Boris Mijatovic, die HNA und die türkischen Präsidentschaftswahlen in Kassel

Über Hans Eichel (SPD) wußte seinerzeit der SPIEGEL zu berichten, daß er sich nach Übernahme des hessischen Ministerpräsidentenamtes über die ihm gegenüber sehr forsch auftretende Presse in Südhessen wunderte. In Kassel, wo er zuvor Oberbürgermeister war, seien die Journalisten sehr viel netter zu ihm gewesen. Unbestreitbar war über die Jahrzehnte in Nordhessen das Verhältnis zwischen der HNA und der Sozialdemokratie sehr innig gewesen. Das lag zum einen daran, daß die HNA eine Monopolstellung innehat und sich von daher mit keiner Konkurrenz messen mußte, aber vermutlich auch an der Erpressbarkeit ihres Herausgebers Paul Dierichs (1901 – 1996) ob seiner belasteten Vergangenheit im Dritten Reich. Doch die Zeiten und mit ihr der Zeitgeist ändern sich, und so sind nun die Grünen an die Stelle der SPD getreten, wenn es um die politischen Sympathien der HNA-Redakteure geht.

Am vergangenen Sonntag veröffentlichte WELT Online einen Bericht darüber, wie der Kasseler Bundestagsabgeordnete der Grünen, Boris Mijatovic, für Frust in der Bundeswehr sorgte. Erst kürzlich besuchte der Abgeordnete ein BW-Camp im Kosovo, wobei er jedoch nicht das Gespräch mit den „Soldat*innen der Truppe“ suchte. Ein dort stationierter Reservist beklagte bei dem stets um korrektes Gendern bemühten Mijatovic daraufhin die Mißachtung gegenüber den einfachen Soldaten:

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Das Verhalten des Abgeordneten zeige ihm, so Meier, „wie weit doch die Vertreter der Politik, trotz aller Versicherungen, von uns Soldaten entfernt sind“. Er habe bei sechs Auslandseinsätzen noch nie erlebt, dass „die Soldaten vor Ort mit derartiger Missachtung behandelt“ wurden.

Er werde daraus persönliche Konsequenzen ziehen und „nicht nur, aber auch aufgrund Ihres Verhaltens nun nach über 30 Jahren Dienst für dieses Land endgültig einen Schlussstrich ziehen und auch für Reserveübungen nicht mehr zur Verfügung stehen“.

Frustrierte Soldaten: Wie ein grüner Bundestags-Abgeordneter einen Reservisten aus der Bundeswehr vertreibt – WELT

Nur zwei Tage nach der WO-Veröffentlichung durfte Mijatovic sich in der HNA vom 16.05.2023 von seiner besten Seite zeigen. In einem von dem erklärten Grünen-Sympathisanten Matthias Lohr geführten Gefälligkeitsinterview durfte er über seine Rolle als Wahlbeobachter in der Türkei Auskunft geben. Lediglich an einer Stelle erlaubte sich Lohr einen kleinen Einwand, als Mijatovic die Gelegenheit nutzte, mit einem Seitenhieb der Kasseler SPD der Türkei ähnliche manipulative Taktiken bei der Stimmauszählung zu unterstellen. Ob es ihm nur darum ging, die Genossen zu ärgern oder die türkischen Verhältnisse zu relativieren – in Kassel jedenfalls werden Grüne und SPD offenbar so schnell keine Freunde mehr.

HNA-Interview mit Boris Mijatovic vom 16. Mai 2023

Doch am Ende des Interviews wird es richtig interessant:

In Deutschland gehören traditionell viele Türken dem Erdogan-Lager an. Welche Eindrücke haben Sie etwa in der Kasseler Community gemacht?

Es stimmt, dass in der Vergangenheit viele Erdogan gewählt haben – wie viele in der Türkei auch. Mittlerweile gibt es hinter der Euphorie jedoch einige Fragezeichen. Auch von Deutschland aus ist die Wirtschaftskrise in der Türkei nicht zu übersehen. So wie es aussieht, wird es am 28. Mai eine ganz enge Kiste.

Mittlerweile liegen die Auszählungsergebnisse der türkischen Präsidentschaftswahlen auch für die großen Städte Deutschlands vor, und was Kassel angeht, so waren diese alles andere als „eine ganz enge Kiste“.

Während selbst im „Shithole“ Berlin Erdogan nur 49,2 Prozent holte, stand Kassel in dieser schon aussagekräftigen Auswertung mit 71,3 Prozent an dritter Stelle!

Mit anderen Worten: Der Möchtegern-Sultan hat in der türkischen Community Kassels eine seiner sichersten Bastionen. Wie jedoch läßt sich dieses Ergebnis mit dem vielbeschworenen Anspruch der nordhessischen Initiative „Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung“ und einer Stadt „für Vielfalt, Toleranz und demokratische Werte“ damit in Übereinstimmung bringen, daß ausgerechnet die größte Zuwanderergruppe mit ihrem Votum für den türkisch-islamistischen Autokraten am Bosporus zeigt, was ihr dies wert ist.

Ein Blick zurück: Im Februar 2018 durfte der Vorsitzende des Kasseler Ausländerbeirats, Kamil Saygin, eine erstaunliche Sicht auf das ansonsten als recht problematisch wahrgenommene Verhältnis zwischen Deutschen und Türken werfen:

Definieren sich die Kasseler Türken als Deutsche oder als in Deutschland lebende Türken?

SAYGIN: Die Leute sehen sich in erster Linie als Menschen. Fragen der nationalen Zugehörigkeit spielen nach meinen Beobachtungen eine untergeordnete Rolle. Vielmehr herrscht Unverständnis über diese immer wieder vorgebrachte Frage.

Aber hat nicht jeder Mensch eine nationale Identität?

SAYGIN: Die Menschen mit Zuwanderungsgeschichte definieren sich eher als Kasselerinnen und Kasseler oder Nordhessinnen und Nordhessen. Zugehörigkeit und Verwurzelung erstreckt sich für viele Menschen mit türkischem Hintergrund irgendwo zwischen Kassel, Vellmar, Baunatal, Istanbul, Izmir, Konya, Mardin, Ankara oder Trabzon.

Seit vergangenem Sonntag wissen wir, was wir von solch schönen Worten zu halten haben: Ein Märchen wie aus „1000 und eine Nacht“… Die irrealen Wunschvorstellungen eines grünen Sektierers, der „Vielfaltsanspruch“ unserer Stadt, sie sind allesamt miteinander gescheitert. Unglaubwürdig ist damit auch die HNA, die die Wahl in Kassel mit seichten Stories begleitet hat. Aufgabe einer kritischen Presse wäre es eigentlich nun, dieses Scheitern auch zu benennen und es auch selbstkritisch zu reflektieren.

Aber im Falle der HNA werden die Leser lange darauf warten müssen…

Musik über den Tag hinaus

I start to drift with the tide
Maybe I’ll reach, I’ll reach the beach
My heart is sealed watertight
Maybe I’ll reach, I’ll reach the beach
(Refrain aus „Reach the Beach“; THE FIXX; 1983)

Kürzlich war in einem Beitrag auf WELT ONLINE zu lesen, die Rockmusik der 1980er Jahre sei scheußlich gewesen. Sein Verfasser, der Schriftsteller und Experte für Populärmusik Frank Schäfer, sollte es als Jahrgang 1966 Geborener eigentlich besser wissen. Im Gegenteil, die 1980er Jahre waren das letzte Jahrzehnt echter Kreativität, bevor Castingshows und derselbe Klangbrei aus der elektronischen Konserve den Auswahlprozess übernahmen. Einiges davon mag dem ökonomischen Druck geschuldet sein, dem die Musiklabels vor allem durch die freie, und damit weitgehend kostenlose Verfügbarkeit unterliegen. Aber es sagt einiges aus, wenn jemand wie Phil Collins feststellt, mit seinem Gesicht hätte er in unserer heutigen Musikwelt keinen Plattenvertrag mehr bekommen. Die führenden Künstler der damaligen Zeit standen für Originale und nicht für ein künstliches Produkt. Und so ist es vermutlich auch kein Zufall, daß Mottoparties der 80er Jahre mit ebendiesem Sound sich nach wie vor bleibender Beliebtheit erfreuen. Zu der Musikwelt dieser Zeit gehört auch die Gruppe the FIXX, deren größtes Erfolgsalbum „Reach the Beach“ in diesem Monat sein 40jährigstes Jubiläum feiert (Release-Datum: 13.05.1983).

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Die 1979 in England gegründete Band hatte bereits 1982 mit dem Album „Shuttered Room“ und den Hitsingles „Stand or Fall“ und „Red Skies“ einen ersten Achtungserfolg, als ihnen zwei Jahre später mit „Reach the Beach“ der Durchbruch in die amerikanischen Charts gelingen sollte. Die zehn anspruchsvollen Songs darauf zeichneten sich durch Klangfarbe, Vielseitigkeit und gute Texte aus. Die daraus ausgekoppelte Single „One Thing Leads to Another“ sollte mit Position Nr. 4 in den amerikanischen Charts der erfolgreichste Hit der Band werden.

Das Album selbst heimste Platinstatus ein. Ein wesentlicher Teil dieses Erfolges dürfte Rupert Hines (1947 – 2020), dem genialen Produzenten aus England, zuzuschreiben sein, der auch für andere Interpreten wie Chris de Burgh, Tina Turner und Stevie Nicks arbeitete. The FIXX wurden auch für andere interessant; für The Police wurden sie Tour-Support, Tina Turner nahm sie als Konzertband in Anspruch.

Der kommerzielle Erfolg ließ in den nachfolgenden Jahren deutlich nach, obwohl der kreative Output in den Alben „Phantoms“ (1985) und vor allem „Walkabout“ (1986) noch einmal neue Höhen erklomm. Letzteres Album hätte es durchaus verdient, auch in die offiziellen Rankings der besten Produktionen des Jahrzehnts gezählt zu werden. Zu dem Kultfilm „Straßen in Flammen“ (1984) steuerten sie mit „Deeper and Deeper“ eines der stärksten Stücke zum Soundtrack bei. Es bleibt auch rätselhaft, warum der Erfolg der Band weitgehend nur auf die USA und Kanada beschränkt blieb und nicht einmal einen Nachhall in der englischen Heimat erzeugte. Dennoch, „Reach the Beach“ sollte die Grundlage dafür bilden, daß the FIXX bis heute mit einer treuen Fangemeinde aktiv sind. Zwar boten die FIXX-Produktionen nach 1991 bis 2003 nichts Aufregendes, das der Erwähnung wert wäre. Doch 2012 kam mit „Beautiful Friction“ ein Album heraus, das technisch, konzeptionell und künstlerisch an die besten Zeiten der Band anknüpfte. Auch das aufwendig gedrehte Video zu der Single-Auskopplung „Anyone Else“ konnte sich im besten Sinne sehen lassen, als eine Art Reminiszenz auf den Musiksender MTV, der dieses Format als neue Kunstform populär machte.

Vier Jahre später erhielt der Berichterstatter auf die an den Facebook-Account der Band gerichtete Frage, wann es denn ein neues Album gebe, noch die kryptische Antwort: „When you least expect it – Wenn du es am wenigsten erwartest“. Die Geduld für vier weitere Jahre hat sich indes gelohnt. Denn mit „Every Five Seconds“ kam 2022 ein Werk, welches das Niveau seines Vorgängers halten konnte.

Die Musikwelt der 1980er Jahre sah viele Erfolgsgeschichten, die nicht von Dauer waren, wie ein Meteor eine helle Leuchtspur erzeugten und doch schnell verglühten. Doch immerhin, einige kamen mit einem Nachhall, der bis heute wirksam ist. Die zähe Lebendigkeit von the FIXX zeigt sich nicht allein in der kontinuierlichen Besetzung der Band, deren harter Kern um Sänger Cy Curnin, ergänzt um Rupert Greenall (Keyboards), Jamie West-Oram (Gitarre), Dan K. Brown (Bass) und Adam Woods (Drums) bis heute weitgehend stabil geblieben ist. Auch geht die Band nach wie vor in den USA auf Tour.

Liveauftritte in Europa, gar in Deutschland, befinden sich nicht mehr in der Planung. Hier muß man von ihrem legendären Auftritt im Rockpalast (1985) auf Youtube zehren oder von dem im der Frankfurter Batschkapp, der das Live-Album „Real Time Stood Still“ (1997) zur Folge hatte. Immerhin, sie kamen im Dezember 1990 sogar zu einem Konzert nach Kassel, in das „Musik-Theater“, das inzwischen Geschichte ist. Dem Urteil des HNA-Kritikers Ralph-Michael Krum (heute Bandleader der NEW PONY), wonach die Band einen im Großen und Ganzen überzeugenden Auftritt absolviert habe, kann der Berichterstatter, der noch beste Erinnerungen an diesen Abend hat, sich nur anschließen. Aber wer weiß, vielleicht kommen sie wieder nach Deutschland, möglicherweise sogar nach Kassel – dann, wenn man es am wenigsten erwartet…?

The FIXX: Rupert Grenall, Dan K. Brown, Cy Curnin, Adam Woods, Jamie West-Oram (von li.; Quelle: Facebook)
the FIXX
REACH THE BEACH
MCA RECORDS
1983

Die Freiheit zurückerobern

„COVID-19 ist ein Anfang. Es ist nicht die erste weltumspannende Epidemie, auch nicht die schlimmste und gewiss nicht die letzte. Dennoch markiert die Krise den Beginn einer neuen Zeit: die Welt ist so eng, die Technologie so wirkmächtig, die Angebote an Wissen, an Möglichem, und an Deutung sind überwältigend geworden und schwanken so, dass unser Denken oft nicht mehr hinterherkommt und unser Handeln seinen Kompass zu verlieren droht. Die bereits bekannten Kollateralschäden sind selbstmordgefährdete Kinder, eine Verrohung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die weitere Verelendung der Elenden in der Welt. Die Krankheit unserer Zellen erweist sich als Erkrankung des Geistes, des Gewissens, der Gesellschaft.“

Ole Döring, „Wie kommen wir vor die Welle?“ (aus: Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“, Hrsg. Sandra Kostner und Tanya Lieske)

Keine andere Krise der vergangenen Jahrzehnte seit Ende des Zweiten Weltkriegs war mit derartigen Freiheitseinschränkungen verbunden wie die Corona-Pandemie. Um das Virus an seiner weiteren Ausbreitung zu hindern und damit die Zahl der tödlichen Krankheitsverläufe zu reduzieren, übernahmen fast alle Staaten der westlichen Welt die Methoden aus dem totalitären China, aus der das Virus stammte. Doch es sollte nicht bei den Lockdowns des öffentlichen Lebens bis hin zum Verbot, auf einer Parkbank sitzend ein Buch zu lesen, bleiben.

Bis dahin sollte keine andere Maßnahme tiefer in das medizinische Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen eingreifen, wie die von zahlreichen Medien durch moralisierende Narrative flankierte Impfpflicht, mit der alle Menschen durch einen bis dahin kaum erprobten Impfstoff gegen das Corona-Virus immunisiert werden sollten.

Letztendlich blieb es nur bei der Absicht und die Impfpflicht wurde nur bestimmten Berufsgruppen auferlegt. Doch die bizarren Wortmeldungen eines Boris Palmer nach Beugehaft und Rentenkürzungen für Impfverweigerer, für die er im Gegensatz zu seiner aktuellen „Neger“-Äußerung keine Konsequenzen tragen mußte, lassen erahnen, wie sehr sich durch Corona in unserer politischen Klasse die totalitäre Versuchung ausgeprägt hat.

Nach dem Abflauen der Pandemie stellt sich nun heraus, die Impfung war keineswegs ein „Game-Changer“ und schon gar nicht nebenwirkungsfrei. Die Zuschreibung der Ungeimpften als unsolidarische Pandemietreiber hatte eine reine Sündenbock-Funktion. Immens waren die durch die teilweise rechtswidrigen Maßnahmen angerichteten sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kollateralschäden. Über die als „Schwurbler“, „Covidioten“ und „Coronaleugner“ verunglimpfte Gruppe der Maßnahmenkritiker hinaus sind sich immer mehr Menschen unsicher geworden: War diese Pandemie diesen Verlust an Freiheit wert?

Freiheit für einen selbst oder Sicherheit für alle anderen? [Netzfund]

Diese Frage stellten sich auch 2022 die Publizistin Tanya Lieske und die Historikerin Sandra Kostner. Noch in der Endphase der Pandemie sammelten sie 15 Essays, die sie in dem Band „Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“ zusammenfassten, der im Herbst desselben Jahres erschien.

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Der Untertitel verspricht eine „interdisziplinäre Essaysammlung“, ein Anspruch, der leider nur eingeschränkt eingehalten wird. Zwar verfügen die Autoren über jeweils beachtliche professionelle Hintergründe aus den Geisteswissenschaften. Doch einen Fachmann mit medizinisch-naturwissenschaftlichem Background, vielleicht sogar aus der Epidemiologie oder Virologie sucht man darunter leider vergebens. Doch das schmälert den Wert der Beiträge keineswegs. Auf allgemeinverständliche Art wird die staatliche Pandemiebekämpfung unter den Aspekten der Freiheit und den Möglichkeiten einer Versöhnung der durch die Pandemie gespaltenen Gesellschaft beurteilt. Ein auffallendes und auch gravierendes Defizit ist das Fehlen eines Beitrags, der sich explizit mit dem politisch-medialen Komplex beschäftigt, der die entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der Coronamaßnahmen wie auch bei der Vermittlung des Krisenbildes hatte, in der Regel ohne diese kritisch zu hinterfragen.

Die Wissenschaft galt vorgeblich immer als Richtschnur in der Pandemiebekämpfung und überschritt dabei immer wieder ihre Grenzen, z.B. wenn sie „sich anmaßt, über den Grundrechten zu stehen und darüber zu entscheiden, wem diese zukommen und wem nicht“. Der Philosoph Michael Esfeld konstatiert daraus in seinem Essay „Freiheit und Wissenschaft“ die „Selbstzerstörung von Wissenschaft“, verbunden mit der fatalen Gefahr einer Abkehr der Menschen von derselben. Esfeld rät zur Rückkehr zum Respekt für der Vorrang der Selbstbestimmung und der Grundrechte der Menschen. Das Interesse der Wissenschaft, nach Esfeld, ist „Erkenntnisse zu gewinnen und Wahrheit über Tatsachen zu gewinnen“.

Bereits der lange Titel des von dem Psychologen Boris Kotchoubey eingereichten Essays – „Von ‚Wissenschaft und Religion‘ und ‚Wissenschaft gegen Religion‘ zu ‚Wissenschaft als Religion‘“ – läßt keine Fragen über sein Thema offen. Kotchoubey zeigt auf, wie schmal in unserer Zeit der Grat zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft geworden und selbst Wissenschaftler die Grenzen wie auch die Begrenztheit ihrer Aussagen oftmals nicht mehr zu erkennen vermögen:

Wer nicht mehr den Unterschied zwischen Glauben und Wissen begreift, nimmt seine Annahmen nicht mehr als Annahmen, d.h. als etwas nur Geglaubtes. „Wer nicht weiß, dass er glaubt, der glaubt, dass er weiß.“ Damit wird die wichtigste Eigenschaft eingebüßt, die einen Experten von einem Laien unterscheidet, nämlich das klare Bewusstsein für die Grenzen seiner Expertise. Daher kommt das typische Phänomen der letzten Jahre: der fanatische Glaube der Wissenschaftler an ihre Modelle. Das säkularisierte Hirn ist unfähig einzusehen, dass ein mathematisches oder physikalisches Modell immer auf Annahmen beruht, und dass, wenn nur eine dieser zugrunde liegenden Annahmen falsch ist, das Modell keinen Pfennig mehr wert ist, egal wie gut es berechnet wurde: „garbage in, garbage out.“

Den Mißbrauch des Begriffes „Solidarität“, mit dem Regierungsvertreter für die Akzeptanz der Freiheitseinschränkungen warben, prangert die Islamwissenschaftlerin Agnes Imhof an („Solidarität und Menschenwürde. Autoritarismus entlarvt durch sein Menschenbild“). Diese Solidarität wurde nicht freiwillig erbeten, sondern – was Imhof problematisiert – „mittels Sanktionen eingefordert“ und warnt: „Wo das Gemeinwohl dem Einzelnen übergeordnet wird, läßt sich prinzipiell jede Grausamkeit rechtfertigen.“ Ihr Fazit des die Grundrechte des Individuums und damit seine Menschenwürde negierenden Staates fällt drastisch aus:

„Wer Solidarität also gegen Menschenwürde ausspielt, verlässt das Territorium freiheitlich-demokratischer Anthropologie. Denn Solidarität ist nur unter freien Individuen möglich. Alles andere nennt man nicht Solidarität. Sondern Sklaverei.“

Herausgeberin Sandra Kostner dürfte unter allen Beiträgern am bekanntesten sein. Zu ihrer Vita zählen die Zusammenarbeit mit dem Migrationsforscher Stefan Luft, der dem Konsens seines Faches einer „Bereicherung durch Migration“ teilweise kritisch gegenübersteht, sowie ihrer Mitgliedschaft in dem von ihr gegründeten „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, das gegen die Instrumentalisierung und Vereinnahmung durch ideologische Interessen streitet. Auch vor einem Auftritt in der vom Mainstream argwöhnisch und mit gewissem Neid beäugten Sendung „Talk im Hangar-7“ des Senders Servus-TV schreckt sie nicht zurück. All das ist mehr als ausreichend, sie in den Augen des Mainstreams „höchst verdächtig“ zu machen, eine Vorstufe vor dem Label „umstritten“.

Sandra Kostner in „Talk im Hangar-7“

In „Droht ein gesellschaftliches Log Covid?“ fragt die Historikerin nach den langfristigen gesellschaftlichen Folgen über die Pandemiezeit hinaus durch eine Sündenbock-Politik, die Ungeimpften in einer teils drastischen und affektgeladenen Rhetorik („Tyrannei der Ungeimpften“) ihre Rechte absprach:

Zwei Jahre, in denen Politiker, unterstützt von Medien, Institutionenvertretern und Wissenschaftlern, leichtfertig die Geister „Ausgrenzung und Verunglimpfung Andersdenkender“ und „Allgemeinwohlideen schlagen individuelle Freiheitsrechte“ aus der Flasche ließen, haben zu beträchtlichen sozialen Verwerfungen geführt. Mit anderen Worten: Es wurde der Boden für ein gesellschaftliches Long Covid bereitet.

Der Geist ist aus der Flasche, wie bekommen wir ihn wieder hinein, wie sind die gesellschaftlichen Gräben zu überwinden? Hier spielt der Begriff der Versöhnung hinein, mit dem sich der Philosoph Henning Nörenberg beschäftigt („Die Spaltung der Gesellschaft in Zeiten von COVID-19. Worin sie besteht und wo Ansätze zu ihrer Überwindung liegen“). Er empfiehlt die Suche nach Gemeinsamkeiten – z.B. die Ohnmachtserfahrungen in dieser Zeit – zwischen zwei Lagern, die keineswegs so homogen und damit voneinander verschieden sind, wie es auf dem ersten Blick erscheint. Doch bis jetzt sieht es eher danach aus, als ob die Zeit der Pandemie unter den Tisch gekehrt werden soll, Nörenbergs Wunsch nach Versöhnung nur ein frommer Wunsch bleibt, denn vor allem die politisch verantwortlichen Akteure zeigen wenig Interesse daran, daß das Thema weiterhin im öffentlichen Bewußtsein bleibt. Eindeutigstes Indiz dafür ist die Ablehnung eines AfD-Antrags auf Einrichtung eines Corona-Untersuchungsausschusses im Bundestag im vergangenen April.

Geradezu verblüffende historische Analogien zeigt der Osteuropa-Historiker Klaus Buchenau auf. Die Einführung neuer Formen in der Liturgie führte in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu einer Abspaltung der Altgläubigen von der Russisch-Orthodoxen Kirche. Verlauf und Entwicklung dieser Bewegung sowie ihr Verhältnis zum religiösen Mainstream weisen interessante Ähnlichkeiten zu der zeitlich wesentlich geraffteren Pandemie auf („Roskol – Spaltung auf Russisch. Corona im Spiegel eines historischen Beispiels“).

Mit dem weiteren Abklingen der Corona-Pandemie verlieren die Beiträge aus „Pandemiepolitik“ keineswegs an Wert – im Gegenteil: Auch für die Abwehr künftiger „Zumutungen“ (Robert Habeck) bieten die Beiträge in „Pandemiepolitik“ einen gewaltigen Fundus an Argumenten, so auch in der Betrachtung von Worst-Case-Szenarien, dem Wert der Bildungspolitik und der Monofokalität, also der Verengung des Blickwinkels.

Die Übergriffigkeiten staatlicher wie nichts-staatlicher Akteure haben Pflöcke eingeschlagen, die für die Zukunft nichts Gutes erwarten lassen. Schon während der Pandemie wurde deutlich kommuniziert, daß die sogenannte, medial gehypte „Klimakrise“ sich als weiteres Betätigungsfeld zur Zwangsbeglückung der Bürger und damit einem weiteren Freiheitsentzug anbietet. Die irrationale Energiewende der Ampel-Regierung und damit verbunden vor allem die teuren Gesetzesvorschläge aus dem Hause des Wirtschaftsministers Habeck zum verpflichtenden Heizungsaustausch sind das erste drohende Wetterleuchten dieser unangenehmen Wahrheit.

Sandra Kostner, Tanya Lieske (Hrsg.]
Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?:
Eine interdisziplinäre Essaysammlung
(Klartext. Schriften zu Politik und Gesellschaft)
ibidem
Oktober 2022
210 Seiten; 24,- Euro

 

 

Das Ergebnis der „Energiewende“ wird bestimmt kein immerwährendes Straßenfest sein

Die Mainstreammedien sind überwiegend eine zuverlässige Bastion der Grünen. Das gilt auch und besonders für die HNA. Drei ihrer Redakteure fallen immer wieder als zuverlässige Sympathisanten dieser Polit-Sekte auf. Zum einen Matthias Lohr, der aus seiner Haltung pro-grün, pro-Klimakleber noch nie einen Hehl gemacht hat. Zum anderen Florian Hagemann, Leiter der Lokalredaktion Kassel. Geradezu servil biederte jener sich zuletzt am 27. März nach der Stichwahl zum Kasseler OB dem Kandidaten der Grünen an:

„Sven Schoeller hat es hier mit 51,2 Prozent geschafft. Was im ersten Moment als schwaches Mandat daherkommt, ist in Wahrheit ein respektabler Wahlsieg“, so Hagemann in seiner Eloge. Den „Schönheitsfehler“, daß dieser Kandidat trotz fehlendem Gegenkandidaten – Favorit Christian Geselle schied aufgrund einer Hetzkampagne gegen seine Person freiwillig nach dem ersten Wahlgang aus – noch fast die Hälfte der ihre Stimme abgebenden Wahlberechtigten zu einem „Nein“ gegen seine Person motivieren konnte, übersieht Hagemann geflissentlich. Nebenbei, das amtliche Endergebnis reduzierte den „respektablen Wahlsieg“ auf 50,38 Prozent, also noch knapper als gedacht. Aber gut, das konnte Hagemann noch nicht wissen. Wer weiß jedoch, wie viele in Erwartung dessen noch gegen Schoeller zur Wahl gegangen wären, war doch die Stimmung „Jeder andere, nur kein Grüner!“ in der Stadt zum Greifen nahe?

Der Dritte der grünen Apologeten in der HNA ist Andreas Hermann. Vor dem traditionell mit hohem Aufwand begangenen „Tag der Erde“ am 23. April erklärte er den Lesern der HNA seine Sicht auf die angeblich herausragende Bedeutung dieses Tages. Apodiktisch schickte er voraus:

„Unsere Autos, die Benzin und Diesel verbrennen, gehören abgeschafft. Unsere Heizungen, die mit Öl und Gas betrieben werden, gehören ausgetauscht. Und zwar schleunigst.“

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Trotz aller von ihm widerwillig anerkannten Umstellungs- und Akzeptanzprobleme brachte er letztlich volles Verständnis für die Klima-Pläne der Ampel-Regierung auf:

„Dass die Politik Fristen setzen muss [sic!], um die von ihr beschlossenen Klimaziele zu erreichen und letztlich auch durchsetzen zu können, ist nachvollziehbar. Sympathischer machen diese fristsetzenden Drohgebärden den Umwelt- und Klimaschutz allerdings nicht.“

Doch Hermann ist sich sicher:

„Längst leuchtet den meisten Menschen die Notwendigkeit zur Abkehr von fossilen Brennstoffen, zum Umstieg auf erneuerbare Energien sowie zur Reduzierung von Abgasen und Abfällen ein.“

Schlußendlich hebt er das Straßenfest zum „Tag der Erde“ hervor, geradezu wie eine Vorausschau in das gelobte Land der Klimaneutralität:

„Dass es sogar Spaß machen kann, sich mit Themen rund um den Klima- und Umweltschutz zu beschäftigen, wird an diesem Sonntag eine Veranstaltung in Kassel zeigen. Nach drei Jahren pandemiebedingter Einschränkungen wird dort der Tag der Erde wieder mit Zehntausenden Besuchern gefeiert. Zu dem Kasseler Umweltfest wird seit 1990 eingeladen. In den mehr als drei Jahrzehnten hat es sich zur größten Veranstaltung seiner Art in der ganzen Republik entwickelt.

Wer am Sonntag am Kasseler Auedamm vorbeischaut, der kann sich an vielen Ständen der Festmeile jede Menge Anregungen für die eigene kleine Klima- und Energiewende holen. Die Informationen gibt’s beim Tag der Erde von den Experten vor Ort. Im direkten Gespräch. Ganz ohne Drohgebärden von oben.“

HNA, „Standpunkt“ vom 22. April 2923

Erinnern wir uns an dieser Stelle daran, wie unlustig es auf dem „Tag der Erde“ zugehen kann. Als 2018 ein Metallhandwerker es wagte, auf dem fleischlosen Straßenfest alternativ Bratwürste aus Wildschwein anzubieten, hörte der Spaß auf. Es hagelte Beschwerden und strafverschärfend wurde der harmlose Provokateur als „Nazi“ und „Reichsbürger“ diffamiert. Eine deutliche Drohung an alle, es ihm keinesfalls nachzumachen.

Nach Wildschwein-Grillen bei Tag der Erde: Kasseler Künstler fühlt sich diffamiert (hna.de)

Nach wie vor ist das Imbiss-Angebot am „Tag der Erde“ ausschließlich vegan. Auch in diesem Jahr blieben selbst Bio-Metzger ausgeschlossen. Wenn auf solchen alternativen Straßenfesten von „Vielfalt“ die Rede ist, ist damit noch lange nicht das Nahrungsangebot gemeint. Stattdessen durften die Besucher unter anderem aufgeweichte holländische Fritten für bescheidene 6,- Euro essen.

Doch zum Grundsätzlichen dessen, was Hermann in seinem „Standpunkt“ anspricht: Nichts ist gefährlicher, als scheinbare Gewißheiten zur Grundlage einer tief in unser aller Leben eingreifenden Politik zu machen. Im Falle der Energiewende, die laut dem Grünen-Urgestein und Ex-KBWler Jürgen Trittin nicht mehr als „eine Kugel Eis“ kosten sollte (eine Gewißheit, inzwischen selbst geschmolzen wie Eis in der Augustsonne), machen sich die Widersprüche und Negativfolgen jetzt endlich deutlich bemerkbar.

Da ist zum einen der Einzelgänger Deutschland, der seine bisherige Energieversorgung sukzessive im Eiltempo von Autarkie auf Stromimporte (beispielsweise aus französischen Kernkraftwerken) und wetterabhängigen Erneuerbaren Energien wie Windkraft umstellt, um damit die von der Politik forcierten E-Autos und Wärmepumpen zu betreiben. Der Rest der Welt denkt gar nicht daran, Deutschland auf diesem Weg nachzueifern, im Gegenteil.

Warum auch? Denn bis heute haben es die Wissenschaftler nicht geschafft, das System „Klima“ vollumfänglich so zu verstehen, daß daraus allgemeingültige politische Handlungsempfehlungen unumstößlichen Charakters abzuleiten wären, egal wie oft und laut Prof. Dr. Kurt Rohrig im Klimaschutzrat Kassel wettert, es stünde in der Klimakrise „Fünf vor Zwölf“.

Nehmen wir nur die Ergebnisse einer veröffentlichten Studie über die aus Eisbohrkernen gewonnenen Daten über den Temperaturverlauf im Grönland der letzten 4000 Jahre. Die große Überraschung für alle Klimasektierer:

„Die Grafik zeigt neben einer sehr hohen Variabilität der Temperatur, dass es in den 1930er und 1940er Jahren im Zentrum Grönlands ähnlich warm war wie derzeit, ebenso in den 1140er Jahren der sogenannten Mittelalterlichen Warmzeit. Die derzeitigen Temperaturen in Grönland sind damit noch innerhalb der natürlichen Variation des Klimasystems.

Schaut man sich die untere Kurve an, erkennt man zudem, dass es vor dem Jahre 1000 viele Perioden gab, die noch deutlich wärmer waren als heute, insbesondere um das Jahr 700 herum sowie um 1350 v.Chr. Das Fazit dieser Studie ist somit: Bisher ist für das Zentrums Grönlands keine Erwärmung nachzuweisen, die es nicht schon einmal in der Vergangenheit gegeben hat.“

Nur wenige Tag nach dem „Tag der Erde“ stellte mit Viessmann eines der bedeutendsten Industrieunternehmen und Technologieführer in der Heiztechnik des Landes der Ampelregierung eine erste Quittung für den verhängnisvollen Kurs in der Energiewende aus und gab den Verkauf an einen US-amerikanischen Konzern bekannt. Die dafür in den Medien gelieferte Erklärung, es handle sich lediglich um eine Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit, ist allerdings keine überzeugende und zureichende Erklärung für einen Verkauf ins Ausland. Sie ist eher eine Bestätigung für den Ausverkauf eines Landes, dessen Energieversorgung wettbewerbsschädigend ist und die auf dem Selbstbetrug von Subventionen basiert. Während die HNA im Sinne Habecks dieses Wetterleuchten sogar für den Abschied von der Industriegesellschaft und damit auch von gut bezahlten Arbeitsplätzen relativierte, schlugen andere Alarm:

Mit dem Klimatechnik-Konzern Viessmann wechselt eine industrielle Perle Deutschlands in amerikanische Hände. Das ist ein Alarmzeichen. Doch der Bundeswirtschaftsminister versucht schönzureden, was wohl nur der Anfang des Ausverkaufs einer deutschen Vorzeigebranche ist.

Die Übernahme zeige doch, dass „der Markt für Wärmepumpen so attraktiv ist, dass er Investitionen anzieht“, freut sich Robert Habeck öffentlich.

Mit Verlaub: Es ist nicht der „Markt“, der die Firmenkäufer aus den USA und Asien anzieht. Es ist eine staatlich erzeugte Sonderkonjunktur für Wärmepumpen, finanziert vom deutschen Steuerzahler. […]

https://www.welt.de/wirtschaft/plus245017556/Viessmann-Taeuschung-Habeck-redet-schoen-was-nicht-schoenzureden-ist.html

Ja, Herr Hermann, die Energiewende macht Spaß, da kommt Freude auf…

Twittereintrag Don Alphonso

Zum passenden Abschluss noch eine modifizierte Weissagung, die fälschlicherweise den Cree zugeschrieben wird:

Erst wenn das letzte Großunternehmen ins Ausland verkauft, das letzte mittelständische Unternehmen abgewickelt, der letzte Kleinselbständige pleite ist, werdet ihr merken, wie verwöhnt ihr seid, welche Fehler ihr gemacht habt und dass ihr so nicht leben wollt… und dass man Gendersterne nicht essen kann.

Wenn Science-Fiction zur Realität wird

LONDON BEREITET SICH AM JAHRESTAG DES MEDIKATIONSGESETZES AUF MASSENPROTESTE VOR

Zum neunzehnten Jahrestag der Einführung des Medikationsgesetzes wurden in der Hauptstadt die Sicherheitsvorkehrungen verdoppelt. Groß angelegte Demonstrationen zugunsten des Rechts von über Siebzigjährigen auf Antibiotika werden überall im ganzen Land erwartet. Im vergangenen Jahr haben sich mehr als eine Millionen Menschen zu „Die-ins“ vor Krankenhäusern, Verkehrsknotenpunkten und Regierungsgebäuden zusammengefunden, in deren Zuge mehrere Städte lahmgelegt wurden.

Das umstrittene Medikationsgesetz, das als Notverordnung während der Großen Krise verabschiedet worden war, hatte zum Ziel, das exponentielle Wachstum von Antibiotikaresistenzen einzudämmen und die Dauer der Einsatzfähigkeit neuer Medikamente zu verlängern. Es stützte sich auf die Ergebnisse von Reihenuntersuchungen, die darauf hinwiesen, dass ältere Patienten wegen der längeren Verwendung von Antibiotika und ihrer erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten vermehrt zu antimikrobiellen Resistenzen neigen. Aktivisten zweifeln diese Studien an und erklären, sie seien nicht mehr glaubhaft und dienten lediglich als pseudowissenschaftlich untermauerter Vorwand. Sie behaupten, dass die wahren Motive damals finanzieller Natur waren – und es immer noch sind.

„Der Genozid an Senioren muss aufhören“, sagt die achtundsechzigjährige Organisatorin der Demonstration, Tessa Beecham. „Wir alle haben ein Anrecht auf Behandlung, egal, wie alt wir sind. Die Medikamente sind verfügbar, die Regierung will nur nicht für sie bezahlen. Wir werden nicht ruhen, bis sie dieses unmenschliche und unnötige Gesetz aufheben.“

Aus: „Der letzte Weg“; Eve Smith

Gute Science-Fiction vermag gegenwärtige Trends aufzuspüren und ihre Entwicklung in der Zukunft vorauszuschauen. Ein perfektes Beispiel hierfür ist „Das Heerlager der Heiligen“ des Franzosen Jean Raspail, der bereits 1973 geradezu visionär die heutige Massenmigration aus der Dritten Welt nach Europa literarisch vorwegnahm. Doch es kann auch der Fall eintreten, daß ein Science-Fiction-Roman, kaum auf dem Markt, von der Dynamik einer Entwicklung, die er prognostiziert, überrollt wird. Ein derartiger Fall liegt mit „Der letzte Weg“ der Britin Eve Smith vor.

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Wir alle kennen die segensreiche Wirkung von Antibiotika. 1928 entdeckte der britische Bakteriologe Alexander Fleming die bakterizide Wirkung des Schimmelpilzes Penicillin, was eine regelrechte Revolution in der Medizin auslöste. Von da an ging von alltäglichen Infektionen, der so viele Menschen zum Opfer fielen, kein Schrecken mehr aus. Fleming warnte jedoch bereits vor einer Zeit, in der die Antibiotika drastisch an Wirksamkeit verlieren könnten, weil Bakterien im Laufe der Zeit Resistenzen entwickeln würden. Die Gefahr ist mit dem Auftreten multiresistenter Keime bereits real geworden, gleichwohl in der ärztlichen Praxis gerade noch beherrschbar.

Smith jedoch führt in eine gar nicht so ferne Zukunft, in der sämtliche Antibiotika in der „Großen Krise“ wirkungslos geworden sind. Mitverantwortlich hierfür ist die massenhafte Anwendung der Antibiotika, auch in der Mastzucht, aus der sich resistente Keimstämme entwickeln können. Infektionen greifen um sich und führen zu Massensterben. Selbst die kleinste Entzündung, die scheinbar harmloseste Schnittverletzung wird zur tödlichen Gefahr. Erkrankte werden zwecks Eindämmung isoliert. Die Lebenserwartung sinkt rapide. Der überwunden geglaubte Schrecken vergangener Tage ist wieder präsent.

Damit einhergehend erfährt auch die Gesellschaft einen Wandel. Jahrzehnte später errichtet der Staat im Rahmen der Infektionskontrolle ein die individuellen Freiheiten drastisch einschränkendes Kontrollregime. Haustiere sind inzwischen fast ausnahmslos als potentielle Krankheitsüberträger gekeult worden. Für über 70jährige gibt es nur noch eingeschränkte medizinische Hilfe. Die Lebenserwartung ist rapide gesunken. Sterbehilfe in Krankenhäusern ist normale Praxis, gleichwohl von der Bevölkerung nicht uneingeschränkt akzeptiert. Überhaupt regt sich zunehmend Widerstand gegen das Gesundheitsregime. Doch immerhin, ein Gutes hat diese Zeit: Die Viehwirtschaft wurde auf Bioproduktion umgestellt, was Fleisch aber zur raren und teuren Ware macht.

In dieses Szenario bettet Smith die Geschichte von Mary/Lily und Kate ein. Kate ist eine Krankenschwester, die aber weniger in der Pflege als in der Sterbebegleitung eingesetzt wird. Sie ist auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie kurz vor ihrer Geburt zur Adoption freigab. Ihre Mutter Mary wiederum lebt in einem britischen Seniorenheim. Zu ihrem Schutz gab sie sich eine neue Identität als Lily. Denn sie ist verwickelt in politische Aktivitäten während der Zeit des Ausbruchs der „Großen Krise“, als die Regierung ihre Rolle in einem Medizin-Skandal vertuschte. Und genau deswegen sind noch andere als ihre Tochter Kate auf der Suche nach ihr.

Smiths Debütroman erschien 2020 (deutsche Erstausgabe 2022), mitten im Beginn der Corona-Pandemie, die die Welt rund drei Jahre in Atem halten sollte; eine geradezu kuriose Koinzidenz. Allzu vertraut erscheint daher dem Leser der Plot von der „Großen Krise“ und der Atmosphäre jener Zeit, die ihr folgt. Ihr Roman enthält im Grunde genommen fast alles, was wir auch in der Corona-Pandemie kennenlernen durften. Tatsächlich ist in Großbritannien auf dem Höhepunkt der Pandemie selbst die Tötung aller Hauskatzen erwogen worden! Aber ist das dann noch Science-Fiction?

Auf der deskriptiven Ebene leistet Eve Smith solide Arbeit. Die detaillierte Szene zu Beginn, in der sie Marys Assistenz einer Sterbehilfe-Zeremonie schildert, der lebensmüde Patient, die verzweifelten Angehörigen und das formelle Prozedere wirken beklemmend authentisch. Sofort denkt der kundige Leser und Kineast an eine ähnliche Szene aus dem Kultfilm „Soylent Green“ (1973). Dennoch wirkt Smiths Darstellung keineswegs wie eine Kopie.

Daher ist die Lektüre von „der letzte Weg“ eine gewisse Herausforderung, da Smith auf eine lineare Erzählweise verzichtet, und stattdessen auf verschiedenen Zeitebenen, in denen die Protagonisten gleichberechtigt auftreten, munter hin und her springt, bevor am Ende alle Fäden wieder zusammenfinden.

Als inhaltliches Defizit muß der Mangel an Tiefenschärfe genannt werden. Die verpasste Chance, die Implikationen eines Gesundheitsregimes wie in ihrem Buch in Bezug auf dessen Menschenbild, ein politisches Herrschaftsverständnis und ein umfassenderes Bild der Gesellschaft auszuloten, ließ die Autorin leider ungenutzt. Über das Niveau eines mittelmäßig spannenden Thrillers kommt die Geschichte somit leider nicht hinaus.

Eve Smith
Der letzte Weg
Heyne
448 Seiten; 15,- Euro

Roncesvalles: Die Hybris des Königs

Für die Geschichte des Abendlandes ist der fränkische König Karl (747/48 – 814) von weit herausragender Bedeutung. Durch seine Eroberungszüge, in denen er Langobarden und Sachsen unterwarf, schuf er ein gewaltiges Imperium. Den Höhepunkt seiner Herrschaft erreichte er Weihnachten 800 mit der Kaiserkrönung durch den Papst in Rom. Aus dem fränkischen König Karl wurde der römische Kaiser Karl der Große. Damit hatte seit seinem Untergang 476 n. Chr. das Weströmische Reich endlich einen Nachfolger gefunden. Doch nicht allein das, Karls Reich wurde zur Keimzelle von Frankreich und Deutschland. Es ist der Beginn jener als Mittelalter bezeichneten Epoche, die aus den Trümmern der in den Stürmen der Völkerwanderung versunkenen Antike entstand.

Über die Zeiten hinweg wurden vor allem Karls Verdienste betont. Doch auf der anderen Seite stehen die Brutalität, die Verschlagenheit und die Machtgier des Franken, die in dem „Blutgericht von Verden“ im Jahr 782, wo angeblich rund 4 000 aufständische Sachsen hingerichtet wurden, einen entsetzlichen Höhepunkt fand. Das Volk der Sachsen selbst wurde durch Zwangstaufe gebrochen. In der Ausbreitung seines Königreichs und der Verbreitung des christlichen Glaubens ging Karl stets mit dem Schwert in der Hand zu Werk.

Karls dunkle und gewalttätige Natur blieben in der Bewertung späterer Generationen in Anbetracht seiner Leistungen deutlich unterbelichtet. Dem gegenüber setzt jetzt der Splitter Verlag mit dem im April veröffentlichten Abschlußband der zweiteiligen Comicserie „Die Chroniken von Roncesvalles“ – in Lizenz des französischen Comic-Riesen Dargaud – einen Kontrapunkt zu diesem Bild des Frankenherrschers. „Munjoie!“ – der Schlachtruf der fränkischen Krieger – ist der Titel dieses zweiten Bandes nach dem Eröffnungstitel „Die Legende von Roland“, die von dem spanisch-baskischen Zeichner Juan Luis Landa kreiert wurden.

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Es ist das Jahr 777. Mitten in einem seiner Kriegszüge in das Land der Sachsen erreicht Karl eine Abordnung aus dem muslimischen Spanien. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist fast die gesamte Halbinsel als Al-Andalus dem grünen Banner des Propheten unterworfen. Doch die muslimischen Besatzer sind uneins. Suleiman Ben Yaqzan Ibn Al-Arabi versucht eine Intrige gegen die Umayyaden-Statthalter. Um seine Besitzungen im Norden von Al-Andalus zu erhalten, will er sich ausgerechnet dem christlichen Frankenkönig Karl unterwerfen.

Ausschnitt „Roncesvalles“ #1

Karl ist von den sich scheinbar daraus ergebenden Aussichten begeistert. Anstatt sich zufrieden zu geben, daß die innermuslimischen Rivalitäten jede Bedrohung für sein Reich neutralisieren, brennt sein Ehrgeiz darauf, mit der Errichtung einer neuen südlichen Mark, jenseits der Pyrenäen einen lang gehegten Traum zu verwirklichen. Im Folgejahr bricht Karl mit einem Heereszug auf und unterwirft auf seinem Weg nach Saragossa die von den Muslimen unabhängigen Vasconen, die Vorläufer der Basken. Doch am Ziel erfährt er eine unangenehme Überraschung. Saragossa, das sich inzwischen von Suleiman abgesetzt und den Umayyaden zugewandt hat, denkt gar nicht an Übergabe. An seinen starken Befestigungen droht Karls Ehrgeiz zu zerbrechen.

Gegen ihn richten sich von da an nicht nur die von Muslimen bemannten Mauern Saragossas, die christlichen Vasconen und die Hitze Spaniens. Seine mangelnde Umsicht, mit der Karl sich zu viele Feinde geschaffen hat, ruft auch ein versteckt lebendes, uraltes und im Heidentum verwurzeltes Volk auf den Plan. Hier drohen nicht allein die hochfahrenden Pläne Karls kolossal zu scheitern; es erfüllt sich am Ende in der Schlacht von Roncesvalles auch das Schicksal seines tapfersten Ritters Roland, dem eine sterbende sächsische Priesterin seiner Greuel gegen die Sachsen wegen den baldigen Tod vorausgesagt hat.

Als Baske ist Landa nahe an einem historischen Stoff, dessen künstlerische Umsetzung ihm perfekt gelingt. Mit seiner Interpretation des Rolandlieds setzt er vollkommen neue Akzente, bleibt dabei nahe am überlieferten Geschehen, über das die fränkischen Chroniken allerdings nur spärlich Auskunft geben. Kaum verwunderlich, denn über die Mißerfolge der großen Herrscher schrieb man damals nur ungern. So benötigt Landa auch nur ein Panel, um plausibel darzulegen, wie effizient die Großen der damaligen Zeit das Bild über ihre Person unter Kontrolle halten konnten.

Ausschnitt „Roncesvalles“ #2

Meisterhaft sind Landas Szenarien der Schlachten, mit denen der Leser in den außergewöhnlichsten Perspektiven über das Geschehen fesselt, so wie seine Darstellung der Erstürmung Saragossas.

Ausschnitt „Roncesvalles“ #2

In die vor Karls Kriegern in das schützende Saragossa fliehenden Zivilisten, die Geißeln der Vasconen, die er in seinem Zorn hinrichten läßt – mit all dem gelingt Landa etwas sehr Ungewöhnliches: Die Schaffung eines Narrativs über den in Hybris – der gefährlichen Selbstüberschätzung und Realitätsverweigerung der Mächtigen – verfallenen Frankenkönig Karl, das selbst in dem hartnäckigsten „Islamophoben“ Sympathien für die von ihm bedrängten Muslime aufkommen läßt.

Vom ausschließlich positiv besetzten Bild Karls des Großen als „Vater und Baumeister Europas“, den die Kirche sogar heiliggesprochen hat, hat sich die moderne Geschichtswissenschaft spätestens 2014 – dem 1200. Jahrestag seines Todes – verabschiedet. Gleichwohl, populär hat sich diese überkommene Vorstellung immer noch gehalten. Juan Luis Landa wird es zu verdanken sein, daß mit „Roncesvalles“ diese so scheinbar überragende Figur auch im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit realistischer dargestellt wird.

Juan Luis Landa
Die Chroniken von Roncesvalles
Band 1: Das Lied von Roland
Splitter Verlag
64 Seiten, 2022, 17,- Euro
Juan Luis Landa
Die Chroniken von Roncesvalles
Band 2: Munjoie!
Splitter Verlag
56 Seiten, 2023, 16,- Euro

John Dutton darf nicht sterben

Kaum eine TV-Serie feiert derzeit weltweit und vor allem in den USA einen so großen Erfolg wie „Yellowstone“. Angesiedelt im heutigen Montana läuft die moderne Westernserie seit 2018 bereits über fünf Staffeln. Die Hauptrolle des John Dutton spielt Kevin Costner, der 1990 schon mit einem Mega-Western seinen Durchbruch feierte, als „Der Mann, der mit dem Wolf tanzt“. John Dutton ist der Patriarch der Duttons, einer Familie, die die größte Ranch in Montana besitzt. Ihre Welt ist nicht allein bedroht durch die harten Bedingungen ihres Geschäfts, durch Viehdiebe und Indianerhäuptlinge, die nicht mit Federschmuck, sondern im Anzug Rache an den weißen Landräubern nehmen wollen. Ihre Heimat Montana ist auch zur potentiellen Goldgrube geworden für Projektentwickler und Investoren, die aus dem Image des nur dünn besiedelten Montanas als Sehnsuchtsort vieler Amerikaner nach ursprünglicher Natur ihren Profit schlagen wollen. Profit, dem die Existenz ihrer Ranch im Wege steht. Schießereien wie im „Wilden Westen“ spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Vorrangig dominieren interne Familienfehden und fiese Intrigen, wie wir sie aus früheren Erfolgsserien wie „Dallas“ oder „Denver-Clan“ kennen.

Kevin Costner als John Dutton
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Costners Verkörperung des John Dutton dürfte viel zum Erfolg der Serie beigetragen haben. Und um es vorwegzunehmen, er spielt einen Charakter, für den sich in Deutschland kein Drehbuchschreiber oder Produzent finden ließe. Doch in Amerika sind sich die Studiobosse im Klaren darüber, daß der konservative Teil der Zuschauerschaft zu groß ist, um ihn „links“ liegen zu lassen oder zu enttäuschen. Inzwischen wurde das „Yellowstone“-Epos mit den Prequels „1883“ und „1923“ (mit Harrison Ford und Helen Mirren) noch erweitert.

John Dutton bildet das Ideal eines konservativen Patriarchen, der ausgestattet mit Charisma und Cleverness, die ur-amerikanischsten Werte der Frontiers hochhält, jener Pioniere, die in den Anfängen der USA die Weiten des Kontinents erschlossen. Seine Weste bleibt dabei keineswegs lupenrein sauber, denn wo sie bestimmte Grenzen überschreiten, läßt er seine Feinde auch durchaus über die Klinge springen.

Um den Erfolg der Serie in den USA zu verstehen, helfen vielleicht drei markante Szenen. Da ist zum einen sein Zusammentreffen mit einer chinesischen Reisegruppe, die sich fahrlässig und unerlaubt auf seinem Grund einem gefährlichen Grizzly nähern. Hier wurde bewußt eine Spiegelung des amerikanisch-chinesischen Gegensatzes, der in der Politik in den letzten Jahren an Schärfe zunahm, inszeniert. Seinen Anspruch auf das Land wird von den Chinesen in Abrede gestellt. Nach ein paar Warnschüssen aus seiner Winchester stellt Dutton unmißverständlich klar:

„This is America. We don’t share land here – das ist Amerika. Wir teilen unser Land nicht.“

Die nächste Szene ist das Aufeinandertreffen von Dutton mit einer jungen Tierschutz-Aktivistin, nachdem sie im Zuge einer Protestaktion gegen die Fleischwirtschaft festgenommen wurde:

„Haben Sie je ein Feld gepflügt, um Kimea anzubauen oder Hirse oder was auch immer Sie sonst so essen? Sie töten alles am Boden oder auch darunter. Sie töten jede Schlange, jeden Frosch, jede Maus, jeden Maulwurf, jeden Wurm. Sie töten sie alle.

Die einzig wahre Frage ist: Wie niedlich muß ein Tier sein, damit Sie es nicht töten wollen, um sich zu ernähren…?“

Solche Sätze sind Albträume für jeden woken Aktivisten und jeden Social Justice Warrior. Und wie um den Trigger noch zu steigern, landet die Aktivistin am Ende auch noch in Duttons Bett.

Duttons Bewerbungsrede um das Amt des Gouverneurs von Montana ist geradezu ein Manifest gegen den linksliberalen Zeitgeist:

„Man sieht es nicht auf dem Weg zur Arbeit, in den Bergen, in den Feldern, aber da draußen führen sie Krieg gegen unsere Art zu leben. Sie werden viele Gründe anführen, warum unsere Art zu leben schlecht für Montana sei. Schlecht für das Land und schlecht für unsere Zukunft. Daß es unmoralisch sei, hier zu leben, hier zu arbeiten, hier ihre Nahrungsmittel anzubauen. Sie werden es so oft wiederholen, daß auch Sie daran glauben, daß Sie infrage stellen, was Sie tun und wer Sie sind. Sie werden Ihnen sagen, daß die einzige Hoffnung für dieses Land darin besteht, daß sie es verwalten. Die unschöne Wahrheit ist: sie wollen das Land. Und falls sie es kriegen, wird es nie wieder wie unser Land aussehen.
Das ist ‚Fortschritt‘ wie man ihn heute versteht. Wenn Sie also Fortschritt wollen, dann wählen Sie mich nicht. Ich bin das Gegenteil von Fortschritt. Ich bin die Mauer, an die er prallt, und ich werde nicht nachgeben und daran zerbrechen.“


Es sind Sätze, die sich ohne weiteres auch auf die Situation in anderen westlichen Ländern übertragen lassen. Auch in Deutschland tobt sich der woke Furor aus, verlangt Gestaltungsmacht und ist mit seinem politischen Arm, den Grünen, gerade eifrig dabei, sehr tief in unser aller Leben einzugreifen. Wie sehr wäre auch hier das Auftreten einer Gegenkraft zu wünschen, die dem Einhalt gebietet, nicht in Gestalt eines sich in Nationalromantik verlierenden Björn Höcke und erst recht nicht durch Friedrich Merz, der vor jedem Shitstorm in Deckung geht, noch bevor der überhaupt ausgebrochen ist.

Über der Zukunft von „Yellowstone“ tauchen dunkle Wolken auf. Irritierend ist für viele Fans der Serie, daß die deutsch synchronisierte Fassung der fünften Staffel auf dem Streamingkanal Paramount+ weiter auf sich warten läßt. Doch am meisten beunruhigt das in verschiedenen Medien verbreitete Gerücht, wonach Costner im Streit aus der Serie auszusteigen droht. Es wäre ein entsetzlicher Verlust, der kaum aufzufangen wäre und der mit Sicherheit das Ende von „Yellowstone“ bedeuten würde. John Dutton darf einfach nicht sterben.

Das Desaster des Airports Kassel-Calden, die HNA und die Selbstbeschränkung des Journalismus

„Die Prognosen lagen weit daneben“ übertitelt die HNA in ihrer Ausgabe den Beitrag über das extrem magere Ergebnis nach zehn Jahren Flughafen Kassel-Calden. Es reicht schon, nur eine Zahl daraus zu wiederholen: Statt jährlich 6-800 000 Fluggäste nutzten in einem Spitzenjahr lediglich 131 000 Passagiere den mit annähernd 300 Millionen Euro errichteten Flughafen-Neubau.

HNA-Artikel zu 10 Jahre Airport Kassel-Calden, 21.03.2023
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Wer hätte das gedacht, daß es einmal soweit kommen könnte mit diesem Prestigeprojekt? Nun ja, jeder mit gesundem Menschenverstand konnte sich denken, daß diese Region nie einen derartigen Flughafen wirtschaftlich tragfähig erhalten konnte. Zu viele negative Beispiele anderer, vergleichbarer Regionalflughäfen gaben berechtigten Anlaß zur Skepsis. Eine der wenigen prominenten Stimmen, die sich warnend dagegen erhoben, war die von Klaus Becker, damaliger Chefredakteur des „Extra Tip“. Kassel, so der 2010 verstorbene „Journalist der kleinen Leute“ (Horst Seidenfaden), habe bereits einen Regionalflughafen, nämlich den in nur weniger als 100 Kilometern erreichbaren von Paderborn-Lippstadt. Und spätestens als die bei der Eröffnung mit enormen Vorschußlorbeeren ins Amt gehobene Flughafenchefin Maria Anna Muller nach nur 18 Monaten unter entwürdigenden Umständen gefeuert wurde, hätte man endlich aufwachen müssen, um zu erkennen, daß hier etwas nicht stimmt.

Stimmungsmache à la HNA, Ausschnitt aus der Ausgabe vom 20.02.2006

Nun, zehn Jahre und inzwischen viele in den Betrieb von Kassel-Calden versenkte Steuer-Millionen später, wäre es endlich einmal an der Zeit, dieses Kapitel einer kritischen Aufarbeitung zu unterziehen, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Und genau hier spielte die HNA eine unselige Rolle! Dieses Wahnsinnsprojekt hätte niemals durchgesetzt werden können, hätte diese Zeitung nicht jene Kampagne gefahren, die die Zukunft des Flughafens in den rosigsten Farben schilderte. Ich habe zwar in meinem Umfeld nicht den Eindruck gehabt, daß da viele darauf hereingefallen wären, aber es reichte aus, es als das entscheidende Narrativ in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Die Diffamierung der Flughafen-Gegner war darin inklusive, ganz selbstverständlich.

Die HNA, so wurde dem Berichterstatter einmal mitgeteilt, sieht sich als Unterstützer von neuen Projekten zur Förderung der Region und gibt sich diesen positiv aufgeschlossen. Doch diese Form des Lokalpatriotismus, die übrigens in allen Blättern des Ippen-Konzerns gepflegt wird, ist bisweilen von der journalistischen Fachpresse eher negativ aufgenommen worden.

Denn genau darin wird eines der drängendsten Kernprobleme des heutigen Journalismus deutlich: Kritischer Journalismus ist auch immer ein sich selbst beschränkender Journalismus. Es kann nicht Aufgabe von Journalisten sein, „im Namen des Fortschritts“ irgendwelche scheinbar erfolgversprechenden Projekte zu fördern und damit die Öffentlichkeit irrezuführen. Die Aufhebung der Trennung von Nachricht und Meinung zu manipulativen Zwecken wird hier deutlich. Man will künftig sogar explizit bei dem Prinzip bleiben, a priori alle neuen Projekte in der Region schönzuschreiben. Im Fall von Kassel-Calden hat das offenkundige Kirchturm-Denken in ein finanzielles Desaster ohne absehbares Ende geführt.

Doch das Desaster von Kassel-Calden steht nicht allein für dieses Problem. Es betrifft ebenso die unkritische Berichterstattung zu den staatlichen Maßnahmen der Corona-Bekämpfung, wo man sich nur allzu bereitwillig zum Büttel der Regierungspolitik gemacht hat. Und nicht weniger eklatant fielen die Mainstreammedien aus der Rolle, als im Zuge der Migrationskrise 2015/16 unablässig Stimmung gemacht wurde für eine „Willkommenskultur“ und man damit der Spaltung des Landes erheblichen Vorschub leistete. Die Kritiker hingegen diffamierte man als „Schwurbler“ und „Fremdenfeinde“.

Aber eine kritische Presse ist auch immer eine selbstkritische. Diese Fähigkeit war in der Redaktion der HNA allerdings noch nie besonders ausgeprägt. Dabei wäre sie gerade jetzt dringend vonnöten. Und dann sollte sie sich dabei nicht alleine auf den Flughafen Kassel-Calden beschränken, sondern auch hinsichtlich ihrer Berichterstattung zu Corona, dabei insbesondere gegenüber den Impf-Skeptikern, sich einer selbstkritischeren Überprüfung unterziehen. Es fällt auf, daß nun, wo auch Mainstreammedien anfangen hierbei ihre eigene Rolle kritisch zu beleuchten, im Gegensatz dazu in der HNA dröhnendes Schweigen vorherrscht.

Immerhin, mangels Flugbewegungen ist Kassel-Calden vermutlich der umweltfreundlichste Flughafen in Deutschland. Ein gewaltiger Pluspunkt für seine Klimabilanz. Denn wo nichts fliegt, können auch keine Emissionen anfallen. Und wenn wir schon bei diesem Thema sind: Wie man einerseits all die Jahre trotz medial gehypter Flugscham und der Anbiederung an die Klimasekten in der HNA noch an Kassel-Calden festhalten konnte, ist ein Widerspruch, der vermutlich niemanden in der Redaktion aufgefallen ist.

YT-Clip von SPIEGEL Online vom 9.11.2013

Kimmich, das „Team Lauterbach“ und die HNA

„Was ist der Unterschied zwischen einer Verschwörungstheorie und der Wahrheit? Ungefähr zwölf Monate.“ (Jakob Hayner, WELT Online vom 18.3.2023)

Drei Jahre können gefühlt eine sehr lange Zeit sein, vor allem wenn sie dicht bepackt mit spektakulären Ereignissen sind. In diesen Tagen jährt sich nun zum dritten Mal die erste Verhängung eines Covid-Lockdowns durch die Bundesregierung. Damals noch unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel, eine Maßnahme, deren Verhängung noch wenige Tage zuvor offiziell geleugnet wurde, dann auf wenige Wochen terminiert, um dann auf mehrere Monate verlängert zu werden. Was während dieser Zeit zur Bekämpfung der Covid-Pandemie erfolgte, war ein gesellschaftlicher Stresstest ohnegleichen, noch zusätzlich getoppt von dem von Politik und Medien forcierten Druck auf die Bevölkerung, sich allesamt einer noch unzureichend getesteten Impfung gegen das Corona-Virus zu unterziehen. Zwar ist diese Zeit vorüber, doch die daraus resultierenden gesellschaftlichen Gräben und Verwerfungen sind kaum zugeschüttet. Denn nun beginnt die Aufarbeitung und es kommt heraus – oh, Wunder! -, daß die Maßnahmen, bekanntlich in Teilen rechtswidrig, vielfach weit über das Ziel hinausschossen, gefährliche Kollateralschäden verursachten und auch die Impfung keineswegs, wie der inzwischen von den Medien zum Bundesgesundheitsminister hochgeschriebene Karl Lauterbach behauptete, vollkommen nebenwirkungsfrei war.

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Vor nur wenigen Wochen in der Talksendung von Markus Lanz, gab nun Dauergast Lauterbach zu aller Überraschung indirekt den „Querdenkern“ und sogenannten „Schwurblern“ recht. Die Schulschließungen waren überzogen, die Regeln zum Außenaufenthalt – auch mit Maskenzwang! – sogar „Schwachsinn“. Dem Rückzug in Raten folgte seine Relativierung von der angeblich „nebenwirkungsfreien Impfung“ bei Anne Will:

„Auf der anderen Seite müssen wir auch vermitteln, was ja auch so ist: Die Impfungen sind halt mehr oder weniger nebenwirkungsfrei. Das muss immer wieder gesagt werden.“

Was das im schlimmsten Fall konkret bedeutet, hat unter anderem WELT Online berichtet, wie im Fall der 20jährigen Alina Adams, die seit der dritten Impfung auf den Rollstuhl angewiesen ist und um die Anerkennung ihrer Ansprüche kämpft:

https://www.welt.de/wirtschaft/plus243843025/Corona-Impfschaeden-Danach-war-fuer-mich-klar-dass-ich-klagen-will.html


JUNGE FREIHEIT 12-23, 17.03.23:

Lauterbach: Impfschäden schneller anerkennen

Berlin. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat das Auftreten von schweren Nebenwirkungen nach der Impfung gegen Covid-19 eingeräumt und sich dafür ausgesprochen, daß Impfschäden schneller anerkannt werden. „Diese Schicksale sind absolut bestürzend. Die Menschen tun mir ehrlich gesagt sehr leid“, beteuerte der Sozialdemokrat im ZDF. Ein etwaiges Versagen des Gesundheitsministeriums an dieser Stelle wollte der Politiker unterdessen nicht sehen. „Damit kein falscher Eindruck hängenbleibt: Schwere Impfschäden sind auf der Grundlage der Daten des Paul-Ehrlich-Institutes oder der Europäischen Zulassungsbehörde in der Größenordnung von weniger als eins zu 10.000 Impfungen. Es ist also nicht so, daß Impfschäden so häufig seien.“ Auf die Frage, weshalb der Gesundheitsminister noch im Sommer 2021 behauptet habe, daß die Impfung „nebenwirkungsfrei“ sei, antwortete Lauterbach ausweichend. „Das war eine Übertreibung, die ich einmal in einem mißglückten Tweet gemacht habe.“ Aber das sei nicht seine grundsätzliche Haltung gewesen. Nun forderte der Sozialdemokrat eine Beteiligung der Pharmakonzerne an eventuellen Schadensersatzzahlungen. „Die Gewinne der Pharmafirmen sind exorbitant gewesen. Das wäre also mehr als nur eine gute Geste“, betonte er. Zuvor hatte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gefordert, Bund, Länder und Impfstoffhersteller sollten die Opfer von Corona-Impfschäden über eine Stiftung entschädigen. Bisherige Verfahren seien viel zu bürokratisch, so der gesundheitspolitische Sprecher, Tino Sorge (CDU). Bereits im Sommer vergangenen Jahres hatte die AfD-Bundestagsfraktion von der Bundesregierung verlangt, für eine umfassende Datenlage bezüglich gesundheitlicher Folgen und Nebenwirkungen der Corona-Impfung zu sorgen. Außerdem müsse die Ständige Impfkommission „schnellstmöglich ihre Impfempfehlungen anhand aktueller Daten zur Wirksamkeit und zur Häufigkeit und Schwere von Nebenwirkungen der Covid-19-Impfstoffe überprüfen und aktualisieren“. (fw/vo)


Einer, der den Druck sich impfen zu lassen, besonders zu spüren bekam, war der Fußball-Nationalspieler Joshua Kimmich. Im Oktober 2021 bekannte Kimmich sich zu seiner Skepsis über ein zu wenig getestetes Impfverfahren, das noch mit zu vielen Risiken behaftet sei. Wie groß der Druck gewesen sein muß, kann man sich mittlerweile gut vorstellen. So gab Kimmich am Ende klein bei und ließ sich die Spritze geben. WELT Online erinnerte dieser Tage auch an diesen Fall und setzte ihn in Zusammenhang mit Lauterbachs Versprechen einer „nebenwirkungsfreien Impfung“:

https://www.welt.de/kultur/plus244325985/Corona-Impfung-Ohne-Nebenwirkungen-Wie-das-Team-Lauterbach-Joshua-Kimmich-jagte.html

Penibel wurden in dem Beitrag die teils drastischen und übergriffigen Äußerungen Prominenter aufgeführt, aus denen die von Jan Böhmermann besonders abstoßend herausragt:

Der Fall Kimmich stand in der Berichterstattung stellvertretend für ein vermeintlich viel größeres Problem: für die Ungeimpften, die „Impfmuffel“, die „Impfverweigerer“. Um gegen die vorzugehen, war kein Mittel zu schlecht. Jan Böhmermann tönte auf Twitter: „Gespaltene Gesellschaft scheißegal, solange alle geimpft sind.“

WELT Online zieht daraus eine bittere Bilanz:

Menschen wurden zur Impfung oder alternativ aus dem öffentlichen Leben gedrängt, darunter Kinder und Jugendliche, wo Nutzen und Risiko der Impfung in einem völlig anderen Verhältnis zueinander stehen als bei Alten und Risikopatienten. Andere Menschen haben, weil sie die Impfung nicht wollten, ihren Beruf verloren oder konnten ihn nicht oder nur eingeschränkt ausüben. Neben körperlichen Schäden müssen auch die seelischen berücksichtigt werden, außerdem die gesellschaftlichen und politischen: die mutwillige Sabotage öffentlicher Meinungsbildung und das sträfliche Außerachtlassen von Grundsätzen der Selbstbestimmung.

Der Einzelne, sein Körper und seine Entscheidung galten nichts: Klappe halten, impfen lassen. Nun hält das Team Lauterbach plötzlich selbst die Klappe, aus Lautsprechern wurden Leisetreter. Das Schweigen ist dröhnend. Die Blamage ist augenfällig, peinlicherweise mit herbeigeführt durch den obersten Verantwortlichen selbst, den Gesundheitsminister, der sich mit seinen jüngsten Wendungen noch zu retten versucht. Und da die Langzeitfolgen nun plötzlich doch existieren: Hat sich vom „Team Lauterbach“ eigentlich schon jemand bei Joshua Kimmich gemeldet?

Auch die HNA war in dieser Zeit an vorderster Front mit dabei, wenn es gegen „Querdenker, Impfmuffel und Schwurbler“ ging. In der „Standpunkte“-Kolumne „Keine Sonderrolle für den Fußball“ vom 26.10.2021 gab Redakteur Ullrich Riedler folgende Sätze zu Kimmich zum Besten:

[…] Insofern bleibt die Impfung auch im Sport erste Bürgerpflicht. Man gefährdet mit dem Virus nicht nur sich selbst, sondern durch Ansteckungen auch andere. Wem die vielen positiven Studien zur Verträglichkeit der Impfstoffe also nicht ausreichen, der proklamiert mit dem Warten auf Langzeit-Studien für sich einen Luxus, den wir uns gar nicht leisten können. Denn nur wenn wir relativ rasch möglichst viele Menschen gegen Covid-19 impfen, haben wir eine Chance, das Virus entscheidend einzudämmen. Hier beginnt das eigentliche Problem für den FC Bayern und den DFB. Denn Kimmich hat Vorbildfunktion. Er ist herausragender Nationalspieler und Sympathieträger. Vereine und Verbände müssen somit schnell reinen Tisch machen und bei betroffenen Spielern die nötige Überzeugungsarbeit leisten.

HNA-Standpunkt vom 26.10.2021

Auf welche „positiven Studien“ sich Riedler hierbei beruft, bleibt ein Rätsel. Schon damals war absehbar, daß die Impfung keineswegs die Ausbreitung des Corona-Virus eindämmen würde. Somit war die Impfung alles andere als ein „Game Changer“. Vermutlich plappert Riedler hier nur nach, was die Regierungspropaganda vorgab. Es sind Worte, die im Nachgang der Ereignisse zum Fremdschämen anregen.

So sehr sich die HNA damals in die Phalanx der unkritischen Befürworter aller regierungsamtlichen Maßnahmen einreihte, so dröhnend ist ihr heutiges Schweigen über diese Zeit. Eine Abfrage im HNA-Archiv ergibt keinen Hinweis auf eine Berichterstattung über die bemerkenswerten Auftritte von Lauterbach bei Markus Lanz und Anne Will. Ebensowenig werden die immer offenkundigeren Impfschäden thematisiert. Und auch auf eine öffentliche Entschuldigung von Riedler gegenüber Kimmich dürfen die Leser noch lange warten. Selbstkritik ist eine Fähigkeit, zu der sich noch nie ein HNA-Redakteur fähig zeigte.

Als „Vierte Gewalt“ wäre es jetzt die Aufgabe der HNA, Selbstkritik zu üben und den Rücktritt von Lauterbach zu fordern. Doch das ist wohl für ein regierungstreues Verkündigungsorgan zu viel verlangt.

Nun steht der zweite Jahrestag der gewaltigen Demonstration in Kassel vom 20. März 2021 an, als mehr als 20.000 Menschen friedlich gegen die Regierungsmaßnahmen demonstrierten; ein Ereignis, daß offenbar auf nicht wenige regierungstreue Redakteure der HNA eine traumatisierende Wirkung hatte. Die Gelegenheit, in diesem Sinne in Nibelungentreue zur Regierung rein apologetisch an das damalige Ereignis zu erinnern, wird die HNA wohl kaum verstreichen lassen.

Und dann werden wir vorgeführt bekommen, daß bei diesen Hofschranzen das Trauma über diese Demo heute noch wirksamer ist als die Scham, freiwillig und gerne über jedes Stöckchen gesprungen zu sein, daß die Regierung ihnen hingehalten hat.

Sozi alter Schule

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/23 / 10. März 2023

Christian Geselle. Der Kasseler OB hat von seiner SPD die Nase voll und tritt gegen die eigene Partei zur Wahl an.
Sozi alter Schule
Daniel Körtel

Jetzt hat auch die SPD ihren Boris Palmer. Christian Geselle tritt am 12. März als Amtsinhaber zur Oberbürgermeisterwahl in Kassel nicht für die SPD an, sondern als unabhängiger Kandidat. Dem vorausgegangen ist der Bruch der rot-grünen Rathaus-Koalition und nachfolgend ein Zerwürfnis des OB mit der vom linken Flügel dominierten Führung der Kasseler Sozialdemokraten.

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In den Vorgängen zeigt sich ein strategisches Problem der SPD in Westdeutschland: Der Höhenflug der Grünen hat diese auch auf kommunaler Ebene auf Augenhöhe zur SPD gebracht. Vielfach lassen sie nun ihre Muskeln spielen und testen bis zur Übergriffigkeit, was ihnen möglich ist. Doch treffen sie auf ein selbstbewußtes Gegenüber wie Geselle, kommt es zum Knall. In Kassel hat den ein Streit um die Verkehrspolitik ausgelöst. Allerdings war Geselle ohnehin nie ein Freund der Grünen. Nach eigenem Bekunden sieht sich der 46jährige Ex-Polizist als Sozialdemokrat alter Schule, in der Tradition des früheren hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner, der sich 1982 ja gewünscht hatte, die Grünen „wie auf dem Bau … mit der Dachlatte“ zu bearbeiten.

Geselle und Palmer wären damit Repräsentanten eines der ungewöhnlichsten Politik-Modelle Deutschlands.

Geselle ist sich jedoch bewußt, daß er mit seinem Selbstverständnis einer, obendrein schwindenden, Minderheit in der SPD angehört. Auch in seiner Vaterstadt, mit 200.000 Einwohnern die drittgrößte des Landes, bildet sich die chronische Spaltung der hessischen SPD ab: in einen „rechten“, sich pragmatisch nennenden Flügel, der sich vor allem durch seine Wirtschaftsnähe auszeichnet, und einen immer stärkeren linken Flügel, der nach dem Bruch mit den Grünen erfolgreich eine von Geselle angestrebte Koalition mit der CDU hintertrieb. Damit war allen Vermittlungsbemühungen zum Trotz das rote Tischtuch zwischen OB und der Parteiführung zerschnitten, und im Herbst erklärte Geselle, bei der Wahl im Frühjahr als unabhängiger Kandidat anzutreten. Komplettiert wurde das Desaster für die SPD durch die Bildung einer Jamaika-Koalition, die der Partei in ihrer einstigen Hochburg auf lange Zeit die Chance auf eine Machtoption zu verbauen droht.

Gegen Geselle treten fünf Mitbewerber an, darunter auch die Kandidatin der SPD, die vom früheren Landesvater und Bundesfinanzminister Hans Eichel unterstützt wird. Zwar sind alle weit weniger qualifiziert als der erfahrene Verwaltungsjurist, der seit 2017 im Rathaus residiert, doch der hat auch die Lokalmedien gegen sich, und zudem läuft inzwischen ein Parteiausschlußverfahren gegen ihn.

Doch angesichts seiner Popularität sind die Chancen hoch, den Erfolg Boris Palmers in Tübingen bereits im ersten Wahlgang zu wiederholen. Sollte das gelingen, wäre es ein weiterer Beleg dafür, daß die These, urbane Milieus gingen vor allem mit linken Werten einher, auf deutlich schwächeren Füßen steht, als meist behauptet. Vielleicht ticken ja auch Städter konservativer als gedacht.

Geselle und Palmer wären dann Repräsentanten eines der ungewöhnlichsten Politik-Modelle in der postmodernen Unübersichtlichkeit der Bundesrepublik: ein direkt gewähltes Stadtoberhaupt, das einer großen Ratsmehrheit einschließlich ihrer eigenen Partei gegenübersteht, deren gemeinsamer Nenner wiederum die tiefe Abneigung gegen den Mann an der Spitze ist.