaftlichen Konflikten im eigenen Land, auch von Unfrieden im eigenen Leben. Und bereits auf dem Weg wird der Pilger mit Appellen zur Selbstbefragung eingestimmt: „Wie bestimmen Vorurteile dein Verhalten?“ oder auch „Bist du neidisch auf andere?“
Der Hang zwischen der Kapelle und dem Wald ist inzwischen gut gefüllt, fast ausschließlich Männer, zu denen sich auch vereinzelt Frauen gesellen. Ein älterer Wallfahrer bestätigt auf Nachfrage den nach wie vor hohen Stellenwert dieses Ereignisses für die Region, doch mit einem Augenzwinkern weist er auf die Bier- und Imbißtände unterhalb der Kapelle hin: „Es geht nicht nur um Frömmigkeit.“ Schon während des Gottesdienstes dringt ein hörbarer Geräuschpegel durch von jenen Besuchern, denen eher am Vatertag mit Bollerwagen als an spiritueller Einkehr gelegen ist.
Auch ein Büchertisch ist vorhanden. Lagen dort in den vergangenen Jahren sogar Bücher des Linken-Politikers Gregor Gysi und der früheren protestantischen Bischöfin Margot Käßmann und zur LGBTQ-Problematik in der Kirche, so stehen dieses Mal vor allem die aktuellen Titel des Journalisten Peter Hahne und des populären Buchautors Manfred Lütz sowie des früheren Papstsekretärs Georg Gänswein im Angebot.
Erstmals eingerichtet wurde die Männerwallfahrt zum Klüschen Hagis 1957 auf Initiative des katholischen Seelsorgers Ernst Göller (1906–1996). Sie sollte die traditionellen und religiösen Selbstbehauptungskräfte des Eichsfeld gegen die Bedrängung durch das atheistische SED-Regime stärken. Weit über 10.000 Pilger kamen seinerzeit zusammen. In diesem Jahr, so teilte es der für die Wallfahrt zuständige Pastoralreferent Julian Hanstein der JUNGEN FREIHEIT mit, seien es immerhin rund 7.000 gewesen, und damit mehr als die 6.500 im vergangenen Jahr.
Zu Zeiten der DDR nutzten die Bischöfe solche Wallfahrten, um in ihren Predigten der Staatsführung „durch die Blume“ Botschaften zukommen zu lassen, zuweilen auch offene Kritik. Aber auch nach dem Ende der DDR und damit dem Verschwinden der kirchenfeindlichen Repressionen kommt dem Ereignis nach wie vor über das eigentliche kirchliche „Tagesgeschäft“ hinaus eine besondere Bedeutung zu.
So stellte der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr die im ersten Grundgesetzartikel verankerte Menschenwürde in den Mittelpunkt seiner Wallfahrtspredigt. Darin verknüpfte er die Himmelfahrt Christi mit der Menschenwürde, denn so wie Christus erhöht wurde, so auch der Mensch in seiner Würde. Davon ausgehend verteidigte er das Asylrecht als ein „heiliges Recht“ und bedankte sich „bei allen, die sich um Integration bemühen, auch im Eichsfeld“.
Des weiteren ging Neymeyr auch auf den Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche ein, allerdings in scharfer Abgrenzung von Politikern, denen es dabei nur um den „Erhalt des deutschen Volkskörpers“ ginge, und betonte stattdessen: „Jede Schwangerschaft sollte ein Grund zu Freude sein.“
Doch auch in bezug auf ein für die Kirche besonders schwieriges Thema hatte der Bischof eine Botschaft parat: „Wir müssen auch in unserer Kirche lernen, die Menschen anderer sexueller Orientierung zu respektieren“, ohne allerdings diesen Anspruch näher konkret auszugestalten. Den Gläubigen gab Neymeyr eine Warnung mit, die viele überraschte: „Wer Homosexualität vehement ablehnt, der sollte sich darauf gefaßt machen, daß eines Tages sein Sohn kommt und sich als homosexuell erklärt.“
Abschließend verwies Neymeyr auf die kürzlich erfolgte Erklärung der Bischöfe zur Demokratie, ein faktischer Unvereinbarkeitsbeschluß von Christen und der AfD, ohne daß Neymeyr allerdings die Partei beim Namen nannte.
Der politische Charakter der Predigt des Bischofs irritiert viele
Der spärliche Beifall während und am Ende der Predigt deutet darauf hin, daß sie vermutlich nicht den Anklang unter den Gläubigen gefunden hat, den sich der Bischof wohl gewünscht hatte. Ein Pilger beklagte sich währenddessen hörbar über den politischen Charakter der Predigt, die ihm vorkam wie Wahlkampf, so als ob ihm darin der Artikel eins des Grundgesetzes über die Menschenwürde erklärt würde. Er fühle sich dadurch nicht mitgenommen und wies zusätzlich auf den konservativen Charakter der Eichsfelder hin, unter denen es auch AfD-Wähler gebe: „Gilt für jene die Menschenwürde nicht?“
Doch verfügt die katholische Kirche überhaupt noch über die Autorität, um in einem ihrer besonderen Stammlande die Menschen in ihrem Sinne zu lenken? Noch zu DDR-Zeiten gab es eine feste Bindung von Amtskirche und Kirchenvolk, an der sich die SED regelrecht die Zähne ausbiß. Hierfür waren auch die intakten Familienstrukturen im katholischen Milieu hilfreich. Zwar verzichtete die Kirche auf offenen Widerstand und versuchte stattdessen hinter den Kulissen ihren Einfluß geltend zu machen. In seiner umfassenden Dissertationsschrift „Rosenkranzkommunismus“ von 2019 stellt der Historiker Christian Stöber fest, daß „die SED wieder einmal die bittere Erkenntnis [erlangte], daß eine offene Antikirchenpolitik, die sich ausdrücklich gegen den katholischen Glauben richtete, dauerhaft nur schwer bis gar nicht durchzuhalten war, wollte die Partei einen größeren und nachhaltigen politischen Schaden vermeiden.“
Und vor allem der Klerus erwies sich als besonders resistent gegen die Anwerbeversuche der Staatssicherheit. Mit ihrem Eichsfeld-Plan einer forcierten Industrialisierung sollte stattdessen die strukturschwache, von kleinflächiger Landwirtschaft geprägte Region, die als unmittelbares Grenzgebiet besonders unter der Teilung litt, so entwickelt werden, daß sie von der Fortschrittsideologie der SED überzeugt werde. Dennoch ließen sich die Eichsfelder für den Sozialismus nicht gewinnen.
Das blieb auch nach außen nicht verborgen. So war es kein Geringer als Papst Benedikt XVI., der „in seiner Jugend so viel vom Eichsfeld gehört“ habe und daher im September 2011 auf seiner Deutschland-Visite auch im Eichsfeld Station machte, um so den religiösen Selbstbehauptungswillen der Eichsfelder „in zwei gottlosen Diktaturen, die es darauf anlegten, den Menschen ihren angestammten Glauben zu nehmen“, zu würdigen.
Allerdings scheint es sich auch im Fall des Eichsfelds zu bestätigen, daß – neben anderen Gründen – nach dem Wegfall einer Diktatur und damit auch den politischen Solidarisierungseffekten, die Möglichkeiten einer freiheitlichen Demokratie ernste Auflösungserscheinungen im bislang festgefügten kirchlichen Milieu zur Folge haben.
Im November 2022 bestätigte die Seelsorgeamtsleiterin des Bistums Erfurt Anne Rademacher in der Thüringer Allgemeinen, daß inzwischen auch im Eichsfeld Kirchenaustritte und nachlassende Gottesdienstbesuche zum Alltag gehören. Im Bistum Erfurt, zu dem das Eichsfeld gehört, entfielen von 1.670 Kirchenaustritten allein 543 auf diese Region. Zu den Begründungen führte Rademacher eine an, die besonders überrascht: „Gläubige treten aus der Kirche aus, um ihren katholisch geprägten und bis dahin durchaus kirchlich gelebten Glauben erhalten zu können. Diese Menschen leiden an der Diskrepanz zwischen Glaubensleben und (manchen) Kirchenerfahrungen.“
Katholiken sind im Eichsfeld die dominierende Gemeinschaft
Das Eichsfeld gehört verwaltungstechnisch zum Bistum Erfurt. Seine Sonderstellung darin wird dadurch deutlich, daß es 53,7 Prozent (2022) der Kirchenmitglieder des Bistums stellt. Vollkommen anders hingegen stellt sich die Situation in der Stadt Erfurt selbst dar. Gemäß dem Zensus von 2011 stehen hier 13.810 Katholiken gegen 29.690 Protestanten in der Minderheit, die aber gemeinsam nicht einmal annähernd soviel aufbieten können wie die 151.680 Konfessionslosen. Demgegenüber stellt der Landkreis Eichsfeld mit 71.190 Katholiken die dominierende Konfession, während sich dort 10.940 zur evangelischen Kirche beziehungsweise 18.310 als konfessionslos bekennen.
Und doch wird Erfurt, wo der Reformator Martin Luther sein Theologiestudium absolvierte, in diesem Jahr Austragungsort des Deutschen Katholikentages sein, der vom 29. Mai bis 2. Juni stattfindet. Sein Leitwort „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ aus den Psalmen greift das Kernthema der Männerwallfahrt auf. Die erklärte Absicht des Katholikentages ist es, in Erfurt „sich für unsere gemeinsamen Werte, für Freiheit, Demokratie und eine friedliche und offene Gesellschaft einzusetzen“. Als Gäste angesagt sind unter anderem die Klima-Aktivistin Luisa Neubauer, Bundeskanzler Olaf Scholz und der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow.
Das scheint nicht viel Platz zu lassen für die Konflikte in der Kirche, innerhalb Deutschlands und mit Papst Franziskus, der im vergangenen November in einem Schreiben dem von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken angestoßenen liberalen Reformprozeß „Synodaler Weg“ eine deutliche Absage erteilte. Vor allem die angestrebte Demokratisierung kirchlicher Strukturen ist dem Papst ein Dorn im Auge, und er warnt die deutschen Katholiken davor, sich dadurch von der Einheit der Weltkirche zu entfernen.
Es war ein Paukenschlag, wie ihn keiner erwartet hatte: Am 23. Juni 2016 stimmte in einem historischen Referendum eine knappe Mehrheit von 51,89 Prozent der Briten für den Brexit, den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Gemeinschaft. Nach langwierigen Verhandlungen zwischen London und Brüssel wurde dieser Austritt am 31. Januar 2020 vollzogen.
Vielfach rätselte man außerhalb Großbritanniens, vor allem in der EU selbst, über die Gründe und Motive der Briten für das Ergebnis dieses Referendums. Vor allem die Deutschen, für die die EU den Stellenwert eines „goldenen Kalbs“ hat, unterstellten irrationale Gründe. Aber auch in Großbritannien selbst ging man auf Ursachenforschung, akademisch aber auch literarisch. Den überzeugendsten Versuch, den Brexit mittels eines Romans zu erklären, unternahm bereits 2018 der englische Schriftsteller Jonathan Coe mit „Middle England“.
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Im Brexit verdichteten sich die gesellschaftlichen Gegensätze Großbritanniens – vor allem in England – in einer politischen Fragestellung, die nur scheinbar mit dem eigentlichen Gegenstand zu tun haben schien. Stadt gegen Land, Arbeiter gegen Akademiker, prosperierender Süden gegen abgehängten Norden, oder – um die von dem britischen Journalisten David Goodhart formulierten Begriffe zu verwenden – um den Konflikt zwischen Anywheres und Somewheres, zwischen den hochqualifizierten und kosmopolitisch eingestellten urbanen Eliten gegen die auf ihrer jeweiligen lokalen Ebene verwurzelten, traditionellen Milieus. Und nirgendwo ist dieses Milieu stärker präsent, hat entschiedener für den Brexit gestimmt, als in Middle England, der Kernregion der britischen Insel mit seinem Zentrum Birmingham.
Über einen Zeitraum von acht Jahren, beginnend von April 2010 an, verwebt Coe kunstvoll die Geschichte mehrerer Protagonisten eines weitverzweigten Familiengeflechts bis zum September 2018, um dem Leser die Veränderungen im Land zu vermitteln, die das Referendumsergebnis bestimmten.
Doch warum beginnt Coe seine Geschichte des Brexit ausgerechnet im April 2010? Damals vollzog sich eine außergewöhnliche innenpolitische Zäsur, als der Labour-Premier Gordon Brown in der Unterhauswahl abgelöst wurde durch den Tory David Cameron, der später das Brexit-Referendum in Gang setzen sollte. Hauptursächlich für Labours Machtverlust war ein eklatanter Fehltritt Browns im Wahlkampf, nachdem er einer einwanderungskritischen Wählerin hinterrücks bescheinigte, „bigot“ – engstirnig bzw. borniert – zu sein. Was Brown nicht bedachte: Ein Mikro nahm seine Worte auf, die sich anschließend über die Medien wie ein Lauffeuer verbreiteten. Damit war das von seinem Amtsvorgänger Tony Blair initiierte Fortschitts-Projekt „New Labour“ auf einem Schlag am Ende, ohne daß sich die Partei bis heute davon erholt hat.
Coes Protagonisten sind wie in einem Netzwerk miteinander verbunden, ohne daß diese Verbindungen künstlich aufgeblasen wirken oder der Leser den Überblick verliert. Ihre Handlungen bedingen einander, das Verhalten eines Einzelnen wirkt sich fast auf das gesamte Netzwerk aus.
Greifen wir das junge Ehepaar Ian und Sophie heraus: Sophie ist Dozentin an einer Hochschule, während Ian als Fahrlehrer Nachschulungen für Verkehrssünder gibt. Nachdem Ian infolge der Unruhen im August 2011 verletzungsbedingt in einem Krankhaus in Birmingham stationär behandelt wird, kümmert sich Sophie um seine Mutter Helena. Es kommt der Augenblick, wo sich zwischen beiden der entscheidende Riss auftut, der das Land spaltet:
„Er hatte ganz recht. ,Ströme von Blut.‘ Er war der Einzige, der den Mut hatte, es auszusprechen.“
Sophie erstarrte, als sie diese Worte hörte, und die Plattitüden erstarben ihr auf den Lippen. Das Schweigen, das sich jetzt zwischen ihr und Helena ausbreitete, war abgrundtief. Da war es also. Das Thema, das nicht diskutiert werden sollte, nicht diskutiert werden durfte. Das Thema, das die Menschen mehr als jedes andere spaltete, mehr als jedes andere ängstigte, denn wenn man es anschnitt, legte man die eigenen Kleider ab und zog auch dem anderen die seinen aus, sodass beide gezwungen waren, den anderen nackt zu sehen, ungeschützt, und ohne den Blick abwenden zu können. Was immer sie in diesem Moment zu Helena sagte – so es denn ihre eigenen, abweichenden Ansichten widerspiegelte -, es würde gleichzeitig bedeuten, sich der furchtbaren Wahrheit zu stellen: dass Sophie (und alle, die so dachten wie sie) und Helena (und alle, die so dachten wie sie) zwar gemeinsam im selben Land lebten, sich aber gleichzeitig in ihrem jeweils eigenen Universum befanden, getrennt durch eine unendlich hohe, undurchdringliche Wand, eine Wand aus Furcht und Misstrauen und – wer weiß? – vielleicht auch aus jenen englischsten aller Eigenschaften, nämlich Scham und Befangenheit.
Coe spielt hier auf eine der bedeutendsten Reden der britischen Geschichte des 20. Jahrhunderts an, die der britische Politiker Enoch Powell 1968 in Birmingham hielt. Powell warnte darin vor den fatalen Folgen der anhaltenden Einwanderung. Obwohl ihn diese Rede seine politische Karriere kostete, fand sie bis heute ihren Nachhall, weil sie nicht wenige als visionär empfinden.
Helena wählte die konservativen Tories, doch weniger aus Überzeugung. Aus ihrer tiefen Abneigung gegenüber den politischen Eliten macht sie keinen Hehl:
„Wählen ist reine Zeitverschwendung geworden, da alle Politiker dieselben modischen Ansichten vertreten. Natürlich habe ich Mr. Cameron gewählt, aber ohne jede Begeisterung. Seine Werte sind nicht unsere Werte. Tatsächlich weiß er über unsere Werte ebenso wenig Bescheid wie seine politischen Gegner. Sie stehen alle auf derselben Seite – und das ist nicht unsere Seite.“ (…)
„Die Menschen in Mittelengland haben Mr. Cameron gewählt, weil sie keine echte Wahl hatten. Die Alternative war undenkbar. Aber sollten wir je die Gelegenheit bekommen, ihn wissen zu lassen, was wir wirklich von ihm halten, dann, glauben Sie mir, werden wir sie ergreifen.“
Sie sollte ihre Chance dazu bekommen.
Doch auch zu Ian tut sich für Sophie ein Riss auf, als er bei einer Beförderung zugunsten seiner asiatischen Kollegin zurückgesetzt wird. Sind ihr Migrationshintergrund und ihr weibliches Geschlecht die zwei entscheidenden förderungswürdigen Merkmale, die jeden einheimischen weißen Mann ins Hintertreffen geraten lassen?
Aber auch die progressive Sophie droht in den Mahlstrom der Political Correctness zu geraten, nachdem sie mit einer banalen Bemerkung zu einer transgeschlechtlichen Studentin einen – für sie vollkommen unverständlichen – Kreuzzug der woken Bewegung gegen sich entfacht. Wortführerin ist ausgerechnet Coriander, die Tochter von Doug, einem liberalen Journalisten und alten Schulfreund ihres Onkels Benjamin. Ian hält Sophie ihre Doppelmoral vor:
„Ich weiß genau, was das bedeutet. Was du Respekt für Minderheiten nennst, bedeutet im Wesentlichen, dem Rest von uns den Stinkefinger zu zeigen. Von mir aus, beschütze doch deine kostbaren … Transgender-Studenten vor den schrecklichen Dingen, die die Leute über sie sagen. Pack sie ruhig in Watte. Aber was ist, wenn man weiß, männlich, heterosexuell und Mittelklasse ist, hm? Dann können die Leute über einen sagen, was sie wollen, verfluchte Scheiße.“ (…) lan sah sie direkt an und sagte in bitterem Ton: „Du hast keine Ahnung, nicht wahr?“ „Keine Ahnung wovon?“ „Davon, wie wütend uns das macht, dieses moralische Überlegenheitsgetue, das ihr alle ständig -“ Sophie unterbrach ihn. „Entschuldige, aber wer soll das sein? Wer ist ‚wir‘? Wer ist ‚ihr alle‘?“ Anstatt die Frage zu beantworten, stellte Ian eine andere: „Wie, glaubst du, wird das Referendum ausgehen?“ „Lenk jetzt nicht vom Thema ab.“ „Tu ich nicht. Wie wird es deiner Meinung nach ausgehen?“ Sophie erkannte, dass er nicht lockerlassen würde. Sie blies die Backen auf und sagte: „Ich weiß nicht … Remain, wahrscheinlich.“ Ian lächelte zufrieden und schüttelte den Kopf „Falsch“, sagte er. „Leave wird gewinnen. Und weißt du, warum?“ Sophie zuckte mit den Schultern. „Wegen Leuten wie dir“, sagte er mit leisem Triumph. Er hielt ihr den ausgestreckten Zeigefinger vors Gesicht und wiederholte: „Leuten wie dir.“
Ian sollte recht behalten. Die Überforderung der autochthonen englischen Gesellschaft mit der anhaltend hohen Zuwanderung in Verbindung mit der Political Correctness der sie fördernden Eliten fand schließlich ihr Ventil im Brexit-Referendum – und den letzten Nagel auf diesem Sarg der britischen EU-Mitgliedschaft dürfte die deutsche Kanzlerin Merkel mit ihrer Politik der offenen Grenzen eingeschlagen haben. „Take back control – die Kontrolle zurückerlangen“ – der Slogan der Brexit-Befürworter meint vor allem die britische Souveränität darüber, wer in das Land kommt.
Noch 2020 sendete ARTE, der vermeintliche Sender für hohe Ansprüche, die zweiteilige Dokumentation „Das gespaltene Königreich und der Brexit – Rule, Britannia!“, die in ihrer Machart genau die von Coe ausgebreiteten Vorbehalte der Brexiteers vollauf bestätigte, indem sie diese als adipöse, geistig unterbelichtete Eingeborene gegen weltoffene liberale Städter und die Kultur Britanniens bereichernde Migranten stellte. Oder, um in den Worten Browns zu bleiben, eben als „borniert“.
Doch wer sich ein exakteres Bild von den Motiven derer machen will, die für Leave stimmten, der sollte „Middle England“ lesen. Jonathan Coe ist damit ein exzellenter Gesellschaftsroman gelungen, ohne hintergründigen Erziehungsauftrag an die Leser, auf Äquidistanz zu beiden Lagern bedacht, obgleich die Schlagseite für die Remainer deutlich hervortritt. Dafür spricht auch das versöhnliche Ende, das fast alle Beteiligten ausgerechnet in einem französischen Landhaus versammelt. Was Coe ausbreitet, ist der Riss, der sich durch Englands Seele zieht. Und dieser Riss sollte uns wohl vertraut sein, denn er zieht sich in gleicher Weise durch alle Gesellschaften der westlichen Demokratien.
Auch bei seinem Nachfolgebuch ist Coe beim Brexit geblieben: Das 2023 erschienene „Bournville“ setzt als Familienepos das Thema fort.
Jonathan Coe Middle England Folio Verlag, 2020 480 Seiten 24,- Euro
Das historische Porträt: Enrico Dandolo (1107 – 1205)
Epochale Wenden können sich in der Menschheitsgeschichte über längere Zeiträume vollziehen, aber manchmal auch wie auf einen Schlag. Oftmals ist eine Zeitenwende dem Einsatz einer Persönlichkeit zuzuschreiben, in der Regel nicht mit vorabsehbarem Ergebnis, dieses jedoch durch den selbstbewußten Einsatz, das Werfen der eigenen Person in die Waagschale, schließlich herbeiführend. Ein solcher Wechsel vollzog sich im Jahr 1204, als eine westeuropäische Streitmacht aus Kreuzrittern unter der Führung der Handelsrepublik Venedig durch die Eroberung der Metropole Konstantinopel dem Byzantinischen Reich ein Ende bereitete und das Imperium von Venedig als Beherrscher des östlichen Mittelmeerraums an dessen Stelle trat. Der Mann, der das möglich machte: Enrico Dandolo, der Doge von Venedig.
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Das aus dem Zerfall des Römischen Reiches hervorgegangene Byzantinische Reich war die vorherrschende Großmacht in Osteuropa und Kleinasien. Seine Hauptstadt Konstantinopel galt an Reichtum und Pracht als einzigartig in Europa und als Knotenpunkt globaler Handelsströme. Dennoch zeigten sich bereits bedenkliche Risse in seinem morschen Gebälk. Im Inneren erschüttert von Unruhen, an seinen Rändern ausfransend, seine militärische Stärke bröckelnd, zeigte es ernste Symptome des Niedergangs.
Demgegenüber stand der Aufstieg von Venedig, einst byzantinischer Außenposten, der sich seine Unabhängigkeit vom Mutterland erkämpfte. Mit seinen Schiffen knüpfte es ein das Mittelmeer umspannendes Handelsnetz. An seinen Marktplätzen kamen aus ganz Europa die Händler zusammen. Die Lagunenstadt band ihr Schicksal an das Meer, über das ihm sein zunehmender Reichtum zufloss. Die strategische Wende zum Beherrscher der Adria kam für Venedig Ende des 11. Jahrhundert, als Byzanz ihm für maritime Waffenhilfe außerordentliche Handelsprivilegien zusprach. Eine Entscheidung, die die oströmischen Kaiser noch bitter bereuen sollten.
Es ist April 1204. Seit dem Juni vorigen Jahres steht das von einer venezianischen Flotte transportierte Kreuzfahrerheer vor den Mauern Konstantinopels. Eigentlich sollte dieses Heer als Vierter Kreuzzug Ägypten angreifen, um so die Jerusalem und das Heilige Land beherrschenden Sarazenen von ihrem reichen Hinterland abzuschneiden. Für Venedig, das die Flotte stellen sollte, wäre es ein Jahrhundertgeschäft geworden. Doch statt der zugesagten 34 000 Kreuzritter trafen am Ende sehr viel weniger in der Lagunenstadt ein. Für Venedig, das für das Unternehmen in erhebliche Vorleistungen getreten war, drohte ein Desaster.
Das Oberhaupt der Lagunenstadt, der greise Doge Enrico Dandolo, verfiel jedoch stattdessen auf einen perfiden Plan, der seiner Stadt doch noch zum Vorteil gereichen sollte. Erst ließ er zur Stundungsleistung der aufgehäuften Schulden im November 1202 die widerspenstige Adriastadt Zara von den Kreuzfahrern erobern und plündern. Der Überfall der Kreuzritter auf eine christliche Stadt, gegen den selbst die Sanktionen des Papstes sich als machtlos erwiesen, entlarvte die hehren Motive nach einer Befreiung des Heiligen Land als reine Staffage, hinter der sich reine Gier nach Macht und Eroberung verbargen, und der einen Vorgeschmack gab, auf das was noch kommen sollte.
Die Chance zur strategische Wende, die am Ende das politische Gleichgewicht in Osteuropa und im östlichen Mittelmeerraum zum Einsturz bringen sollte, kam schließlich in der Gestalt eines jungen byzantinischen Prinzen. Alexios Angelos – so töricht wie nichtsnutzig – erbat die Hilfe der Kreuzritter, um seinen Vater Issak II, der von seinem Onkel Alexios III. von Thron in Konstantinopel gestürzt und geblendet wurde, wieder in sein Amt einzusetzen. Seine Versprechungen waren so sagenhaft wie unrealistisch: Nicht alleine die Begleichung der Schulden der Kreuzritter, die Stellung von Soldaten für den Kreuzzug, sondern auch noch die Unterstellung der Orthodoxen Kirche unter das Supremat Roms.
Dandolo erkannte das Potential dieses Angebotes für Venedig wie kein anderer der Beteiligten. Über ihn schreibt der britische Publizist Roger Crowley:
In Venedig hatte man bei der Wahl der Dogen schon immer großen Wert auf eine Verbindung von Alter und Erfahrung gelegt, doch der Mann, den die Ritter aufsuchen wollten, war in jeder Hinsicht bemerkenswert. Enrico Dandolo war der Spross einer angesehenen Familie von Anwälten, Kaufleuten und Klerikern. Diese Familie war an nahezu allen wichtigen Ereignissen im vergangenen Jahrhundert beteiligt gewesen und hatte sich in bemerkenswerter Weise in den Dienst der Republik gestellt. Sie hatte an der Reformierung der kirchlichen und staatlichen Einrichtungen der Republik Mitte des 12. Jahrhunderts mitgewirkt und auch an den Kreuzzugsunternehmungen Venedigs teilgenommen. Nach allen Berichten waren die männlichen Mitglieder der Familie Dandolo mit beträchtlicher Klugheit und Energie ausgestattet – und mit Langlebigkeit. Im Jahr 1201 war Enrico schon über 90 Jahre alt. Und er war völlig blind. („Venedig erobert die Welt“, Roger Crowley)
Zwar war die Situation derzeit zwischen Konstantinopel und Venedig entspannt; die Handelsprivilegien waren immerhin bestätigt. Doch die Geißelkrise von 1172, als Kaiser Manuel alle Venezianer im Reich verhaften ließ, hinterließ einen Groll. Für Dandolo, der sich mit eigenen Mitteln im Kreuzzugsunternehmen engagierte und es mit seiner ganzen Persönlichkeit in seiner Stadt durchsetzte, ging es um alles. Die Flotte nahm Kurs auf, nicht in das Heilige Land, auch nicht nach Ägypten, sondern nach Konstantinopel.
Zur Überraschung der Kreuzfahrer war jedoch die Stadtbevölkerung, die bereits viele Machtwechsel gewöhnt war, keineswegs bereit, dem Prinzen die Tore zu öffnen. Doch bereits nach dem ersten Großangriff im Juli 1203, bei dem Venedig seine maritime Überlegenheit an der schwächsten Stelle der Stadtmauer, seiner Seite zur See hin, ausspielte, floh der Kaiser mit den Kronjuwelen aus der Stadt.
Issak II. wurde aus einem Kloster geholt und gemeinsam mit seinem Sohn wieder auf den Thron gesetzt. Und wieder einmal war es der persönliche Einsatz von Dandolo, der an vorderster Front am Bug seiner purpurroten Galeere, den Erfolg herbeigeführt hatte, als der Angriff auf der Kippe stand. Gleichwohl, Teile Konstantinopels gingen dabei in Flammen auf; ca. 20.000 Menschen verloren ihre Wohnstätte. Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Schnell zeigte sich, daß die Kaiser ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht einhalten konnten. Zwar versorgten sie das Kreuzfahrerheer, das sich zurückgezogen hatte, weiterhin mit Lebensmitteln. Doch die Stimmung in der Stadt erhitzte sich beständig, nahmen die Gegensätze zwischen Griechen und Westlern bedenklich zu. Kaiser Alexios vergriff sich am Kirchengold, um die Kreuzfahrer milde zu stimmen. Im August führten Ausschreitungen zwischen Griechen und italienischen Händlern zu einer verheerenden Feuersbrunst. Im sich anbahnenden Chaos unternahm im Januar 1204 der Edelmann Alexios Dukas „Murtzuphlos“ einen Staatsstreich und ließ die beiden Kaiser beseitigen, um mit Nikolaos Kanabos eine Marionette als Kaiser einzusetzen, um im Folgemonat diesen wiederum durch sich selbst als Alexios V. inthronisieren zu lassen.
Diese Wende war für Venedig und die Kreuzfahrer eine Katastrophe. Denn die Verträge waren an die Personen Issak und Alexios gebunden. Murtzuphlos wiederum dachte nicht daran, sich den Invasoren zu unterwerfen, sondern organisierte energisch den militärischen Widerstand.
Aus den Erfahrungen des vorhergehenden Großangriffs gelernt, gelang trotz heftiger Gegenwehr den Kreuzfahrern der Durchbruch in die Stadt über die Seemauer. Es war der 12. April 1204, heute vor genau 820 Jahren, als Konstantinopel seinen bis dahin schwärzesten Tag erlebte. Die Gegenwehr brach im Chaos zusammen, Murtzuphlos floh aus der Stadt.
Ohne Führung trat in einer religiösen Prozession eine Volksmenge den Kreuzrittern entgegen, um ihnen – wie in den von ihnen gewohnten Herrscherwechseln – die Krone des Reiches anzubieten. Die Kreuzritter wiederum, die den Griechen gegenüber äußerst mißtrauisch waren, verstanden diese Geste als Kapitulation, die ihnen das Recht zur Plünderung gab:
Für die Byzantiner war Konstantinopel das Abbild des Himmels auf Erden, eine Vision des Göttlichen, das dem Menschen offenbart worden war, ein großes heiliges Symbol. Die Kreuzfahrer dagegen betrachteten es als eine Schatzkammer, die der Plünderung harrte. Im Herbst noch hatten sie Konstantinopel gewissermaßen als Touristen besucht und den enormen Wohlstand der Stadt mit eigenen Augen gesehen. Auch Robert de Clari gehörte zu jenen, die sprachlos die Reichtümer bestaunten, die sich hier den Kriegern aus dem unterentwickelten Westeuropa boten. „Kein irdischer Mensch, wie lange er auch in der Stadt bleiben mag, könnte euch den hundertsten Teil des Reichtums, der Schönheit und der Herrlichkeit aufzählen oder beschreiben, die es an Abteien und Klöstern und Palästen in der Stadt gibt; man würde meinen, dass er lüge, und ihr würdet ihm nicht glauben.“ Nun war ihnen all dies ausgeliefert. Die beiden Führer des Kreuzzugs sicherten sich eilig die besten Beutestücke — die prachtvollen Kaiserpaläste, den Bukoleon- und den Blachernen-Palast, „so reich und so prächtig, dass man sie euch nicht zu beschreiben weiß.“ Eine Plünderungswelle überrollte die Stadt. Die vor dem Angriff abgegebenen Versprechungen waren vergessen. Die Kreuzfahrer fielen sowohl über die Kirchen als auch über die Häuser der Reichen her. (Venedig erobert die Welt“, Roger Crowley)
Was folgte war die Zerstückelung des Byzantinischen Reiches: Zum einen entstand daraus das schwache Lateinische Kaiserreich mit Konstantinopel. Da Dandolo die ihm angetragene Kaiserkrone ablehnte, hing sie an dem Franken Balduin, der nach einer 1205 verlorenen Schlacht sein Ende in einem bulgarischen Verlies fand. Der größte Gewinner war jedoch Venedig, dem eine Vielzahl von Stützpunkten in der Ägäis und die Insel Kreta als Kolonie zufielen, auf denen es sein bis in das Schwarze Meer hineinreichendes Imperium begründete. Dandolo hatte das vermutlich nie als Ziel vor Augen, doch nun war Venedig die unbestrittene Macht im östlichen Mittelmeer. Ein Jahr später starb er in der einst prachtvollsten und bevölkerungsreichsten Stadt der Christenheit, deren bitteres Schicksal er zu verantworten hatte.
Doch langfristig war diese geopolitische Zeitenwende eine Katastrophe. Denn mit seinem Niedergang verlor das Byzantinische Reich seine Pufferfunktion gegenüber dem aus Kleinasien heranrückenden Islam. Zwar gelang dem griechischen Nachfolgereich von Nikaia von Kleinasien aus eine bescheidene Restauration und konnte 1261 gar Konstantinopel zurückerobern. Doch seine Tage als Großmacht waren vorüber. Die Bewältigung des kollektiven Traumas von 1204 überforderte die verbliebenen Resilienz-Kräfte der Griechen. Die Konkurrenzkämpfe der italienischen Seerepubliken auf seinem Boden taten ihr übriges. So waren es die Genuesen, die osmanische Krieger von Kleinasien in den europäischen Teil von Byzanz übersetzten und so der muslimischen Landnahme nach Europa irreversibel Vorschub leisteten. Die einstige Weltmacht Ostrom glich einem langsam dahinsiechenden Leib. Nach rund 250 Jahren, am 29. Mai 1453, gaben die Osmanen mit der Eroberung Konstantinopels dem letzten Rest des Imperiums, was seit seiner Gründung im Jahr 330 n. Chr. durch Konstantin den Großen davon noch übriggeblieben war, endgültig den Todesstoß.
Roger Crowley Venedig erobert die Welt Die Dogen-Republik zwischen Macht und Intrige Theiss Verlag, 2011, 357 Seiten Nur noch antiquarisch erhältlich
Obwohl ihr Beginn keine fünf Jahre zurückliegt, scheint es, als hätte die Welt die aufreibende Zeit der Corona-Pandemie längst hinter sich gelassen. In ihre akute Phase trat die Pandemie heute vor vier Jahren ein. Am 22. März 2020, als die Bundesregierung dem Vorbild des autoritären China folgend den ersten Lockdown in der Geschichte der Bundesrepublik verhängte, war dies eine tief einschneidende Maßnahme, der noch weitere folgen sollten. Sie griff gravierend in das Leben und die Selbstbestimmungsrechte der Bürger ein. Die ökonomischen Folgen sind bis heute spürbar. Es gab kaum ein Land, das unter Berufung auf den Gesundheitsschutz, einen liberaleren Kurs in der Pandemiebekämpfung verfolgte. Kritiker wurden regelmäßig mithilfe regierungstreuer Medien als „Querdenker“ oder gar Rechtsextreme gebrandmarkt und so ins gesellschaftliche Abseits gestellt.
Eine der kritischen Stimmen, die aus dem medialen Einheitsbrei herausragten, war die des in der Schweiz lebenden Publizisten Milosz Matuschek. Sein in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlichter Kolumnentext „Was, wenn am Ende ‚die Covidioten‘ recht haben??“ (10.08.2022) war eine scharfzügige Abrechnung mit dem staatlichen Umgang mit der Pandemie:
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Im April starben Menschen an Covid-19, es wurden Ausgangssperren, Lockdowns und Schutzmaßnahmen verhängt, um eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden, die zu noch mehr Toten hätte führen können. Die Bedrohungslage bestand aus schweren Krankheitsverläufen, Hospitalisierungen, Todesgefahr. Heute muss man konstatieren: Der Kollaps des Gesundheitssystems ist nicht eingetreten, vielleicht auch dank den Maßnahmen. In Deutschland meldeten Ärzte und Kliniken Kurzarbeit für 400 000 Menschen an. Von der Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems redet inzwischen übrigens niemand mehr.
Kollabiert ist seitdem aber eines: die Kommunikation über das Virus. Das Virus entfaltet eine ungeahnte Nebenwirkung: Es befällt das Denkvermögen. Nun lautet die neue Gefahr: «Die zweite Welle ist im Anmarsch.» Besonders falsch sind da natürlich gerade Massendemonstrationen gegen die Corona-Politik wie letztes Wochenende in Berlin. Die Ansteckungsgefahr sei zu hoch. Erst versuchte man die Demonstration pauschal zu verbieten. Als das nicht klappte, rief man dazu auf, ihr fernzubleiben, es sei ohnehin nur eine Ansammlung von „Covidioten“, Rechtsextremen und Reichsbürgern. Es ist ungeheuerlich: Politiker und einige Journalisten verunglimpfen pauschal Menschen, die gegen die derzeitige Politik demonstrieren. Man ruft erneut nach dem Wolf, aber immer weniger Menschen glauben offenbar, dass er kommt. Gibt es ihn denn, den Wolf?
Die Reichweite des kontroversen Textes durchschlug alle Brandmauern, die das politisch-mediale Establishment um das Thema gezogen hatte. Der NNZ jedoch war der Erfolg nicht geheuer, und sie trennte sich von Matuschek, der fortan auf seinem Blog „freischwebende-intelligenz.org“ publizierte. Von dort aus setzte er seine kritische Beobachtung des weiteren Pandemie-Geschehens fort und bündelte seine Texte in dem 2022 veröffentlichen Buch „Wenn’s keiner sagt, sag ich’s“.
Auch wenn heute in 2024 Corona abgehakt scheint, der Griff zu dem Buch lohnt sich immer noch und sollte alle paar Jahre wiederholt werden. Denn das, was seinerzeit an Maßnahmen durchexerziert wurde, verschwindet mit der Pandemie nicht aus der Welt, sondern bleibt als Möglichkeit staatlichen Handels im Raum und kann auch unter anderen Umständen wiederholt werden:
Der punktuelle Ausnahmezustand droht zum permanenten zu werden. Sicher geglaubte Errungenschaften werden gerade abgewickelt. Mich erschüttert bis heute, wie aufgeklärte Gesellschaften das haben mit sich machen lassen und es immer noch tun. Wir erleben eine Verengung der Welt.
Die Texte werden von der Gegenseite, den „Zeugen Coronas“, kaum als Diskussionsbasis akzeptiert werden. Von Matuschek aufgegriffene Begriffe wie dem von dem Gründer des World Economic Forum propagierten Great Reset – mehr als eine bloße Verschwörungstheorie – können hier nur als Trigger wirken, als gedankenbeendendes Klischee, das jede sinnvolle Debatte im Keim erstickt. Das nur als Feststellung, nicht als Kritik am Autor.
Was sich wie ein roter Faden durch fast alle Texte zieht, ist die Abrechnung mit der Rolle der Mainstreammedien in der Pandemie. So schreibt Matuschek in „Wir brauchen einen Runden Tisch für die Meinungsfreiheit“:
Man muss kein Freund oder Fan der genannten Protagonisten sein, um das Kernproblem zu verstehen: Eine Demokratie hört irgendwann auf, eine zu sein, wenn die Deutungshoheit darüber, was Wissenschaft, Journalismus oder eine faire Debatte ist, von einer Obrigkeit und ihren Helfern bestimmt wird, egal in welchen Mantel diese Obrigkeit auch immer schlüpft. Wenn der Rest der Medien diese Falle auch noch beschweigt, entsteht zudem ein gesamtgesellschaftliches Problem mit langer Zündschnur: Das Zensierte sieht man nicht, weshalb es den wenigsten akut fehlt. In der Verhaltensökonomie kennt man dieses Phänomen der Sichtfeldverengung als „WYSIATI-Effekt“ („What you see is all there is“). Doch was man nicht sieht, spürt man irgendwann: In den Debatten macht sich erst Fadheit breit und später entsteht eine Fallhöhe zwischen veröffentlichter Meinung und der Realität, die für die etablierten Medien selbst ein massives Klumpenrisiko darstellt.
Matuscheks widerständige Haltung zum übergriffigen Staat erklärt sich wohl am besten durch seine Herkunft aus dem kommunistischen Polen, aus dem seine Eltern gemeinsam mit ihm nach Deutschland geflohen sind. Seine Ausbildung als Jurist schärfte seinen Sinn für die juristische Brisanz vieler Maßnahmen der „Verordnungsdiktatur“, von denen eine ganze Reihe von Gerichten wieder einkassiert wurden.
Sein Eintreten für Julian Assange nimmt da nicht wunder. Und es ist für den Kenner der Materie kaum verwunderlich, daß Matuschek den Bogen von hier zu dem Schriftsteller Ernst Jünger zieht, dessen Essay „Der Waldgang“ (1951) ihm zu einer Inspirationsquelle wurde, wie man sich in bedrohlichen Zeiten seine Freiheit bewahrt:
Der Essay Der Waldgang ist ein Schlüsseltext auch für unsere Zeit. Ja, im Grunde jeder Zeit, die sich wie unsere auch gerade einer Zeitenwende oder einem Verfallsdatum nähert. Denn der Waldgänger ist eine Wiederkehrende Erscheinung jeder Verfallszeit. So wie Hegels Eule der Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt, so ist es der Waldgänger, der sich erst nach Einbruch der Dunkelheit manifestiert. Jünger sah in seiner Zeit einen aktiven Nihilismus am Werk, eine bewusste Umformung der Werte. Die Zeit der „neuen Normalität“ wird nach gleichem Muster von oben verkündet, als unausweichliche Notwendigkeit in Form polit-planerischer Weitsicht und Herrschaftswissen. Doch dafür müssen die Planer erst noch an den Waldgängern vorbeikommen.
Große Hoffnungen verbindet Matuschek mit dem weiteren Aufstieg der Kryptowährung Bitcoin, mit der sich Geldwirtschaft und Staat voneinander entkoppeln lassen sollen. Doch das dahinterstehende Konzept bleibt auch nach Matuscheks Ausführungen nebulös und komplex. Auch ihm gelingt es nicht, Bitcoin von dem Verdacht freizusprechen, lediglich ein leeres Versprechen zu sein, ein Instrument wie ein Perpetuum Mobile, daß aus dem Nichts Werte schaffen soll und letztlich nur auf einem Schneeballsystem beruht. Bitcoin, so warnte erst kürzlich der irische Star-Ökonom David McWilliams, sei nichts anderes als ein Computercode, hinter dem im Gegensatz zu Land oder Häusern kein greifbarer Wert stehe: „Wir haben so etwas zuvor gesehen, und jeder mit einem Sinn für Finanzgeschichte kennt die Weise, wie das endet. Und das ist nicht schön.“
Offiziell ist die Corona-Pandemie nie für beendet erklärt worden. Aber dennoch: Die meisten Menschen haben ihren Frieden mit dem Thema gemacht und für eine politisch-gesellschaftliche Aufarbeitung dieser Zeit in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß wird sich wohl kaum eine Mehrheit finden, weder unter den Politikern der Altparteien noch unter der Wählerschaft, erst recht nicht unter der Journaille. Frage: Was soll da noch die Lektüre eines Buches wie Milosz Matuscheks „Wenn’s keiner sagt, sag ich’s“?
Vielleicht weil uns dieses Thema in der Zukunft schneller wieder begegnet, als wir es uns vorstellen möchten…
Milosz Matuschek Wenn’s keiner sagt, sag ich’s Verlag fifty-fifty 2022, 256 Seiten 20,00 Euro
Hat Romeo sich selbst ermordet? Sag du nur „ja“ Und dieses bloße Wörtchen „ja“ soll mehr vergiften Als des Basilisken todverheißend Auge. Ich bin nicht ich, wenn’s geben sollt ein solches „ja“ Und schlafend jene Augen, die dir das „ja“ entreißen!
Aus: „Romeo und Julia“, William Shakespeare
Der zweite Jahrestag des Beginns des russischen Krieges gegen die Ukraine brachte in den Medien manch merkwürdige Bewertung des militärischen Potentials Russland. Sollten die Russen diesen Krieg gewinnen, so würden dadurch russische Expansionsgelüste nach Westeuropa hinein geweckt; so sah ein Kommentator sogar den weiteren Vormarsch bis in die Schweiz kommen. Warum die Russen in die Schweiz marschieren sollten, blieb allerdings ungeklärt.
Wer alt genug ist, den bis 1990 andauernden Kalten Krieg miterlebt zu haben, dem kommt der Sound dieser Überlegungen merkwürdig vertraut vor. Auch damals machte man sich im Westen viele Gedanken darüber, was kommen könnte, gelänge den Russen der Sieg über den „freien Westen“. Der griffigste Slogan daraus war wohl der aus dem linken Spektrum kursierende Spruch: „Lieber rot als tot.“
Einer der sich damals darüber Gedanken machte, war der Schriftsteller Kingsley Amis (1922 – 1995). Amis gehörte zu den bedeutendsten britischen Schriftstellern seiner Zeit. Zu seinen bekanntesten Werken in Deutschland gehört der 1980 veröffentlichte und 1984 in der Science-Fiction-Reihe des Heyne Verlags erschienene Roman „Das Auge des Basilisken“.
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In dieser dystopischen Satire zeichnet Amis das Bild eines von den Sowjets besetzten Englands. Der Plot spielt sich 50 Jahre nach einem als „Pazifikation“ bezeichneten Krieges ab, der um die Wende zum 21. Jahrhundert stattfand. „Pazifikation“ – ein recht verharmlosender Begriff für eine militärische Auseinandersetzung, die uns heute daran erinnert, daß die Russen ihren Krieg in der Ukraine ebenso wenig beim Namen nennen, sondern zum „militärischen Sondereinsatz“ relativieren. Die Eroberung nahm nur drei Tage in Anspruch, abgesehen vom vergeblichen Widerstand einiger weniger.
50 Jahre danach ist das Land fast auf ein präindustrielles Niveau zurückgeworfen, statt den Weg in ein sozialistisches Paradies zu gehen. Die Analphabetenrate liegt bei 69 Prozent. Statt Autos fahren die Menschen mit Pferdekutschen und bestenfalls mit Fährrädern mit Hilfsmotor. Selbst Moskau steht kurz vor dem totalen Erliegen des motorisierten Verkehrs. Das von den Russen initiierte Entnationalisierungsprogramm hat die Engländer restlos von ihrem kulturellen Erbe entfremdet, selbst von ihrer anglikanischen Religion. Und offenbar haben die Besatzer nur einer ohnehin im Verfall begriffenen Gesellschaft den Todesstoß gegeben:
„Sie, die Anglikaner, sind seit langem von den Kräften der Aufklärung bedrängt, von innen wie von außen. Bekanntlich waren sie schon zur Zeit unserer Großeltern im Niedergang begriffen, sowohl was die Zahl der Gläubigen als auch was den Inhalt ihrer abergläubischen Vorstellungen betrifft: die meisten von ihnen lebten zugleich in einer laizistischen, wissenschaftlichen oder halbwissenschaftlichen Vorstellungswelt, selbst der Klerus und nicht zuletzt der höhere Klerus, und der Rest der Gläubigen war zu demoralisiert, um sie nicht zu dulden. Die Unterdrückung beschleunigte nur das unausweichliche.“
Hingegen haben es sich die russischen Besatzer komfortabel auf der Insel eingerichtet. Sie haben sich an die Stelle des englischen Adels gesetzt und leben dementsprechend in deren früheren Landhäusern. Jedoch stellen sie nur einen billigen Abklatsch dessen dar, was einmal eine ruhmvolle Vergangenheit repräsentierte. Amis beschreibt die Szenerie einer Scheingesellschaft:
„Und alles sah aus hinreichender Entfernung stilvoll und richtig aus; auch den Anwesenden erschien alles richtig. Niemand dachte, niemand sah, daß die Kleider der Festgäste aus minderwertigen Stoffen schlecht geschnitten waren, schlecht verarbeitet, schlecht sitzend, daß die Frisuren der Damen unordentlich und die Fingernägel der Männer schmutzig waren, daß die Oberflächen der Tennisplätze uneben und unzureichend geharkt waren, daß die weißen Jacken der Diener nicht sehr weiß waren, daß die Gläser und Teller, die sie trugen, nicht ordentlich gespült waren, oder daß das Pflaster, wo die Paare tanzten, hätte gefegt werden müssen. Niemand dachte, niemand nahm mit anderen Sinnen wahr, daß der Wein dünn war, die alkoholfreien Getränke voller Konservierungsstoffe und die Gebäcksorten fade, oder daß die Musik des Orchesters holperig und leblos war. Niemand dachte sich etwas bei alledem, weil niemand jemals etwas anderes gekannt hatte.“
Alexander Petrowsky, ein junger Gardeoffizier eines Kavallerie-Regiments und Sohn eines Besatzungsbeamten lebt schon lange in England. Die Stimmung in der Truppe ist von Langeweile geprägt, so daß sich die Soldaten mit lebensgefährlichen Spielchen unterhalten. Alexander wiederum vertreibt sich die Zeit mit sexuellen Eskapaden, sowohl mit den reifen Frauen russischer Funktionäre wie auch den jungen Mädchen der Unterworfenen.
„Daher erfüllte es ihn mit Erbitterung, daß seine jüngere Tochter derart offen und regelmäßig von einem russischen Offizier bestiegen wurde, noch dazu von einem, den er verabscheute und gegen den er eine persönliche Abneigung verspürte. Diese Gefühle behielt er jedoch so gut als möglich für sich; das Mädchen schien keine Einwände gegen den Stand der Dinge zu haben, und die damit verbundenen Vorteile in Gestalt einer gelegentlichen Flasche Cognac oder einigen Kilo Brennstoff waren sicherlich willkommen, vor allem aber war es (oder konnte sich jeden Tag so erweisen) wichtig, sich das Wohlwollen und die Protektion eines der Scheißer zu sichern – ein Begriff, der selbst unter den vielen gebräuchlich war, die keine ernsten Einwände gegen die Anwesenheit ihrer Herren hatten. Schließlich konnte auch das geringste Verständnis die wahrscheinlichen Resultate des Versuches ermessen, einem – und insbesondere diesem – russischen Offizier entgegenzutreten. Nach allen Erwägungen kam er immer wieder zu dem unausweichlichen Schluß, daß da nichts dagegen zu machen sei.“
Da tritt der Kulturfunktionär Theodor Markow an Petrovsky heran und weiht ihn in den Plan einer Verschwörung der sogenannten Gruppe 31 ein, einer weit fortgeschrittenen Verschwörung, die in einem revolutionären Akt England – und auch Russland – die Freiheit wiederbringen soll. Alexander ist von dem Plan ganz eingenommen und wird an führender Stelle eingesetzt. Doch zu spät erkennen die Beteiligten, daß sie nur Marionetten sind in einer großen Intrige, die auf sie selbst abzielt.
Warum brach der englische Widerstand gegen die sowjetrussische Invasion nach nur drei Tagen zusammen? Offenbar befand sich die Moral der Angegriffenen schon vor dem ersten Schuß im Zustand der fortgeschrittenen Zersetzung. Umso leichter gelang es den Besatzern nach ihrem Sieg, den Unterworfenen auch noch den letzten Rest nationaler Würde zu nehmen, und zwar so nachhaltig, daß selbst die nach Jahrzehnten gewagte Aufführung des Shakespeare-Stücks „Romeo und Julia“ in einem Desaster endet und die Abhaltung eines Gottesdienstes auf Gleichgültigkeit stieß.
Doch die Russen stehen keineswegs als überlegene Sieger da, eher wie nackte, da sie nichts an positiven Werten zu bieten haben, weder den Engländern noch sich selbst. Sogar mit der Erlösungsideologie des Marxismus sind sie am Ende:
„Was ihn ersetzt hat, ist nichts, ein Vakuum. Keine Theorie sozialistischer Demokratie, kein Liberalismus oder dergleichen, nicht einmal ein unpolitischer Kodex des Anstands oder Mitleids. Hinter der ausgehöhlten alten Fassade hatten sich keine neuen Ideen gebildet. Und mit den ökologischen Folgen der ungehemmten industriellen Entwicklung brach der Fortschrittsglaube ebenso zusammen, wie die Hoffnung auf eine allgemeine Aufwärtsentwicklung. Das Christentum war längst abgetan, und keine der neuen Sektenreligionen konnte Fuß fassen. Wie stellte sich der Russe dazu? Kein Glaube, kein Zukunftsoptimismus, kein Vorbild. Unsere in einer anderen Zeit für andere Verhältnisse geschriebenen Bücher sagen uns nichts mehr. Wovon leben wir also? Die Befriedigung des Eigennutzes ist den meisten Menschen nicht genug, es gibt zu viele Gebiete, auf denen er keine Entfaltung findet. Sinnliche Genüsse – ein noch begrenzteres Feld. Also schauspielern wir; wir wählen eine Rolle, die mit unserem Alter und unserer Position nicht allzu unvereinbar ist, und spielen sie nach bestem Können. Freilich können wir sie nicht die ganze Zeit aufrechterhalten, aber sie ist da, wenn wir sie brauchen, und Russe zu sein, ist eine große Hilfe.“
Im Original lautete der Titel von Amis Roman „Russian Hide and Seek – Russisches Verstecken und Suchen“, benannt nach dem morbiden und gefährlichen Zeitvertreib der russischen Besatzungssoldaten, mit der Waffe auf im Dunkeln versteckte Kameraden zu schießen. Der Heyne Verlag entschied sich seinerzeit für den Titel „Das Auge des Basilisken“, nach der darin zitierten Sentenz aus dem Shakespeare-Stück „Romeo und Julia“. Der Basilisk ist ein mythologisches Mischwesen aus dem Kopf eines Hahns mit einer Krone auf dem Kopf und dem Körper einer Schlange, der mit seinem Auge tödliche Strahlen aussenden kann. Der Basilisk als mittelalterliches Sammelwort für alles Böse. Das Auge, weil es der Ausgangspunkt einer tödlichen Bedrohung ist. Also eine treffende metaphorische Beschreibung der Russenbedrohung.
Amis schrieb seinen Roman nicht allein unter dem Eindruck des Kalten Krieges, sondern auch in einer Zeit, in der England beziehungsweise Großbritannien, als „kranker Mann von Europa“ wahrgenommen wurde. Seine Infrastruktur im Verfall, von fortwährenden Arbeitskämpfen geschüttelt, seine einst führende Industrie am Rande des Ruins. Erst 1979, ein Jahr vor der Veröffentlichung des Romans, nahm die konservative Margret Thatcher von den Tories, denen sich der Ex-Kommunist Amis verbunden fühlte, der linken Labour Party die Regierung aus der Hand, der von weiten Teilen des Elektorats die Verantwortung für den Niedergang zugeschrieben wurde.
Für die folgenden zehn Jahre führte Thatcher eine Regierung, in der sie dem Land einen tiefgreifenden, aber auch heftig umstrittenen Wandel unterzog, und der sie bis heute für viele Briten zur Haßfigur macht. Und doch bleibt es ihr Verdienst, daß sie damit einem Leichnam nochmal etwas Leben einhauchte.
Kingsley Amis Das Auge des Basilisken 303 Seiten Heyne Verlag, 1984 Nur noch antiquarisch erhältlich
Vom Hollywood-Schauspieler Christopher Reeve ist einzig seine Rolle als Superman in Erinnerung geblieben. 1978 stellte er erstmals den „Stählernen“ aus der populären Comicserie in der Blockbuster-Verfilmung von Regisseur Richard Donner dar. Es folgten in qualitativ abnehmender Tendenz drei weitere Teile. Seine Schauspielerkarriere erfuhr einen scharfen Bruch, als er 1995 infolge eines Reitunfalls eine schwere Querschnittslähmung erlitt. Kaum 10 Jahre später starb Reeve am 10. Oktober 2004 im Alter von nur 52 Jahren.
Doch es gibt einen Film mit Reeve in der Hauptrolle, kurz nach „Superman I“, der obwohl kommerziell gefloppt, den Status eines Kultfilms erlangte: „Ein tödlicher Traum“ (Somewhere in Time) kam 1980 in die Kinos, neben Reeve mit einem beeindruckenden Cast aus Jane Seymour und Christopher Plummer sowie Teresa Wright, einer Oscar-Preisträgerin von 1943.
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„Ein tödlicher Traum“ ist ein melodramatischer Fantasy/Science-Fiction-Film über Zeitreisen. Reeve spielt den Drehbuchautoren Richard Collier, der während einer Schaffenskrise in ein mondänes Landhotel flieht. Obwohl Collier zum ersten Mal in dem Hotel ist, glaubt der altgediente Page Arthur (Bill Erwin) ihn wiederzuerkennen. In einer Museumsnische des Hotels, entdeckt Collier das Bildnis einer Frau aus dem Jahr 1912. Es ist Elise McKenna (Jane Seymour), eine zu ihrer Zeit beliebte Theaterschauspielerin, die auch an dem dem Hotel angeschlossenen Theater wirkte. Das Bildnis dieser schönen Frau nimmt Collier gefangen. Collier bemerkt nicht, daß er dieser Frau nur wenige Jahre zuvor begegnet ist, in ihrem älteren Ich – dargestellt von Teresa Wright -, und sie zu ihm sagte: „Komm zurück zu mir.“ Auf seiner Spurensuche nach ihrer Geschichte stößt er auf die scheinbar unwahrscheinliche Möglichkeit der Zeitreisen. Sein alter Philosophie-Lehrer Dr. Gerald Finney (George Voskovec) gibt ihm den entscheidenden Hinweis, wie sie ohne jede Technik zu bewerkstelligen ist, allein aus eigener Willenskraft heraus.
Collier bereitet sich akribisch vor, besorgt sich Geld und Kleidung aus der Zeit um 1912. Es gelingt ihm aus seinem Hotelzimmer heraus die Reise durch die Zeit zu der Frau, in deren Bildnis er sich verliebt hat. Doch um endlich Elise für sich zu gewinnen, muß er erst noch die Hürde ihres Agenten William Fawcett Robinson (Christopher Plummer) überwinden, der seine Klientin abschirmt. Und vor allem, kann eine solche Liebe durch die Zeit eine Zukunft haben?
Der Plot geht zurück auf eine Romanvorlage des Scifi-Autoren Richard Matheson (1926 – 2023), der bereits den Stoff für Filme wie „Ich bin Legende“ bzw. „Der Omega-Mann“ und „Die unglaubliche Geschichte des Mister C“ geliefert hat.
Das Grand Hotel auf Mackinac Island im Huronsee im US-Bundesstaat Washington lieferte die ideale Kulisse für die Szenerie der Edwardianischen Epoche am Beginn des 20. Jahrhunderts. Regisseur Jeannot Szwarc urteilte über die Örtlichkeit: „Das bei Weitem Beste für mich bezüglich Mackinac war die Qualität des Lichtes. Das dortige Licht war einfach wunderschön. Es war auf natürliche Weise diffus.“
Um die melodramatische Stimmung durch die Filmmusik zu verstärken, konnte kein besserer Komponist gefunden werden als John Barry (1933 – 2011), der schon den typischen Sound der Bond-Filme schuf.
Doch auch eine noch so perfekte Inszenierung kann nicht verhindern, daß sie beim Massenpublikum durchfällt. Im Fall von „Ein tödlicher Traum“ sind die Gründe rätselhaft. Reeve und Seymour bildeten ein romantisches Traumpaar. Der Film selbst gewann 1981 den renommierten Saturn Award in der Kategorie Fantasy sowie Nominierungen weiterer Preise. Und doch bildete sich im Laufe der folgenden Jahre eine enthusiastische Fan-Gemeinde, die bis heute mit einer jährlichen Convention auf Mackinac Island das Andenken an den Film hochhält.
Das Thema Zeitreisen hat die Science-Fiction immer sehr beschäftigt. H.G. Wells, einer der ersten Zeitreiseautoren, hat 1895 mit „Die Zeitmaschine“ einen Roman vorgelegt, der bis heute seine ungebrochene Faszination auf die Leserschaft ausstrahlt. Wells Vorstellung von der Zeit gleicht darin einem Strom, der seine darauf befindlichen Akteure mit sich reisst. Matheson schreibt zu diesem Modell in „Bid Time Return“, der Vorlage zu „Ein tödlicher Traum“:
Intellektuell ist das unbefriedigend, denn Ströme haben Ufer. Daher müssen wir uns überlegen, was es ist, das stillsteht, während die Zeit dahinströmt. Und wo sind wir? Am Ufer oder im Wasser? Der Gedanke ist auch noch aus einem anderen Grund deprimierend, denn wenn der Lauf des Flusses festgelegt ist, dann existiert die gesamte Zeit bereits, die Zukunft ist unveränderlich, wenn wir sie auch nicht kennen, und von einer freien Entscheidungsmöglichkeit kann nicht die Rede sein. Wir hätten dann keinen freien Willen.
Bislang macht die Wissenschaft wenig Hoffnungen, daß sie irgendwann einmal möglich sein könnten. Anhand von „Ein tödlicher Traum“ schrieb der auf Science-Fiction spezialisierte Sachbuchautor Peter Nicolls: „Nach einer Theorie über die Zeit, die besagt, daß alle Zeit gegenwärtig ist, ist das unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Es widerspricht jedoch dem Prinzip der Kausalität, denn wenn [Richard Colliers] Liebe Erfüllung gefunden hätte, wäre sein Sohn alt genug, sein Vater sein zu können.“ („Science in Science Fiction“)
Ein tödlicher Traum Mit Christopher Reeve, Jane Seymour 99 Minuten USA, 1980
Nicaragua ist nur ein kleiner Flecken auf der Karte Mittelamerikas. Und doch entwickelte sich dieser kleine Staat in den 1980er Jahren zu einem heißen Hot Spot des Kalten Krieges. Nachdem 1979 die Guerilleros der Sandinisten den von den USA unterstützten Diktator Somoza vertrieben hatten, etablierten diese ihre Version eines an Kuba und der Sowjetunion angelehnten Regimes. Der Versuch des abgewirtschafteten Kleinstaates, eine sozialistische Utopie zu verwirklichen, wurde auch zur Projektionsfläche zahlreicher Linker in Westdeutschland. Von hier aus zog es Freiwillige dorthin, um beim Aufbau dieser Utopie behilflich zu sein. Nicaragua war ein Dauerbrenner in den Nachrichten, vor allem seit die von den USA unterstützten Contras ihrerseits einen Guerillakrieg gegen das neue Regime entfesselten, und die CIA sogar den Hafen der Hauptstadt Managua verminten. Im DDR-Fernsehen wiederum leiteten die Moderatoren einer Unterhaltungsshow mit einer ausdrücklichen Warnung an den Westen ein: „Finger weg von Nicaragua!“
Dies ist der historische Hintergrund für den Roman „Liebe und Revolution“ des Schriftstellers Jörg Magenau, in welchem er 40 Jahre später im Rahmen einer tragischen Liebesgeschichte die unerfüllten Sehnsüchte und enttäuschten Hoffnungen der Linken seiner Zeit reflektiert. Jahrgang 1961 und sozialisiert im linken Milieu, weiß Magenau genau, worüber er schreibt.
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Protagonist seines Romans ist der Mittzwanziger Paul. Aus kleinbürgerlichen Verhältnissen in der bundesrepublikanischen Provinz stammend, zieht es ihn zum Studium nach Westberlin. Hier lernt er Beate kennen und lieben. Doch über eine Liebschaft kommt ihr Verhältnis nicht hinaus, aus dem sich Beate wortlos zurückzieht.
Weniger aus politischer Überzeugung denn als aus Flucht vor der eigenen Antriebslosigkeit, „der eigenen Unfähigkeit“, zieht es ihn zu einem Arbeitseinsatz in das revolutionäre Nicaragua. Aus den angestrebten sechs Wochen in einer Freiwilligen-Brigade – Wahlspruch: „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ – werden sechs Monate. Überschattet wird die Zeit durch die Entführung der Paul nahestehenden Brigadistin Sigrid durch Contra-Rebellen mit unbekanntem Verbleib. In der Beschreibung der Verhältnisse vor Ort verzichtet Magenau auf jede verklärende Revolutionsromantik:
„Ein Campesino, beschattet von einem riesengroßen, runden Strohhut, prügelte auf seinen Esel ein, der das Gehen verweigerte. Er lebte wohl in einer der Hütten, die gelegentlich am Straßenrand auftauchten, mitten in der Wildnis, ohne Strom, mit nichts als einem Brunnen oder einer Quelle allzu weit weg und mit ein paar mageren Tieren. Wer Glück hatte, gehörte zu einer der bäuerlichen Genossenschaften, die im Zuge der Revolution entstanden waren, die aber nur selten rentabel arbeiteten. Und wenn er ehrlich war, wusste Paul nicht, ob die Campesinos nicht sogar lieber einzeln und arm blieben, anstatt sich in so eine Gemeinschaft zu begeben. Müssten sie das nicht als Niederlage, als Eingeständnis ihrer Schwäche empfinden?“
Zurückgekehrt nach Berlin heuert Paul ausgerechnet beim amerikanischen Sender RIAS als Redaktionsassistent an. Und in einem merkwürdigen Zusammentreffen der Zeitläufe begegnet er an dem so historisch bedeutsamen Abend des 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, als er an der bröckelnden Mauergrenze die hereinströmenden Massen beobachtet, erstmals wieder auf Beate. Für Paul wird es eine Begegnung wie ein „innerer Mauerfall“.
Was Magenaus Roman so auszeichnet, ist die detaillierte Kenntnis und Wiedergabe des Denkens der linken Jugend der 1980er Jahre. So deckt er in den Streitgesprächen seiner Protagonisten die Bruchlinien und Webfehler ihrer ideologischen Wunschvorstellungen auf. Besondere Authentizität erfährt der Roman durch die Milieuschilderungen, wie der als „Einholen“ verharmloste Ladendiebstahl. Und holt Vergessenes hervor, das für manchen lieber im Verborgenen bliebe: So dürfte es der taz mehr als peinlich sein, wenn Magenau daran erinnert, daß das linksalternativen Kampfblatt seinerzeit Millionenbeträge für Waffenverkäufe nach El Salvador sammelte.
Und Nicaragua? So viel sei verraten, die Aufbauarbeit der freiwilligen Brigaden war vergeblich und von vornherein zum Scheitern verurteilt. Nachdem er 1990 durch die liberale Violeta Barrios de Chamorro abgelöst wurde, kehrte der Sandinist Daniel Ortega 2006 in das Präsidentenamt zurück und etablierte seine bis heute bestehende Form der autokratischen Herrschaft, wie man sie aus den Bananenrepubliken Mittelamerikas gewohnt ist. Magenau schreibt schonungslos:
„Vielleicht ist es weder der Schlaf noch der Traum, der die Monster gebiert, sondern die Schlaflosigkeit, die Nervosität, der Argwohn, die Überreiztheit. Wie sonst würde es zu erklären sein, dass Daniel Ortega sich im Lauf der Jahrzehnte vom Revolutionär im Präsidentenamt in einen feisten, kleinen Diktator verwandeln würde, der all das verkörpert, was die Sandinisten einst zu bekämpfen angetreten waren, als müsse ein Naturgesetz vollstreckt werden, das festschreibt, dass einer die frei gewordene Stelle besetzt, die ein gestürzter Tyrann hinterlässt, und, indem er diese Leerstelle füllt, dann allmählich dessen Gestalt annimmt und sich selbst in so ein uniformiertes Monster verwandelt, wie es die Schlaflosigkeit hervorbringt. Wenn es stimmt, was Marx behauptet hat, dass alle geschichtlichen Tatsachen und Personen sich zweimal ereignen, zuerst als Tragödie und dann, in der Wiederholung, als Farce, dann wäre Somoza die Tragödie und Ortega die Farce. Wer an der Macht ist, ist irgendwann nur noch an der Macht, um die Macht zu verteidigen. Dann darf er keinen Moment in erholsamen Schlaf sinken, weil er von Verrätern umzingelt ist. Das Volk jedoch, von dem Paul so begeistert sang, träumte seine eigenen Träume. Aber es waren eben nur Träume, weil niemand auf der Welt die Geschichte – noch nicht einmal die eigene – besitzen kann.“
Jörg Magenau Liebe und Revolution 304 Seiten, 2023 24,- Euro
In der Spätphase seiner Schauspielerkarriere konnte die Hollywood-Legende Paul Newman (1925 – 2008) es sich aussuchen, auch in Filmen aufzutreten, die nicht dem Massengeschmack entsprachen. Einer davon ist das dystopische Endzeitdrama „Quintett – Ein Mann gegen die ganze Welt“ (1979).
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Regie-Altmeister Robert Altman (1925 – 2006) versetzte Newman darin in die Rolle von Essex, einem Jäger in einer unbestimmten Zukunft, in der die Welt unter einer globalen Eiszeit gefriert. Es ist in dieser lebensfeindlichen Welt kaum noch Jagdwild aufzutreiben. So entschließt sich Essex, gemeinsam mit seiner schwangeren Gefährtin Vivia (Brigitte Fossey) in die Stadt seiner Herkunft, zu seinem Bruder, zurückzukehren.
Nur noch wenige Menschen leben in dieser Stadt, in die der Winter seine kalten Finger streckt. Ihre Zahl schrumpft, Kinder werden keine mehr geboren. Das Leben bewegt sich auf einem primitiven Niveau. Die Leichen der Verstorbenen bleiben unbeachtet liegen und werden den streunenden Hunden zum Fraß überlassen. Es ist, als ob der scheinbar ewige Winter auch die Emotionen der Menschen eingefroren hätte.
Statt zu arbeiten, dem Niedergang entgegenzuwirken, widmen sich die letzten Menschen einem besonderen Zeitvertreib, der ihren ganzen Lebensrhythmus bestimmt: Quintett ist der Name des Spiels mit Würfeln und Spielsteinen, dessen Regeln nicht näher erläutert werden, außer daß es für eine Runde fünf Spieler und einen zusätzlichen Teilnehmer benötigt, dessen Rolle allerdings unbestimmt bleibt.
Während Essex Wiedersehen mit seinem Bruder wirft ein Unbekannter einen Sprengsatz in den Wohnbereich. Der Explosion fallen alle zum Opfer, außer Essex, der den Attentäter verfolgt. Doch dieser wird, noch bevor Essex sein Motiv erfährt, hinterrücks ermordet. Bei dem Toten findet Essex eine Liste mit fünf Namen. Es sind die Teilnehmer einer Quintett-Runde. Wir hier das Spiel auf ein grausames Niveau getrieben? Und was hat der sinistere Grigor (Fernando Rey) als Schiedsrichter mit all dem zu tun? Um der Sache auf den Grund zu gehen, übernimmt Essex die Identität eines des auf der Liste stehenden Namens und gerät dabei unversehens selbst zur Zielscheibe.
Altmann, vor allem bekannt durch seine Verfilmung der Militärsatire „M.A.S.H.“ (1970), hatte wohl kaum einen Kassenschlager im Sinn, als er „Quintett“ drehte. Zwar überzeugt die Inszenierung in dem eisigen Sujet, ebenso wie Newmans Performance, der in dem „Endzeit-Märchen“ (Altmann) den letzten Menschen verkörpert, der sich seine Menschlichkeit bewahrt hat, der nicht erst dann das Leben spürt, wenn der Tod ihm am nächsten ist.
Beim Publikum fiel „Quintett“ durch. Eine prominente Kritikerin wie Fürstin Gracia, die frühere Hollywood-Schauspielerin Grace Kelly, tobte: „Wie können Sie es wagen, meinen guten Freund, den wunderbaren Schauspieler Paul Newman in so einem grauenhaften Robert-Altman-Film mitspielen zu lassen?“ Die Antwort des Produzenten fiel knapp und deutlich aus: „Ach was, Sie können mich mal!“
Doch auch ein kommerzieller Flop hat das Zeug zum heimlichen Klassiker. Und „Quintett“ gehört eindeutig in diese Kategorie. Beste Endzeit-Science-Fiction und ein wie immer herausragender Paul Newman machen den Film zu einem kleinen Juwel. Nur wenige DVDs davon sind noch heute im Umlauf, die teils hochgehandelt werden. Wer auf Dystopien steht, der sollte zugreifen!
Quintett Mit Paul Newman, Brigitte Fossey, Bibi Andersson, Fernanodo Rey 1:53 h; 1979