Aufklärerin, Spalterin oder Hochstaplerin?

Ines Geipel zum 65. Geburtstag

Ines Geipel / © D. Körtel

Wenn ich mich recht entsinne, dann war es ein Artikel aus der extrem linken „taz“, der mich Anfang 2004 erstmals auf Ines Geipel aufmerksam machte. Darin ging es um eine Lesung in der Erfurter Kaufmannskirche, der für die Publizistin zum Gang in die Löwenhöhle wurde. Das Thema, das sie in ihrem Buch „Für heute reicht’s“ vertrat, konnte auf kaum stärker vermintem Terrain, vor kaum einem unwilligeren Publikum vorgestellt werden: Zwei Jahre zuvor, im April 2002, hinterließ Robert Steinhäuser mit seinem Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium nicht nur 16 Tote, sondern auch eine lange in der Stadtgesellschaft schwärende Wunde. Geipel veröffentlichte nach langen Recherchen vor Ort eine literarische Reportage – „Für heute reicht’s“ – über diesen Amoklauf. Nicht allein Fehler im Polizeieinsatz prangerte sie darin an; auch die aus ihrer Sicht unzureichende Aufarbeitung des Massakers. Doch dabei beließ sie es nicht. Ihre Motivsuche beim Täter verknüpfte sie mit einer tiefenpsychologischen Analyse der Thüringer zur Zeit der Wende und der Umbrüche, dem verlogenen Buchenwald-Mythos aus DDR-Zeiten und der Kindereuthanasie in Jena im Dritten Reich – allesamt unzureichend aufgearbeitet. Ich fand Geipels Einsatz, den in Erfurt offenbar kaum jemand gewünscht hat, mutig. Allgemein beliebt machte sie sich damit nicht. Bei dieser bundesweit beachteten Lesung schlug ihr aus dem Publikum die kalte Ablehnung entgegen: „Sie haben mehr kaputt gemacht, als es gut war.“

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Ines Geipel
Für heute reicht’s
256 Seiten, geb. Ausgabe
2004
nur noch antiquarisch erhältlich

Dabei war Geipel schon vorher bekannt und unbequem. Die frühere DDR-Leistungssportlerin trieb die Doping-Aufarbeitung im DDR-Sport mit voran, von der sie selbst betroffen war. Ihre Sportlaufbahn fand ein jähes Ende, nachdem ihre Fluchtabsichten verraten wurden. Geipels offene Kritik am Tian’anmen-Massaker während ihres Studiums brachte Universität und Partei gegen sie auf. Den Folgen wich sie mit der geglückten Flucht 1989 über Ungarn in die Bundesrepublik aus. Dort nahm sie das Studium der Philosophie und Soziologie auf. Nach verschiedenen Stellen hat sie seit 2001 eine Professur an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch inne.

Als Publizistin blieb Geipel nach „Für heute reicht’s“ weiterhin dem Thema Amok und damit anknüpfend der Überforderung der Gesellschaft verbunden. So folgte 2010 „Seelenriss – Depression und Leistungsdruck“ und 2012 „Der Amok-Komplex“. Dabei öffnete sich für die Autorin mit den gesellschaftlichen Veränderungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ein neues Betätigungsfeld.

Ines Geipel
Seelenriss
Depression und Leistungsdruck
238 Seiten, geb. Ausgabe
2010
19,- Euro

Pegida und der Aufstieg der AfD machte Geipel zur gefragten Gesprächspartnerin, um vor allem dem Westen Deutschlands zu erklären, warum der neue Osten der Bundesrepublik sich fast in Gänze den gesellschaftlichen Denkmustern der alten Bundesrepublik verweigert. Um deutliche und scharfe Worte ist sie dabei nicht verlegen. Das mußte sogar der Leipziger Germanist Dirk Oschmann erfahren, dem sie für seine Wutschrift „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung: Wie die Konstruktion des Ostens unsere Gesellschaft spaltet“ attestiert: „Eine rüde Vollklatsche, ein angesagter Rollenausfall. Hyperpolemisch, grob verfälschend, ressentimentgeladen.“

Ihre Kernthese aus „Umkämpfte Zone“ (2019) besagt, daß der AfD-Erfolg in der alten DDR Folge der dort nicht aufgearbeiteten Vergangenheit zweier Diktaturen – der braunen und der roten – sei. Die frühere DDR als deutscher Sonderfall ausgebliebener Vergangenheitsbewältigung? Die These weist allein schon dadurch Schwächen auf, daß Mitteldeutschland sich im Gleichschritt des politischen Trends nach rechts in jenem Teil Europas bewegt, wo eben keine vergleichbaren Diktaturerfahrungen gemacht wurden. Wenn man von „Sonderfall“ sprechen will, dann doch eher in Bezug auf Westdeutschland.

Ines Geipel
Umkämpfte Zone
Mein Bruder, der Osten und der Hass
288 Seiten, Taschenbuch
2020
14,- Euro

Geipel ist sich dem durchaus bewußt. Auf einer Lesung in Kassel im vergangenen Mai gab sie ihrer Hoffnung fast schon pathetisch Ausdruck, der Westen Deutschland möge noch lange das „Unnormal“ bleiben. Überhaupt scheint sie im Westen auf ein dankbareres Publikum zu treffen als im Osten. Es muß den „Seelenriss“ der Wessis über den undankbaren Osten geradezu streicheln, wenn Geipel ihm bescheinigt, nach all den Mitteltransfers wäre jetzt auch mal der Westen dran. Der Osten, so vermittelt sie, scheint das Glück, das die Erfolgsgeschichte der Wiedervereinigung mit sich brachte, nicht zu schätzen und den Umgang mit der gewonnenen Freiheit (noch) nicht gelernt zu haben.

Zuweilen wirkt ihre Argumentation krude und überspannt. Mit verschwörungstheoretischem Geraune sprach sie zuletzt von einem „dichten Agentennetz“, mit dem sich der Kreml im Osten festgesetzt hätte und verwebt dabei geschickt das BSW mit hinein, ohne explizit zu sagen, es sei aus Russland gesteuert: „Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat von Anfang an eins zu eins das Kreml-Narrativ geliefert. Es geht um Desinformation, Destabilisierung, Revanche.“

In einem Interview mit der WELT 2017 fasste sie politische Ost-Persönlichkeiten wie die damalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry, den Pegida-Mitbegründer Lutz Bachmann, die NSU-Terroristen Beate Zschäpe und Uwe Mundlos und den über unsägliche Chats aus der AfD geworfenen Rostocker Holger Arppe – allesamt geboren in den frühen 1970er Jahren – in eine „Generation Amok“ zusammen. Das Thema „Amok“ scheint Geipel nicht loszulassen. Ist es eine verstellende Brille, durch die sie die Wirklichkeit betrachtet?

„Wir haben die Dimension des gesellschaftlichen Umbruchs, das Wasteland Ost und seine irre Gewaltlust unterschätzt“, konstatiert Geipel am Ende des Interviews, so als ob die Gewalt, die uns heute hauptsächlich begegnet, die Messermorde, die schrecklichen Attentate wie Solingen und Magdeburg ausgerechnet von frustrierten Ostdeutschen ausgegangen wären. Bis 2015 hatten die Ostdeutschen, die bislang keine Erfahrungen mit Massenmigration aus kulturfernstehenden Ländern gemacht haben, ausgiebig Gelegenheit diesbezügliches Anschauungsmaterial im Westen selbst zu sammeln – Kulturschock inklusive -, wo schon in den 1980er Jahren die Integrationsprobleme auf eine tickende Zeitbombe wiesen. Und man muß schon ziemlich verblendet sein, um sich solche Verhältnisse in der von derartigen Problemen unbelasteten eigenen Heimat selbst zu wünschen. Wer will sich dann noch wundern, daß die Zumutung einer Übernahme der von der Realität vollkommen überholten migrationspolitischen Vorstellungen des Westens im Osten als ideologische Kolonisation empfunden werden? Hier kennt man die Verschleierungsmechanismen, die über das Migrationsgeschehen gelegt werden, nur allzu gut aus der DDR. Hieraus rührt das Bonmot, wonach es dem Osten keineswegs an Demokratieerfahrung mangelt, aber dem Westen umso mehr an Diktaturerfahrung.

In „Umkämpfte Zone“ zog Geipel ihre eigene, selbst für DDR-Verhältnisse „ungewöhnliche“ Familienbiographie heran und überträgt die „unbewußt transgenerationelle“ Wirkung paradigmatisch auf die gesamte DDR. Beide Großväter waren in der SS, der Vater wochenlang als Geheimagent in der Bundesrepublik im Einsatz. Der ebenfalls ostsozialisierte Publizist Thorsten Hinz schreibt dazu in seiner Rezension in der Jungen Freiheit:

Was beim Leser zurückbleibt, ist Mitgefühl für ihre und ihres Bruders „Kindheit im Terror“, verursacht durch den Vater. „Wir mußten durch die Realität eines enthemmten Mannes, Vater, der verdeckte Krieger. Es war das Stasi-Prinzip jener Jahre.“ Die Verbindung zwischen dem familiär induzierten Kindheitstrauma und dem Unterdrückerstaat erscheint willkürlich, weil Geipel die konkrete Trauma-Ursache auch auf Nachfragen beschweigt. Auf Seite 114 ist nur zu lesen, sie und ihr Bruder seien jahrelang „die Stechpuppen des Vaters, seine Trainingsobjekte“ gewesen. Wenn Metaphern überhaupt einen Sinn haben sollen, ist damit wohl die Geschichte eines sexuellen Mißbrauchs angedeutet. Die Stasi war des Teufels, doch Kindesmißbrauch war weder ihr Prinzip noch ihre Exklusivität. Einerseits verschließt Geipel den Vater-Tochter-Konflikt in der Krypta ihres Herzens; andererseits projiziert sie ihn unbewiesen auf den Staat. Deshalb ist ihr Buch ein Dokument des Ressentiments und nicht der Analyse. Seine Erhebung zum Wunderbuch über den Osten bedeutet einen weiteren Gewaltakt gegen ihn. (aus: Junge Freiheit 26/2019)

Der Auftritt in Erfurt – an dieser Stelle kommt er mir unwillkürlich in den Sinn. Wie erfolgt die Aufnahme von Geipels publizistischem Schaffen im Osten, wie kommen dort ihre schroffen, teils haarsträubenden Thesen an? Ist Geipels Erfolg, ihre Anerkennung hauptsächlich einer sehr wohlwollenden Rezeption im Westen geschuldet? Verstellt sich der Blick einer im Westen angekommenen Publizistin auf die Befindlichkeiten jener, aus denen sie selbst entwachsen ist?

Zuletzt drohte ein dunkler Schatten auf Geipel zu fallen. Aufklärer des DDR-Dopings erhoben Anfang 2023 gegen sie Vorwürfe, wonach sie ihre Sporterfolge „völlig übertrieben und faktisch falsch“ dargestellt habe, ebenso ihre Behauptung, Opfer von Doping gewesen zu sein. Weiterhin wurden Zweifel an ihre Rolle als DDR-Oppositionelle erhoben. Ines Geipel, die Hochstaplerin?

Eine MDR-Dokumentation transportierte die Vorwürfe öffentlichkeitswirksam. Der Politikwissenschaftler Jochen Staadt witterte in der WELT eine Kampagne gegen Geipel im Vorfeld der Verleihung des Erich-Loest-Preises. Daran beteiligt seien neben dem DDR-kritischen Historiker Ilko Sascha Kowalczuk auch alte Stasileute um die Zeitschrift „Rot-Fuchs“.

Geipel wehrte sich juristisch gegen den „Vernichtungsvorstoß“. Jedoch, sie blitzte damit vor Gericht ab, das die Behauptungen als vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sah. Gleichwohl, Meinungen sind noch keine Fakten. Letztlich überstand sie die undurchsichtige Kampagne unbeschadet.

Ines Geipel wurde am 7. Juli 1960, heute vor 65 Jahren, in Dresden geboren. Neben ihrem zahlreichen publizistischen Schaffen machte sie sich neben der Aufarbeitung des Dopings im DDR-Sport auch um die Würdigung in der DDR unterdrückter Literaten verdient. Ihr zuletzt erschienenes Buch „Fabelland – Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück“ ist nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis.

Ines Geipel (re.), Mai 2025, im Literaturhaus Kassel / Palais Bellvue – © D. Körtel

Der Rasputin des neuen Zaren

Eine Unmenge an Literatur, zumeist Sachbücher, ist in den letzten Jahren auf den Markt geworfen worden, um das Phänomen Russland im Allgemeinen und seinen Präsidenten Putin im Besonderen zu erklären. Das Interesse an diesem Stoff dürfte seit Ausbruch des Ukraine-Krieges deutlich gestiegen sein. Auf dem Gebiet der Romane sind es zumeist osteuropäische Autoren, die hier zur Bekanntheit aufgestiegen sind, so wie der Russe Victor Jerofejew zuletzt mit seiner Putin-Parabel „Der Große Gopnik“. Immerhin, aus Westeuropa hat hier ein Autor Aufsehen erregt: Guiliano da Empoli mit „Der Magier im Kreml“. Für den 1973 geborenen italienisch-schweizer Schriftsteller ist es sein erster Roman, der auch mit dem französischen Literaturpreis Grand Prix du Roman de L’Académie francaise ausgezeichnet wurde.

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Nicht Putin ist die Hauptfigur seiner Geschichte, sondern der fiktive Wadim Baranow, ein Spindoktor, der für den russischen Präsidenten im Hintergrund die Propagandakulisse des Regimes bestückt. Nach dem Ausscheiden aus dem Regierungsdienst erzählt er einem französischen Besucher, mit dem ihm das Interesse für die Bücher des russischen Schriftstellers Samjatin (1884-1937; Verfasser der Dystopie „Wir“) verbindet, die Geschichte seines Lebens, die auch die des jüngeren Russlands ist, wie es nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde, was es heute ist.

In Baranow kreuzen sich die Lebenslinien der wichtigsten Männer des modernen Russlands. Da ist der spätere Oligarch Michail Chodorkowski, der ihm seine Partnerin Xenja ausspannt. Sowie ein weiterer Oligarch, der 2013 in seinem englischen Exil unter merkwürdigen Umständen verstorbene – war es Suizid oder doch staatlicher Mord? – Boris Beresowski. Ihn, den Produzenten von Trash-TV, vermittelt er an seine „Entdeckung“ Wladimir Putin, dem früheren KGB-Agenten und damaligen Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, den er ab 1999 zum Nachfolger des greisen und alkoholkranken Präsidenten Boris Jelzin aufbaut. Eine Entscheidung, die ihm noch teuer zu stehen kommen sollte.

Baranow führt seinen Besucher durch die wichtigsten Stationen seiner Karriere. Die Katastrophe um den Untergang des U-Bootes „Kursk“, den Tschetschenien-Krieg und vor allem die Zähmung der Oligarchen. Er erklärt, wie Putin nach Innen die traditionelle „Vertikale der Macht“ wiederherstellte und aus einem Rachegefühl für die westliche Demütigung Russlands in den chaotischen Jelzin-Jahren an der Wiederherstellung seiner Weltgeltung arbeitete. Die so einsetzende Dynamik der Macht führt nach der Phase des feudalen Chaos nicht nur zur Widerherstellung der Vertikale der Macht, sondern läßt aus Russlands junger Demokratie eine Autokratie werden. Der derart entrückte Putin, das ist für Baranow der neue Zar. Das Russlandbild, das er dabei vermittelt, ist eines, dessen Volk gefangen ist in seiner Vergangenheit und zweifelhaften Mythen von vergangener Größe anhängt, so daß es selbst einem brutalen Verbrecher wie Stalin nicht trotz, sondern wegen der Massaker höchste Sympathien zukommen läßt.

Schonungslos analysiert Baranow das neue zynische Machtspiel gegenüber einem jener russischen Rocker, die als Freischärler im Donbass gegen die Ukraine agieren, und dabei nicht realisieren, daß sie nicht mehr sind als Marionetten an den Fäden ihrer Moskauer Hintermänner:

„Die Anführer der örtlichen Miliz verstehen es nicht, sie setzen sich immer noch naive Ziele wie den Sieg. Aber du bist nicht so dumm, Alexander. Du begreifst, dass der Krieg ein Prozess ist, dessen Ziele weit über den militärischen Erfolg hinaus gehen. Im Gegenteil, unser Erfolg darf nie vollständig, die Eroberung nie endgültig sein. Was soll Russland mit zwei weiteren Regionen anfangen? Wir haben die Krim zurückerobert, weil sie uns gehört, aber hier ist das Ziel ein anderes. Hier ist unser Ziel nicht die Eroberung, sondern das Chaos. Jeder soll sehen, dass die orangene Revolution die Ukraine in die Anarchie gestürzt hat. Wenn man den Fehler begeht, sich in die Hände der Westler zu begeben, dann endet es so: Sie lassen dich bei Schwierigkeiten im Stich und du stehst mutterseelenallein vor einem zerstörten Land.“

Seinen Protagonisten Baranow nennt Da Empoli einen neuen Rasputin, in Anlehnung an jene geheimnisvolle Gestalt, der dem letzten Zaren nahestand und 1916 einem Mordanschlag zum Opfer fiel. Ein Einzelgänger nahe an der Macht, ohne in der Strategie eigene Akzente zu setzen. Er führt aus, was Putin denkt und in seinem Sinne ist. Dabei ist er selbst alles andere als ein Machtmensch. Seine Vorfahren waren Nonkonformisten, die sich der Anpassung unter das jeweilige System verweigerten. Und für Baranow selbst ist seine Tochter das größte Glück. Eine emotionale Nähe zu seinem „Zaren“ vermag nicht aufzukommen. Freunde werden sie nie. Ihre Wege gehen an einem Punkt auseinander, wo man einander überdrüssig wird.

Da Empoli ist ein großartiger Roman gelungen, der Russland und Putin auf eine Weise näherbringt, die nicht in die moralisierenden Klischees des Schwarz-Weiß-Denkens verfällt. Ihm, dem Westler, ist es gelungen, Russlands Entwicklung aus der Perspektive jener zu beschreiben, die sie erleben, oder besser: erleiden mußten. Ein Russland-Versteher im besten Sinne des Wortes. Und bei allem hält er für den Leser noch eine überraschende und düstere Prophezeiung bereit über das wahre Ende der Geschichte, die so vielen im Westen, die von einem Systemwettstreit zwischen dem demokratischen Westen und dem autokratischen Osten ausgehen, gar nicht schmecken dürfte.

Giuliano da Empoli
Der Magier im Kreml
265 Seiten, 2024
C.H. Beck
24,70 EUR

Gefährdet und gefährlich: das Buch

Nur vier Jahre nach George Orwells „1984“ erschien 1953 ein Roman, der es gleichfalls zu einer Spitzenstellung im Genre der dystopischen Literatur schaffte. Es war gleich der erste Roman des noch jungen amerikanischen Schriftstellers Ray Bradbury (1920 – 2012), der zum Grundstein seiner literarischen Karriere wurde: „Fahrenheit 451“. Bradbury schuf dieses Werk auf dem Höhepunkt seiner fruchtbarsten Periode von 1946 bis 1955 und wurde damit zum Popularisierer der Science-Fiction.

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Der Titel „Fahrenheit 451“ bezieht sich auf die im angloamerikanischen Maßsystem angegebene Temperatur, bei der Buchpapier zu brennen beginnt (im in Deutschland üblichen SI-System 233 Grad Celsius). Und hierin findet man einen der seltenen Fälle, in denen Buchtitel und -inhalt eine geradezu perfekte Konvergenz erreichen. Bradbury entwirft darin eine Zukunft, in der der Besitz von Büchern unter schwere Strafe gestellt ist. An die Stelle der Literatur ist das Fernsehen getreten. Die Menschen lassen sich von wandgroßen Bildschirmen mit geisttötenden Soap Operas berieseln. Die als „Glück“ empfundene Sedierung und Entmündigung der Gesellschaft ist eine selbstgewählte. Das Verwunderliche ist: Für ihre Durchsetzung ist kein allesumfassender Terrorstaat nötig; Verfassung und Demokratie sind nach wie vor formell in Kraft – allerdings ohne Opposition.

Eine Besonderheit ist die Eliminierung unerwünschter Literatur. Publikationen beschränken sich auf Unverzichtbares, wie Bedienungsanleitungen oder ausgewählte Fachliteratur in Kurzform. Belletristik, philosophische oder politische Literatur, die die ganze Bandbreite menschlichen Denkens abbilden, gelten als gefährlich und werden gezielt vernichtet:

„Wir müssen alle gleich sein. Nicht gleich und frei geboren, wie es in der Verfassung steht, sondern gleich gemacht. Jeder ein Abbild aller anderen; dann sind alle glücklich, denn es gibt keine Berge, vor denen sie sich ducken, an denen sie sich messen müssten. Also! Ein Buch ist eine geladene Waffe im Nachbarhaus. Verbrennen Sie es. Nehmen Sie die Kugel aus der Waffe. Brechen Sie den Verstand des anderen. Wer weiß, wer das Ziel eines belesenen Mannes ist?“

Für die Aufrechterhaltung des allgemeinen Buchverbotes sorgt eine Spezialeinheit, deren Aufgabe ursprünglich eine ganz andere war: die Feuermänner. Zusätzliche Repressionsorgane scheinen zur Absicherung des Systems angesichts des künstlich aufrechterhaltenen, desolaten geistigen Zustands der Massen kaum erforderlich zu sein.

Einst waren die Feuermänner das, was wir heute als Feuerwehrmänner kennen, also Spezialisten zur Verhütung und Bekämpfung von Bränden. Doch in Bradburys dystopischer Zukunft, wo die Häuser durch einen speziellen Überzug feuerfest geworden sind, verkehrt sich ihre Aufgabe in das Gegenteil: sie legen Brände, und zwar an Bücher, vorsorglich egal an welche. Erhalten sie hiervon Kenntnis, rücken sie so wie ihre Kollegen aus der Vorzeit in ihren Einsatzfahrzeugen aus. Doch kommt aus ihren Schläuchen nicht Wasser, sondern Kerosin. Es ist diese leicht brennbare Flüssigkeit, mit der die Bücher in Brand gesetzt werden.

Einer dieser Feuermänner ist Guy Montag. Nach außen gibt er sich angepasst, doch innerlich regen sich erste leichte Zweifel. Heimlich hortet er zuhause aus seinen Einsätzen abgezweigte Bücher. Er will wissen, wie gefährlich sie sind. Der Kontakt zu der jungen Außenseiterin Clarisse, die so anders ist als Montags im System von geförderten Drogen und seichter Dauerberieselung aus dem Fernsehen abgestumpfte Gattin Mildred, verstärkt seine Zweifel und seine Verwirrung, indem sie ihm nur eine scheinbar banale Frage stellt: „Sind Sie glücklich?“

Ein dramatisch verlaufender Einsatz wird zum Kipppunkt. Es ist die Besitzerin der Bücher selbst, die vor Montags Augen inmitten ihrer kerosingetränkten Werke das Feuer selbst entzündet und mit ihnen verbrennt. Auch der väterlich klingende Zuspruch seines Dienstvorgesetzten Beatty kann ihn nicht mehr in der Spur des sozial erwünschten Verhaltens halten. Aus dem Zweifler wird der Rebell.

Montags Bücherversteck fliegt durch die allgegenwärtige Überwachung auf. Doch statt tatenlos ihrer Verbrennung zuzusehen, richtet er den Kerosinbrenner auf Beatty und verbrennt ihn. Montags Flucht mit der Unterstützung des früheren Literaturprofessors Faber wird zum Höhepunkt der live übertragenen Abendunterhaltung im Fernsehen, die als eine Art Fuchsjagd inszeniert wird. Doch seine Flucht glückt. In der Wildnis außerhalb der Stadt trifft er ausgerechnet auf eine Gruppe Waldgänger, denen eines gemeinsam ist: Mittels einer speziellen Memoriertechnik bewahren sie in ihren Köpfen den Inhalt jeweils eines Buches wortwörtlich auf und bewahren sie so vor dem Vergessen.

Bradburys „Fahrenheit 451“ wird allgemein als Parabel auf die Zeit des McCarthyismus interpretiert, als der amerikanische Senator Joseph McCarthy (1908 – 1957) zum Wortführer einer Bewegung wurde, die vermeintliche Kommunisten und kommunistische Verschwörer im Staatsapparat zu enttarnen suchte. Im aufkommenden Kalten Krieg mit der Sowjetunion entstand in den USA ein Klima politischer Paranoia mit Denunziation und Spitzelwesen, in welchem die Tribunale des „Komitees für unamerikanische Umtriebe“ zu Hexenjagden gerieten, in denen zahlreiche Existenzen vernichtet wurden. Das Fernsehen, das damals in seiner Verbreitung seinen ersten Siegeszug durchlief, beförderte McCarthys Machenschaften in so gut wie jeden amerikanischen Haushalt. Auch kam es zu Aussonderungen und Verbrennungen unliebsamer Literatur.

Doch es wäre ein Fehler, „Fahrenheit 451“ eine ausschließliche Zeitgebundenheit zuzusprechen. Bücherverbrennungen gab und gibt es zu allen Zeiten. In Bradburys Meisterwerk finden sich zahlreiche Stellen, die bei gewissen Vorkommnissen unserer Zeit ein geradezu visionäres Vorbild darstellen. Da ist die Kritik an der die Sinne betäubenden Massenkultur und der Formierung einer kollektive Zwänge ausübenden Massengesellschaft, die weder dem kritischen Individuum noch dem eigenständigen Geist einen Platz einräumen will. Bücherverbrennungen sind heutzutage zwar nur Ausnahmeerscheinungen, doch werden immer mehr Bücher Restriktionen unterworfen oder aus politischen Gründen vom Mainstream ferngehalten.

Selbst Klassiker erhalten Triggerwarnungen, Neuerscheinungen werden vorab von „Sensitivity Readern“ im Auftrag von Verlagen darauf geprüft, ob sie anstößige und verletzende Inhalte enthalten. Die Autorenfreiheit und die Freiheit des Lesers bleiben auf der Strecke. Autoren, die gegen den Zeitgeist verstoßen, werden gar aus ihrem Verlag geworfen, so wie es Thilo Sarrazin und Monika Maron erging. Die Verlage selbst unterwerfen sich den Vorgaben der political correctness, so daß kritische und herausfordernde Literatur kaum in gedruckter Form zum Leser findet. Es entsteht ein Verhinderungskartell vom Feuilleton der Mainstreampresse über den ÖRR bis zu den Verlagen, Buchhändlern und Buchhandelsketten.

Einer der bisherigen Tiefpunkte war 2017 die nachträgliche Aussonderung von Rolf Peter Sieferles „Finis Germania“ sowohl aus der Liste der „Sachbücher des Monats“ wie auch aus der Spiegel-Bestsellerliste. Daß diese konzertierte Aktion des sogenannten Kulturbetriebs zum Rohrkrepierer wurde, beruhigt keineswegs.

Und nur auf den ersten Blick verwunderlich war eine Meldung aus 2022, wonach die Universität Northampton ausgerechnet George Orwells „1984“ mit einem Warnhinweis versah. Vordergründig erfolgte diese Warnung aufgrund der die Studenten als „beleidigend und verstörend“ empfundenen Inhalte, doch kann man darin durchaus auch jenen von Bradbury beschriebenen Vorgang wiederfinden:

„Die Farbigen mögen Der kleine schwarze Sambo nicht. Verbrennen wir es. Die Weißen haben bei Onkel Toms Hütte kein gutes Gefühl. Verbrennen wir es. Jemand hat ein Buch über Tabak und Lungenkrebs geschrieben? Die Zigarettenindustrie wehklagt? Weg damit. Gleichmut, Montag. Frieden, Montag.“

Wenn uns Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ eines lehrt, dann das: Literatur, das Buch an sich, ist stets eine bedrohte Art. Für seine Gefährdung braucht es keinen totalitären Machtstaat. Es reicht dazu eine gleichgültige Masse, die die verfügte Entmündigung durch die den Zeitgeist bestimmenden Kräfte, glücklich hinnimmt, wobei jene vorschreiben, was man zu lesen hat.

Ray Bradbury
Fahrenheit 451
272 Seiten, 2020
Diogenes
25,- Euro

Hüte dich vor deinen Träumen – Sie könnten wahr werden

„George Orr stand mit aschfahlem Gesicht schwankend im flackernden Neonlicht des U-Bahnwagens, der durch die Finsternis des Zweistromlandes raste, hielt sich, eingekeilt zwischen tausend anderen Menschen, am schaukelnden Stahlgriff eines Gurtes fest. Er spürte das Gewicht, das auf allem lastete, das ihn fortwährend niederdrückte. Ich lebe in einem Albtraum, dachte er, aus dem ich von Zeit zu Zeit schlafend erwache.“ (Ursula K. Le Guin, „Die Geißel des Himmels“)

In ihrer Frühphase war die Science-Fiction eine reine Männerdomäne. Erst ab den 1960er Jahren trat der Wandel ein, für den vor allem US-amerikanische Autorinnen stehen wie Kate Wilhelm und C.J. Cherryh, aber vor allem Ursula K. Le Guin (1929 – 2018). Letztere verfasste nicht nur den aus mehreren Teilen bestehenden, populären Fantasy-Epos vom „Erdsee“, sondern auch eine Reihe hochpolitischer Scifi-Romane wie „Die linke Hand der Dunkelheit“ oder „Planet der Habenichtse“. Aus der Frühphase ihres Schaffens stammt der Roman „Die Geißel des Himmels“ (1971), der im Dezember 2024 in einer überarbeiteten Neuübersetzung seine deutsche Wiederveröffentlichung erfuhr.

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George Orr wird von schlechten Träumen geplagt. Denn er ist fest davon überzeugt, daß sie die Realität verändern. So verschwindet eine nervtötende Tante rückwirkend einfach so aus dem Familienleben, als ob sie nie existiert hätte, einfach weil Orr sich diese Vorstellung nachts erträumt hatte. Ihm ist es gar nicht recht, die Realität auf diese Weise ohne jede Kontrolle aus seinem Unterbewußtsein zu verändern und so versucht er auf medikamentösem Weg, seine Träume zu unterdrücken. Doch die illegale Beschaffung der Medikamente fliegt auf und die Behörden weisen ihn zur therapeutischen Behandlung dem Psychiater William Haber zu. Der findet schnell heraus, daß hinter Orrs realitätsverändernden Träumen mehr als nur Einbildung steht. Doch anstatt seinem Patienten Hilfe zukommen zu lassen, findet er Gefallen an der Idee, diese Gabe der traumwandelnden Schöpfung unter Kontrolle zu bekommen und sie für eigene Zwecke zu mißbrauchen. Doch was anfangs aus guter Absicht geschah, entwickelt sich zu einem Desaster. Der Wunsch, der Not durch die Überbevölkerung ein Ende zu setzen, läßt Milliarden Menschen einfach so verschwinden. Und aus dem Wunsch, Frieden unter den Nationen der Erde herzustellen, entsteht eine außerirdische Invasion, die die kriegerischen Rivalitäten erst zugunsten einer neuen Geschlossenheit beenden läßt. Der Weg, paradiesische Zustände zu erträumen, öffnet stets das Tor zu einer neuen Hölle. Doch Haber läßt es an Einsicht missen, daß er mit einer Kraft hantiert, die das Gute will und dabei doch das Böse schafft. Stattdessen will er sich Orrs Kräfte aneignen und als gottgleicher Weltenschöpfer selbst zur Tat schreiten.

L. Guin läßt in ihren zwei Protagonisten zwei Prinzipien – Gleichgewicht in Harmonie und schöpferische Zerstörung – gegeneinander antreten. Da ist der zurückhaltende Charakter George Orr, der sich vor seiner geheimnisvollen Gabe fürchtet, nicht nur ihrer Folgen wegen und sie am liebsten loswerden will.
Ihm tritt der Wissenschaftler William Haber entgegen, L. Guins Dr. Faustus, unabhängig und ungebunden, der sich außerhalb des Ganzen sieht und dem nun ein Mittel in die Hände gelangt, mit dem er über die wissenschaftliche Beschreibung der Welt hinaus diese zu ihrem vermeintlich Besten sogar radikal verändern kann, ohne dabei die Beschränktheit seines eigenen Horizonts im Blick zu haben und dabei den eigenen Verstand verlieren wird:

„Wenn sich nichts mehr verändert, dann haben wir es mit dem Endergebnis der Entropie zu tun, dem Wärmetod des Universums. Je mehr Dinge sich bewegen, interagieren, aufeinanderprallen, sich verändern, desto weniger Gleichgewicht gibt es – und desto mehr Leben. Ich bin für das Leben, George. (…) Wir stehen kurz davor, zum Wohle der Menschheit eine ganz neue Kraft zu entdecken und zu beherrschen, ein vollkommen neues Feld der anti-entropischen Energie, der Lebenskraft, des Willens zu handeln, etwas zu tun, etwas zu verändern.“

Ihm hält Orr entgegen:

„Wir stehen in der Welt, nicht im Widerspruch zu ihr. Wir können nicht versuchen, außerhalb der Dinge zu stehen, sie auf diese Weise beeinflussen. Das geht einfach nicht, es läuft dem Leben zuwider. Es gibt einen Weg, aber man muss ihm folgen. Die Welt ist, wie sie ist, ganz gleich, wie sie unserer Meinung nach sein sollte. Sie stehen in ihr. Sie müssen sich auf sie einlassen.“

In Orrs Positionierung wird bereits ein wesentlicher Zug in Ursula K. Le Guins Schaffen deutlich, ihre Nähe zum Taoismus, jener uralten chinesischen Philosophie, die auf Harmonie und Gleichgewicht setzt. In dieser Vorstellung gibt es keine objektive Welt, sondern nur eine von der eigenen Subjektivität eingefärbte Illusion: Die Welt ist nur ein großer Traum.

Ursula K. Le Guin
Die Geißel des Himmels
240 Seite, 2024
Carcosa Verlag
22,- Euro

Der Westen hat ein Problem und es ist weder Russland noch China

„Wir müssen zugestehen, dass der Krieg, diese gewalt- und leidvolle Erfahrung, dieses Reich der Dummheit und des Irrtums, zugleich auch ein Realitätstest ist. Der Krieg lässt hinter die andere Seite des Spiegels blicken, in eine Welt, wo Ideologie, statistische Täuschungen, das Versagen der Medien und die Staatslügen – nicht zu vergessen der Verschwörungswahn – allmählich ihre Macht verlieren. Eine schlichte Wahrheit wird zutage treten: Die Krise des Westens ist die treibende Kraft der Geschichte, die wir erleben. Einige wussten das. Nach dem Ende des Krieges wird es niemand mehr leugnen können.“ (Emmanuel Todd, „Der Niedergang des Westens“)

Politisch waren die 1970er Jahre geprägt vom anhaltenden Systemgegensatz zwischen Ost und West. Dabei konnte sich im Westen niemand vorstellen, daß die wie ein fester Monolith erscheinende Sowjetunion als Gegner in naher Zukunft ausfallen könnte. Die Verhältnisse des Kalten Kriegs schienen auf unabsehbare Zeit fortgeschrieben. Und doch traute sich 1976 jemand mit einer gewagten These hervor, die ihn berühmt machen sollte. Emmanuel Todd, französischer Historiker und Anthropologe, legte mit „Vor dem Sturz“ eine statistikbasierte Abhandlung vor, mit der er das baldige Ende der Sowjetherrschaft prognostizierte. Grundlage waren demographische Faktoren wie die in der Sowjetunion steigende Kindersterblichkeit. Todd behielt recht; kaum 15 Jahre später kollabierte die für unbesiegbar gehaltene Sowjetunion und mit ihr ihre Ostblock-Satelliten.

Fast 50 Jahre später wendet der 1951 geborene Todd seine Methode auf einen anderen Gegenstand an und formuliert eine Prognose, die beunruhigender kaum sein könnte: „Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall“. Ausgerechnet der Westen, Vorreiter des technischen Fortschritts und Taktgeber der vor 500 Jahren eingesetzten Globalisierung soll – so wie seinerzeit die Sowjetunion – vor seinem Ende stehen?

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Todd veröffentlichte sein Werk im vorigen Jahr vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und vor dem Wahlsieg Donald Trumps. Der Ukraine-Krieg offenbart Todd zufolge die Schwäche und Krise des Westens, die er sogar noch verstärkt. Weder konnten seine großspurig angekündigten Wirtschaftssanktionen Russland – das sich seit Jahren darauf vorbereitete – in die Knie zwingen, noch gelang es ihm, den Rest der Welt für seine Maßnahmen einzuspannen. Stattdessen entfalteten die Sanktionen eine selbstzerstörerische Wirkung, auch weil sie vom Rest der Welt unterlaufen werden. Auch hält das vom Westen geprägte manichäische Bild vom Krieg in der Ukraine als einem zwischen den Werten der liberalen Demokratie gegen denen der autoritären Putin-Diktatur der von Todd vorgenommenen Überprüfung nicht stand.

Doch zuerst einmal ein paar der von Todd eingeworfenen Fakten aus der „Moralstatistik“, die so kaum in das Bild von Putins Russland als Wiedergänger des sowjetischen „Reichs des Bösen“ passen: In die Phase der Stabilisierung Russlands unter Putin fielen der Rückgang alkoholbedingter Todesfälle, die Selbstmorde und die Tötungen teils drastisch aus. Und mehr noch:

„Was die jährliche Kindersterblichkeitsrate betrifft, so fiel sie von 19 pro 1000 ‚Lebensgeborene‘ im Jahr 2000 auf 4,4 im Jahr 2020 und lag damit unter der amerikanischen Rate von 5,4 (UNICEF). Da dieser letzte Indikator die schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft betrifft, ist er besonders aussagekräftig zur Beurteilung des allgemeinen Zustands.“

Todd resümiert sarkastisch:

„Und ein Land, das eine solche Entwicklung durchgemacht hat, soll sich auf einem ‚langen Abstieg in die Hölle‘ befinden?“

Demgegenüber stellen sich die Verhältnisse in den USA, dem Kernland des Westens, deutlich deprimierender dar. Die Lebenserwartung der US-Amerikaner – insbesondere der Weißen – sinkt deutlich infolge von Alkoholmissbrauch, Suizid und Drogen. Die Zahl der Amokläufe steigt, die der Inhaftierten ist die höchste weltweit. Die einst tragende Mittelschicht ist zersetzt. Und die Kindersterblichkeitsrate – „dieser Vorbote der Zukunft“ – liegt mit 5,4 pro 1000 Lebensgeburten über der Russlands. All das „zeichnet das Bild eines gefallenen Landes“.

Die Ursache für den „unumkehrbaren“ Niedergang des Westens sieht Todd in dem Zerfall der Religiosität in seinen protestantischen Kernländern. Die Entwicklung der Religion im Westen ist Todd zufolge in der Phase des Nullzustands angekommen. Das Verschwinden der Taufe, die Zunahme der Einäscherung, die Einführung der „Ehe für alle“ – all das charakterisiert nach Todd, „dass die bestehende Gesellschaft den Nullzustand der Religion erreicht hat“. Der Zustand des Nihilismus, worin an sich eindeutige Wahrheiten aufgehoben sind, wurde mit der Propagierung der Transsexuellen-Ideologie erreicht.

Der Protestantismus, der noch mit der Alphabetisierung der Massen einen ungeahnten Bildungsfortschritt erlebte, erfährt nun ein deutliches Nachlassen der Bildungsleistung. Am Ende dieses Prozesses steht infolge des Verschwindens einer kollektiven Identität ein geschwächtes Individuum, „das sich nun, da es den Rahmen gemeinsamer Werte nicht mehr hat, destabilisiert fühlt“. Demgegenüber hat Russland „genügend kommunitäre Werte, die weiterbestehen – autoritäre und egalitäre, damit das Ideal einer kompakten Nation überlebt und eine besondere Form des Patriotismus wiederaufleben kann“.

Die USA hingegen sieht Todd durch die Etablierung einer liberalen Oligarchie, die nicht mehr das meritokratische Ideal der Vergangenheit abbildet, nicht mehr als demokratisch an. Seine einst industrielle Dominanz ist dahin. Es verbraucht mehr als daß es produziert und das daraus resultierende Handelsdefizit kann es nur deswegen mit dem Drucken von Dollars decken, weil dieser die Leitwährung der Welt ist.

Neben den weiteren Kernländern des Westens wie Frankreich und Großbritannien widmet Todd auch Deutschland seine Aufmerksamkeit, dem er durch seine Energie- und Migrationspolitik eine ausgeprägte Hybris attestiert, „die zugegebenermaßen besonders originell ist, weil sie jeden militärischen Charakter ausschließt“. Man möchte hinzufügen, daß sich das historisch einmalig hohe Schuldenpaket des Landes, das gerade verabschiedet wurde, perfekt in diese Hybris einfügt bis hinein in seine euphemistische Namensgebung als „Sondervermögen“.

Todd hat mit seinem neuesten Buch ein kontroverses Werk vorgelegt, das die Debatte über den Zustand des Westens durchaus bereichern könnte. Seine Thesen werden vielen nicht gefallen. Wer aus der Elite läßt sich gerne vorhalten, daß die größte Gefahr für den Westen nicht von China und Russland herrührt, sondern von einem unumkehrbaren Zerfall in seinem Inneren? Erst recht nicht seine Einschätzungen über den absehbaren Sieg Russlands im Ukraine-Krieg und die Rolle der Ukraine im Vorfeld des Konfliktes. Widerspruch ist garantiert bei seiner Einschätzung, daß die Ukraine seit dem Maidan 2024 keine Demokratie mehr sei, während er Russland als „autoritäre Demokratie“ relativiert.

Gleichwohl sind seine Formulierungen in der Begründung seiner Kernthese bedächtig. Zudem weist Todd ausdrücklich auf ihren Hypothesen-Charakter hin. Gleichwohl, die Feststellung vom „religiösen Nullzustand“ in den westlichen Gesellschaften ist evident und auch außerhalb Todds gut abgesichert. Erst kürzlich reüssierte der Theologe Jan Loffeld mit seinem über Kirchenkreise hinaus diskutierten Buch „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt“ über die weitgehende Entchristlichung in Deutschland. Und damit wären wir an einer entscheidenden Leerstelle bei Todd angelangt: Was wird das Vakuum füllen, das das Verschwinden des Christentums erzeugt? Hierin liegt der „blinde Fleck“ bei Todd, das Fehlen jeglicher Erörterung über die Massenmigration, vor allem aus dem islamischen Raum, und ihrer Folgen für die Zukunft des Westens.

Dennoch: „Der Westen im Niedergang“ wirft eine wichtige Frage auf, die gestellt werden sollte, bevor hemmungslos die Ressourcen verschwendet werden für die Aufrüstung gegen einen Feind, der nach Todd nicht die eigentliche Bedrohung darstellt, zu der er hierzulande massiv hochgeschrieben wird: Was ist nach dem „Tod Gottes“ eigentlich überhaupt noch die kollektive Identität und Idee der westlichen Akteure, mit denen sie sich behaupten wollen in einer multipolaren Welt, die eben nicht der westlichen Utopie der regelbasierten Kooperation der Staaten?

Emmanuel Todd
Der Westen im Niedergang

Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall
352 Seiten, 2024
Westend Verlag
28,- EUR

 

Die Einsamkeit des tschechischen Langstreckenastronauten

Der etwas sperrige und merkwürdige Titel dieses Romans weckt Neugier: „Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt“ – was mag der tschechische Autor Jaroslav Kalfar dahinter verborgen haben? Tschechien ist nicht als Raumfahrtnation bekannt, eher schon für gutes Bier. Und doch, wenn man einmal angefangen hat darin zu lesen, dann eröffnet sich eine der vielfältigsten und beeindruckendsten Geschichten der letzten Jahre, ein Roman, der es verdient hat, zu den besten Neuerscheinungen der letzten Jahre gezählt zu werden. Selten zuvor habe ich ein Buch gelesen, in dem derart virtuos die Genres vermischt werden: Hier erwartet den Leser Science-Fiction, in Form einer Tragödie, Satire und Groteske, mit einer Achterbahnfahrt der Emotionen.

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Doch worum geht es? Ein unerwartetes kosmisches Phänomen in der Nähe der Venus – genannt die Chopra-Wolke – weckt den Tatendrang der tschechischen Nation. Da keine der traditionellen Raumfahrtnationen diese Erscheinung näher in Augenschein nehmen will, entschließt sich ausgerechnet diese kleine Nation zu einer einmaligen Raumfahrtmission, finanziert durch Merchandising und Productplacement. Von einem Kartoffelacker steigt die Raumsonde JanHus1 – benannt nach dem gleichnamigen Nationalhelden (wie hätte es anders sein können?) – ins All. An Bord befindet sich nur ein Astronaut, der Astrophysiker Jakub Procházka.

Doch Procházkas Aufbruch in die Weiten des Weltalls birgt so seine Tücken. Spannungen brechen auf zu seiner auf der Erde zurückgelassenen Partnerin Lenka. Und nach einiger Zeit überkommt den einsamen Astronauten ein eigenartiges Gefühl. Kann es sein, daß da noch jemand in der Raumsonde ist? Tatsächlich: Der blinde Passagier entpuppt sich als ein Außerirdischer mit dem Aussehen einer menschengroßen Spinne. Lange hat sie Procházka studiert. Hanus ist der Name des rätselhaften Wesens mit der Vorliebe für Nutellaaufstrich.

Procházka hält seine Entdeckung vor der Bodenstation geheim. Für ihn beginnt mit seinem unerwarteten Gefährten ein Abenteuer, das das ursprüngliche Ziel der Mission weit übertrifft. Hanus erwartet in der Chopra-Wolke die Bestimmung seines Lebens, während für Prochàzka die Reise hier noch lange nicht zu Ende sein wird.

Jaroslav Kalfar hat mit seinem Debüt „Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt“ einen äußerst vielschichtigen Roman vorgelegt. Es ist nicht allein eine Abenteuergeschichte, verarbeitet werden auch sehr ernste Themen der tschechischen Zeitgeschichte: Die Sünden der Väter in der kommunistischen Diktatur und ihre nachfolgende Aufarbeitung, die schmerzvolle Konfrontation mit dem Leiden ihrer Opfer, die kapitalistische Transformation mit ihren korrupten Begleiterscheinungen – in all das ist Kalfars Protagonist Procházka auf teilweise tragische Weise biographisch eingebunden.

Netflix hat im vergangenen Jahr Kalfars Roman unter dem Titel „Spaceman“ verfilmt. Hollywoodgerecht für den Massengeschmack wurde es um viele seiner Elemente entkernt auf eine Schmonzette mit Happy End, die kaum das Gefallen des Autors gefunden haben dürfte. Wer das Buch kennt, kann hiernach nur enttäuscht sein. Immerhin, Hauptdarsteller Adam Sadler, sonst nur bekannt für seichte Comedy, lieferte einen der ernsteren Auftritte seiner Laufbahn ab.

YT-Clip: Netflix-Trailer „Spaceman“

Das Beste an „Spaceman“ ist der von Max Richter komponierte Soundtrack, der in der melancholischen Wirkung seines Themas vielleicht eher dem Buch näherkommt als seiner Verfilmung.

YT-Clip: Spaceman 2024 Soundtrack | Reflected in Her Eyes – Max Richter
Jaroslav Kalfar
Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt
368 Seiten, TB, 2024
Tropen Verlag
14,00 EUR

 

Der Planet, der die Menschen in den Wahnsinn treibt

„Also was ist das?“ fragte ich, nachdem ich ihn geduldig angehört hatte.
„Das, was wir gewollt haben: der Kontakt mit einer anderen Zivilisation. Da haben wir den Kontakt! Übersteigert, wie unter dem Mikroskop – unsere eigene monströse Häßlichkeit, unsere Albernheit und Schande!“ Ihm zitterte die Wut in der Stimme. („Solaris“, Stanislaw Lem)

Als Stanley Kubrick 1968 sein visionäres Scifi-Meisterwerk „2001: A Space Odyssey“ in die Kinos brachte, wurde der Film zur Inspiration und zum Vorbild nachfolgender Filmemacher. Sein Bruch mit den konventionellen Erzähltechniken, seine realistischen Darstellungsweisen und das Wagnis, das Publikum auch mit philosophischen Fragen herauszufordern setzten vollkommen neue Maßstäbe in der Filmproduktion. Ohne „2001“ wäre Star Wars nicht denkbar gewesen. Doch nicht nur in Hollywood, auch in der Sowjetunion begann man Kubrick nachzueifern. Dort gelang Regisseur Andrei Tarkowski (1932 – 1986) mit dem 1972 veröffentlichten Film „Solaris“ ein außergewöhnlicher Wurf.

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Screenshot „Solaris“: der denkende Ozean.

„Solaris“ geht auf die gleichnamige Romanvorlage des polnischen Scifi-Schriftstellers Stanislaw Lem (1921-2006) zurück, der damit 1961 seinen internationalen Durchbruch schaffte und so einen der wichtigsten Klassiker der Science-Fiction schuf. In seinem Mittelpunkt steht der Planet Solaris, der vollständig von einem Ozean aus einer gallertartigen Substanz bedeckt ist. Es scheint, als sei dieser Ozean ein denkendes Wesen, um das sich rätselhafte Dinge ereignen. Sämtliche Kommunikationsversuche seitens der Menschen scheitern. Die Mannschaft der Solaris umkreisenden Station ist von 85 auf zwei Mann geschrumpft. Die Solaris-Forschung steht nach Jahrzehnten der Erfolglosigkeit an einem Kipppunkt. Der Psychologe Kris Kelvin unternimmt den letzten Versuch der Erde, die Vorgänge auf dem Planeten aufzuklären.

Kelvin bietet sich ein deprimierendes Bild. Bei seinem Eintreffen steht kein Empfangskomitee bereit. Die Einrichtung der Station ist verwüstet. Übrig sind nur noch die Wissenschaftler Snaut und Sartorius. Kelvins Freund Gibarian hatte erst kürzlich Suizid begangen. Kryptisch bereitet Snaut den Neuankömmling auf die Ankunft von „Gästen“ vor. Und genau so ergeht es Kelvin: Am nächsten Morgen findet er in seinem Zimmer seine Ehefrau Hari vor. Doch Hari ist längst tot, gestorben durch Suizid. Und auch diese Hari weist an ihrem Arm die Einstichstelle der tödlichen Injektion auf. Etwas geht auf der Station vor, daß sich der Erkenntnisfähigkeit des Menschen entzieht. Sieht so der Erstkontakt zu einer außerirdischen Intelligenz aus?

Screenshot „Solaris“

Der vollkommen fassungslose Kelvin lockt Hari 2 in eine Kapsel, um sie von der Station zu entfernen. Doch am nächsten Morgen steht sie nach dem Erwachen wieder vor ihm. Es scheint, als kommuniziere der Ozean auf eine besondere Weise mit den Stationsangehörigen, indem er in ihrem Schlaf ihre Psyche scannt und daraus die Menschen bildet, die darin am stärksten verankert sind. Hari 2 erweist sich, wie die „Gäste“ der anderen, als extrem anhänglich. Sie bluten, doch scheinen sie unzerstörbar. Der Suizidversuch von Hari 2 durch die Einnahme von Flüssigsauerstoff schlägt fehl, die Regeneration ihres Körpers setzt sofort ein. Ihre Existenz ist jedoch an die unmittelbare Nähe zu Solaris gebunden.

Screenshot „Solaris“: Hari (Natalja Bondartschuk) und Kris Kelvin (Donatas Banionis)

In ihren Empfindungen und ihrem Wesen scheint Hari 2 mit ihrem Vorbild identisch zu sein. Macht sie das menschlich wie das Original? Für Kelvin beginnt eine qualvolle Auseinandersetzung mit seiner von Schuldgefühlen behafteten Vergangenheit und seiner Beziehung zu Hari.

Tarkowski inszenierte „Solaris“ unspektakulär, ohne großartige Effekte, als ein rund dreistündiges pessimistisches Epos. Viele Szenen spielen sich auf der Erde ab. Seine Hauptdarsteller Donatas Banionis als der seelisch gebrochene Psychologe Kelvin und Natalja Bondartschuk als seine depressive Ehefrau Hari ergeben in ihrer komplex-tragischen Beziehung ein hervorragendes Duo.

Screenshot „Solaris“: Hari (Natalja Bondartschuk) und Kris Kelvin (Donatas Banionis)

So wie in seiner literarischen Vorlage, so ist auch in dieser Verfilmung nicht viel Platz für das ideologische Fortschrittskonzept des sowjetischen Systems. Umso erstaunlicher, daß „Solaris“ überhaupt in den Verleih kam und sogar als sowjetischer Beitrag bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes vorgestellt wurde, wo er einen Spezialpreis erhielt. Das Heyne-Kompendium „Der Science Fiction Film“ (1983) verband sein Lob mit dem Bedauern: „Leider ist ein derart intellektueller SF-Film wie Solaris ein Ausnahmefall für das fast ausschließlich angloamerikanisch geprägte Genre.“

Gleichwohl zerstritt sich Lem schon während der Dreharbeiten mit Tarkowski, weil der ihm den Schwerpunkt zu sehr auf die Beziehung Kelvin-Hari gelegt hätte. Für Tarkowski selbst, einem der bedeutendsten Filmemacher der Sowjetunion, wurde „Solaris“ zu einem Meilenstein seiner Laufbahn. 1979 schloss sich unter seiner Regie mit „Stalker“ eine weitere dystopische Verfilmung eines Scifi-Romans an. „Solaris“ selbst wiederum erfuhr 2002 eine weitere Verfilmung, dieses Mal mit George Clooney in der Hauptrolle.

Im vergangenen Februar erschien eine neue, digital überarbeitete Fassung von „Solaris“ auf DVD und Blu-ray. Im Bonus enthalten sind ein Audiokommentar des Filmwissenschaftlers Dr. Rolf Gießen und ein rund halbstündiger Beitrag von Dr. Michael Rosenhahn über „Solaris als Grundfrage der Philosophie“, als die Widerspiegelung des Streits um die Konzepte von Idealismus und Materialismus. Es steckt mehr in „Solaris“ als nur ein menschliches Beziehungsdrama.

YT-Trailer „Solaris“

 

SOLARIS
Special Restored Edition (Filmjuwelen / DEFA Science Fiction)

UdSSR, 1972
2 h: 40 min
Auf DVD und Blu-ray

Es braut sich was zusammen über Montana

Dean Koontz gehört zu den erfolgreichsten Autoren phantastischer Literatur aus den USA. 1945 in Everett, Pennsylvania geboren, betätigt er sich seit Ende der 1960er Jahre als freier Autor, zuerst noch unter verschiedenen Pseudonymen, seit den 1980ern durchgehend unter seinem eigenen Namen. Wikipedia beziffert seine Auflage verkaufter Bücher auf die enorme Zahl von 500 Millionen Exemplaren. Einer seiner letzten auf Deutsch veröffentlichten Romane ist der Mystery-Thriller „Der dunkle Himmel“ aus dem vorigen Jahr.

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Merkwürdige Dinge gehen darin vor sich. Scheinbar außer Kontrolle geratene Killersatelliten falten ganze Häuser zusammen. Tiere verhalten sich sonderbar. Und aus dem Fernseher und dem Telefon sprechen die Toten zu ihren Angehörigen. Eine davon ist die junge Schriftstellerin Joanna „Jojo“ Chase, deren längst verstorbene Mutter die mysteriösen Worte zu ihr spricht: „Ich bin an einem dunklen Ort, Jojo. Bitte komm und hilf mir.“

Der Ausgangspunkt all dieser Vorfälle deutet auf eine alte Ranch im US-Bundesstaat Montana hin, dem früheren Zuhause in Jojos Kindheit, bevor ihre Mutter und ihr Vater kurz hintereinander auf tragische, beziehungsweise grausige Art ums Leben kamen. Dort, an einem einsamen See, scheint es alles andere als wildromantisch zuzugehen, so wie es dem Klischee von Montana entsprechen müßte. Doch wer steckt hinter all diesen merkwürdigen Ereignissen? Ist es der sadistische Serienkiller Asher Optime, der in einer Geisterstadt in der Nähe gerade zwei seiner Opfer quält und davon träumt, die in seinen Augen parasitäre Menschheit zur Gänze von der Erde zu tilgen? Oder ist es sein Spiritus Rektor, der Sektenführer Xanthus Toller? Und was weiß der mißgestaltete Jimmy, Jojos Freund aus Kindheitstagen? Oder ist in Wahrheit eine viel größere Kraft am Wirken, die seit sehr langer Zeit aus dem Verborgenen heraus die Menschen beobachtet und dabei ist, ihr unerbittliches Urteil über sie zu fällen? Der in den Diensten der US-Regierung im Geheimen agierende Tech-Milliardär Gesh Patel versucht die Fäden, die alles miteinander verbinden, aufzudecken.

Koontz Plot bietet durchaus Spannung, weist aber auch Schwächen auf. Einige Wendungen kommen allzu glatt und plump daher. Und das größte Manko sind zu viele parallele Erzählstränge, die erst am Ende des 474 Seiten umfassenden Romans im Finale einer sturmumtosten Nacht unter einem wahrhaft „dunklen Himmel“ zusammenlaufen. Das Ganze noch versehen mit einem pseudowissenschaftlichen Anstrich über „Synchronizität“, ein auf den Psychoanalytiker C.G. Jung zurückgehender Begriff über „zeitlich korrelierende Ereignisse, die nicht über eine Kausalbeziehung verknüpft sind (die also akausal sind), jedoch als miteinander verbunden, aufeinander bezogen wahrgenommen und gedeutet werden. (Wikipedia)“

Koontz erreicht leider nicht das Niveau eines Sebastian Fitzek oder Andreas Eschbach, die es immer wieder schaffen, jedes Kapitel mit einem Cliffhanger zu beenden, der die Lust auf den Rest der Geschichte antreibt. Bei Koontz bleibt es in zu oft vorhersehbaren Bahnen, die gleichwohl für Fans des Genres durchaus unterhaltsam sein können.

Dean Koontz
Der dunkle Himmel
480 Seiten, 2024
Festa Verlag
16,99 EUR

Partisanenkampf gegen Besatzer

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/25 / 07. March 2025

Filmkritik / Red Dawn
Partisanenkampf gegen Besatzer
Daniel Körtel

Als in den 1980er Jahren der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion in eine neue Phase eintrat, blieb auch Hollywood nicht außen vor. „Red Dawn“ (Die rote Flut) von John Milius aus dem Jahr 1984 war wohl der bedeutendste Film dieser Zeit, der sich im Stil eines heroischen Actionfilms dieser ideologisch-militärischen Auseinandersetzung widmete. Darin werden die USA in einem Überraschungsangriff von sowjetischen und kubanischen Truppen teilweise besetzt.

In einer beschaulichen Kleinstadt in Colorado landen Fallschirmjäger auf dem Footballfeld einer Highschool, eröffnen ohne Vorwarnung das Feuer und verwandeln die Stadt in ein Kriegsgebiet. Jed Eckert, dargestellt von dem 2009 verstorbenen Patrick Swayze, sein jüngeret Bruder Matt (Charlie Sheen) und weitere Jugendliche (darunter Jennifer Grey) fliehen in die Wildnis, um dort anfangs widerstrebend einen Partisanenkrieg gegen die Besatzer zu entfachen. Sie nennen sich „Wolverines“ (Vielfraße), gegen deren Aktionen die Besatzer mit aller grausamen Härte auch gegen unbeteiligte Zivilisten vorgehen.

Als der Film in die deutschen Kinos kommen sollte, erhob sich schon vorab der Protest aus der Friedensbewegung, die ihre Kritik stets lieber gen Westen statt nach Osten richtete. Es kam zu Säureattentaten und Farbbeutelwürfen gegen Kinos; Zuschauer beklatschten die sowjetischen und kubanischen Invasoren. Landesweit nahmen die Kinobetreiber den Film aus dem Programm. Es war, wie ein Beobachter schrieb, als sei die rote Flut längst da.

YT-Clip Intro „Red Dawn“ (1984)

Nun ist „Red Dawn“ in einer technisch verbesserten Fassung ohne Jugendfreigabe neu auf DVD erschienen. Was diese Version unter anderem so besonders macht, ist die Wiederaufnahme des vollständigen Intros, aus dem in der deutschen Kinofassung ein Detail herausgeschnitten wurde. Darin stellte man das seinerzeit irreal erscheinende und gegen die USA gerichtete Szenario vor, wonach die den Abzug der Kernwaffen aus Europa fordernden Grünen in Westdeutschland die Mehrheit errungen hätten. Ironie der Geschichte: 40 Jahre später ist es der einstige politische Arm der Friedensbewegung, der sich heute besonders stark für die erneute Stationierung von US-Mittelstreckenraketen einsetzt, und zwar mit dem gleichen Argument der Abschreckung gegenüber Rußland, das die Grünen damals so vehement ablehnten.

DVD/Blu-ray: Red Dawn. Capelight Pictures 2024, Laufzeit etwa 109 Minuten

Der amerikanische Traum ist (noch) nicht tot

Ich war eines dieser Kinder mit einer trostlosen Zukunft. Ich hatte die High School fast nicht geschafft. Ich hätte mich fast der tiefsitzenden Wut und Verbitterung ergeben, die alle in meinem Umfeld erfasst hatte. Heute sehen mich die Leute an, sie sehen meine Arbeit und das Diplom einer Eliteuniversität, und sie gehen davon aus, dass ich eine Art Genie bin. Ich halte diese Theorie – bei allem Respekt für diese Leute – für ganz großen Blödsinn. Welche Talente ich auch haben mag, ich hätte sie beinahe verschwendet, wenn mich nicht einige liebevolle Menschen gerettet hätten.“ (J.D. Vance, „Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“)

Mir fällt auf Anhieb kein anderes Buch aus den USA ein, das in den vergangenen Jahren auch auf unserer Seites des Atlantiks so erfolgreich war, für so viel Aufsehen sorgte, wie „Hillbilly-Elegie“ von J.D. Vance. In seiner 2016 erschienenen Autobiographie schildert der heutige amerikanische Vizepräsident seinen kaum fassbaren Aufstieg aus der Armut im mittleren Westen der USA zu einem erfolgreichen Anwalt mit Abschluß der Elite-Universität Yale.

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Auch Noch-Kanzler Scholz lobte das Buch als eine „berührende persönliche Geschichte“. Sein Lob dürfte er spätestens zu Vance spektakulärem Auftritt auf der Münchener Sicherheitskonferenz zutiefst bereut haben, nicht allein, weil Vance den Europäern die Abkehr von demokratischen Werten vorhielt, sondern ausgerechnet lieber der Oppositionspolitikerin Alice Weidel den Vorzug für ein Gespräch gab, als ihm, dem absehbaren Kanzler auf Abruf.

Gerade deswegen, weil gerade so viele Dinge in Washington – und davon beeinflußt – auch hier in Bewegung geraten, war es für mich endlich an der Zeit, Vances Biographie, die schon einige Monate im Stapel der ungelesenen Bücher verschwunden war, endlich zur Lektüre hervorzuholen. Es war schon längst überfällig.

Für Vance konnte es kaum einen schlechteren Ort geben, um geboren zu werden, als Middletown im US-Bundesstaat Ohio, kein ungeeigneteres Milieu, um aufzuwachsen, als das der Hillbillys. Die Hillbillys sind die Abkömmlinge ulster-schottischer Emigranten, die sich vor allem im Bereich der Appalachen angesiedelt haben. Sie zeichnen sich nicht nur durch ihre eng verzahnten Großfamilienverbände aus. Sie sind ebenso bekannt für die Kultivierung von gewissen problematischen Verhaltensweisen, die ihnen vor allem in den heutigen Zeiten das Fortkommen sehr schwer machen.

In diese Verhältnisse wurde J.D. Vance 1984 hineingeboren. Geordnete Familienverhältnisse konnte er unter seiner Mutter nie erfahren, bei der die Lebenspartner in einer „Drehtür der Vaterfiguren“ ein und aus gingen. Sein leiblicher Vater gab ihn zur Adoption frei. Der familiäre Alltag war geprägt von Gewalt und Aggression. Seine Mutter kam kaum mit ihrem Leben klar und am wenigsten mit der Verantwortung für ihre zwei Kinder – ein Leben zwischen Landminen: „ein falscher Schritt und Rumms“. Zwar schaffte sie immerhin die Ausbildung zur Krankenschwester, jedoch hielt sie es kaum bei einer Stelle aus. Später verschärfte Heroin ihr alkoholbedingtes Suchtproblem.

Zum rettenden Anker für den jungen Vance wurden die im üblichen Slang Mamaw und Papaw genannten Großeltern mütterlicherseits, die ihm Halt und Geborgenheit gaben, vor allem die Großmutter, eine verrückte Waffennärrin, die sehr schnell ungemütlich werden konnte. Sie waren Menschen ohne Schulabschluß, die in ihrem Leben hart kämpfen mußten. Vor allem die Großmutter motivierte den Jungen, trotz seiner Lernschwierigkeiten in der Schule am Ball zu bleiben. Wenn J.D. jemanden zu Dank verpflichtet ist, dann diesen Menschen:

Meine Großeltern – Mamaw und Papaw – waren fraglos und uneingeschränkt das Beste, was mir hätte passieren können. Sie verbrachten die letzten beiden Jahrzehnte ihres Lebens damit, mir den Wert von Liebe und Verlässlichkeit zu zeigen und die Lehren fürs Leben mit auf den Weg zu geben, die die meisten Kinder von ihren Eltern bekommen. Beide haben dazu beigetragen, dass ich das Selbstvertrauen und die Möglichkeiten bekam, um eine reelle Chance auf den amerikanischen Traum zu haben.

Nach der High-School kam die ebenso prägende Dienstzeit bei den Marines, die Vance Disziplin vermittelten. Zwar war er nicht in direkte Kampfeinsätze eingebunden, aber er lernte im Irak die Schlachtfelder der Moderne aus nächster Nähe kennen. Und nicht zu vergessen: Seine Funktion als Presseoffizier dürfte ihm eine wertvolle Lehrzeit für seine spätere politische Karriere gewesen sein.

Unerwartet erhielt er nach seiner Armeezeit durch ein Stipendium für ärmere Studenten die Möglichkeit zum Jura-Studium an der Elite-Universität Yale. Es sollte sich als ein weiterer glücklicher Eckstein seiner Biographie erweisen. Hierüber erhielt er Zugang in die ihm bis dahin vollkommen ferne Welt der Oberschicht. Geradezu humorvoll lesen sich jene Passagen, in denen er beschreibt, wie er vollkommen hilflos ohne Kenntnis der Etikette die Sphären dieser ihm so fremden Welt betritt. Es muß vor allem wie ein Kulturschock für ihn gewesen sein, über seine Frau ein Familienleben kennenzulernen, das so viel anders – stabiler, ruhiger und freundlicher – als das war, was er erlebt hatte.

Was sich für Vance erfüllt hat, ist nicht mehr und weniger als der amerikanische Traum: Der Aufstieg aus den ärmsten Verhältnissen aus eigener Kraft. Ohne jede Scheuklappe benennt Vance die Ursachen der Krise der weißen Arbeiterschicht, die vielen anderen gleicher Herkunft diesen Aufstieg verwehrt. Es ist nicht allein die Deindustrialisierung; es sind vor allem die extrem prekären Familienverhältnisse, unter denen die Kinder nicht jenes soziale Kapital erwerben können, das allein für ein normal erfolgreiches Leben notwendig ist. Stattdessen schiebt man die Schuld lieber auf andere, rutscht in die Kriminalität ab und versucht seine Not mit Drogen zu dämpfen.

Der Staat erweist sich kaum als Hilfe und bewirkt oft das Gegenteil, indem er die Möglichkeit zum Sozialbetrug eröffnet. Der Glaube an den Wert harter Arbeit ist weitgehend verloren gegangen. Oder die Bürokratie erweist sich als Hürde dort, wo naheliegende Lösungen möglich wären. Für Vance muß die Rettung aus dieser Misere in erster Linie aus einer Verhaltensänderung der Gruppe selbst kommen:

Wenn ich gefragt werde, was ich an der weißen Arbeiterschicht am liebsten ändern würde, sage ich: „Das Gefühl, daß unsere Entscheidungen keine Folgen haben.“

Vance Autobiographie ist vor allem jungen Menschen zu empfehlen, die oftmals in Selbstzweifeln vor ihrem weiteren Lebensweg stehen, vor allem wenn sie mit Problemen zu kämpfen haben, die ihnen kaum Platz für Zukunftsoptimismus lassen. Sicherlich wird es nicht jedem den Weg an die Spitze weisen. Aber vielleicht eine Vorstellung davon geben, was möglich ist, wenn man sich nicht von widrigen Verhältnissen niederdrücken läßt.

Doch auch auf aktueller politischer Ebene trägt dieses Buch einiges bei zum Verständnis des Politikers Vance, der sich einen „modernen Konservativen“ nennt: Sein Herz hängt zuerst an seinem eigenen Land, seinen eigenen Landsleuten, deren Wohlergeben er als erstes im Fokus hat. Seine Wurzeln, seine Verbundenheit zu den Menschen seiner Herkunft hat er nie abgelegt, hat er nie verleugnet. Und genau das dürfte einer der wichtigsten Gründe dafür sein, warum „der Mann aus den Bergen“ in der Trump-Administration zu den treibenden Kräfte gehört, die den Ukraine-Krieg endlich hinter sich lassen wollen, so wie er es vergangene Woche in der denkwürdigen Presserunde im Oval Office gegenüber dem ukrainischen Präsidenten Selensky der ganzen Welt drastisch vorgeführt hat. Seine Landkarte der Welt dürfte in erster Linie die USA umfassen, nicht aus einem kleingeistigen Provinzialismus heraus, sondern weil er die Ängste, Sorgen und Nöte der Menschen, denen er als zweithöchster Repräsentant seines Staates zuerst verpflichtet ist, aus erster Hand kennt.

Genau das ist es, was jeder Politiker der kommenden Bundesregierung vor Augen haben sollte, wenn er mit den Vertretern des „neuen Sheriffs“ in Washington zusammentrifft. Es wäre dem voraussichtlichen Bundeskanzler Merz dringend angeraten, die Lektüre der „Hillbilly-Elegie“ nachzuholen, falls er es noch nicht getan hat, um ein besseres Verständnis seiner neuen Partner in Washington zu erhalten. Besser wäre es.

J.D. Vance
Hillbilly-Elegie
Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise
304 Seiten
Yes Publishing, 2024
24,- EUR