Der Riss durch Englands Seele

Es war ein Paukenschlag, wie ihn keiner erwartet hatte: Am 23. Juni 2016 stimmte in einem historischen Referendum eine knappe Mehrheit von 51,89 Prozent der Briten für den Brexit, den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Gemeinschaft. Nach langwierigen Verhandlungen zwischen London und Brüssel wurde dieser Austritt am 31. Januar 2020 vollzogen.

Watch: the moment Britain left the European Union (Youtube)

Vielfach rätselte man außerhalb Großbritanniens, vor allem in der EU selbst, über die Gründe und Motive der Briten für das Ergebnis dieses Referendums. Vor allem die Deutschen, für die die EU den Stellenwert eines „goldenen Kalbs“ hat, unterstellten irrationale Gründe. Aber auch in Großbritannien selbst ging man auf Ursachenforschung, akademisch aber auch literarisch. Den überzeugendsten Versuch, den Brexit mittels eines Romans zu erklären, unternahm bereits 2018 der englische Schriftsteller Jonathan Coe mit „Middle England“.

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Im Brexit verdichteten sich die gesellschaftlichen Gegensätze Großbritanniens – vor allem in England – in einer politischen Fragestellung, die nur scheinbar mit dem eigentlichen Gegenstand zu tun haben schien. Stadt gegen Land, Arbeiter gegen Akademiker, prosperierender Süden gegen abgehängten Norden, oder – um die von dem britischen Journalisten David Goodhart formulierten Begriffe zu verwenden – um den Konflikt zwischen Anywheres und Somewheres, zwischen den hochqualifizierten und kosmopolitisch eingestellten urbanen Eliten gegen die auf ihrer jeweiligen lokalen Ebene verwurzelten, traditionellen Milieus. Und nirgendwo ist dieses Milieu stärker präsent, hat entschiedener für den Brexit gestimmt, als in Middle England, der Kernregion der britischen Insel mit seinem Zentrum Birmingham.

Über einen Zeitraum von acht Jahren, beginnend von April 2010 an, verwebt Coe kunstvoll die Geschichte mehrerer Protagonisten eines weitverzweigten Familiengeflechts bis zum September 2018, um dem Leser die Veränderungen im Land zu vermitteln, die das Referendumsergebnis bestimmten.

Doch warum beginnt Coe seine Geschichte des Brexit ausgerechnet im April 2010? Damals vollzog sich eine außergewöhnliche innenpolitische Zäsur, als der Labour-Premier Gordon Brown in der Unterhauswahl abgelöst wurde durch den Tory David Cameron, der später das Brexit-Referendum in Gang setzen sollte. Hauptursächlich für Labours Machtverlust war ein eklatanter Fehltritt Browns im Wahlkampf, nachdem er einer einwanderungskritischen Wählerin hinterrücks bescheinigte, „bigot“ – engstirnig bzw. borniert – zu sein. Was Brown nicht bedachte: Ein Mikro nahm seine Worte auf, die sich anschließend über die Medien wie ein Lauffeuer verbreiteten. Damit war das von seinem Amtsvorgänger Tony Blair initiierte Fortschitts-Projekt „New Labour“ auf einem Schlag am Ende, ohne daß sich die Partei bis heute davon erholt hat.

Coes Protagonisten sind wie in einem Netzwerk miteinander verbunden, ohne daß diese Verbindungen künstlich aufgeblasen wirken oder der Leser den Überblick verliert. Ihre Handlungen bedingen einander, das Verhalten eines Einzelnen wirkt sich fast auf das gesamte Netzwerk aus.

Greifen wir das junge Ehepaar Ian und Sophie heraus: Sophie ist Dozentin an einer Hochschule, während Ian als Fahrlehrer Nachschulungen für Verkehrssünder gibt. Nachdem Ian infolge der Unruhen im August 2011 verletzungsbedingt in einem Krankhaus in Birmingham stationär behandelt wird, kümmert sich Sophie um seine Mutter Helena. Es kommt der Augenblick, wo sich zwischen beiden der entscheidende Riss auftut, der das Land spaltet:

„Er hatte ganz recht. ,Ströme von Blut.‘ Er war der Einzige, der den Mut hatte, es auszusprechen.“

Sophie erstarrte, als sie diese Worte hörte, und die Plattitüden erstarben ihr auf den Lippen. Das Schweigen, das sich jetzt zwischen ihr und Helena ausbreitete, war abgrundtief. Da war es also. Das Thema, das nicht diskutiert werden sollte, nicht diskutiert werden durfte. Das Thema, das die Menschen mehr als jedes andere spaltete, mehr als jedes andere ängstigte, denn wenn man es anschnitt, legte man die eigenen Kleider ab und zog auch dem anderen die seinen aus, sodass beide gezwungen waren, den anderen nackt zu sehen, ungeschützt, und ohne den Blick abwenden zu können. Was immer sie in diesem Moment zu Helena sagte – so es denn ihre eigenen, abweichenden Ansichten widerspiegelte -, es würde gleichzeitig bedeuten, sich der furchtbaren Wahrheit zu stellen: dass Sophie (und alle, die so dachten wie sie) und Helena (und alle, die so dachten wie sie) zwar gemeinsam im selben Land lebten, sich aber gleichzeitig in ihrem jeweils eigenen Universum befanden, getrennt durch eine unendlich hohe, undurchdringliche Wand, eine Wand aus Furcht und Misstrauen und – wer weiß? – vielleicht auch aus jenen englischsten aller Eigenschaften, nämlich Scham und Befangenheit.

Coe spielt hier auf eine der bedeutendsten Reden der britischen Geschichte des 20. Jahrhunderts an, die der britische Politiker Enoch Powell 1968 in Birmingham hielt. Powell warnte darin vor den fatalen Folgen der anhaltenden Einwanderung. Obwohl ihn diese Rede seine politische Karriere kostete, fand sie bis heute ihren Nachhall, weil sie nicht wenige als visionär empfinden.

Helena wählte die konservativen Tories, doch weniger aus Überzeugung. Aus ihrer tiefen Abneigung gegenüber den politischen Eliten macht sie keinen Hehl:

„Wählen ist reine Zeitverschwendung geworden, da alle Politiker dieselben modischen Ansichten vertreten. Natürlich habe ich Mr. Cameron gewählt, aber ohne jede Begeisterung. Seine Werte sind nicht unsere Werte. Tatsächlich weiß er über unsere Werte ebenso wenig Bescheid wie seine politischen Gegner. Sie stehen alle auf derselben Seite – und das ist nicht unsere Seite.“ (…)

„Die Menschen in Mittelengland haben Mr. Cameron gewählt, weil sie keine echte Wahl hatten. Die Alternative war undenkbar. Aber sollten wir je die Gelegenheit bekommen, ihn wissen zu lassen, was wir wirklich von ihm halten, dann, glauben Sie mir, werden wir sie ergreifen.“

Sie sollte ihre Chance dazu bekommen.

Doch auch zu Ian tut sich für Sophie ein Riss auf, als er bei einer Beförderung zugunsten seiner asiatischen Kollegin zurückgesetzt wird. Sind ihr Migrationshintergrund und ihr weibliches Geschlecht die zwei entscheidenden förderungswürdigen Merkmale, die jeden einheimischen weißen Mann ins Hintertreffen geraten lassen?

Aber auch die progressive Sophie droht in den Mahlstrom der Political Correctness zu geraten, nachdem sie mit einer banalen Bemerkung zu einer transgeschlechtlichen Studentin einen – für sie vollkommen unverständlichen – Kreuzzug der woken Bewegung gegen sich entfacht. Wortführerin ist ausgerechnet Coriander, die Tochter von Doug, einem liberalen Journalisten und alten Schulfreund ihres Onkels Benjamin. Ian hält Sophie ihre Doppelmoral vor:

„Ich weiß genau, was das bedeutet. Was du Respekt für Minderheiten nennst, bedeutet im Wesentlichen, dem Rest von uns den Stinkefinger zu zeigen. Von mir aus, beschütze doch deine kostbaren … Transgender-Studenten vor den schrecklichen Dingen, die die Leute über sie sagen. Pack sie ruhig in Watte. Aber was ist, wenn man weiß, männlich, heterosexuell und Mittelklasse ist, hm? Dann können die Leute über einen sagen, was sie wollen, verfluchte Scheiße.“ (…)
lan sah sie direkt an und sagte in bitterem Ton: „Du hast keine Ahnung, nicht wahr?“
„Keine Ahnung wovon?“
„Davon, wie wütend uns das macht, dieses moralische Überlegenheitsgetue, das ihr alle ständig -“
Sophie unterbrach ihn. „Entschuldige, aber wer soll das sein? Wer ist ‚wir‘? Wer ist ‚ihr alle‘?“
Anstatt die Frage zu beantworten, stellte Ian eine andere: „Wie, glaubst du, wird das Referendum ausgehen?“
„Lenk jetzt nicht vom Thema ab.“
„Tu ich nicht. Wie wird es deiner Meinung nach ausgehen?“
Sophie erkannte, dass er nicht lockerlassen würde. Sie blies die Backen auf und sagte: „Ich weiß nicht … Remain, wahrscheinlich.“
Ian lächelte zufrieden und schüttelte den Kopf „Falsch“, sagte er.
„Leave wird gewinnen. Und weißt du, warum?“
Sophie zuckte mit den Schultern.
„Wegen Leuten wie dir“, sagte er mit leisem Triumph. Er hielt ihr den ausgestreckten Zeigefinger vors Gesicht und wiederholte: „Leuten wie dir.“

Ian sollte recht behalten. Die Überforderung der autochthonen englischen Gesellschaft mit der anhaltend hohen Zuwanderung in Verbindung mit der Political Correctness der sie fördernden Eliten fand schließlich ihr Ventil im Brexit-Referendum – und den letzten Nagel auf diesem Sarg der britischen EU-Mitgliedschaft dürfte die deutsche Kanzlerin Merkel mit ihrer Politik der offenen Grenzen eingeschlagen haben. „Take back control – die Kontrolle zurückerlangen“ – der Slogan der Brexit-Befürworter meint vor allem die britische Souveränität darüber, wer in das Land kommt.

Noch 2020 sendete ARTE, der vermeintliche Sender für hohe Ansprüche, die zweiteilige Dokumentation „Das gespaltene Königreich und der Brexit – Rule, Britannia!“, die in ihrer Machart genau die von Coe ausgebreiteten Vorbehalte der Brexiteers vollauf bestätigte, indem sie diese als adipöse, geistig unterbelichtete Eingeborene gegen weltoffene liberale Städter und die Kultur Britanniens bereichernde Migranten stellte. Oder, um in den Worten Browns zu bleiben, eben als „borniert“.

Doch wer sich ein exakteres Bild von den Motiven derer machen will, die für Leave stimmten, der sollte „Middle England“ lesen. Jonathan Coe ist damit ein exzellenter Gesellschaftsroman gelungen, ohne hintergründigen Erziehungsauftrag an die Leser, auf Äquidistanz zu beiden Lagern bedacht, obgleich die Schlagseite für die Remainer deutlich hervortritt. Dafür spricht auch das versöhnliche Ende, das fast alle Beteiligten ausgerechnet in einem französischen Landhaus versammelt. Was Coe ausbreitet, ist der Riss, der sich durch Englands Seele zieht. Und dieser Riss sollte uns wohl vertraut sein, denn er zieht sich in gleicher Weise durch alle Gesellschaften der westlichen Demokratien.

Auch bei seinem Nachfolgebuch ist Coe beim Brexit geblieben: Das 2023 erschienene „Bournville“ setzt als Familienepos das Thema fort.

Jonathan Coe
Middle England
Folio Verlag, 2020
480 Seiten
24,- Euro