Gefährdet und gefährlich: das Buch

Nur vier Jahre nach George Orwells „1984“ erschien 1953 ein Roman, der es gleichfalls zu einer Spitzenstellung im Genre der dystopischen Literatur schaffte. Es war gleich der erste Roman des noch jungen amerikanischen Schriftstellers Ray Bradbury (1920 – 2012), der zum Grundstein seiner literarischen Karriere wurde: „Fahrenheit 451“. Bradbury schuf dieses Werk auf dem Höhepunkt seiner fruchtbarsten Periode von 1946 bis 1955 und wurde damit zum Popularisierer der Science-Fiction.

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Der Titel „Fahrenheit 451“ bezieht sich auf die im angloamerikanischen Maßsystem angegebene Temperatur, bei der Buchpapier zu brennen beginnt (im in Deutschland üblichen SI-System 233 Grad Celsius). Und hierin findet man einen der seltenen Fälle, in denen Buchtitel und -inhalt eine geradezu perfekte Konvergenz erreichen. Bradbury entwirft darin eine Zukunft, in der der Besitz von Büchern unter schwere Strafe gestellt ist. An die Stelle der Literatur ist das Fernsehen getreten. Die Menschen lassen sich von wandgroßen Bildschirmen mit geisttötenden Soap Operas berieseln. Die als „Glück“ empfundene Sedierung und Entmündigung der Gesellschaft ist eine selbstgewählte. Das Verwunderliche ist: Für ihre Durchsetzung ist kein allesumfassender Terrorstaat nötig; Verfassung und Demokratie sind nach wie vor formell in Kraft – allerdings ohne Opposition.

Eine Besonderheit ist die Eliminierung unerwünschter Literatur. Publikationen beschränken sich auf Unverzichtbares, wie Bedienungsanleitungen oder ausgewählte Fachliteratur in Kurzform. Belletristik, philosophische oder politische Literatur, die die ganze Bandbreite menschlichen Denkens abbilden, gelten als gefährlich und werden gezielt vernichtet:

„Wir müssen alle gleich sein. Nicht gleich und frei geboren, wie es in der Verfassung steht, sondern gleich gemacht. Jeder ein Abbild aller anderen; dann sind alle glücklich, denn es gibt keine Berge, vor denen sie sich ducken, an denen sie sich messen müssten. Also! Ein Buch ist eine geladene Waffe im Nachbarhaus. Verbrennen Sie es. Nehmen Sie die Kugel aus der Waffe. Brechen Sie den Verstand des anderen. Wer weiß, wer das Ziel eines belesenen Mannes ist?“

Für die Aufrechterhaltung des allgemeinen Buchverbotes sorgt eine Spezialeinheit, deren Aufgabe ursprünglich eine ganz andere war: die Feuermänner. Zusätzliche Repressionsorgane scheinen zur Absicherung des Systems angesichts des künstlich aufrechterhaltenen, desolaten geistigen Zustands der Massen kaum erforderlich zu sein.

Einst waren die Feuermänner das, was wir heute als Feuerwehrmänner kennen, also Spezialisten zur Verhütung und Bekämpfung von Bränden. Doch in Bradburys dystopischer Zukunft, wo die Häuser durch einen speziellen Überzug feuerfest geworden sind, verkehrt sich ihre Aufgabe in das Gegenteil: sie legen Brände, und zwar an Bücher, vorsorglich egal an welche. Erhalten sie hiervon Kenntnis, rücken sie so wie ihre Kollegen aus der Vorzeit in ihren Einsatzfahrzeugen aus. Doch kommt aus ihren Schläuchen nicht Wasser, sondern Kerosin. Es ist diese leicht brennbare Flüssigkeit, mit der die Bücher in Brand gesetzt werden.

Einer dieser Feuermänner ist Guy Montag. Nach außen gibt er sich angepasst, doch innerlich regen sich erste leichte Zweifel. Heimlich hortet er zuhause aus seinen Einsätzen abgezweigte Bücher. Er will wissen, wie gefährlich sie sind. Der Kontakt zu der jungen Außenseiterin Clarisse, die so anders ist als Montags im System von geförderten Drogen und seichter Dauerberieselung aus dem Fernsehen abgestumpfte Gattin Mildred, verstärkt seine Zweifel und seine Verwirrung, indem sie ihm nur eine scheinbar banale Frage stellt: „Sind Sie glücklich?“

Ein dramatisch verlaufender Einsatz wird zum Kipppunkt. Es ist die Besitzerin der Bücher selbst, die vor Montags Augen inmitten ihrer kerosingetränkten Werke das Feuer selbst entzündet und mit ihnen verbrennt. Auch der väterlich klingende Zuspruch seines Dienstvorgesetzten Beatty kann ihn nicht mehr in der Spur des sozial erwünschten Verhaltens halten. Aus dem Zweifler wird der Rebell.

Montags Bücherversteck fliegt durch die allgegenwärtige Überwachung auf. Doch statt tatenlos ihrer Verbrennung zuzusehen, richtet er den Kerosinbrenner auf Beatty und verbrennt ihn. Montags Flucht mit der Unterstützung des früheren Literaturprofessors Faber wird zum Höhepunkt der live übertragenen Abendunterhaltung im Fernsehen, die als eine Art Fuchsjagd inszeniert wird. Doch seine Flucht glückt. In der Wildnis außerhalb der Stadt trifft er ausgerechnet auf eine Gruppe Waldgänger, denen eines gemeinsam ist: Mittels einer speziellen Memoriertechnik bewahren sie in ihren Köpfen den Inhalt jeweils eines Buches wortwörtlich auf und bewahren sie so vor dem Vergessen.

Bradburys „Fahrenheit 451“ wird allgemein als Parabel auf die Zeit des McCarthyismus interpretiert, als der amerikanische Senator Joseph McCarthy (1908 – 1957) zum Wortführer einer Bewegung wurde, die vermeintliche Kommunisten und kommunistische Verschwörer im Staatsapparat zu enttarnen suchte. Im aufkommenden Kalten Krieg mit der Sowjetunion entstand in den USA ein Klima politischer Paranoia mit Denunziation und Spitzelwesen, in welchem die Tribunale des „Komitees für unamerikanische Umtriebe“ zu Hexenjagden gerieten, in denen zahlreiche Existenzen vernichtet wurden. Das Fernsehen, das damals in seiner Verbreitung seinen ersten Siegeszug durchlief, beförderte McCarthys Machenschaften in so gut wie jeden amerikanischen Haushalt. Auch kam es zu Aussonderungen und Verbrennungen unliebsamer Literatur.

Doch es wäre ein Fehler, „Fahrenheit 451“ eine ausschließliche Zeitgebundenheit zuzusprechen. Bücherverbrennungen gab und gibt es zu allen Zeiten. In Bradburys Meisterwerk finden sich zahlreiche Stellen, die bei gewissen Vorkommnissen unserer Zeit ein geradezu visionäres Vorbild darstellen. Da ist die Kritik an der die Sinne betäubenden Massenkultur und der Formierung einer kollektive Zwänge ausübenden Massengesellschaft, die weder dem kritischen Individuum noch dem eigenständigen Geist einen Platz einräumen will. Bücherverbrennungen sind heutzutage zwar nur Ausnahmeerscheinungen, doch werden immer mehr Bücher Restriktionen unterworfen oder aus politischen Gründen vom Mainstream ferngehalten.

Selbst Klassiker erhalten Triggerwarnungen, Neuerscheinungen werden vorab von „Sensitivity Readern“ im Auftrag von Verlagen darauf geprüft, ob sie anstößige und verletzende Inhalte enthalten. Die Autorenfreiheit und die Freiheit des Lesers bleiben auf der Strecke. Autoren, die gegen den Zeitgeist verstoßen, werden gar aus ihrem Verlag geworfen, so wie es Thilo Sarrazin und Monika Maron erging. Die Verlage selbst unterwerfen sich den Vorgaben der political correctness, so daß kritische und herausfordernde Literatur kaum in gedruckter Form zum Leser findet. Es entsteht ein Verhinderungskartell vom Feuilleton der Mainstreampresse über den ÖRR bis zu den Verlagen, Buchhändlern und Buchhandelsketten.

Einer der bisherigen Tiefpunkte war 2017 die nachträgliche Aussonderung von Rolf Peter Sieferles „Finis Germania“ sowohl aus der Liste der „Sachbücher des Monats“ wie auch aus der Spiegel-Bestsellerliste. Daß diese konzertierte Aktion des sogenannten Kulturbetriebs zum Rohrkrepierer wurde, beruhigt keineswegs.

Und nur auf den ersten Blick verwunderlich war eine Meldung aus 2022, wonach die Universität Northampton ausgerechnet George Orwells „1984“ mit einem Warnhinweis versah. Vordergründig erfolgte diese Warnung aufgrund der die Studenten als „beleidigend und verstörend“ empfundenen Inhalte, doch kann man darin durchaus auch jenen von Bradbury beschriebenen Vorgang wiederfinden:

„Die Farbigen mögen Der kleine schwarze Sambo nicht. Verbrennen wir es. Die Weißen haben bei Onkel Toms Hütte kein gutes Gefühl. Verbrennen wir es. Jemand hat ein Buch über Tabak und Lungenkrebs geschrieben? Die Zigarettenindustrie wehklagt? Weg damit. Gleichmut, Montag. Frieden, Montag.“

Wenn uns Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ eines lehrt, dann das: Literatur, das Buch an sich, ist stets eine bedrohte Art. Für seine Gefährdung braucht es keinen totalitären Machtstaat. Es reicht dazu eine gleichgültige Masse, die die verfügte Entmündigung durch die den Zeitgeist bestimmenden Kräfte, glücklich hinnimmt, wobei jene vorschreiben, was man zu lesen hat.

Ray Bradbury
Fahrenheit 451
272 Seiten, 2020
Diogenes
25,- Euro

Hüte dich vor deinen Träumen – Sie könnten wahr werden

„George Orr stand mit aschfahlem Gesicht schwankend im flackernden Neonlicht des U-Bahnwagens, der durch die Finsternis des Zweistromlandes raste, hielt sich, eingekeilt zwischen tausend anderen Menschen, am schaukelnden Stahlgriff eines Gurtes fest. Er spürte das Gewicht, das auf allem lastete, das ihn fortwährend niederdrückte. Ich lebe in einem Albtraum, dachte er, aus dem ich von Zeit zu Zeit schlafend erwache.“ (Ursula K. Le Guin, „Die Geißel des Himmels“)

In ihrer Frühphase war die Science-Fiction eine reine Männerdomäne. Erst ab den 1960er Jahren trat der Wandel ein, für den vor allem US-amerikanische Autorinnen stehen wie Kate Wilhelm und C.J. Cherryh, aber vor allem Ursula K. Le Guin (1929 – 2018). Letztere verfasste nicht nur den aus mehreren Teilen bestehenden, populären Fantasy-Epos vom „Erdsee“, sondern auch eine Reihe hochpolitischer Scifi-Romane wie „Die linke Hand der Dunkelheit“ oder „Planet der Habenichtse“. Aus der Frühphase ihres Schaffens stammt der Roman „Die Geißel des Himmels“ (1971), der im Dezember 2024 in einer überarbeiteten Neuübersetzung seine deutsche Wiederveröffentlichung erfuhr.

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George Orr wird von schlechten Träumen geplagt. Denn er ist fest davon überzeugt, daß sie die Realität verändern. So verschwindet eine nervtötende Tante rückwirkend einfach so aus dem Familienleben, als ob sie nie existiert hätte, einfach weil Orr sich diese Vorstellung nachts erträumt hatte. Ihm ist es gar nicht recht, die Realität auf diese Weise ohne jede Kontrolle aus seinem Unterbewußtsein zu verändern und so versucht er auf medikamentösem Weg, seine Träume zu unterdrücken. Doch die illegale Beschaffung der Medikamente fliegt auf und die Behörden weisen ihn zur therapeutischen Behandlung dem Psychiater William Haber zu. Der findet schnell heraus, daß hinter Orrs realitätsverändernden Träumen mehr als nur Einbildung steht. Doch anstatt seinem Patienten Hilfe zukommen zu lassen, findet er Gefallen an der Idee, diese Gabe der traumwandelnden Schöpfung unter Kontrolle zu bekommen und sie für eigene Zwecke zu mißbrauchen. Doch was anfangs aus guter Absicht geschah, entwickelt sich zu einem Desaster. Der Wunsch, der Not durch die Überbevölkerung ein Ende zu setzen, läßt Milliarden Menschen einfach so verschwinden. Und aus dem Wunsch, Frieden unter den Nationen der Erde herzustellen, entsteht eine außerirdische Invasion, die die kriegerischen Rivalitäten erst zugunsten einer neuen Geschlossenheit beenden läßt. Der Weg, paradiesische Zustände zu erträumen, öffnet stets das Tor zu einer neuen Hölle. Doch Haber läßt es an Einsicht missen, daß er mit einer Kraft hantiert, die das Gute will und dabei doch das Böse schafft. Stattdessen will er sich Orrs Kräfte aneignen und als gottgleicher Weltenschöpfer selbst zur Tat schreiten.

L. Guin läßt in ihren zwei Protagonisten zwei Prinzipien – Gleichgewicht in Harmonie und schöpferische Zerstörung – gegeneinander antreten. Da ist der zurückhaltende Charakter George Orr, der sich vor seiner geheimnisvollen Gabe fürchtet, nicht nur ihrer Folgen wegen und sie am liebsten loswerden will.
Ihm tritt der Wissenschaftler William Haber entgegen, L. Guins Dr. Faustus, unabhängig und ungebunden, der sich außerhalb des Ganzen sieht und dem nun ein Mittel in die Hände gelangt, mit dem er über die wissenschaftliche Beschreibung der Welt hinaus diese zu ihrem vermeintlich Besten sogar radikal verändern kann, ohne dabei die Beschränktheit seines eigenen Horizonts im Blick zu haben und dabei den eigenen Verstand verlieren wird:

„Wenn sich nichts mehr verändert, dann haben wir es mit dem Endergebnis der Entropie zu tun, dem Wärmetod des Universums. Je mehr Dinge sich bewegen, interagieren, aufeinanderprallen, sich verändern, desto weniger Gleichgewicht gibt es – und desto mehr Leben. Ich bin für das Leben, George. (…) Wir stehen kurz davor, zum Wohle der Menschheit eine ganz neue Kraft zu entdecken und zu beherrschen, ein vollkommen neues Feld der anti-entropischen Energie, der Lebenskraft, des Willens zu handeln, etwas zu tun, etwas zu verändern.“

Ihm hält Orr entgegen:

„Wir stehen in der Welt, nicht im Widerspruch zu ihr. Wir können nicht versuchen, außerhalb der Dinge zu stehen, sie auf diese Weise beeinflussen. Das geht einfach nicht, es läuft dem Leben zuwider. Es gibt einen Weg, aber man muss ihm folgen. Die Welt ist, wie sie ist, ganz gleich, wie sie unserer Meinung nach sein sollte. Sie stehen in ihr. Sie müssen sich auf sie einlassen.“

In Orrs Positionierung wird bereits ein wesentlicher Zug in Ursula K. Le Guins Schaffen deutlich, ihre Nähe zum Taoismus, jener uralten chinesischen Philosophie, die auf Harmonie und Gleichgewicht setzt. In dieser Vorstellung gibt es keine objektive Welt, sondern nur eine von der eigenen Subjektivität eingefärbte Illusion: Die Welt ist nur ein großer Traum.

Ursula K. Le Guin
Die Geißel des Himmels
240 Seite, 2024
Carcosa Verlag
22,- Euro

Der Westen hat ein Problem und es ist weder Russland noch China

„Wir müssen zugestehen, dass der Krieg, diese gewalt- und leidvolle Erfahrung, dieses Reich der Dummheit und des Irrtums, zugleich auch ein Realitätstest ist. Der Krieg lässt hinter die andere Seite des Spiegels blicken, in eine Welt, wo Ideologie, statistische Täuschungen, das Versagen der Medien und die Staatslügen – nicht zu vergessen der Verschwörungswahn – allmählich ihre Macht verlieren. Eine schlichte Wahrheit wird zutage treten: Die Krise des Westens ist die treibende Kraft der Geschichte, die wir erleben. Einige wussten das. Nach dem Ende des Krieges wird es niemand mehr leugnen können.“ (Emmanuel Todd, „Der Niedergang des Westens“)

Politisch waren die 1970er Jahre geprägt vom anhaltenden Systemgegensatz zwischen Ost und West. Dabei konnte sich im Westen niemand vorstellen, daß die wie ein fester Monolith erscheinende Sowjetunion als Gegner in naher Zukunft ausfallen könnte. Die Verhältnisse des Kalten Kriegs schienen auf unabsehbare Zeit fortgeschrieben. Und doch traute sich 1976 jemand mit einer gewagten These hervor, die ihn berühmt machen sollte. Emmanuel Todd, französischer Historiker und Anthropologe, legte mit „Vor dem Sturz“ eine statistikbasierte Abhandlung vor, mit der er das baldige Ende der Sowjetherrschaft prognostizierte. Grundlage waren demographische Faktoren wie die in der Sowjetunion steigende Kindersterblichkeit. Todd behielt recht; kaum 15 Jahre später kollabierte die für unbesiegbar gehaltene Sowjetunion und mit ihr ihre Ostblock-Satelliten.

Fast 50 Jahre später wendet der 1951 geborene Todd seine Methode auf einen anderen Gegenstand an und formuliert eine Prognose, die beunruhigender kaum sein könnte: „Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall“. Ausgerechnet der Westen, Vorreiter des technischen Fortschritts und Taktgeber der vor 500 Jahren eingesetzten Globalisierung soll – so wie seinerzeit die Sowjetunion – vor seinem Ende stehen?

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Todd veröffentlichte sein Werk im vorigen Jahr vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und vor dem Wahlsieg Donald Trumps. Der Ukraine-Krieg offenbart Todd zufolge die Schwäche und Krise des Westens, die er sogar noch verstärkt. Weder konnten seine großspurig angekündigten Wirtschaftssanktionen Russland – das sich seit Jahren darauf vorbereitete – in die Knie zwingen, noch gelang es ihm, den Rest der Welt für seine Maßnahmen einzuspannen. Stattdessen entfalteten die Sanktionen eine selbstzerstörerische Wirkung, auch weil sie vom Rest der Welt unterlaufen werden. Auch hält das vom Westen geprägte manichäische Bild vom Krieg in der Ukraine als einem zwischen den Werten der liberalen Demokratie gegen denen der autoritären Putin-Diktatur der von Todd vorgenommenen Überprüfung nicht stand.

Doch zuerst einmal ein paar der von Todd eingeworfenen Fakten aus der „Moralstatistik“, die so kaum in das Bild von Putins Russland als Wiedergänger des sowjetischen „Reichs des Bösen“ passen: In die Phase der Stabilisierung Russlands unter Putin fielen der Rückgang alkoholbedingter Todesfälle, die Selbstmorde und die Tötungen teils drastisch aus. Und mehr noch:

„Was die jährliche Kindersterblichkeitsrate betrifft, so fiel sie von 19 pro 1000 ‚Lebensgeborene‘ im Jahr 2000 auf 4,4 im Jahr 2020 und lag damit unter der amerikanischen Rate von 5,4 (UNICEF). Da dieser letzte Indikator die schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft betrifft, ist er besonders aussagekräftig zur Beurteilung des allgemeinen Zustands.“

Todd resümiert sarkastisch:

„Und ein Land, das eine solche Entwicklung durchgemacht hat, soll sich auf einem ‚langen Abstieg in die Hölle‘ befinden?“

Demgegenüber stellen sich die Verhältnisse in den USA, dem Kernland des Westens, deutlich deprimierender dar. Die Lebenserwartung der US-Amerikaner – insbesondere der Weißen – sinkt deutlich infolge von Alkoholmissbrauch, Suizid und Drogen. Die Zahl der Amokläufe steigt, die der Inhaftierten ist die höchste weltweit. Die einst tragende Mittelschicht ist zersetzt. Und die Kindersterblichkeitsrate – „dieser Vorbote der Zukunft“ – liegt mit 5,4 pro 1000 Lebensgeburten über der Russlands. All das „zeichnet das Bild eines gefallenen Landes“.

Die Ursache für den „unumkehrbaren“ Niedergang des Westens sieht Todd in dem Zerfall der Religiosität in seinen protestantischen Kernländern. Die Entwicklung der Religion im Westen ist Todd zufolge in der Phase des Nullzustands angekommen. Das Verschwinden der Taufe, die Zunahme der Einäscherung, die Einführung der „Ehe für alle“ – all das charakterisiert nach Todd, „dass die bestehende Gesellschaft den Nullzustand der Religion erreicht hat“. Der Zustand des Nihilismus, worin an sich eindeutige Wahrheiten aufgehoben sind, wurde mit der Propagierung der Transsexuellen-Ideologie erreicht.

Der Protestantismus, der noch mit der Alphabetisierung der Massen einen ungeahnten Bildungsfortschritt erlebte, erfährt nun ein deutliches Nachlassen der Bildungsleistung. Am Ende dieses Prozesses steht infolge des Verschwindens einer kollektiven Identität ein geschwächtes Individuum, „das sich nun, da es den Rahmen gemeinsamer Werte nicht mehr hat, destabilisiert fühlt“. Demgegenüber hat Russland „genügend kommunitäre Werte, die weiterbestehen – autoritäre und egalitäre, damit das Ideal einer kompakten Nation überlebt und eine besondere Form des Patriotismus wiederaufleben kann“.

Die USA hingegen sieht Todd durch die Etablierung einer liberalen Oligarchie, die nicht mehr das meritokratische Ideal der Vergangenheit abbildet, nicht mehr als demokratisch an. Seine einst industrielle Dominanz ist dahin. Es verbraucht mehr als daß es produziert und das daraus resultierende Handelsdefizit kann es nur deswegen mit dem Drucken von Dollars decken, weil dieser die Leitwährung der Welt ist.

Neben den weiteren Kernländern des Westens wie Frankreich und Großbritannien widmet Todd auch Deutschland seine Aufmerksamkeit, dem er durch seine Energie- und Migrationspolitik eine ausgeprägte Hybris attestiert, „die zugegebenermaßen besonders originell ist, weil sie jeden militärischen Charakter ausschließt“. Man möchte hinzufügen, daß sich das historisch einmalig hohe Schuldenpaket des Landes, das gerade verabschiedet wurde, perfekt in diese Hybris einfügt bis hinein in seine euphemistische Namensgebung als „Sondervermögen“.

Todd hat mit seinem neuesten Buch ein kontroverses Werk vorgelegt, das die Debatte über den Zustand des Westens durchaus bereichern könnte. Seine Thesen werden vielen nicht gefallen. Wer aus der Elite läßt sich gerne vorhalten, daß die größte Gefahr für den Westen nicht von China und Russland herrührt, sondern von einem unumkehrbaren Zerfall in seinem Inneren? Erst recht nicht seine Einschätzungen über den absehbaren Sieg Russlands im Ukraine-Krieg und die Rolle der Ukraine im Vorfeld des Konfliktes. Widerspruch ist garantiert bei seiner Einschätzung, daß die Ukraine seit dem Maidan 2024 keine Demokratie mehr sei, während er Russland als „autoritäre Demokratie“ relativiert.

Gleichwohl sind seine Formulierungen in der Begründung seiner Kernthese bedächtig. Zudem weist Todd ausdrücklich auf ihren Hypothesen-Charakter hin. Gleichwohl, die Feststellung vom „religiösen Nullzustand“ in den westlichen Gesellschaften ist evident und auch außerhalb Todds gut abgesichert. Erst kürzlich reüssierte der Theologe Jan Loffeld mit seinem über Kirchenkreise hinaus diskutierten Buch „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt“ über die weitgehende Entchristlichung in Deutschland. Und damit wären wir an einer entscheidenden Leerstelle bei Todd angelangt: Was wird das Vakuum füllen, das das Verschwinden des Christentums erzeugt? Hierin liegt der „blinde Fleck“ bei Todd, das Fehlen jeglicher Erörterung über die Massenmigration, vor allem aus dem islamischen Raum, und ihrer Folgen für die Zukunft des Westens.

Dennoch: „Der Westen im Niedergang“ wirft eine wichtige Frage auf, die gestellt werden sollte, bevor hemmungslos die Ressourcen verschwendet werden für die Aufrüstung gegen einen Feind, der nach Todd nicht die eigentliche Bedrohung darstellt, zu der er hierzulande massiv hochgeschrieben wird: Was ist nach dem „Tod Gottes“ eigentlich überhaupt noch die kollektive Identität und Idee der westlichen Akteure, mit denen sie sich behaupten wollen in einer multipolaren Welt, die eben nicht der westlichen Utopie der regelbasierten Kooperation der Staaten?

Emmanuel Todd
Der Westen im Niedergang

Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall
352 Seiten, 2024
Westend Verlag
28,- EUR

 

Die Einsamkeit des tschechischen Langstreckenastronauten

Der etwas sperrige und merkwürdige Titel dieses Romans weckt Neugier: „Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt“ – was mag der tschechische Autor Jaroslav Kalfar dahinter verborgen haben? Tschechien ist nicht als Raumfahrtnation bekannt, eher schon für gutes Bier. Und doch, wenn man einmal angefangen hat darin zu lesen, dann eröffnet sich eine der vielfältigsten und beeindruckendsten Geschichten der letzten Jahre, ein Roman, der es verdient hat, zu den besten Neuerscheinungen der letzten Jahre gezählt zu werden. Selten zuvor habe ich ein Buch gelesen, in dem derart virtuos die Genres vermischt werden: Hier erwartet den Leser Science-Fiction, in Form einer Tragödie, Satire und Groteske, mit einer Achterbahnfahrt der Emotionen.

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Doch worum geht es? Ein unerwartetes kosmisches Phänomen in der Nähe der Venus – genannt die Chopra-Wolke – weckt den Tatendrang der tschechischen Nation. Da keine der traditionellen Raumfahrtnationen diese Erscheinung näher in Augenschein nehmen will, entschließt sich ausgerechnet diese kleine Nation zu einer einmaligen Raumfahrtmission, finanziert durch Merchandising und Productplacement. Von einem Kartoffelacker steigt die Raumsonde JanHus1 – benannt nach dem gleichnamigen Nationalhelden (wie hätte es anders sein können?) – ins All. An Bord befindet sich nur ein Astronaut, der Astrophysiker Jakub Procházka.

Doch Procházkas Aufbruch in die Weiten des Weltalls birgt so seine Tücken. Spannungen brechen auf zu seiner auf der Erde zurückgelassenen Partnerin Lenka. Und nach einiger Zeit überkommt den einsamen Astronauten ein eigenartiges Gefühl. Kann es sein, daß da noch jemand in der Raumsonde ist? Tatsächlich: Der blinde Passagier entpuppt sich als ein Außerirdischer mit dem Aussehen einer menschengroßen Spinne. Lange hat sie Procházka studiert. Hanus ist der Name des rätselhaften Wesens mit der Vorliebe für Nutellaaufstrich.

Procházka hält seine Entdeckung vor der Bodenstation geheim. Für ihn beginnt mit seinem unerwarteten Gefährten ein Abenteuer, das das ursprüngliche Ziel der Mission weit übertrifft. Hanus erwartet in der Chopra-Wolke die Bestimmung seines Lebens, während für Prochàzka die Reise hier noch lange nicht zu Ende sein wird.

Jaroslav Kalfar hat mit seinem Debüt „Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt“ einen äußerst vielschichtigen Roman vorgelegt. Es ist nicht allein eine Abenteuergeschichte, verarbeitet werden auch sehr ernste Themen der tschechischen Zeitgeschichte: Die Sünden der Väter in der kommunistischen Diktatur und ihre nachfolgende Aufarbeitung, die schmerzvolle Konfrontation mit dem Leiden ihrer Opfer, die kapitalistische Transformation mit ihren korrupten Begleiterscheinungen – in all das ist Kalfars Protagonist Procházka auf teilweise tragische Weise biographisch eingebunden.

Netflix hat im vergangenen Jahr Kalfars Roman unter dem Titel „Spaceman“ verfilmt. Hollywoodgerecht für den Massengeschmack wurde es um viele seiner Elemente entkernt auf eine Schmonzette mit Happy End, die kaum das Gefallen des Autors gefunden haben dürfte. Wer das Buch kennt, kann hiernach nur enttäuscht sein. Immerhin, Hauptdarsteller Adam Sadler, sonst nur bekannt für seichte Comedy, lieferte einen der ernsteren Auftritte seiner Laufbahn ab.

YT-Clip: Netflix-Trailer „Spaceman“

Das Beste an „Spaceman“ ist der von Max Richter komponierte Soundtrack, der in der melancholischen Wirkung seines Themas vielleicht eher dem Buch näherkommt als seiner Verfilmung.

YT-Clip: Spaceman 2024 Soundtrack | Reflected in Her Eyes – Max Richter
Jaroslav Kalfar
Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt
368 Seiten, TB, 2024
Tropen Verlag
14,00 EUR

 

Der Planet, der die Menschen in den Wahnsinn treibt

„Also was ist das?“ fragte ich, nachdem ich ihn geduldig angehört hatte.
„Das, was wir gewollt haben: der Kontakt mit einer anderen Zivilisation. Da haben wir den Kontakt! Übersteigert, wie unter dem Mikroskop – unsere eigene monströse Häßlichkeit, unsere Albernheit und Schande!“ Ihm zitterte die Wut in der Stimme. („Solaris“, Stanislaw Lem)

Als Stanley Kubrick 1968 sein visionäres Scifi-Meisterwerk „2001: A Space Odyssey“ in die Kinos brachte, wurde der Film zur Inspiration und zum Vorbild nachfolgender Filmemacher. Sein Bruch mit den konventionellen Erzähltechniken, seine realistischen Darstellungsweisen und das Wagnis, das Publikum auch mit philosophischen Fragen herauszufordern setzten vollkommen neue Maßstäbe in der Filmproduktion. Ohne „2001“ wäre Star Wars nicht denkbar gewesen. Doch nicht nur in Hollywood, auch in der Sowjetunion begann man Kubrick nachzueifern. Dort gelang Regisseur Andrei Tarkowski (1932 – 1986) mit dem 1972 veröffentlichten Film „Solaris“ ein außergewöhnlicher Wurf.

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Screenshot „Solaris“: der denkende Ozean.

„Solaris“ geht auf die gleichnamige Romanvorlage des polnischen Scifi-Schriftstellers Stanislaw Lem (1921-2006) zurück, der damit 1961 seinen internationalen Durchbruch schaffte und so einen der wichtigsten Klassiker der Science-Fiction schuf. In seinem Mittelpunkt steht der Planet Solaris, der vollständig von einem Ozean aus einer gallertartigen Substanz bedeckt ist. Es scheint, als sei dieser Ozean ein denkendes Wesen, um das sich rätselhafte Dinge ereignen. Sämtliche Kommunikationsversuche seitens der Menschen scheitern. Die Mannschaft der Solaris umkreisenden Station ist von 85 auf zwei Mann geschrumpft. Die Solaris-Forschung steht nach Jahrzehnten der Erfolglosigkeit an einem Kipppunkt. Der Psychologe Kris Kelvin unternimmt den letzten Versuch der Erde, die Vorgänge auf dem Planeten aufzuklären.

Kelvin bietet sich ein deprimierendes Bild. Bei seinem Eintreffen steht kein Empfangskomitee bereit. Die Einrichtung der Station ist verwüstet. Übrig sind nur noch die Wissenschaftler Snaut und Sartorius. Kelvins Freund Gibarian hatte erst kürzlich Suizid begangen. Kryptisch bereitet Snaut den Neuankömmling auf die Ankunft von „Gästen“ vor. Und genau so ergeht es Kelvin: Am nächsten Morgen findet er in seinem Zimmer seine Ehefrau Hari vor. Doch Hari ist längst tot, gestorben durch Suizid. Und auch diese Hari weist an ihrem Arm die Einstichstelle der tödlichen Injektion auf. Etwas geht auf der Station vor, daß sich der Erkenntnisfähigkeit des Menschen entzieht. Sieht so der Erstkontakt zu einer außerirdischen Intelligenz aus?

Screenshot „Solaris“

Der vollkommen fassungslose Kelvin lockt Hari 2 in eine Kapsel, um sie von der Station zu entfernen. Doch am nächsten Morgen steht sie nach dem Erwachen wieder vor ihm. Es scheint, als kommuniziere der Ozean auf eine besondere Weise mit den Stationsangehörigen, indem er in ihrem Schlaf ihre Psyche scannt und daraus die Menschen bildet, die darin am stärksten verankert sind. Hari 2 erweist sich, wie die „Gäste“ der anderen, als extrem anhänglich. Sie bluten, doch scheinen sie unzerstörbar. Der Suizidversuch von Hari 2 durch die Einnahme von Flüssigsauerstoff schlägt fehl, die Regeneration ihres Körpers setzt sofort ein. Ihre Existenz ist jedoch an die unmittelbare Nähe zu Solaris gebunden.

Screenshot „Solaris“: Hari (Natalja Bondartschuk) und Kris Kelvin (Donatas Banionis)

In ihren Empfindungen und ihrem Wesen scheint Hari 2 mit ihrem Vorbild identisch zu sein. Macht sie das menschlich wie das Original? Für Kelvin beginnt eine qualvolle Auseinandersetzung mit seiner von Schuldgefühlen behafteten Vergangenheit und seiner Beziehung zu Hari.

Tarkowski inszenierte „Solaris“ unspektakulär, ohne großartige Effekte, als ein rund dreistündiges pessimistisches Epos. Viele Szenen spielen sich auf der Erde ab. Seine Hauptdarsteller Donatas Banionis als der seelisch gebrochene Psychologe Kelvin und Natalja Bondartschuk als seine depressive Ehefrau Hari ergeben in ihrer komplex-tragischen Beziehung ein hervorragendes Duo.

Screenshot „Solaris“: Hari (Natalja Bondartschuk) und Kris Kelvin (Donatas Banionis)

So wie in seiner literarischen Vorlage, so ist auch in dieser Verfilmung nicht viel Platz für das ideologische Fortschrittskonzept des sowjetischen Systems. Umso erstaunlicher, daß „Solaris“ überhaupt in den Verleih kam und sogar als sowjetischer Beitrag bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes vorgestellt wurde, wo er einen Spezialpreis erhielt. Das Heyne-Kompendium „Der Science Fiction Film“ (1983) verband sein Lob mit dem Bedauern: „Leider ist ein derart intellektueller SF-Film wie Solaris ein Ausnahmefall für das fast ausschließlich angloamerikanisch geprägte Genre.“

Gleichwohl zerstritt sich Lem schon während der Dreharbeiten mit Tarkowski, weil der ihm den Schwerpunkt zu sehr auf die Beziehung Kelvin-Hari gelegt hätte. Für Tarkowski selbst, einem der bedeutendsten Filmemacher der Sowjetunion, wurde „Solaris“ zu einem Meilenstein seiner Laufbahn. 1979 schloss sich unter seiner Regie mit „Stalker“ eine weitere dystopische Verfilmung eines Scifi-Romans an. „Solaris“ selbst wiederum erfuhr 2002 eine weitere Verfilmung, dieses Mal mit George Clooney in der Hauptrolle.

Im vergangenen Februar erschien eine neue, digital überarbeitete Fassung von „Solaris“ auf DVD und Blu-ray. Im Bonus enthalten sind ein Audiokommentar des Filmwissenschaftlers Dr. Rolf Gießen und ein rund halbstündiger Beitrag von Dr. Michael Rosenhahn über „Solaris als Grundfrage der Philosophie“, als die Widerspiegelung des Streits um die Konzepte von Idealismus und Materialismus. Es steckt mehr in „Solaris“ als nur ein menschliches Beziehungsdrama.

YT-Trailer „Solaris“

 

SOLARIS
Special Restored Edition (Filmjuwelen / DEFA Science Fiction)

UdSSR, 1972
2 h: 40 min
Auf DVD und Blu-ray

Es braut sich was zusammen über Montana

Dean Koontz gehört zu den erfolgreichsten Autoren phantastischer Literatur aus den USA. 1945 in Everett, Pennsylvania geboren, betätigt er sich seit Ende der 1960er Jahre als freier Autor, zuerst noch unter verschiedenen Pseudonymen, seit den 1980ern durchgehend unter seinem eigenen Namen. Wikipedia beziffert seine Auflage verkaufter Bücher auf die enorme Zahl von 500 Millionen Exemplaren. Einer seiner letzten auf Deutsch veröffentlichten Romane ist der Mystery-Thriller „Der dunkle Himmel“ aus dem vorigen Jahr.

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Merkwürdige Dinge gehen darin vor sich. Scheinbar außer Kontrolle geratene Killersatelliten falten ganze Häuser zusammen. Tiere verhalten sich sonderbar. Und aus dem Fernseher und dem Telefon sprechen die Toten zu ihren Angehörigen. Eine davon ist die junge Schriftstellerin Joanna „Jojo“ Chase, deren längst verstorbene Mutter die mysteriösen Worte zu ihr spricht: „Ich bin an einem dunklen Ort, Jojo. Bitte komm und hilf mir.“

Der Ausgangspunkt all dieser Vorfälle deutet auf eine alte Ranch im US-Bundesstaat Montana hin, dem früheren Zuhause in Jojos Kindheit, bevor ihre Mutter und ihr Vater kurz hintereinander auf tragische, beziehungsweise grausige Art ums Leben kamen. Dort, an einem einsamen See, scheint es alles andere als wildromantisch zuzugehen, so wie es dem Klischee von Montana entsprechen müßte. Doch wer steckt hinter all diesen merkwürdigen Ereignissen? Ist es der sadistische Serienkiller Asher Optime, der in einer Geisterstadt in der Nähe gerade zwei seiner Opfer quält und davon träumt, die in seinen Augen parasitäre Menschheit zur Gänze von der Erde zu tilgen? Oder ist es sein Spiritus Rektor, der Sektenführer Xanthus Toller? Und was weiß der mißgestaltete Jimmy, Jojos Freund aus Kindheitstagen? Oder ist in Wahrheit eine viel größere Kraft am Wirken, die seit sehr langer Zeit aus dem Verborgenen heraus die Menschen beobachtet und dabei ist, ihr unerbittliches Urteil über sie zu fällen? Der in den Diensten der US-Regierung im Geheimen agierende Tech-Milliardär Gesh Patel versucht die Fäden, die alles miteinander verbinden, aufzudecken.

Koontz Plot bietet durchaus Spannung, weist aber auch Schwächen auf. Einige Wendungen kommen allzu glatt und plump daher. Und das größte Manko sind zu viele parallele Erzählstränge, die erst am Ende des 474 Seiten umfassenden Romans im Finale einer sturmumtosten Nacht unter einem wahrhaft „dunklen Himmel“ zusammenlaufen. Das Ganze noch versehen mit einem pseudowissenschaftlichen Anstrich über „Synchronizität“, ein auf den Psychoanalytiker C.G. Jung zurückgehender Begriff über „zeitlich korrelierende Ereignisse, die nicht über eine Kausalbeziehung verknüpft sind (die also akausal sind), jedoch als miteinander verbunden, aufeinander bezogen wahrgenommen und gedeutet werden. (Wikipedia)“

Koontz erreicht leider nicht das Niveau eines Sebastian Fitzek oder Andreas Eschbach, die es immer wieder schaffen, jedes Kapitel mit einem Cliffhanger zu beenden, der die Lust auf den Rest der Geschichte antreibt. Bei Koontz bleibt es in zu oft vorhersehbaren Bahnen, die gleichwohl für Fans des Genres durchaus unterhaltsam sein können.

Dean Koontz
Der dunkle Himmel
480 Seiten, 2024
Festa Verlag
16,99 EUR

Partisanenkampf gegen Besatzer

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/25 / 07. March 2025

Filmkritik / Red Dawn
Partisanenkampf gegen Besatzer
Daniel Körtel

Als in den 1980er Jahren der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion in eine neue Phase eintrat, blieb auch Hollywood nicht außen vor. „Red Dawn“ (Die rote Flut) von John Milius aus dem Jahr 1984 war wohl der bedeutendste Film dieser Zeit, der sich im Stil eines heroischen Actionfilms dieser ideologisch-militärischen Auseinandersetzung widmete. Darin werden die USA in einem Überraschungsangriff von sowjetischen und kubanischen Truppen teilweise besetzt.

In einer beschaulichen Kleinstadt in Colorado landen Fallschirmjäger auf dem Footballfeld einer Highschool, eröffnen ohne Vorwarnung das Feuer und verwandeln die Stadt in ein Kriegsgebiet. Jed Eckert, dargestellt von dem 2009 verstorbenen Patrick Swayze, sein jüngeret Bruder Matt (Charlie Sheen) und weitere Jugendliche (darunter Jennifer Grey) fliehen in die Wildnis, um dort anfangs widerstrebend einen Partisanenkrieg gegen die Besatzer zu entfachen. Sie nennen sich „Wolverines“ (Vielfraße), gegen deren Aktionen die Besatzer mit aller grausamen Härte auch gegen unbeteiligte Zivilisten vorgehen.

Als der Film in die deutschen Kinos kommen sollte, erhob sich schon vorab der Protest aus der Friedensbewegung, die ihre Kritik stets lieber gen Westen statt nach Osten richtete. Es kam zu Säureattentaten und Farbbeutelwürfen gegen Kinos; Zuschauer beklatschten die sowjetischen und kubanischen Invasoren. Landesweit nahmen die Kinobetreiber den Film aus dem Programm. Es war, wie ein Beobachter schrieb, als sei die rote Flut längst da.

YT-Clip Intro „Red Dawn“ (1984)

Nun ist „Red Dawn“ in einer technisch verbesserten Fassung ohne Jugendfreigabe neu auf DVD erschienen. Was diese Version unter anderem so besonders macht, ist die Wiederaufnahme des vollständigen Intros, aus dem in der deutschen Kinofassung ein Detail herausgeschnitten wurde. Darin stellte man das seinerzeit irreal erscheinende und gegen die USA gerichtete Szenario vor, wonach die den Abzug der Kernwaffen aus Europa fordernden Grünen in Westdeutschland die Mehrheit errungen hätten. Ironie der Geschichte: 40 Jahre später ist es der einstige politische Arm der Friedensbewegung, der sich heute besonders stark für die erneute Stationierung von US-Mittelstreckenraketen einsetzt, und zwar mit dem gleichen Argument der Abschreckung gegenüber Rußland, das die Grünen damals so vehement ablehnten.

DVD/Blu-ray: Red Dawn. Capelight Pictures 2024, Laufzeit etwa 109 Minuten

Der amerikanische Traum ist (noch) nicht tot

Ich war eines dieser Kinder mit einer trostlosen Zukunft. Ich hatte die High School fast nicht geschafft. Ich hätte mich fast der tiefsitzenden Wut und Verbitterung ergeben, die alle in meinem Umfeld erfasst hatte. Heute sehen mich die Leute an, sie sehen meine Arbeit und das Diplom einer Eliteuniversität, und sie gehen davon aus, dass ich eine Art Genie bin. Ich halte diese Theorie – bei allem Respekt für diese Leute – für ganz großen Blödsinn. Welche Talente ich auch haben mag, ich hätte sie beinahe verschwendet, wenn mich nicht einige liebevolle Menschen gerettet hätten.“ (J.D. Vance, „Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“)

Mir fällt auf Anhieb kein anderes Buch aus den USA ein, das in den vergangenen Jahren auch auf unserer Seites des Atlantiks so erfolgreich war, für so viel Aufsehen sorgte, wie „Hillbilly-Elegie“ von J.D. Vance. In seiner 2016 erschienenen Autobiographie schildert der heutige amerikanische Vizepräsident seinen kaum fassbaren Aufstieg aus der Armut im mittleren Westen der USA zu einem erfolgreichen Anwalt mit Abschluß der Elite-Universität Yale.

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Auch Noch-Kanzler Scholz lobte das Buch als eine „berührende persönliche Geschichte“. Sein Lob dürfte er spätestens zu Vance spektakulärem Auftritt auf der Münchener Sicherheitskonferenz zutiefst bereut haben, nicht allein, weil Vance den Europäern die Abkehr von demokratischen Werten vorhielt, sondern ausgerechnet lieber der Oppositionspolitikerin Alice Weidel den Vorzug für ein Gespräch gab, als ihm, dem absehbaren Kanzler auf Abruf.

Gerade deswegen, weil gerade so viele Dinge in Washington – und davon beeinflußt – auch hier in Bewegung geraten, war es für mich endlich an der Zeit, Vances Biographie, die schon einige Monate im Stapel der ungelesenen Bücher verschwunden war, endlich zur Lektüre hervorzuholen. Es war schon längst überfällig.

Für Vance konnte es kaum einen schlechteren Ort geben, um geboren zu werden, als Middletown im US-Bundesstaat Ohio, kein ungeeigneteres Milieu, um aufzuwachsen, als das der Hillbillys. Die Hillbillys sind die Abkömmlinge ulster-schottischer Emigranten, die sich vor allem im Bereich der Appalachen angesiedelt haben. Sie zeichnen sich nicht nur durch ihre eng verzahnten Großfamilienverbände aus. Sie sind ebenso bekannt für die Kultivierung von gewissen problematischen Verhaltensweisen, die ihnen vor allem in den heutigen Zeiten das Fortkommen sehr schwer machen.

In diese Verhältnisse wurde J.D. Vance 1984 hineingeboren. Geordnete Familienverhältnisse konnte er unter seiner Mutter nie erfahren, bei der die Lebenspartner in einer „Drehtür der Vaterfiguren“ ein und aus gingen. Sein leiblicher Vater gab ihn zur Adoption frei. Der familiäre Alltag war geprägt von Gewalt und Aggression. Seine Mutter kam kaum mit ihrem Leben klar und am wenigsten mit der Verantwortung für ihre zwei Kinder – ein Leben zwischen Landminen: „ein falscher Schritt und Rumms“. Zwar schaffte sie immerhin die Ausbildung zur Krankenschwester, jedoch hielt sie es kaum bei einer Stelle aus. Später verschärfte Heroin ihr alkoholbedingtes Suchtproblem.

Zum rettenden Anker für den jungen Vance wurden die im üblichen Slang Mamaw und Papaw genannten Großeltern mütterlicherseits, die ihm Halt und Geborgenheit gaben, vor allem die Großmutter, eine verrückte Waffennärrin, die sehr schnell ungemütlich werden konnte. Sie waren Menschen ohne Schulabschluß, die in ihrem Leben hart kämpfen mußten. Vor allem die Großmutter motivierte den Jungen, trotz seiner Lernschwierigkeiten in der Schule am Ball zu bleiben. Wenn J.D. jemanden zu Dank verpflichtet ist, dann diesen Menschen:

Meine Großeltern – Mamaw und Papaw – waren fraglos und uneingeschränkt das Beste, was mir hätte passieren können. Sie verbrachten die letzten beiden Jahrzehnte ihres Lebens damit, mir den Wert von Liebe und Verlässlichkeit zu zeigen und die Lehren fürs Leben mit auf den Weg zu geben, die die meisten Kinder von ihren Eltern bekommen. Beide haben dazu beigetragen, dass ich das Selbstvertrauen und die Möglichkeiten bekam, um eine reelle Chance auf den amerikanischen Traum zu haben.

Nach der High-School kam die ebenso prägende Dienstzeit bei den Marines, die Vance Disziplin vermittelten. Zwar war er nicht in direkte Kampfeinsätze eingebunden, aber er lernte im Irak die Schlachtfelder der Moderne aus nächster Nähe kennen. Und nicht zu vergessen: Seine Funktion als Presseoffizier dürfte ihm eine wertvolle Lehrzeit für seine spätere politische Karriere gewesen sein.

Unerwartet erhielt er nach seiner Armeezeit durch ein Stipendium für ärmere Studenten die Möglichkeit zum Jura-Studium an der Elite-Universität Yale. Es sollte sich als ein weiterer glücklicher Eckstein seiner Biographie erweisen. Hierüber erhielt er Zugang in die ihm bis dahin vollkommen ferne Welt der Oberschicht. Geradezu humorvoll lesen sich jene Passagen, in denen er beschreibt, wie er vollkommen hilflos ohne Kenntnis der Etikette die Sphären dieser ihm so fremden Welt betritt. Es muß vor allem wie ein Kulturschock für ihn gewesen sein, über seine Frau ein Familienleben kennenzulernen, das so viel anders – stabiler, ruhiger und freundlicher – als das war, was er erlebt hatte.

Was sich für Vance erfüllt hat, ist nicht mehr und weniger als der amerikanische Traum: Der Aufstieg aus den ärmsten Verhältnissen aus eigener Kraft. Ohne jede Scheuklappe benennt Vance die Ursachen der Krise der weißen Arbeiterschicht, die vielen anderen gleicher Herkunft diesen Aufstieg verwehrt. Es ist nicht allein die Deindustrialisierung; es sind vor allem die extrem prekären Familienverhältnisse, unter denen die Kinder nicht jenes soziale Kapital erwerben können, das allein für ein normal erfolgreiches Leben notwendig ist. Stattdessen schiebt man die Schuld lieber auf andere, rutscht in die Kriminalität ab und versucht seine Not mit Drogen zu dämpfen.

Der Staat erweist sich kaum als Hilfe und bewirkt oft das Gegenteil, indem er die Möglichkeit zum Sozialbetrug eröffnet. Der Glaube an den Wert harter Arbeit ist weitgehend verloren gegangen. Oder die Bürokratie erweist sich als Hürde dort, wo naheliegende Lösungen möglich wären. Für Vance muß die Rettung aus dieser Misere in erster Linie aus einer Verhaltensänderung der Gruppe selbst kommen:

Wenn ich gefragt werde, was ich an der weißen Arbeiterschicht am liebsten ändern würde, sage ich: „Das Gefühl, daß unsere Entscheidungen keine Folgen haben.“

Vance Autobiographie ist vor allem jungen Menschen zu empfehlen, die oftmals in Selbstzweifeln vor ihrem weiteren Lebensweg stehen, vor allem wenn sie mit Problemen zu kämpfen haben, die ihnen kaum Platz für Zukunftsoptimismus lassen. Sicherlich wird es nicht jedem den Weg an die Spitze weisen. Aber vielleicht eine Vorstellung davon geben, was möglich ist, wenn man sich nicht von widrigen Verhältnissen niederdrücken läßt.

Doch auch auf aktueller politischer Ebene trägt dieses Buch einiges bei zum Verständnis des Politikers Vance, der sich einen „modernen Konservativen“ nennt: Sein Herz hängt zuerst an seinem eigenen Land, seinen eigenen Landsleuten, deren Wohlergeben er als erstes im Fokus hat. Seine Wurzeln, seine Verbundenheit zu den Menschen seiner Herkunft hat er nie abgelegt, hat er nie verleugnet. Und genau das dürfte einer der wichtigsten Gründe dafür sein, warum „der Mann aus den Bergen“ in der Trump-Administration zu den treibenden Kräfte gehört, die den Ukraine-Krieg endlich hinter sich lassen wollen, so wie er es vergangene Woche in der denkwürdigen Presserunde im Oval Office gegenüber dem ukrainischen Präsidenten Selensky der ganzen Welt drastisch vorgeführt hat. Seine Landkarte der Welt dürfte in erster Linie die USA umfassen, nicht aus einem kleingeistigen Provinzialismus heraus, sondern weil er die Ängste, Sorgen und Nöte der Menschen, denen er als zweithöchster Repräsentant seines Staates zuerst verpflichtet ist, aus erster Hand kennt.

Genau das ist es, was jeder Politiker der kommenden Bundesregierung vor Augen haben sollte, wenn er mit den Vertretern des „neuen Sheriffs“ in Washington zusammentrifft. Es wäre dem voraussichtlichen Bundeskanzler Merz dringend angeraten, die Lektüre der „Hillbilly-Elegie“ nachzuholen, falls er es noch nicht getan hat, um ein besseres Verständnis seiner neuen Partner in Washington zu erhalten. Besser wäre es.

J.D. Vance
Hillbilly-Elegie
Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise
304 Seiten
Yes Publishing, 2024
24,- EUR

Die vergessene Pandemie

Auf dem ersten Blick erscheint es wie ein Idyll, das der amerikanische Schriftsteller Thomas Mullen in seinem Debütroman „Die Stadt am Ende der Welt“ entwirft. Angesiedelt im US-Bundesstaat Washington, der nordwestlichsten Ecke der USA mit ihren schier endlos weiten Wäldern, hat der Holzunternehmer Charles Worthy sich einen idealistischen Traum verwirklicht. In einer abgeschiedenen Ecke des Bundesstaats gründete er um sein Holzfäller- und Sägerei-Unternehmen die Stadt Commonwealth. Die Stadt soll das Gegenmodell zu den ausbeuterischen Praktiken seiner Branche sein, die wenig auf faire Behandlung und gute Entlohnung ihrer Arbeiter gibt. Und der Erfolg scheint ihm recht zu geben, denn Stadt und Unternehmen wachsen.

Denn es ist alles andere als eine gewöhnliche und gute Zeit. Es ist 1918 und die USA befinden sich seit mehr als einem Jahr an der Seite der Entente im Krieg gegen Deutschland. Immerhin, der Krieg tobt in Europa auf der anderen Seite des Atlantiks. Doch hier, in ihrem Zuhause, kündigt sich eine andere tödliche Bedrohung an, die gerade weltweit zuschlägt. Ausgehend von den frisch errichteten Militärlagern verbreitet sich die Spanische Grippe über das ganze Land. Die Opferzahlen steigen rasant, die Mediziner sind machtlos. Am Ende wird sie 20 bis 50 Millionen Menschen weltweit das Leben gekostet haben.

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Bislang blieb Commonwealth verschont. Und damit das so bleibt, verfällt Worthy auf die Idee einer Quarantäne über die Stadt, bis die Epidemie abgeklungen ist. Die Bürgerversammlung stimmt zu. Straßensperren werden errichtet, bewaffnete Wachposten aufgestellt. Doch Worthys freigeistige Ehefrau Rebecca überkommt eine düstere Ahnung:

„In Rebeccas Augen war es eine eitle Freude, denn der Mut, den sie mit dieser Abstimmung bewiesen hatten, war von zweifelhafter Natur, ein Kompromiss auf Kosten ihrer moralischen Prinzipien, der ihnen vielleicht schon bald eine schwere Bürde werden würde.“

Bis zum Ernstfall dauert es nicht lange. Ein unbekannter Soldat will des Nachts den Zugang zur Stadt erzwingen und bezahlt den Versuch mit seinem Leben. Der Sägewerksarbeiter Graham zögert nicht, den Soldaten zu erschießen. Es ist nicht nur der Beginn der nachhaltigen Verstörung seines 16jährigen Wachkameraden und Freundes Philip, Worthys Sohn. Die Quarantäne setzt eine Ereigniskette in Bewegung, an deren Ende die Stadt wie in einer Tragödie zu zerbrechen droht.

Handelte er richtig oder falsch, als Philip später einem weiteren Soldaten heimlich Unterschlupf in der unmittelbaren Nähe der Stadt gab? Hätte er wie sein Freund Graham besser den Abzug betätigen sollen, um die Stadt vor einem möglichen Überträger der Grippe zu schützen? Doch nun befindet sich Philip gemeinsam mit dem Soldaten in Quarantäne. Und schlimmer noch: Es kommt der Verdacht auf, bei dem Soldaten handelt es sich um einen deutschen Agenten. Philip versucht die Wahrheit herauszufinden. Und tatsächlich, der Soldat verbirgt ein schreckliches Geheimnis.

Philip gerät zunehmend unter Druck. Obwohl er und der Soldat die Quarantäne ohne Symptome durchlaufen haben, findet die Grippe Eingang in die Stadt und fordert ihren tödlichen Tribut. War es das vermeintlich verantwortungslose Verhalten Philips, das der Krankheit Zugang zur Stadt verschaffte?

Die eingangs befürchtete Bürde bekommt nun niemand schwerer zu spüren als Worthy:

„Charles versuchte vergeblich, sich durch seine Arbeit abzulenken. Er dachte daran, wie oft er in den letzten Monaten beim Gottesdienst gefehlt hatte, und bedauerte dies nun umso mehr, als dem zwischen seinen Gemeinden pendelnden Geistlichen wegen der Quarantäne der Zutritt zur Stadt untersagt war. Charles hatte seinen Willen dem der Stadt – seinem Traum – untergeordnet, doch empfand er nun plötzlich das beinahe wehmütige Bedürfnis, sich selbst samt seinen Ängsten etwas Höherem unterzuordnen, sofern es so etwas gab.“

Die Quarantäne allein hatte das Klima unter den Bewohnern Commonwealths bereits spürbar verändert. Trotz der jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Keimtheorie, die die Ursache von Infektionskrankheiten auf Bakterien und Viren zurückführt, spuken in den Köpfen noch die Vorstellungen eines Miasmas, einer sich auf geistigen Wegen verbreitenden Krankheit herum. Der befürchtete Ausbruch der Grippe läßt dann das Band zwischen ihnen endgültig reißen:

„Seit in Commonwealth die Grippe wütete, breiteten sich Angst und Mißtrauen unter den Einwohnern aus – Opfer zum Wohl der Allgemeinheit wollte niemand mehr bringen.“

Doch es ist nicht die Grippe allein, die sich drohend über Commonwealth erhebt. Auch die Außenwelt in ihrem Neid, ihrem Mißtrauen und ihrer Mißgunst gegenüber Commonwealth macht sich auf, den Riegel um die Stadt zu brechen. Gegen den Erfolg von Commonwealth. Gegen die als „Anarchisten“ verunglimpften Arbeitskämpfer, die sich hierher zurückzogen. Und gegen die nicht wenigen Männer, die sich der Wehrpflicht und damit dem Einsatz auf den europäischen Schlachtfeldern zu entziehen versuchen.

Mullen veröffentlichte sein Debütroman „Die Stadt am Ende der Welt“ 2006. Er selbst hatte erst in den späten 1990er Jahren von der globalen Epidemie der Spanischen Grippe erfahren und sich davon inspirieren lassen. Es war, als hätte sich bereits unmittelbar danach der Schleier des Schweigens und des Vergessens darübergelegt. Mullen fasst seine Motivation zu seinem Roman so zusammen:

„Mein großes Interesse galt den Themen, die darin mitschwingen, die konstante Spannung zwischen Individualismus und dem Gemeinwohl sowie moralischen Fragen wie die, die der sich die beiden Wachen am Anfang der Geschichte stellen müssen. Aber zu einem großen Teil lag mein Interesse darin begründet, dass dieses sehr wichtige historische Ereignis irgendwie vergessen wurde.“

Kaum verwunderlich, erlebte Mullens fesselnder Roman in 2020 eine Wiederauflage, als mit Corona eine weitere Pandemie die Welt in Atem hielt. Wer darin allerdings nach Antworten sucht, ob die Corona-Pandemie besser gehändelt wurde als die Spanische Grippe, wird enttäuscht werden, zu unterschiedlich sind vor dem jeweiligen zeitgeschichtlichen Hintergrund beide Ereignisse, zumal bei Corona noch zu viele Fragen offen sind. Doch eines wird dank Mullen deutlich: Mit der Spanischen Grippe ist damals über die Menschheit ein tödlicher Orkan hinweggefegt, der seitdem bis heute seinesgleichen sucht.

Thomas Mullen
Die Stadt am Ende der Welt
2020, 481 Seiten

DuMont Buchverlag GmbH
13,00 EUR

Der heilige Kaiser am Ende der Zeit

In Bamberg gedenkt eine Ausstellung des Mittelalter-Kaisers Heinrich II.

Daniel Körtel

Lediglich rund 80.000 Einwohner umfasst die oberfränkische Kleinstadt Bamberg. Und doch war sie im Mittelalter über eine längere Phase das politisch-religiöse Zentrum des frühmittelalterlichen Deutschlands. Kaiser Heinrich II. (973/978 – 1024) gab ihr den entscheidenden Schub, als er sie 1007 zum Sitz des neugegründeten Bistums Bamberg erhob. Für den Bayernherzog aus einer Seitenlinie der Ottonen, der 1002 nach dem unerwarteten Tod seines Vetters Otto III. die Königskrone ergriff, war sie die Lieblingsresidenz.

Gemeinsam mit seiner Gemahlin Kunigunde, mit der er ein einzigartiges Duo bildete, formte der zusätzlich 1014 in Rom zum römisch-deutschen Kaiser gekrönte Herrscher das Reich nach seinem Selbstverständnis als von Gott gesandter Regent gemäß christlicher Prinzipien, wobei er sich insbesondere der Reform kirchlicher Institutionen wie der Klöster verschrieb. Diese war für viele seiner Zeitgenossen in Anbetracht der millenaristischen Erwartungen ihrer Zeit über die baldige Wiederkehr Christi überfällig.

Aus Anlaß des 1000. Jahrestages des Todes ihres großen Förderers, der gemeinsam mit Kunigunde im Bamberger Dom bestattet wurde, eröffnete im Oktober vorigen Jahres das Historische Museum der Stadt mit „Vor 1.000 Jahren. Leben am Hof von Kunigunde und Heinrich II.“ eine Ausstellung über das Leben des Herrscherpaares und der Menschen ihrer Zeit.

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Die von der Museumsdirektorin Dr. Kristin Knebel im Begleitband betonte „Vielfalt und Differenziertheit, Dynamik und Mobilität der mittelalterlichen Gemeinschaften“, die gegen das inzwischen überkommene Bild dieses scheinbar dunklen und rückschrittlichen Zeitalters steht, werden durch die Exponate in der Ausstellung perfekt abgebildet. Gleich zu Beginn werden Werkzeuge aus dem Dombau vorgestellt, an deren Form sich bis heute nicht wesentlich viel geändert hat.

Spielsteine und -würfel sowie Schachfiguren belegen, daß durch alle Schichten das Leben nicht allein durch Arbeit bestimmt war, auch wenn von einer Trennung von Arbeit und Freizeit im modernen Sinne nicht die Rede sein kann. Vor allem das Schachspiel nahm für den Adel eine wichtige soziale Funktion ein, denn es war durchaus von Bedeutung, wer es mit wem spielte.

Wie ein optischer Gegensatz zum Klischee des „dunklen Mittelalters“ wirkt die bunte Wand mit den 28 mit allen Farben des Lichtspektrums gefärbten Stoffmustern. Unter der Verwendung heimischer Pflanzen und Insekten wußte das Volk durchaus Farbe in seinen Alltag zu bringen.

Das Aufkommen von Münzen und ihre Verbreitung markieren den wirtschaftlichen Aufschwung, den Europa um die Jahrtausendwende nahm. Das dafür nötige Silber kam aus dem Reichsgebiet. Doch indische Münzen zeigen Handelskontakte sogar bis nach Asien auf.

Breiter Raum wird in der Ausstellung auch Heinrichs Kriegszügen gewidmet. Obwohl sich Heinrich vor allem als christlicher Herrscher nach innen verstand – missionarisch nach außen war er nicht aktiv -, so wenig hatte er Bedenken, gemeinsam mit den heidnischen Liutizen gegen den gleichsam christlichen Polen-König Boreslaw Chrobry vorzugehen, zur Empörung der Zeitgenossen! Gezeigt werden die waffentechnischen Ausrüstungen der beteiligten Parteien, wobei der Kettenpanzer eines Ritters besonders eindrucksvoll wirkt. Videoeinspielungen mit Schauspielern wiederum stellen die Sorgen und Nöte der zum Heeresdienst verpflichteten Bauern dar.

Zum Ende des Rundgangs kommt der Besucher zu den Repliken der Reichskleinodien aus Reichskrone und Heiliger Lanze, in die angeblich ein Nagel aus dem Kreuz Christi eingearbeitet sein soll. In einer Zeit, in der Macht vor allem auf Symbolen beruhte, waren sie von enormer Bedeutung. Heinrich vermochte sich erst durch den raschen Zugriff auf die Heilige Lanze seinen entscheidenden Vorsprung zum Königtum zu sichern.

Heinrich II. verband die Gründung des Bistums Bamberg nicht allein als Werk zu seinem Seelenheil. Ohne Nachkommen, verschaffte er sich damit als letzter der Ottonen-Dynastie damit ein weitreichendes Gedenken, dem in seinem Nachleben besondere Ehrung zuteilwurde. Die Kinderlosigkeit wurde sakral überhöht als Folge einer „Josephsehe“, in der Heinrich und Kunigunde in einem besonders religiösen Lebenswandel dem Vorbild der Jesus-Eltern Maria und Joseph nacheifernd, sexuell nicht miteinander verkehrten. Dies und ihr Einsatz für die Kirche führten zu ihrer Heiligsprechung, zuerst im Jahr 1146 der Heinrichs – als einzigem mittelalterlichen Kaiser – und nachfolgend in 1200 Kunigunde, wobei diese in ihrer Popularität inzwischen ihren Gatten weit überholt hat.

Die Ausstellung „Vor 1.000 Jahren. Leben am Hof von Kunigunde und Heinrich II.“ ist bis zum 27. April 2025 in Bamberg im Historischen Museum, Domplatz 7, täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr zu sehen. Der Katalog mit 256 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen kostet im Museum 29,00 Euro.