Der Riss durch Englands Seele

Es war ein Paukenschlag, wie ihn keiner erwartet hatte: Am 23. Juni 2016 stimmte in einem historischen Referendum eine knappe Mehrheit von 51,89 Prozent der Briten für den Brexit, den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Gemeinschaft. Nach langwierigen Verhandlungen zwischen London und Brüssel wurde dieser Austritt am 31. Januar 2020 vollzogen.

Watch: the moment Britain left the European Union (Youtube)

Vielfach rätselte man außerhalb Großbritanniens, vor allem in der EU selbst, über die Gründe und Motive der Briten für das Ergebnis dieses Referendums. Vor allem die Deutschen, für die die EU den Stellenwert eines „goldenen Kalbs“ hat, unterstellten irrationale Gründe. Aber auch in Großbritannien selbst ging man auf Ursachenforschung, akademisch aber auch literarisch. Den überzeugendsten Versuch, den Brexit mittels eines Romans zu erklären, unternahm bereits 2018 der englische Schriftsteller Jonathan Coe mit „Middle England“.

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Im Brexit verdichteten sich die gesellschaftlichen Gegensätze Großbritanniens – vor allem in England – in einer politischen Fragestellung, die nur scheinbar mit dem eigentlichen Gegenstand zu tun haben schien. Stadt gegen Land, Arbeiter gegen Akademiker, prosperierender Süden gegen abgehängten Norden, oder – um die von dem britischen Journalisten David Goodhart formulierten Begriffe zu verwenden – um den Konflikt zwischen Anywheres und Somewheres, zwischen den hochqualifizierten und kosmopolitisch eingestellten urbanen Eliten gegen die auf ihrer jeweiligen lokalen Ebene verwurzelten, traditionellen Milieus. Und nirgendwo ist dieses Milieu stärker präsent, hat entschiedener für den Brexit gestimmt, als in Middle England, der Kernregion der britischen Insel mit seinem Zentrum Birmingham.

Über einen Zeitraum von acht Jahren, beginnend von April 2010 an, verwebt Coe kunstvoll die Geschichte mehrerer Protagonisten eines weitverzweigten Familiengeflechts bis zum September 2018, um dem Leser die Veränderungen im Land zu vermitteln, die das Referendumsergebnis bestimmten.

Doch warum beginnt Coe seine Geschichte des Brexit ausgerechnet im April 2010? Damals vollzog sich eine außergewöhnliche innenpolitische Zäsur, als der Labour-Premier Gordon Brown in der Unterhauswahl abgelöst wurde durch den Tory David Cameron, der später das Brexit-Referendum in Gang setzen sollte. Hauptursächlich für Labours Machtverlust war ein eklatanter Fehltritt Browns im Wahlkampf, nachdem er einer einwanderungskritischen Wählerin hinterrücks bescheinigte, „bigot“ – engstirnig bzw. borniert – zu sein. Was Brown nicht bedachte: Ein Mikro nahm seine Worte auf, die sich anschließend über die Medien wie ein Lauffeuer verbreiteten. Damit war das von seinem Amtsvorgänger Tony Blair initiierte Fortschitts-Projekt „New Labour“ auf einem Schlag am Ende, ohne daß sich die Partei bis heute davon erholt hat.

Coes Protagonisten sind wie in einem Netzwerk miteinander verbunden, ohne daß diese Verbindungen künstlich aufgeblasen wirken oder der Leser den Überblick verliert. Ihre Handlungen bedingen einander, das Verhalten eines Einzelnen wirkt sich fast auf das gesamte Netzwerk aus.

Greifen wir das junge Ehepaar Ian und Sophie heraus: Sophie ist Dozentin an einer Hochschule, während Ian als Fahrlehrer Nachschulungen für Verkehrssünder gibt. Nachdem Ian infolge der Unruhen im August 2011 verletzungsbedingt in einem Krankhaus in Birmingham stationär behandelt wird, kümmert sich Sophie um seine Mutter Helena. Es kommt der Augenblick, wo sich zwischen beiden der entscheidende Riss auftut, der das Land spaltet:

„Er hatte ganz recht. ,Ströme von Blut.‘ Er war der Einzige, der den Mut hatte, es auszusprechen.“

Sophie erstarrte, als sie diese Worte hörte, und die Plattitüden erstarben ihr auf den Lippen. Das Schweigen, das sich jetzt zwischen ihr und Helena ausbreitete, war abgrundtief. Da war es also. Das Thema, das nicht diskutiert werden sollte, nicht diskutiert werden durfte. Das Thema, das die Menschen mehr als jedes andere spaltete, mehr als jedes andere ängstigte, denn wenn man es anschnitt, legte man die eigenen Kleider ab und zog auch dem anderen die seinen aus, sodass beide gezwungen waren, den anderen nackt zu sehen, ungeschützt, und ohne den Blick abwenden zu können. Was immer sie in diesem Moment zu Helena sagte – so es denn ihre eigenen, abweichenden Ansichten widerspiegelte -, es würde gleichzeitig bedeuten, sich der furchtbaren Wahrheit zu stellen: dass Sophie (und alle, die so dachten wie sie) und Helena (und alle, die so dachten wie sie) zwar gemeinsam im selben Land lebten, sich aber gleichzeitig in ihrem jeweils eigenen Universum befanden, getrennt durch eine unendlich hohe, undurchdringliche Wand, eine Wand aus Furcht und Misstrauen und – wer weiß? – vielleicht auch aus jenen englischsten aller Eigenschaften, nämlich Scham und Befangenheit.

Coe spielt hier auf eine der bedeutendsten Reden der britischen Geschichte des 20. Jahrhunderts an, die der britische Politiker Enoch Powell 1968 in Birmingham hielt. Powell warnte darin vor den fatalen Folgen der anhaltenden Einwanderung. Obwohl ihn diese Rede seine politische Karriere kostete, fand sie bis heute ihren Nachhall, weil sie nicht wenige als visionär empfinden.

Helena wählte die konservativen Tories, doch weniger aus Überzeugung. Aus ihrer tiefen Abneigung gegenüber den politischen Eliten macht sie keinen Hehl:

„Wählen ist reine Zeitverschwendung geworden, da alle Politiker dieselben modischen Ansichten vertreten. Natürlich habe ich Mr. Cameron gewählt, aber ohne jede Begeisterung. Seine Werte sind nicht unsere Werte. Tatsächlich weiß er über unsere Werte ebenso wenig Bescheid wie seine politischen Gegner. Sie stehen alle auf derselben Seite – und das ist nicht unsere Seite.“ (…)

„Die Menschen in Mittelengland haben Mr. Cameron gewählt, weil sie keine echte Wahl hatten. Die Alternative war undenkbar. Aber sollten wir je die Gelegenheit bekommen, ihn wissen zu lassen, was wir wirklich von ihm halten, dann, glauben Sie mir, werden wir sie ergreifen.“

Sie sollte ihre Chance dazu bekommen.

Doch auch zu Ian tut sich für Sophie ein Riss auf, als er bei einer Beförderung zugunsten seiner asiatischen Kollegin zurückgesetzt wird. Sind ihr Migrationshintergrund und ihr weibliches Geschlecht die zwei entscheidenden förderungswürdigen Merkmale, die jeden einheimischen weißen Mann ins Hintertreffen geraten lassen?

Aber auch die progressive Sophie droht in den Mahlstrom der Political Correctness zu geraten, nachdem sie mit einer banalen Bemerkung zu einer transgeschlechtlichen Studentin einen – für sie vollkommen unverständlichen – Kreuzzug der woken Bewegung gegen sich entfacht. Wortführerin ist ausgerechnet Coriander, die Tochter von Doug, einem liberalen Journalisten und alten Schulfreund ihres Onkels Benjamin. Ian hält Sophie ihre Doppelmoral vor:

„Ich weiß genau, was das bedeutet. Was du Respekt für Minderheiten nennst, bedeutet im Wesentlichen, dem Rest von uns den Stinkefinger zu zeigen. Von mir aus, beschütze doch deine kostbaren … Transgender-Studenten vor den schrecklichen Dingen, die die Leute über sie sagen. Pack sie ruhig in Watte. Aber was ist, wenn man weiß, männlich, heterosexuell und Mittelklasse ist, hm? Dann können die Leute über einen sagen, was sie wollen, verfluchte Scheiße.“ (…)
lan sah sie direkt an und sagte in bitterem Ton: „Du hast keine Ahnung, nicht wahr?“
„Keine Ahnung wovon?“
„Davon, wie wütend uns das macht, dieses moralische Überlegenheitsgetue, das ihr alle ständig -“
Sophie unterbrach ihn. „Entschuldige, aber wer soll das sein? Wer ist ‚wir‘? Wer ist ‚ihr alle‘?“
Anstatt die Frage zu beantworten, stellte Ian eine andere: „Wie, glaubst du, wird das Referendum ausgehen?“
„Lenk jetzt nicht vom Thema ab.“
„Tu ich nicht. Wie wird es deiner Meinung nach ausgehen?“
Sophie erkannte, dass er nicht lockerlassen würde. Sie blies die Backen auf und sagte: „Ich weiß nicht … Remain, wahrscheinlich.“
Ian lächelte zufrieden und schüttelte den Kopf „Falsch“, sagte er.
„Leave wird gewinnen. Und weißt du, warum?“
Sophie zuckte mit den Schultern.
„Wegen Leuten wie dir“, sagte er mit leisem Triumph. Er hielt ihr den ausgestreckten Zeigefinger vors Gesicht und wiederholte: „Leuten wie dir.“

Ian sollte recht behalten. Die Überforderung der autochthonen englischen Gesellschaft mit der anhaltend hohen Zuwanderung in Verbindung mit der Political Correctness der sie fördernden Eliten fand schließlich ihr Ventil im Brexit-Referendum – und den letzten Nagel auf diesem Sarg der britischen EU-Mitgliedschaft dürfte die deutsche Kanzlerin Merkel mit ihrer Politik der offenen Grenzen eingeschlagen haben. „Take back control – die Kontrolle zurückerlangen“ – der Slogan der Brexit-Befürworter meint vor allem die britische Souveränität darüber, wer in das Land kommt.

Noch 2020 sendete ARTE, der vermeintliche Sender für hohe Ansprüche, die zweiteilige Dokumentation „Das gespaltene Königreich und der Brexit – Rule, Britannia!“, die in ihrer Machart genau die von Coe ausgebreiteten Vorbehalte der Brexiteers vollauf bestätigte, indem sie diese als adipöse, geistig unterbelichtete Eingeborene gegen weltoffene liberale Städter und die Kultur Britanniens bereichernde Migranten stellte. Oder, um in den Worten Browns zu bleiben, eben als „borniert“.

Doch wer sich ein exakteres Bild von den Motiven derer machen will, die für Leave stimmten, der sollte „Middle England“ lesen. Jonathan Coe ist damit ein exzellenter Gesellschaftsroman gelungen, ohne hintergründigen Erziehungsauftrag an die Leser, auf Äquidistanz zu beiden Lagern bedacht, obgleich die Schlagseite für die Remainer deutlich hervortritt. Dafür spricht auch das versöhnliche Ende, das fast alle Beteiligten ausgerechnet in einem französischen Landhaus versammelt. Was Coe ausbreitet, ist der Riss, der sich durch Englands Seele zieht. Und dieser Riss sollte uns wohl vertraut sein, denn er zieht sich in gleicher Weise durch alle Gesellschaften der westlichen Demokratien.

Auch bei seinem Nachfolgebuch ist Coe beim Brexit geblieben: Das 2023 erschienene „Bournville“ setzt als Familienepos das Thema fort.

Jonathan Coe
Middle England
Folio Verlag, 2020
480 Seiten
24,- Euro

Wie ein Mann ein Weltreich gewann

Das historische Porträt: Enrico Dandolo (1107 – 1205)

Enrico Dandolo (1107-1205)

Epochale Wenden können sich in der Menschheitsgeschichte über längere Zeiträume vollziehen, aber manchmal auch wie auf einen Schlag. Oftmals ist eine Zeitenwende dem Einsatz einer Persönlichkeit zuzuschreiben, in der Regel nicht mit vorabsehbarem Ergebnis, dieses jedoch durch den selbstbewußten Einsatz, das Werfen der eigenen Person in die Waagschale, schließlich herbeiführend. Ein solcher Wechsel vollzog sich im Jahr 1204, als eine westeuropäische Streitmacht aus Kreuzrittern unter der Führung der Handelsrepublik Venedig durch die Eroberung der Metropole Konstantinopel dem Byzantinischen Reich ein Ende bereitete und das Imperium von Venedig als Beherrscher des östlichen Mittelmeerraums an dessen Stelle trat. Der Mann, der das möglich machte: Enrico Dandolo, der Doge von Venedig.

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Das aus dem Zerfall des Römischen Reiches hervorgegangene Byzantinische Reich war die vorherrschende Großmacht in Osteuropa und Kleinasien. Seine Hauptstadt Konstantinopel galt an Reichtum und Pracht als einzigartig in Europa und als Knotenpunkt globaler Handelsströme. Dennoch zeigten sich bereits bedenkliche Risse in seinem morschen Gebälk. Im Inneren erschüttert von Unruhen, an seinen Rändern ausfransend, seine militärische Stärke bröckelnd, zeigte es ernste Symptome des Niedergangs.

Demgegenüber stand der Aufstieg von Venedig, einst byzantinischer Außenposten, der sich seine Unabhängigkeit vom Mutterland erkämpfte. Mit seinen Schiffen knüpfte es ein das Mittelmeer umspannendes Handelsnetz. An seinen Marktplätzen kamen aus ganz Europa die Händler zusammen. Die Lagunenstadt band ihr Schicksal an das Meer, über das ihm sein zunehmender Reichtum zufloss. Die strategische Wende zum Beherrscher der Adria kam für Venedig Ende des 11. Jahrhundert, als Byzanz ihm für maritime Waffenhilfe außerordentliche Handelsprivilegien zusprach. Eine Entscheidung, die die oströmischen Kaiser noch bitter bereuen sollten.

Es ist April 1204. Seit dem Juni vorigen Jahres steht das von einer venezianischen Flotte transportierte Kreuzfahrerheer vor den Mauern Konstantinopels. Eigentlich sollte dieses Heer als Vierter Kreuzzug Ägypten angreifen, um so die Jerusalem und das Heilige Land beherrschenden Sarazenen von ihrem reichen Hinterland abzuschneiden. Für Venedig, das die Flotte stellen sollte, wäre es ein Jahrhundertgeschäft geworden. Doch statt der zugesagten 34 000 Kreuzritter trafen am Ende sehr viel weniger in der Lagunenstadt ein. Für Venedig, das für das Unternehmen in erhebliche Vorleistungen getreten war, drohte ein Desaster.

Venedig, Blick von der Akademie-Brücke über den Canale Grande / © Daniel Körtel

Das Oberhaupt der Lagunenstadt, der greise Doge Enrico Dandolo, verfiel jedoch stattdessen auf einen perfiden Plan, der seiner Stadt doch noch zum Vorteil gereichen sollte. Erst ließ er zur Stundungsleistung der aufgehäuften Schulden im November 1202 die widerspenstige Adriastadt Zara von den Kreuzfahrern erobern und plündern. Der Überfall der Kreuzritter auf eine christliche Stadt, gegen den selbst die Sanktionen des Papstes sich als machtlos erwiesen, entlarvte die hehren Motive nach einer Befreiung des Heiligen Land als reine Staffage, hinter der sich reine Gier nach Macht und Eroberung verbargen, und der einen Vorgeschmack gab, auf das was noch kommen sollte.

Die Chance zur strategische Wende, die am Ende das politische Gleichgewicht in Osteuropa und im östlichen Mittelmeerraum zum Einsturz bringen sollte, kam schließlich in der Gestalt eines jungen byzantinischen Prinzen. Alexios Angelos – so töricht wie nichtsnutzig – erbat die Hilfe der Kreuzritter, um seinen Vater Issak II, der von seinem Onkel Alexios III. von Thron in Konstantinopel gestürzt und geblendet wurde, wieder in sein Amt einzusetzen. Seine Versprechungen waren so sagenhaft wie unrealistisch: Nicht alleine die Begleichung der Schulden der Kreuzritter, die Stellung von Soldaten für den Kreuzzug, sondern auch noch die Unterstellung der Orthodoxen Kirche unter das Supremat Roms.

Dandolo erkannte das Potential dieses Angebotes für Venedig wie kein anderer der Beteiligten. Über ihn schreibt der britische Publizist Roger Crowley:

In Venedig hatte man bei der Wahl der Dogen schon immer großen Wert auf eine Verbindung von Alter und Erfahrung gelegt, doch der Mann, den die Ritter aufsuchen wollten, war in jeder Hinsicht bemerkenswert. Enrico Dandolo war der Spross einer angesehenen Familie von Anwälten, Kaufleuten und Klerikern. Diese Familie war an nahezu allen wichtigen Ereignissen im vergangenen Jahrhundert beteiligt gewesen und hatte sich in bemerkenswerter Weise in den Dienst der Republik gestellt. Sie hatte an der Reformierung der kirchlichen und staatlichen Einrichtungen der Republik Mitte des 12. Jahrhunderts mitgewirkt und auch an den Kreuzzugsunternehmungen Venedigs teilgenommen. Nach allen Berichten waren die männlichen Mitglieder der Familie Dandolo mit beträchtlicher Klugheit und Energie ausgestattet – und mit Langlebigkeit. Im Jahr 1201 war Enrico schon über 90 Jahre alt. Und er war völlig blind. („Venedig erobert die Welt“, Roger Crowley)

Zwar war die Situation derzeit zwischen Konstantinopel und Venedig entspannt; die Handelsprivilegien waren immerhin bestätigt. Doch die Geißelkrise von 1172, als Kaiser Manuel alle Venezianer im Reich verhaften ließ, hinterließ einen Groll. Für Dandolo, der sich mit eigenen Mitteln im Kreuzzugsunternehmen engagierte und es mit seiner ganzen Persönlichkeit in seiner Stadt durchsetzte, ging es um alles. Die Flotte nahm Kurs auf, nicht in das Heilige Land, auch nicht nach Ägypten, sondern nach Konstantinopel.

Zur Überraschung der Kreuzfahrer war jedoch die Stadtbevölkerung, die bereits viele Machtwechsel gewöhnt war, keineswegs bereit, dem Prinzen die Tore zu öffnen. Doch bereits nach dem ersten Großangriff im Juli 1203, bei dem Venedig seine maritime Überlegenheit an der schwächsten Stelle der Stadtmauer, seiner Seite zur See hin, ausspielte, floh der Kaiser mit den Kronjuwelen aus der Stadt.

Issak II. wurde aus einem Kloster geholt und gemeinsam mit seinem Sohn wieder auf den Thron gesetzt. Und wieder einmal war es der persönliche Einsatz von Dandolo, der an vorderster Front am Bug seiner purpurroten Galeere, den Erfolg herbeigeführt hatte, als der Angriff auf der Kippe stand. Gleichwohl, Teile Konstantinopels gingen dabei in Flammen auf; ca. 20.000 Menschen verloren ihre Wohnstätte. Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Schnell zeigte sich, daß die Kaiser ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht einhalten konnten. Zwar versorgten sie das Kreuzfahrerheer, das sich zurückgezogen hatte, weiterhin mit Lebensmitteln. Doch die Stimmung in der Stadt erhitzte sich beständig, nahmen die Gegensätze zwischen Griechen und Westlern bedenklich zu. Kaiser Alexios vergriff sich am Kirchengold, um die Kreuzfahrer milde zu stimmen. Im August führten Ausschreitungen zwischen Griechen und italienischen Händlern zu einer verheerenden Feuersbrunst. Im sich anbahnenden Chaos unternahm im Januar 1204 der Edelmann Alexios Dukas „Murtzuphlos“ einen Staatsstreich und ließ die beiden Kaiser beseitigen, um mit Nikolaos Kanabos eine Marionette als Kaiser einzusetzen, um im Folgemonat diesen wiederum durch sich selbst als Alexios V. inthronisieren zu lassen.

Diese Wende war für Venedig und die Kreuzfahrer eine Katastrophe. Denn die Verträge waren an die Personen Issak und Alexios gebunden. Murtzuphlos wiederum dachte nicht daran, sich den Invasoren zu unterwerfen, sondern organisierte energisch den militärischen Widerstand.

Aus den Erfahrungen des vorhergehenden Großangriffs gelernt, gelang trotz heftiger Gegenwehr den Kreuzfahrern der Durchbruch in die Stadt über die Seemauer. Es war der 12. April 1204, heute vor genau 820 Jahren, als Konstantinopel seinen bis dahin schwärzesten Tag erlebte. Die Gegenwehr brach im Chaos zusammen, Murtzuphlos floh aus der Stadt.

Ohne Führung trat in einer religiösen Prozession eine Volksmenge den Kreuzrittern entgegen, um ihnen – wie in den von ihnen gewohnten Herrscherwechseln – die Krone des Reiches anzubieten. Die Kreuzritter wiederum, die den Griechen gegenüber äußerst mißtrauisch waren, verstanden diese Geste als Kapitulation, die ihnen das Recht zur Plünderung gab:

Für die Byzantiner war Konstantinopel das Abbild des Himmels auf Erden, eine Vision des Göttlichen, das dem Menschen offenbart worden war, ein großes heiliges Symbol. Die Kreuzfahrer dagegen betrachteten es als eine Schatzkammer, die der Plünderung harrte. Im Herbst noch hatten sie Konstantinopel gewissermaßen als Touristen besucht und den enormen Wohlstand der Stadt mit eigenen Augen gesehen. Auch Robert de Clari gehörte zu jenen, die sprachlos die Reichtümer bestaunten, die sich hier den Kriegern aus dem unterentwickelten Westeuropa boten. „Kein irdischer Mensch, wie lange er auch in der Stadt bleiben mag, könnte euch den hundertsten Teil des Reichtums, der Schönheit und der Herrlichkeit aufzählen oder beschreiben, die es an Abteien und Klöstern und Palästen in der Stadt gibt; man würde meinen, dass er lüge, und ihr würdet ihm nicht glauben.“ Nun war ihnen all dies ausgeliefert. Die beiden Führer des Kreuzzugs sicherten sich eilig die besten Beutestücke — die prachtvollen Kaiserpaläste, den Bukoleon- und den Blachernen-Palast, „so reich und so prächtig, dass man sie euch nicht zu beschreiben weiß.“ Eine Plünderungswelle überrollte die Stadt. Die vor dem Angriff abgegebenen Versprechungen waren vergessen. Die Kreuzfahrer fielen sowohl über die Kirchen als auch über die Häuser der Reichen her. (Venedig erobert die Welt“, Roger Crowley)

Die Quadriga, die berühmteste Kriegsbeute der Venezianer, stand einst im Hippodrom von Konstantinopel, heute im Museum der Markuskathedrale / © Daniel Körtel

Was folgte war die Zerstückelung des Byzantinischen Reiches: Zum einen entstand daraus das schwache Lateinische Kaiserreich mit Konstantinopel. Da Dandolo die ihm angetragene Kaiserkrone ablehnte, hing sie an dem Franken Balduin, der nach einer 1205 verlorenen Schlacht sein Ende in einem bulgarischen Verlies fand. Der größte Gewinner war jedoch Venedig, dem eine Vielzahl von Stützpunkten in der Ägäis und die Insel Kreta als Kolonie zufielen, auf denen es sein bis in das Schwarze Meer hineinreichendes Imperium begründete. Dandolo hatte das vermutlich nie als Ziel vor Augen, doch nun war Venedig die unbestrittene Macht im östlichen Mittelmeer. Ein Jahr später starb er in der einst prachtvollsten und bevölkerungsreichsten Stadt der Christenheit, deren bitteres Schicksal er zu verantworten hatte.

Doch langfristig war diese geopolitische Zeitenwende eine Katastrophe. Denn mit seinem Niedergang verlor das Byzantinische Reich seine Pufferfunktion gegenüber dem aus Kleinasien heranrückenden Islam. Zwar gelang dem griechischen Nachfolgereich von Nikaia von Kleinasien aus eine bescheidene Restauration und konnte 1261 gar Konstantinopel zurückerobern. Doch seine Tage als Großmacht waren vorüber. Die Bewältigung des kollektiven Traumas von 1204 überforderte die verbliebenen Resilienz-Kräfte der Griechen. Die Konkurrenzkämpfe der italienischen Seerepubliken auf seinem Boden taten ihr übriges. So waren es die Genuesen, die osmanische Krieger von Kleinasien in den europäischen Teil von Byzanz übersetzten und so der muslimischen Landnahme nach Europa irreversibel Vorschub leisteten. Die einstige Weltmacht Ostrom glich einem langsam dahinsiechenden Leib. Nach rund 250 Jahren, am 29. Mai 1453, gaben die Osmanen mit der Eroberung Konstantinopels dem letzten Rest des Imperiums, was seit seiner Gründung im Jahr 330 n. Chr. durch Konstantin den Großen davon noch übriggeblieben war, endgültig den Todesstoß.

Roger Crowley
Venedig erobert die Welt
Die Dogen-Republik zwischen Macht und Intrige
Theiss Verlag, 2011, 357 Seiten
Nur noch antiquarisch erhältlich

Der Waldgänger aus der Schweiz

Obwohl ihr Beginn keine fünf Jahre zurückliegt, scheint es, als hätte die Welt die aufreibende Zeit der Corona-Pandemie längst hinter sich gelassen. In ihre akute Phase trat die Pandemie heute vor vier Jahren ein. Am 22. März 2020, als die Bundesregierung dem Vorbild des autoritären China folgend den ersten Lockdown in der Geschichte der Bundesrepublik verhängte, war dies eine tief einschneidende Maßnahme, der noch weitere folgen sollten. Sie griff gravierend in das Leben und die Selbstbestimmungsrechte der Bürger ein. Die ökonomischen Folgen sind bis heute spürbar. Es gab kaum ein Land, das unter Berufung auf den Gesundheitsschutz, einen liberaleren Kurs in der Pandemiebekämpfung verfolgte. Kritiker wurden regelmäßig mithilfe regierungstreuer Medien als „Querdenker“ oder gar Rechtsextreme gebrandmarkt und so ins gesellschaftliche Abseits gestellt.

Eine der kritischen Stimmen, die aus dem medialen Einheitsbrei herausragten, war die des in der Schweiz lebenden Publizisten Milosz Matuschek. Sein in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlichter Kolumnentext „Was, wenn am Ende ‚die Covidioten‘ recht haben??“ (10.08.2022) war eine scharfzügige Abrechnung mit dem staatlichen Umgang mit der Pandemie:

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Im April starben Menschen an Covid-19, es wurden Ausgangssperren, Lockdowns und Schutzmaßnahmen verhängt, um eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden, die zu noch mehr Toten hätte führen können. Die Bedrohungslage bestand aus schweren Krankheitsverläufen, Hospitalisierungen, Todesgefahr. Heute muss man konstatieren: Der Kollaps des Gesundheitssystems ist nicht eingetreten, vielleicht auch dank den Maßnahmen. In Deutschland meldeten Ärzte und Kliniken Kurzarbeit für 400 000 Menschen an. Von der Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems redet inzwischen übrigens niemand mehr.

Kollabiert ist seitdem aber eines: die Kommunikation über das Virus. Das Virus entfaltet eine ungeahnte Nebenwirkung: Es befällt das Denkvermögen. Nun lautet die neue Gefahr: «Die zweite Welle ist im Anmarsch.» Besonders falsch sind da natürlich gerade Massendemonstrationen gegen die Corona-Politik wie letztes Wochenende in Berlin. Die Ansteckungsgefahr sei zu hoch. Erst versuchte man die Demonstration pauschal zu verbieten. Als das nicht klappte, rief man dazu auf, ihr fernzubleiben, es sei ohnehin nur eine Ansammlung von „Covidioten“, Rechtsextremen und Reichsbürgern. Es ist ungeheuerlich: Politiker und einige Journalisten verunglimpfen pauschal Menschen, die gegen die derzeitige Politik demonstrieren. Man ruft erneut nach dem Wolf, aber immer weniger Menschen glauben offenbar, dass er kommt. Gibt es ihn denn, den Wolf?

https://www.freischwebende-intelligenz.org/p/was-wenn-die-covidioten-recht-haben

Die Reichweite des kontroversen Textes durchschlug alle Brandmauern, die das politisch-mediale Establishment um das Thema gezogen hatte. Der NNZ jedoch war der Erfolg nicht geheuer, und sie trennte sich von Matuschek, der fortan auf seinem Blog „freischwebende-intelligenz.org“ publizierte. Von dort aus setzte er seine kritische Beobachtung des weiteren Pandemie-Geschehens fort und bündelte seine Texte in dem 2022 veröffentlichen Buch „Wenn’s keiner sagt, sag ich’s“.

Auch wenn heute in 2024 Corona abgehakt scheint, der Griff zu dem Buch lohnt sich immer noch und sollte alle paar Jahre wiederholt werden. Denn das, was seinerzeit an Maßnahmen durchexerziert wurde, verschwindet mit der Pandemie nicht aus der Welt, sondern bleibt als Möglichkeit staatlichen Handels im Raum und kann auch unter anderen Umständen wiederholt werden:

Der punktuelle Ausnahmezustand droht zum permanenten zu werden. Sicher geglaubte Errungenschaften werden gerade abgewickelt. Mich erschüttert bis heute, wie aufgeklärte Gesellschaften das haben mit sich machen lassen und es immer noch tun. Wir erleben eine Verengung der Welt.

Die Texte werden von der Gegenseite, den „Zeugen Coronas“, kaum als Diskussionsbasis akzeptiert werden. Von Matuschek aufgegriffene Begriffe wie dem von dem Gründer des World Economic Forum propagierten Great Reset – mehr als eine bloße Verschwörungstheorie – können hier nur als Trigger wirken, als gedankenbeendendes Klischee, das jede sinnvolle Debatte im Keim erstickt. Das nur als Feststellung, nicht als Kritik am Autor.

Was sich wie ein roter Faden durch fast alle Texte zieht, ist die Abrechnung mit der Rolle der Mainstreammedien in der Pandemie. So schreibt Matuschek in „Wir brauchen einen Runden Tisch für die Meinungsfreiheit“:

Man muss kein Freund oder Fan der genannten Protagonisten sein, um das Kernproblem zu verstehen: Eine Demokratie hört irgendwann auf, eine zu sein, wenn die Deutungshoheit darüber, was Wissenschaft, Journalismus oder eine faire Debatte ist, von einer Obrigkeit und ihren Helfern bestimmt wird, egal in welchen Mantel diese Obrigkeit auch immer schlüpft. Wenn der Rest der Medien diese Falle auch noch beschweigt, entsteht zudem ein gesamtgesellschaftliches Problem mit langer Zündschnur: Das Zensierte sieht man nicht, weshalb es den wenigsten akut fehlt. In der Verhaltensökonomie kennt man dieses Phänomen der Sichtfeldverengung als „WYSIATI-Effekt“ („What you see is all there is“). Doch was man nicht sieht, spürt man irgendwann: In den Debatten macht sich erst Fadheit breit und später entsteht eine Fallhöhe zwischen veröffentlichter Meinung und der Realität, die für die etablierten Medien selbst ein massives Klumpenrisiko darstellt.

Matuscheks widerständige Haltung zum übergriffigen Staat erklärt sich wohl am besten durch seine Herkunft aus dem kommunistischen Polen, aus dem seine Eltern gemeinsam mit ihm nach Deutschland geflohen sind. Seine Ausbildung als Jurist schärfte seinen Sinn für die juristische Brisanz vieler Maßnahmen der „Verordnungsdiktatur“, von denen eine ganze Reihe von Gerichten wieder einkassiert wurden.

Sein Eintreten für Julian Assange nimmt da nicht wunder. Und es ist für den Kenner der Materie kaum verwunderlich, daß Matuschek den Bogen von hier zu dem Schriftsteller Ernst Jünger zieht, dessen Essay „Der Waldgang“ (1951) ihm zu einer Inspirationsquelle wurde, wie man sich in bedrohlichen Zeiten seine Freiheit bewahrt:

Der Essay Der Waldgang ist ein Schlüsseltext auch für unsere Zeit. Ja, im Grunde jeder Zeit, die sich wie unsere auch gerade einer Zeitenwende oder einem Verfallsdatum nähert. Denn der Waldgänger ist eine Wiederkehrende Erscheinung jeder Verfallszeit. So wie Hegels Eule der Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt, so ist es der Waldgänger, der sich erst nach Einbruch der Dunkelheit manifestiert. Jünger sah in seiner Zeit einen aktiven Nihilismus am Werk, eine bewusste Umformung der Werte. Die Zeit der „neuen Normalität“ wird nach gleichem Muster von oben verkündet, als unausweichliche Notwendigkeit in Form polit-planerischer Weitsicht und Herrschaftswissen. Doch dafür müssen die Planer erst noch an den Waldgängern vorbeikommen.

Große Hoffnungen verbindet Matuschek mit dem weiteren Aufstieg der Kryptowährung Bitcoin, mit der sich Geldwirtschaft und Staat voneinander entkoppeln lassen sollen. Doch das dahinterstehende Konzept bleibt auch nach Matuscheks Ausführungen nebulös und komplex. Auch ihm gelingt es nicht, Bitcoin von dem Verdacht freizusprechen, lediglich ein leeres Versprechen zu sein, ein Instrument wie ein Perpetuum Mobile, daß aus dem Nichts Werte schaffen soll und letztlich nur auf einem Schneeballsystem beruht. Bitcoin, so warnte erst kürzlich der irische Star-Ökonom David McWilliams, sei nichts anderes als ein Computercode, hinter dem im Gegensatz zu Land oder Häusern kein greifbarer Wert stehe: „Wir haben so etwas zuvor gesehen, und jeder mit einem Sinn für Finanzgeschichte kennt die Weise, wie das endet. Und das ist nicht schön.“

Offiziell ist die Corona-Pandemie nie für beendet erklärt worden. Aber dennoch: Die meisten Menschen haben ihren Frieden mit dem Thema gemacht und für eine politisch-gesellschaftliche Aufarbeitung dieser Zeit in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß wird sich wohl kaum eine Mehrheit finden, weder unter den Politikern der Altparteien noch unter der Wählerschaft, erst recht nicht unter der Journaille. Frage: Was soll da noch die Lektüre eines Buches wie Milosz Matuscheks „Wenn’s keiner sagt, sag ich’s“?

Vielleicht weil uns dieses Thema in der Zukunft schneller wieder begegnet, als wir es uns vorstellen möchten…

Milosz Matuschek
Wenn’s keiner sagt, sag ich’s
Verlag fifty-fifty
2022, 256 Seiten
20,00 Euro

Als England von den Russen besetzt war

Hat Romeo sich selbst ermordet? Sag du nur „ja“
Und dieses bloße Wörtchen „ja“ soll mehr vergiften
Als des Basilisken todverheißend Auge.
Ich bin nicht ich, wenn’s geben sollt ein solches „ja“
Und schlafend jene Augen, die dir das „ja“ entreißen!

Aus: „Romeo und Julia“, William Shakespeare

Der zweite Jahrestag des Beginns des russischen Krieges gegen die Ukraine brachte in den Medien manch merkwürdige Bewertung des militärischen Potentials Russland. Sollten die Russen diesen Krieg gewinnen, so würden dadurch russische Expansionsgelüste nach Westeuropa hinein geweckt; so sah ein Kommentator sogar den weiteren Vormarsch bis in die Schweiz kommen. Warum die Russen in die Schweiz marschieren sollten, blieb allerdings ungeklärt.

Wer alt genug ist, den bis 1990 andauernden Kalten Krieg miterlebt zu haben, dem kommt der Sound dieser Überlegungen merkwürdig vertraut vor. Auch damals machte man sich im Westen viele Gedanken darüber, was kommen könnte, gelänge den Russen der Sieg über den „freien Westen“. Der griffigste Slogan daraus war wohl der aus dem linken Spektrum kursierende Spruch: „Lieber rot als tot.“

Einer der sich damals darüber Gedanken machte, war der Schriftsteller Kingsley Amis (1922 – 1995). Amis gehörte zu den bedeutendsten britischen Schriftstellern seiner Zeit. Zu seinen bekanntesten Werken in Deutschland gehört der 1980 veröffentlichte und 1984 in der Science-Fiction-Reihe des Heyne Verlags erschienene Roman „Das Auge des Basilisken“.

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In dieser dystopischen Satire zeichnet Amis das Bild eines von den Sowjets besetzten Englands. Der Plot spielt sich 50 Jahre nach einem als „Pazifikation“ bezeichneten Krieges ab, der um die Wende zum 21. Jahrhundert stattfand. „Pazifikation“ – ein recht verharmlosender Begriff für eine militärische Auseinandersetzung, die uns heute daran erinnert, daß die Russen ihren Krieg in der Ukraine ebenso wenig beim Namen nennen, sondern zum „militärischen Sondereinsatz“ relativieren. Die Eroberung nahm nur drei Tage in Anspruch, abgesehen vom vergeblichen Widerstand einiger weniger.

50 Jahre danach ist das Land fast auf ein präindustrielles Niveau zurückgeworfen, statt den Weg in ein sozialistisches Paradies zu gehen. Die Analphabetenrate liegt bei 69 Prozent. Statt Autos fahren die Menschen mit Pferdekutschen und bestenfalls mit Fährrädern mit Hilfsmotor. Selbst Moskau steht kurz vor dem totalen Erliegen des motorisierten Verkehrs. Das von den Russen initiierte Entnationalisierungsprogramm hat die Engländer restlos von ihrem kulturellen Erbe entfremdet, selbst von ihrer anglikanischen Religion. Und offenbar haben die Besatzer nur einer ohnehin im Verfall begriffenen Gesellschaft den Todesstoß gegeben:

„Sie, die Anglikaner, sind seit langem von den Kräften der Aufklärung bedrängt, von innen wie von außen. Bekanntlich waren sie schon zur Zeit unserer Großeltern im Niedergang begriffen, sowohl was die Zahl der Gläubigen als auch was den Inhalt ihrer abergläubischen Vorstellungen betrifft: die meisten von ihnen lebten zugleich in einer laizistischen, wissenschaftlichen oder halbwissenschaftlichen Vorstellungswelt, selbst der Klerus und nicht zuletzt der höhere Klerus, und der Rest der Gläubigen war zu demoralisiert, um sie nicht zu dulden. Die Unterdrückung beschleunigte nur das unausweichliche.“

Hingegen haben es sich die russischen Besatzer komfortabel auf der Insel eingerichtet. Sie haben sich an die Stelle des englischen Adels gesetzt und leben dementsprechend in deren früheren Landhäusern. Jedoch stellen sie nur einen billigen Abklatsch dessen dar, was einmal eine ruhmvolle Vergangenheit repräsentierte. Amis beschreibt die Szenerie einer Scheingesellschaft:

„Und alles sah aus hinreichender Entfernung stilvoll und richtig aus; auch den Anwesenden erschien alles richtig. Niemand dachte, niemand sah, daß die Kleider der Festgäste aus minderwertigen Stoffen schlecht geschnitten waren, schlecht verarbeitet, schlecht sitzend, daß die Frisuren der Damen unordentlich und die Fingernägel der Männer schmutzig waren, daß die Oberflächen der Tennisplätze uneben und unzureichend geharkt waren, daß die weißen Jacken der Diener nicht sehr weiß waren, daß die Gläser und Teller, die sie trugen, nicht ordentlich gespült waren, oder daß das Pflaster, wo die Paare tanzten, hätte gefegt werden müssen. Niemand dachte, niemand nahm mit anderen Sinnen wahr, daß der Wein dünn war, die alkoholfreien Getränke voller Konservierungsstoffe und die Gebäcksorten fade, oder daß die Musik des Orchesters holperig und leblos war. Niemand dachte sich etwas bei alledem, weil niemand jemals etwas anderes gekannt hatte.“

Alexander Petrowsky, ein junger Gardeoffizier eines Kavallerie-Regiments und Sohn eines Besatzungsbeamten lebt schon lange in England. Die Stimmung in der Truppe ist von Langeweile geprägt, so daß sich die Soldaten mit lebensgefährlichen Spielchen unterhalten. Alexander wiederum vertreibt sich die Zeit mit sexuellen Eskapaden, sowohl mit den reifen Frauen russischer Funktionäre wie auch den jungen Mädchen der Unterworfenen.

„Daher erfüllte es ihn mit Erbitterung, daß seine jüngere Tochter derart offen und regelmäßig von einem russischen Offizier bestiegen wurde, noch dazu von einem, den er verabscheute und gegen den er eine persönliche Abneigung verspürte. Diese Gefühle behielt er jedoch so gut als möglich für sich; das Mädchen schien keine Einwände gegen den Stand der Dinge zu haben, und die damit verbundenen Vorteile in Gestalt einer gelegentlichen Flasche Cognac oder einigen Kilo Brennstoff waren sicherlich willkommen, vor allem aber war es (oder konnte sich jeden Tag so erweisen) wichtig, sich das Wohlwollen und die Protektion eines der Scheißer zu sichern – ein Begriff, der selbst unter den vielen gebräuchlich war, die keine ernsten Einwände gegen die Anwesenheit ihrer Herren hatten. Schließlich konnte auch das geringste Verständnis die wahrscheinlichen Resultate des Versuches ermessen, einem – und insbesondere diesem – russischen Offizier entgegenzutreten. Nach allen Erwägungen kam er immer wieder zu dem unausweichlichen Schluß, daß da nichts dagegen zu machen sei.“

Da tritt der Kulturfunktionär Theodor Markow an Petrovsky heran und weiht ihn in den Plan einer Verschwörung der sogenannten Gruppe 31 ein, einer weit fortgeschrittenen Verschwörung, die in einem revolutionären Akt England – und auch Russland – die Freiheit wiederbringen soll. Alexander ist von dem Plan ganz eingenommen und wird an führender Stelle eingesetzt. Doch zu spät erkennen die Beteiligten, daß sie nur Marionetten sind in einer großen Intrige, die auf sie selbst abzielt.

Warum brach der englische Widerstand gegen die sowjetrussische Invasion nach nur drei Tagen zusammen? Offenbar befand sich die Moral der Angegriffenen schon vor dem ersten Schuß im Zustand der fortgeschrittenen Zersetzung. Umso leichter gelang es den Besatzern nach ihrem Sieg, den Unterworfenen auch noch den letzten Rest nationaler Würde zu nehmen, und zwar so nachhaltig, daß selbst die nach Jahrzehnten gewagte Aufführung des Shakespeare-Stücks „Romeo und Julia“ in einem Desaster endet und die Abhaltung eines Gottesdienstes auf Gleichgültigkeit stieß.

Doch die Russen stehen keineswegs als überlegene Sieger da, eher wie nackte, da sie nichts an positiven Werten zu bieten haben, weder den Engländern noch sich selbst. Sogar mit der Erlösungsideologie des Marxismus sind sie am Ende:

„Was ihn ersetzt hat, ist nichts, ein Vakuum. Keine Theorie sozialistischer Demokratie, kein Liberalismus oder dergleichen, nicht einmal ein unpolitischer Kodex des Anstands oder Mitleids. Hinter der ausgehöhlten alten Fassade hatten sich keine neuen Ideen gebildet. Und mit den ökologischen Folgen der ungehemmten industriellen Entwicklung brach der Fortschrittsglaube ebenso zusammen, wie die Hoffnung auf eine allgemeine Aufwärtsentwicklung. Das Christentum war längst abgetan, und keine der neuen Sektenreligionen konnte Fuß fassen. Wie stellte sich der Russe dazu? Kein Glaube, kein Zukunftsoptimismus, kein Vorbild. Unsere in einer anderen Zeit für andere Verhältnisse geschriebenen Bücher sagen uns nichts mehr. Wovon leben wir also? Die Befriedigung des Eigennutzes ist den meisten Menschen nicht genug, es gibt zu viele Gebiete, auf denen er keine Entfaltung findet. Sinnliche Genüsse – ein noch begrenzteres Feld. Also schauspielern wir; wir wählen eine Rolle, die mit unserem Alter und unserer Position nicht allzu unvereinbar ist, und spielen sie nach bestem Können. Freilich können wir sie nicht die ganze Zeit aufrechterhalten, aber sie ist da, wenn wir sie brauchen, und Russe zu sein, ist eine große Hilfe.“

Im Original lautete der Titel von Amis Roman „Russian Hide and Seek – Russisches Verstecken und Suchen“, benannt nach dem morbiden und gefährlichen Zeitvertreib der russischen Besatzungssoldaten, mit der Waffe auf im Dunkeln versteckte Kameraden zu schießen. Der Heyne Verlag entschied sich seinerzeit für den Titel „Das Auge des Basilisken“, nach der darin zitierten Sentenz aus dem Shakespeare-Stück „Romeo und Julia“. Der Basilisk ist ein mythologisches Mischwesen aus dem Kopf eines Hahns mit einer Krone auf dem Kopf und dem Körper einer Schlange, der mit seinem Auge tödliche Strahlen aussenden kann. Der Basilisk als mittelalterliches Sammelwort für alles Böse. Das Auge, weil es der Ausgangspunkt einer tödlichen Bedrohung ist. Also eine treffende metaphorische Beschreibung der Russenbedrohung.

Amis schrieb seinen Roman nicht allein unter dem Eindruck des Kalten Krieges, sondern auch in einer Zeit, in der England beziehungsweise Großbritannien, als „kranker Mann von Europa“ wahrgenommen wurde. Seine Infrastruktur im Verfall, von fortwährenden Arbeitskämpfen geschüttelt, seine einst führende Industrie am Rande des Ruins. Erst 1979, ein Jahr vor der Veröffentlichung des Romans, nahm die konservative Margret Thatcher von den Tories, denen sich der Ex-Kommunist Amis verbunden fühlte, der linken Labour Party die Regierung aus der Hand, der von weiten Teilen des Elektorats die Verantwortung für den Niedergang zugeschrieben wurde.

Für die folgenden zehn Jahre führte Thatcher eine Regierung, in der sie dem Land einen tiefgreifenden, aber auch heftig umstrittenen Wandel unterzog, und der sie bis heute für viele Briten zur Haßfigur macht. Und doch bleibt es ihr Verdienst, daß sie damit einem Leichnam nochmal etwas Leben einhauchte.

Kingsley Amis
Das Auge des Basilisken
303 Seiten
Heyne Verlag, 1984
Nur noch antiquarisch erhältlich

Irgendwo in der Zeit treffen wir uns wieder

Vom Hollywood-Schauspieler Christopher Reeve ist einzig seine Rolle als Superman in Erinnerung geblieben. 1978 stellte er erstmals den „Stählernen“ aus der populären Comicserie in der Blockbuster-Verfilmung von Regisseur Richard Donner dar. Es folgten in qualitativ abnehmender Tendenz drei weitere Teile. Seine Schauspielerkarriere erfuhr einen scharfen Bruch, als er 1995 infolge eines Reitunfalls eine schwere Querschnittslähmung erlitt. Kaum 10 Jahre später starb Reeve am 10. Oktober 2004 im Alter von nur 52 Jahren.

Doch es gibt einen Film mit Reeve in der Hauptrolle, kurz nach „Superman I“, der obwohl kommerziell gefloppt, den Status eines Kultfilms erlangte: „Ein tödlicher Traum“ (Somewhere in Time) kam 1980 in die Kinos, neben Reeve mit einem beeindruckenden Cast aus Jane Seymour und Christopher Plummer sowie Teresa Wright, einer Oscar-Preisträgerin von 1943.

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„Ein tödlicher Traum“ ist ein melodramatischer Fantasy/Science-Fiction-Film über Zeitreisen. Reeve spielt den Drehbuchautoren Richard Collier, der während einer Schaffenskrise in ein mondänes Landhotel flieht. Obwohl Collier zum ersten Mal in dem Hotel ist, glaubt der altgediente Page Arthur (Bill Erwin) ihn wiederzuerkennen. In einer Museumsnische des Hotels, entdeckt Collier das Bildnis einer Frau aus dem Jahr 1912. Es ist Elise McKenna (Jane Seymour), eine zu ihrer Zeit beliebte Theaterschauspielerin, die auch an dem dem Hotel angeschlossenen Theater wirkte. Das Bildnis dieser schönen Frau nimmt Collier gefangen. Collier bemerkt nicht, daß er dieser Frau nur wenige Jahre zuvor begegnet ist, in ihrem älteren Ich – dargestellt von Teresa Wright -, und sie zu ihm sagte: „Komm zurück zu mir.“ Auf seiner Spurensuche nach ihrer Geschichte stößt er auf die scheinbar unwahrscheinliche Möglichkeit der Zeitreisen. Sein alter Philosophie-Lehrer Dr. Gerald Finney (George Voskovec) gibt ihm den entscheidenden Hinweis, wie sie ohne jede Technik zu bewerkstelligen ist, allein aus eigener Willenskraft heraus.

Collier bereitet sich akribisch vor, besorgt sich Geld und Kleidung aus der Zeit um 1912. Es gelingt ihm aus seinem Hotelzimmer heraus die Reise durch die Zeit zu der Frau, in deren Bildnis er sich verliebt hat. Doch um endlich Elise für sich zu gewinnen, muß er erst noch die Hürde ihres Agenten William Fawcett Robinson (Christopher Plummer) überwinden, der seine Klientin abschirmt. Und vor allem, kann eine solche Liebe durch die Zeit eine Zukunft haben?

Der Plot geht zurück auf eine Romanvorlage des Scifi-Autoren Richard Matheson (1926 – 2023), der bereits den Stoff für Filme wie „Ich bin Legende“ bzw. „Der Omega-Mann“ und „Die unglaubliche Geschichte des Mister C“ geliefert hat.

Das Grand Hotel auf Mackinac Island im Huronsee im US-Bundesstaat Washington lieferte die ideale Kulisse für die Szenerie der Edwardianischen Epoche am Beginn des 20. Jahrhunderts. Regisseur Jeannot Szwarc urteilte über die Örtlichkeit: „Das bei Weitem Beste für mich bezüglich Mackinac war die Qualität des Lichtes. Das dortige Licht war einfach wunderschön. Es war auf natürliche Weise diffus.“

Um die melodramatische Stimmung durch die Filmmusik zu verstärken, konnte kein besserer Komponist gefunden werden als John Barry (1933 – 2011), der schon den typischen Sound der Bond-Filme schuf.

Doch auch eine noch so perfekte Inszenierung kann nicht verhindern, daß sie beim Massenpublikum durchfällt. Im Fall von „Ein tödlicher Traum“ sind die Gründe rätselhaft. Reeve und Seymour bildeten ein romantisches Traumpaar. Der Film selbst gewann 1981 den renommierten Saturn Award in der Kategorie Fantasy sowie Nominierungen weiterer Preise. Und doch bildete sich im Laufe der folgenden Jahre eine enthusiastische Fan-Gemeinde, die bis heute mit einer jährlichen Convention auf Mackinac Island das Andenken an den Film hochhält.

Das Thema Zeitreisen hat die Science-Fiction immer sehr beschäftigt. H.G. Wells, einer der ersten Zeitreiseautoren, hat 1895 mit „Die Zeitmaschine“ einen Roman vorgelegt, der bis heute seine ungebrochene Faszination auf die Leserschaft ausstrahlt. Wells Vorstellung von der Zeit gleicht darin einem Strom, der seine darauf befindlichen Akteure mit sich reisst. Matheson schreibt zu diesem Modell in „Bid Time Return“, der Vorlage zu „Ein tödlicher Traum“:

Intellektuell ist das unbefriedigend, denn Ströme haben Ufer. Daher müssen wir uns überlegen, was es ist, das stillsteht, während die Zeit dahinströmt. Und wo sind wir? Am Ufer oder im Wasser? Der Gedanke ist auch noch aus einem anderen Grund deprimierend, denn wenn der Lauf des Flusses festgelegt ist, dann existiert die gesamte Zeit bereits, die Zukunft ist unveränderlich, wenn wir sie auch nicht kennen, und von einer freien Entscheidungsmöglichkeit kann nicht die Rede sein. Wir hätten dann keinen freien Willen.

Bislang macht die Wissenschaft wenig Hoffnungen, daß sie irgendwann einmal möglich sein könnten. Anhand von „Ein tödlicher Traum“ schrieb der auf Science-Fiction spezialisierte Sachbuchautor Peter Nicolls: „Nach einer Theorie über die Zeit, die besagt, daß alle Zeit gegenwärtig ist, ist das unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Es widerspricht jedoch dem Prinzip der Kausalität, denn wenn [Richard Colliers] Liebe Erfüllung gefunden hätte, wäre sein Sohn alt genug, sein Vater sein zu können.“ („Science in Science Fiction“)

Ein tödlicher Traum
Mit Christopher Reeve, Jane Seymour
99 Minuten
USA, 1980

Solidarität ist eine Illusion der Linken

Nicaragua ist nur ein kleiner Flecken auf der Karte Mittelamerikas. Und doch entwickelte sich dieser kleine Staat in den 1980er Jahren zu einem heißen Hot Spot des Kalten Krieges. Nachdem 1979 die Guerilleros der Sandinisten den von den USA unterstützten Diktator Somoza vertrieben hatten, etablierten diese ihre Version eines an Kuba und der Sowjetunion angelehnten Regimes. Der Versuch des abgewirtschafteten Kleinstaates, eine sozialistische Utopie zu verwirklichen, wurde auch zur Projektionsfläche zahlreicher Linker in Westdeutschland. Von hier aus zog es Freiwillige dorthin, um beim Aufbau dieser Utopie behilflich zu sein. Nicaragua war ein Dauerbrenner in den Nachrichten, vor allem seit die von den USA unterstützten Contras ihrerseits einen Guerillakrieg gegen das neue Regime entfesselten, und die CIA sogar den Hafen der Hauptstadt Managua verminten. Im DDR-Fernsehen wiederum leiteten die Moderatoren einer Unterhaltungsshow mit einer ausdrücklichen Warnung an den Westen ein: „Finger weg von Nicaragua!“

Dies ist der historische Hintergrund für den Roman „Liebe und Revolution“ des Schriftstellers Jörg Magenau, in welchem er 40 Jahre später im Rahmen einer tragischen Liebesgeschichte die unerfüllten Sehnsüchte und enttäuschten Hoffnungen der Linken seiner Zeit reflektiert. Jahrgang 1961 und sozialisiert im linken Milieu, weiß Magenau genau, worüber er schreibt.

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Protagonist seines Romans ist der Mittzwanziger Paul. Aus kleinbürgerlichen Verhältnissen in der bundesrepublikanischen Provinz stammend, zieht es ihn zum Studium nach Westberlin. Hier lernt er Beate kennen und lieben. Doch über eine Liebschaft kommt ihr Verhältnis nicht hinaus, aus dem sich Beate wortlos zurückzieht.

Weniger aus politischer Überzeugung denn als aus Flucht vor der eigenen Antriebslosigkeit, „der eigenen Unfähigkeit“, zieht es ihn zu einem Arbeitseinsatz in das revolutionäre Nicaragua. Aus den angestrebten sechs Wochen in einer Freiwilligen-Brigade – Wahlspruch: „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ – werden sechs Monate. Überschattet wird die Zeit durch die Entführung der Paul nahestehenden Brigadistin Sigrid durch Contra-Rebellen mit unbekanntem Verbleib. In der Beschreibung der Verhältnisse vor Ort verzichtet Magenau auf jede verklärende Revolutionsromantik:

„Ein Campesino, beschattet von einem riesengroßen, runden Strohhut, prügelte auf seinen Esel ein, der das Gehen verweigerte. Er lebte wohl in einer der Hütten, die gelegentlich am Straßenrand auftauchten, mitten in der Wildnis, ohne Strom, mit nichts als einem Brunnen oder einer Quelle allzu weit weg und mit ein paar mageren Tieren. Wer Glück hatte, gehörte zu einer der bäuerlichen Genossenschaften, die im Zuge der Revolution entstanden waren, die aber nur selten rentabel arbeiteten. Und wenn er ehrlich war, wusste Paul nicht, ob die Campesinos nicht sogar lieber einzeln und arm blieben, anstatt sich in so eine Gemeinschaft zu begeben. Müssten sie das nicht als Niederlage, als Eingeständnis ihrer Schwäche empfinden?“

Zurückgekehrt nach Berlin heuert Paul ausgerechnet beim amerikanischen Sender RIAS als Redaktionsassistent an. Und in einem merkwürdigen Zusammentreffen der Zeitläufe begegnet er an dem so historisch bedeutsamen Abend des 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, als er an der bröckelnden Mauergrenze die hereinströmenden Massen beobachtet, erstmals wieder auf Beate. Für Paul wird es eine Begegnung wie ein „innerer Mauerfall“.

Was Magenaus Roman so auszeichnet, ist die detaillierte Kenntnis und Wiedergabe des Denkens der linken Jugend der 1980er Jahre. So deckt er in den Streitgesprächen seiner Protagonisten die Bruchlinien und Webfehler ihrer ideologischen Wunschvorstellungen auf. Besondere Authentizität erfährt der Roman durch die Milieuschilderungen, wie der als „Einholen“ verharmloste Ladendiebstahl. Und holt Vergessenes hervor, das für manchen lieber im Verborgenen bliebe: So dürfte es der taz mehr als peinlich sein, wenn Magenau daran erinnert, daß das linksalternativen Kampfblatt seinerzeit Millionenbeträge für Waffenverkäufe nach El Salvador sammelte.

Und Nicaragua? So viel sei verraten, die Aufbauarbeit der freiwilligen Brigaden war vergeblich und von vornherein zum Scheitern verurteilt. Nachdem er 1990 durch die liberale Violeta Barrios de Chamorro abgelöst wurde, kehrte der Sandinist Daniel Ortega 2006 in das Präsidentenamt zurück und etablierte seine bis heute bestehende Form der autokratischen Herrschaft, wie man sie aus den Bananenrepubliken Mittelamerikas gewohnt ist. Magenau schreibt schonungslos:

„Vielleicht ist es weder der Schlaf noch der Traum, der die Monster gebiert, sondern die Schlaflosigkeit, die Nervosität, der Argwohn, die Überreiztheit. Wie sonst würde es zu erklären sein, dass Daniel Ortega sich im Lauf der Jahrzehnte vom Revolutionär im Präsidentenamt in einen feisten, kleinen Diktator verwandeln würde, der all das verkörpert, was die Sandinisten einst zu bekämpfen angetreten waren, als müsse ein Naturgesetz vollstreckt werden, das festschreibt, dass einer die frei gewordene Stelle besetzt, die ein gestürzter Tyrann hinterlässt, und, indem er diese Leerstelle füllt, dann allmählich dessen Gestalt annimmt und sich selbst in so ein uniformiertes Monster verwandelt, wie es die Schlaflosigkeit hervorbringt. Wenn es stimmt, was Marx behauptet hat, dass alle geschichtlichen Tatsachen und Personen sich zweimal ereignen, zuerst als Tragödie und dann, in der Wiederholung, als Farce, dann wäre Somoza die Tragödie und Ortega die Farce. Wer an der Macht ist, ist irgendwann nur noch an der Macht, um die Macht zu verteidigen. Dann darf er keinen Moment in erholsamen Schlaf sinken, weil er von Verrätern umzingelt ist. Das Volk jedoch, von dem Paul so begeistert sang, träumte seine eigenen Träume. Aber es waren eben nur Träume, weil niemand auf der Welt die Geschichte – noch nicht einmal die eigene – besitzen kann.“

Jörg Magenau
Liebe und Revolution
304 Seiten, 2023
24,- Euro

Leben spüren in einer erkalteten Welt

In der Spätphase seiner Schauspielerkarriere konnte die Hollywood-Legende Paul Newman (1925 – 2008) es sich aussuchen, auch in Filmen aufzutreten, die nicht dem Massengeschmack entsprachen. Einer davon ist das dystopische Endzeitdrama „Quintett – Ein Mann gegen die ganze Welt“ (1979).

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Regie-Altmeister Robert Altman (1925 – 2006) versetzte Newman darin in die Rolle von Essex, einem Jäger in einer unbestimmten Zukunft, in der die Welt unter einer globalen Eiszeit gefriert. Es ist in dieser lebensfeindlichen Welt kaum noch Jagdwild aufzutreiben. So entschließt sich Essex, gemeinsam mit seiner schwangeren Gefährtin Vivia (Brigitte Fossey) in die Stadt seiner Herkunft, zu seinem Bruder, zurückzukehren.

Nur noch wenige Menschen leben in dieser Stadt, in die der Winter seine kalten Finger streckt. Ihre Zahl schrumpft, Kinder werden keine mehr geboren. Das Leben bewegt sich auf einem primitiven Niveau. Die Leichen der Verstorbenen bleiben unbeachtet liegen und werden den streunenden Hunden zum Fraß überlassen. Es ist, als ob der scheinbar ewige Winter auch die Emotionen der Menschen eingefroren hätte.

Statt zu arbeiten, dem Niedergang entgegenzuwirken, widmen sich die letzten Menschen einem besonderen Zeitvertreib, der ihren ganzen Lebensrhythmus bestimmt: Quintett ist der Name des Spiels mit Würfeln und Spielsteinen, dessen Regeln nicht näher erläutert werden, außer daß es für eine Runde fünf Spieler und einen zusätzlichen Teilnehmer benötigt, dessen Rolle allerdings unbestimmt bleibt.

Während Essex Wiedersehen mit seinem Bruder wirft ein Unbekannter einen Sprengsatz in den Wohnbereich. Der Explosion fallen alle zum Opfer, außer Essex, der den Attentäter verfolgt. Doch dieser wird, noch bevor Essex sein Motiv erfährt, hinterrücks ermordet. Bei dem Toten findet Essex eine Liste mit fünf Namen. Es sind die Teilnehmer einer Quintett-Runde. Wir hier das Spiel auf ein grausames Niveau getrieben? Und was hat der sinistere Grigor (Fernando Rey) als Schiedsrichter mit all dem zu tun? Um der Sache auf den Grund zu gehen, übernimmt Essex die Identität eines des auf der Liste stehenden Namens und gerät dabei unversehens selbst zur Zielscheibe.

Screenshot „Quintett“: Paul Newman als Essex

Altmann, vor allem bekannt durch seine Verfilmung der Militärsatire „M.A.S.H.“ (1970), hatte wohl kaum einen Kassenschlager im Sinn, als er „Quintett“ drehte. Zwar überzeugt die Inszenierung in dem eisigen Sujet, ebenso wie Newmans Performance, der in dem „Endzeit-Märchen“ (Altmann) den letzten Menschen verkörpert, der sich seine Menschlichkeit bewahrt hat, der nicht erst dann das Leben spürt, wenn der Tod ihm am nächsten ist.

Beim Publikum fiel „Quintett“ durch. Eine prominente Kritikerin wie Fürstin Gracia, die frühere Hollywood-Schauspielerin Grace Kelly, tobte: „Wie können Sie es wagen, meinen guten Freund, den wunderbaren Schauspieler Paul Newman in so einem grauenhaften Robert-Altman-Film mitspielen zu lassen?“ Die Antwort des Produzenten fiel knapp und deutlich aus: „Ach was, Sie können mich mal!“

Doch auch ein kommerzieller Flop hat das Zeug zum heimlichen Klassiker. Und „Quintett“ gehört eindeutig in diese Kategorie. Beste Endzeit-Science-Fiction und ein wie immer herausragender Paul Newman machen den Film zu einem kleinen Juwel. Nur wenige DVDs davon sind noch heute im Umlauf, die teils hochgehandelt werden. Wer auf Dystopien steht, der sollte zugreifen!

YT-Clip: Original-Trailer „Quintet“ (1979)
Quintett
Mit Paul Newman, Brigitte Fossey, Bibi Andersson, Fernanodo Rey
1:53 h; 1979

Das Vermächtnis des Tony C.

Es kam am Ende überraschend und unerwartet. Erst verkündete MAGNUM-Mastermind und -Gitarrist Tony Clarkin, daß er an einer seltenen, schweren Erkrankung der Wirbelsäule leide, die zwar behandelbar, aber nicht heilbar sei. Mit der Diagnose kam auch die Absage der Konzerttournee, die eigentlich im Frühjahr dieses Jahres stattfinden sollte. Doch Clarkin versicherte den Fans, daß das nicht das Ende von MAGNUM bedeuten würde. Doch drei Wochen später kam die Nachricht wie ein Paukenschlag: Am 9. Januar gab Clarkins Familie bekannt, daß Tony im Beisein seiner Töchter friedlich entschlafen sei. Er wurde 77 Jahre alt.

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Gemeinsam mit dem charismatischen Sänger und „Storyteller“ Bob Catley bildete Clarkin den Kern von MAGNUM, einer der außergewöhnlichsten Hardrockbands Großbritanniens, die nunmehr auf eine über 50jährige Geschichte mit über 20 Alben zurückblicken kann. Wechselhafter konnte die Bandgeschichte kaum sein: Von vielversprechenden Anfängen in den 1970er Jahren – oft überschattet von Problemen mit der Plattenfirma Jet Records – zum Durchbruch Mitte der 1980er mit „On a Storyteller’s Night“ mit anschließendem Klimmzug in die Topregionen der Charts mit dem Meisterwerk „Wings of Heaven“. Auffallend in dieser Phase war Clarkins düstere Erscheinung im dunklen Mantel und hohen Hut mit Mähne und Bart, als hätte Gandalf aus „Herr der Ringe“ den Zauberstab mit der Gitarre getauscht. Später folgte der radikale Imagewechsel zu Glatze und Kinnbart.

Clarkin selbst gab einmal zu, als Songschreiber kein Naturtalent zu sein: „Ich muß wirklich hart arbeiten, um einen Song zu vollenden. In der Schule habe ich im Englisch-Unterricht genau aufgepasst und zu den Wegen der Komposition, sogar obwohl ich keine Idee hatte, daß ich am Ende dies tun würde. Aber ich wußte, es würde in meinem zukünftigen Leben von praktischem Nutzen sein.“

Die Mühe lohnte sich. Auch ohne Naturtalent gelangen Clarkin außergewöhnliche Kompositionen, thematisch in der Fantasy oder – wie sollte es bei einem Briten anders sein – im Ersten Weltkrieg. Letzteres führte zu den beliebten „Les Morts Dansant“ und dem epischen „Don’t Wake The Lion“:

YT-Clip: „Don’t Wake The Lion“ / MAGNUM

Der Schnapsidee des Plattenmanagements, nun den amerikanischen Markt aufzurollen, folgte der deutliche Knick nach unten. „Goodnight L.A.“, für das Clarkin gemeinsam mit dem legendären Russ Ballard die Songs schrieb, war im Stil des US-Westküsten-Rocks den europäischen Hardrock-Fans nicht zu vermitteln. Und nebenbei – der Eroberungszug in die USA erwies sich als Flop.

An die alten Erfolge konnten MAGNUM von da an nicht mehr anknüpfen.
Mitte der 1990er Jahre fühlte sich Clarkin derart ausgebrannt, daß er MAGNUM auflöste. Es folgte ein kleines Projekt namens HARD RAIN, gemeinsam mit Catley. Es schien, als sei der Sargdeckel über MAGNUM auf ewig geschlossen. Umso größer die Überraschung, als 2002 mit „Breath of Life“ die Wiederbelebung verkündet wurde. Gleichwohl, das Material auf dem Album konnte nicht überzeugen und selbst Clarkin schien sich seiner später zu schämen.

Doch wie seinerzeit bei „On a Storyteller’s Night“ bewies Clarkin, über welches Beharrungsvermögen er verfügte, um auch in den schwierigsten Situationen sein kreatives Potential auszuschöpfen. 2004 brachte „Brand New Morning“ der Band ein kaum für möglich gehaltenes Comeback. Von den ersten Takten des Titellieds bis zum Ende eines der besten Alben, die MAGNUM lieferten.

Von da an liefen MAGNUM wie eine geölte Maschine. Pünktlich alle zwei Jahre kam ein neues Album mit anschließender Europa-Tournee. Besonders erfolgreich waren sie in Deutschland, wo sie nach langer Zeit wieder in den Top-10 vertreten waren. Allerdings war ihr Stil nicht mehr der gleiche wie in der ersten Hälfte ihrer Geschichte, in der ihre Songs vor allem von raffinierten, anspruchsvollen Arrangements geprägt waren, die in epische Klangteppiche mündeten, so wie hier in „Sacred Hour“:

YT-Clip: „Sacred Hour“ / MAGNUM

Was jetzt kam, war solides Handwerk, dessen Produktion Clarkin selbst übernahm. Neue Akzente konnten dem Genre des Hard Rock damit nicht hinzugefügt werden, aber die kontinuierlich hohe Qualität erfüllte die Ansprüche des Publikums zuverlässig. Und der Tradition, in jedes Album einen Titel in epischer Überlänge aufzunehmen, blieb man sich treu. Doch immerhin, „Into the Valley of the Moonking“ (2009) ragt in dieser Spätphase besonders heraus.

Einmal hatte ich sogar das unerwartete Glück eines Pressegesprächs mit Clarkin und Catley. Im März 2018 traf ich beide in der Pause vor dem Soundcheck im Colos-Saal Aschaffenburg. Die Aufregung und Anspannung meinerseits konnten nicht größer sein. Mit einer solchen Prominenz hatte ich es in den bis dahin 20 Jahren als „Freelancer“ noch nicht zu tun gehabt. Mein situationsbedingt holpriges Englisch ließ eine flüssige Konversation leider nicht zu. Dennoch, für meinen Artikel hatte ich daraus genug Stoff sammeln können. Und groß die Erheiterung, als ich sie am Schluß in Verbindung auf ihr beider Alter auf den Song „Rockin‘ Chair“ – Schaukelstuhl (1990) ansprach:

„I ain’t ready for no rockin‘ chair – Ich bin nicht bereit für den Schaukelstuhl“

Warum auch immer, aus einer Veröffentlichung in der „JUNGEN FREIHEIT“ wurde leider nichts. Aber das Erlebnis, die Bandleader meiner Lieblingsgruppe seit Teenagertagen auf ein Gespräch zu treffen, wird für mich immer ein besonderes sein, das alle vorherigen Mühen wert war.

Nun halte ich das neue Album in den Händen. „Here Comes the Rain“ ist am vergangenen Freitag, eine knappe Woche nach Clarkins Tod, erschienen. Die Covergestaltung übernahm wieder der Concept-Art-Künstler Rodney Matthews, dessen Fantasy-Motive allein schon eine Geschichte für sich erzählen. Die darauf enthaltenen zehn Songs lassen nichts zu wünschen übrig und strotzen von einer Vitalität, die jeden aus dem „Schaukelstuhl“ reißt. Musikalische Experimente blieben hier auf den Einsatz eines Harfenspiels beschränkt („After The Silence“). Unwillkürlich muß man bei „I Wanna Live“ an Clarkin denken. Sollten sich bereits in der Produktionsphase die gesundheitlichen Probleme Clarkins bemerkbar gemacht haben, so wirkten sie sich keineswegs auf das Ergebnis aus.

Die Verkaufszahlen von „Here Comes the Rain“ gehen durch die Decke, so daß die vorhandenen CD-Bestände bereits ausverkauft sind. Die Musikkritiker überschlagen sich in ihren Rezensionen. Kann sich ein Musiker einen besseren Abschluß für sein Vermächtnis wünschen?

Tony Clarkins letzte Worte an die Nachwelt:

“I didn’t look to live forever – Ich habe nicht danach getrachtet, ewig zu leben“

Aber die paar Tage, um diesen Erfolg zu erleben, hätte man ihm schon noch gewünscht.

MAGNUM
Here Comes the Rain
(Label: Steamhammer)

Die Protokollanten des Ampel-Irrsinns

Mit Henryk M. Broder verbindet mich ein besonderes Erlebnis. Es war zur Buchmesse Frankfurt 2013, als der Publizist auf dem Stand der „WELT“, für die er als Kolumnist tätig ist, sein Buch „Die letzten Tage Europas. Wie wir eine gute Idee versenken“ vorstellte. Gleich zu Beginn zeigte er durch eine einschlägige Mimik seine Entrüstung und sein Unverständnis darüber, daß zur gleichen Zeit nur zwei Stände weiter Charlotte Roche („Feuchtgebiete“) ihren Auftritt hatte. Nach zwei Kapiteln aus seinem Buch bot Broder dem Publikum an, ein weiteres vorzulesen, allerdings nur unter diesen zwei Bedingungen:

„Erstens: Sie kaufen mein Buch“, um dann im Ton deutlich anzuheben:

„Zweitens: Sie versprechen mir, nie wieder in Ihrem Leben Grün zu wählen!“

Zu einer Zeit, als die Grünen bereits die Lieblinge der Mainstreammedien waren, hatte die „Revolverschnauze“ (Götz Kubitschek über Broder) und Meister der pointierten Beleidigung, wenig Hemmungen, das publizistische Feuer auf die Partei zu eröffnen, die selbst in der Opposition dieses Land tiefer umgestaltet hat als kaum eine andere. Wie wenig diese „Umgestaltung“ – neudeutsch: „Transformation“ – Deutschland zum Positiven verändert hat, ist nie deutlicher geworden, als bei der gegenwärtigen Regierungsbeteiligung der Grünen in der Ampel-Koalition, die seit 2021 regiert. Gemeinsam mit Reinhard Mohr, einem abtrünnigen Altlinken, protokollierte Broder den aktuellen Zustand des Irrsinns, in dem Deutschland immer tiefer im Ampelsumpf versinkt: „Durchs irre Germanistan. Notizen aus der Ampel-Republik“.

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Schon der Neologismus „Germanistan“ im Titel weckt Assoziationen an ein Third-World-Shithole. Und genau diesem deprimierenden Befund kann man sich nach Lesen dieses im sarkastischen Tonfall gehaltenen Protokolls nicht entziehen. Die vergangenen zwei Jahre der Ampel-Regierung bieten in ihrer Ereignisdichte eine Fülle von Symptomen, die den Befund über den Abstieg unseres Landes in die Liga der Dritten Welt zwingend nahelegen:

„Endemischer Moralismus, realitätsferne Illusionen, Größenwahn und Selbstverleugnung, schlechte Laune und Angst vor der Freiheit, dazu Vollkasko-Mentalität und apokalypseversessene Wohlstandsverwahrlosung mit einer kräftigen Portion Geschichtsvergessenheit, die sich als ‚Lehre aus der Geschichte‘ tarnt – darum geht es in diesem Buch.“

Das Buch unterteilt sich in drei Kapitel, in denen die jeweiligen Ereignisse thematisch aufbereitet werden. Das erste Kapitel mit dem Titel „Schöne Illusionen oder Die Realitätsblindheit der Büllerbü-Republik“ nimmt vor allem die geistreichen Sottisen aus prominentem Mund aufs Korn, sei es Karl Lauterbach und sein merkwürdiges Verständnis von der Statistik über Impfschäden oder der Soziologe Heinz Bude, dessen seltsame Bemerkung von „Impfgegnern nach Madagaskar“ mit einem ähnlichen Plan der Judendeportation auf diese afrikanische Insel verbunden wird. Einen besonderen Verriss erfährt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, für seine Forderung, mit der Bekämpfung antijüdischer Ressentiments bereits im Kleinkindalter zu beginnen.

Persönlich wird Broder beim Selbstbestimmungsgesetz, daß jedem Menschen die freie Wahl seines Geschlechts einräumt:

„Ich hätte gerne eine andere oder eine weitere Staatsangehörigkeit. Nicht, dass ich mit meinem deutschen Pass unzufrieden wäre, aber einen monegassischen fände ich schicker. Oder einen maltesischen. Ich habe ein Faible für kleine Staaten. Gehe ich vielleicht zu weit? Habe ich da etwas missverstanden? Es ist doch ganz einfach: Wenn ich das Recht habe, der Natur ins Handwerk zu pfuschen und mich, allen männlichen Attributen zum Trotz, zur Frau zu erklären, dann müsste ich auch das Recht haben, mein Alter und meine Nationalität selbst zu bestimmen. Kann man den Sinn des ‚Selbstbestimmungsgesetzes‘ überhaupt anders verstehen?

Den ersten Schritt in mein neues Leben als Henrike habe ich bereits getan. Ich parke nur noch auf Frauenparkplätzen. Soll doch einer mal kommen und sagen, ich sei keine. Den mache ich rund, als sei ich ein Kerl.“

„Aktivismus“ ist eine der schlimmsten geistigen Verirrungen unserer Zeit. Im Kapitel „Moralismus als neue Gratis-Tugend – die gute Absicht zählt“ wird diese Untugend entsprechend gewürdigt. Zum Beispiel anhand der Ostermarschierer, der Mutter aller deutschen aktivistischen Bewegungen, über die sich die Autoren lustig machen:

„Der Aktivist Reiner Braun vom ‚Netzwerk Friedenskooperative‘ zählt im Tagesspiegel ‚etliche historische Gelegenheiten‘ auf, bei denen man eine Einigung mit Russland hätte erreichen können. Doch inzwischen, so der Friedenskämpfer, hätten die Ukrainer ‚ihr Selbstbestimmungsrecht verwirkt‘, der Staat sei bankrott, korrupt, kaputt. Putins ‚Spezialoperation‘ also ein Akt christlicher Nächstenliebe. (…)

Nun gehört es zu religiösen Exerzitien, dass sie immer gleich ablaufen, ob ‚Urbi et Orbi‘, der österliche Segen des Papstes auf dem Petersplatz, oder das Frühlingsfest der Volksmusik mit Florian Silbereisen, und so ist auch bei den Ostermärschen allenfalls in Nuancen eine Abweichung vom Ritus zu beobachten. Den lässt man sich auch von der hässlichen Wirklichkeit nicht zerschießen. Dieser Hang zum Idealismus ist ein wahres Markenzeichen von Germanistan in den Zeiten der Ampel. Und so wird die Tagesschau auch an Ostern 2024 wieder eine ‚positive Bilanz‘ der Ostermärsche vermelden, ganz egal, was bis dahin in der Ukraine, im Nahen Osten oder auf Taiwan passiert sein wird.“

Der Hang zur Apokalypse ist in wohl kaum in einem anderen Volk so tief verankert, wie dem der Deutschen. Kaum verwunderlich, daß dieser in der bunten Ampel-Republik neue Blüten treibt. Und so heißt das dritte und letzte Kapitel aus dem Buch von Broder / Mohr treffend: „Die deutsche Apokalypseverliebtheit oder Untergang ist immer“. Und kaum eine Aktivistengruppe habe diese irrationale Sehnsucht nach der Apokalypse so verinnerlicht wie die Klimaschützer der „Letzten Generation“:

„Macht man sie – freundlich und höflich – darauf aufmerksam, Deutschland sei nur mit einem Prozent an der globalen Bevölkerung beteiligt und für etwa zwei Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich, also klimapolitisch ein Zwerg, dessen Verschwinden dem Klima nichts ausmachen würde, dann erwidern sie: ‚Umso mehr kommt es darauf an, dass wir mit guten Beispiel vorangehen. Wenn die anderen sehen, dass wir es können, werden sie uns folgen.‘

Das ist deutscher Größenwahn in klimatöser Vollendung. Die Kränkung, bestenfalls ein Gartenzwerg zu sein, der mit den Alphatieren unter den Weltverschmutzern nicht mithalten kann, verwandelt sich in Stolz über eine Poleposition, die das Schicksal den Deutschen zugedacht hat. Wer, wenn nicht wir? Und wann, wenn nicht jetzt? Es ist, als würde sich der Kleingartenverein ‚Glück im Winkel‘ um den Auftrag bemühen, die nächste Bundesgartenschau ausrichten zu dürfen.“

In einer spektakulären Hungerstreikaktion in der Nähe des Reichstags 2021 haben Klimaaktivisten der Welt noch drei bis vier Jahre Zeit zum Umsteuern gegeben, es sei eine Frage auf Leben und Tod. Das würde zufälligerweise in die Zeit der nächsten Bundestagswahl fallen. Genau der richtige Zeitpunkt, um in das Bücherregal zu greifen und „Durchs irre Germanistan“ zu lesen, um festzustellen, daß zu jenem Zeitpunkt das Land immer noch nicht im Hitzesturm untergegangen ist, aber auf seinem Weg in den endgültigen Wahnsinn ein paar bedeutende Schritte weitergekommen ist.

Zwei Termine für Lesungen seines Buches stehen für Broder an. Als nächstes am 31. Januar 2024 in der Berliner Bibliothek des Konservatismus und danach am 17. März auf Schloss Ettersburg bei Weimar. Es ist bezeichnend, daß es zwei ausgewiesene Stätten des Nonkonformismus sind, die Broder, der heute nicht mehr Gast in den Medien des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks sein darf, zu Wort kommen lassen.

Aus gemeinsamen Tagen, als Broder noch Gast sein durfte in Jan Böhmermanns Sendung NEO MAGAZIN ROYALE (2018):
„Jan Böhmermann, ZDF-Reichsverweser, der neuen deutschen Lachkultur, der Blockwart der ‚Netzgemeinde‘, und führender Abschnittsbevollmächtigter der einzig erlaubten Denkungsart“
(aus: „Durchs irre Germanistan“)

Henryk Broder / Reinhard Mohr
Durchs irre Germanistan. Notizen aus der Ampel-Republik
Europa Verlag
224 Seiten; 20,- Euro

Der Bankier, der Deutschland vor der Pleite rettete

Das historische Porträt: Hjalmar Schacht (1877 – 1970)

Nur vier Jahre nach der Abdankung des Kaisers im November 1918 erlebte die nachfolgende Weimarer Republik die schlimmste Krise seit ihrem Bestehen. Anfang 1923 besetzten die Franzosen mit belgischer Unterstützung das Ruhrgebiet, die industrielle Kernzone des Deutschen Reichs, um ihre Reparationsforderungen aus dem Ersten Weltkrieg gegenüber der Reichsregierung durchzusetzen und gegebenenfalls einen Zerfall Deutschlands herbeizuführen. Die Antwort auf den Einmarsch war die Ausrufung des Ruhrkampfs durch die Reichsregierung, die mit den Mitteln des passiven Widerstands den Rückzug der fremden Truppen erzwingen wollte. Eines dieser Mittel war der Streik der Arbeiter in den Betrieben und der Angestellten in den öffentlichen Verwaltungen. Die Lohnausfälle übernahm die Regierung, die jedoch nicht über die entsprechenden Ressourcen verfügte und einfach die Notenpresse anwarf.

Doch damit entwickelte sich die ohnehin schon galoppierende Inflation der Reichsmark in eine nie dagewesene Hyperinflation, die in einem rasenden Tempo sämtliche Bargeldbestände und Sparguthaben entwertete. Was der deutschen Exportindustrie satte Vorteile verschaffte, führte in weiten Teilen der Arbeiterschaft und des Mittelstandes zur sozialen Verelendung. Gleichzeitig polarisierte sich die politische Stimmung im Land zwischen dem rechten und linken Spektrum. Deutsche Kommunisten versuchten sich an ihrer Version der bolschewistischen Revolution und der damals noch relativ unbekannte Adolf Hitler probte im November den letztlich gescheiterten Aufstand.

Doch die Republik sollte es tatsächlich bis zum Ende dieses Krisenjahres schaffen, die Kontrolle wiederzuerlangen. Zwar mußte der Ruhrkampf erfolglos abgebrochen werden. Aber mit der im Oktober eingefädelten Währungsreform gelang wieder eine Stabilisierung des zerrütteten Wirtschaftsgefüges, durch die sich das Reich erholen konnte. Das Jahr endete mit einer Personalie, deren Name eng mit dieser Reform verbunden ist und die im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen sollte: Nach dem Tod des greisen und altersstarrsinnigen Reichbankpräsidenten Havenstein ernannte Reichspräsident Ebert am 22. Dezember 1923 – heute vor genau 100 Jahren – den Reichswährungskommissar Hjalmar Schacht zu seinem Nachfolger. Er sollte dieses machtvolle Amt über das Ende der Weimarer Republik – mit einer mehrjährigen Unterbrechung – bis 1939 innehaben.

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Die Bedeutung der Währungssouveränität kann in Krisenzeiten wie 1923 gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Geldentwertung dürfte einer der bedeutendsten Faktoren gewesen sein, die den Weg Hitlers zur „Machtergreifung“ ebneten. Und selbst heute, wo eine vom Krieg in der Ukraine ausgelöste Inflation zu einer der größten Sorgen der Bundesbürger zählt, machen sich die damals in das kollektive Gedächtnis des deutschen Volkes eingebrannten traumatischen Erfahrungen bemerkbar. Und aktuell findet sich in Russland das bestätigende Pendant zu Schacht in der Zentralbankpräsidentin Elwira Sachipsadowna Nabiullina, die wider Erwarten das Kunststück fertigbrachte, die Wirtschaft zu stabilisieren und den westlichen Sanktionen die erhoffte Wirkung zu nehmen.

Geboren wurde Horace Greeley Hjalmar Schacht am 22. Januar 1877 in Tingleff (Nordschleswig). Seine Wurzeln väterlicherseits lagen im deutschen Bürgertum, während seine Mutter dem dänischen Adel entstammte. Seine weiteren Vornamen Horace Greeley gaben einen Hinweis auf die weltoffene Prägung der Region, die durch die Hanse über die alte Tradition eines weitverzweigten Handelsnetzwerk verfügte. Seit 1906, mit einer Unterbrechung während des Nationalsozialismus, war Schacht Mitglied von Freimaurerlogen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Kindheit waren weitgehend prekär. Vorübergehend versuchte sich die Familie als Auswanderer in die USA. Aber dennoch konnten die Eltern dem jungen Schacht jenes bürgerliche Leistungs- und Bildungsethos vermitteln, das ihn zu einem erfolgreichen Studium mit Promotion verhalf. Dem Studium folgte eine kurze Berufstätigkeit im Journalismus, dem sich die Karriere im Bankgewerbe anschloß. Doch dann kam das Krisenjahr 1923 und damit Schachts große Stunde als Retter der deutschen Währung.

Die Ursachen des Währungsverfalls liegen weiter zurück als mit dem Anwerfen der Notenpresse durch den Ruhrkampf. Der entscheidende Fehler lag in der kritischen Entscheidung der damaligen Reichsregierung, die finanziellen Lasten des Ersten Weltkrieges nicht mit Steuererhöhungen – insbesondere für die Kriegsprofiteure – zu schultern, sondern mit einer steigenden Schuldenaufnahme. Den fatalen Weg in den Schuldenstaat setzte die der Monarchie folgende Republik fort, um sich so die Legitimität zu erkaufen. Später kam die Idee auf, sich mithilfe der Notenpresse zu entschulden. Doch erst im Herbst 1923, als die Krise eskalierte, unternahm die Reichsregierung robuste Maßnahmen, um gegenzusteuern. Die erste, durch den einflußreichen Reichstagsabgeordneten und früheren Finanzmister Karl Helfferich vorgetragene Idee, die bisherige Währung durch eine roggengedeckte zu ersetzen, fiel durch. Am Ende kam die Reform durch die Rentenmark, für die der Staat mit seinem gesamten Grundbesitz und seinen letzten Goldreserven einstand. Helfferich als erste Wahl für den Posten des Reichswährungskommissars, der die Reform durchsetzen sollte, war dem sozialdemokratischen Präsidenten Ebert wegen seiner Rolle als rechter Einpeitscher der politischen Stimmung im Vorfeld der Ermordung des Politikers Matthias Erzberger von 1921 nicht vermittelbar. So kam am Ende Schacht in die engere Auswahl, der sich ab November 1923 ausgestattet mit quasi diktatorischen Vollmachten umgehend ans Werk machte:

Schacht hatte die Strategie, nach der er die Inflation bekämpfte, zwar nicht selbst entworfen, doch durch seine kompromisslose und konsequente Umsetzung des Rentenmark-Plans wurde er als »der Bankier, der sein Land rettete« weltberühmt. Am 15. November 1923 wurden die Druckerpressen angehalten und auf die neue Rentenmark umgestellt. Für eine Rentenmark mußte man eine Billion (1.ooo.ooo.ooo.ooo) alte Reichsmark hinblättern; wem dieser Wechselkurs nicht paßte, der konnte es ja lassen. Wer Grundstücke besaß, konnte eine auf Rentenmark ausgestellte Anleihe zu vier Prozent erwerben, die zu fünf Prozent kündbar bar, obwohl über die Laufzeit der Anleihe keine genauen Angaben gemacht wurden. Es kam in einem heftigen Kampf mit den Spekulanten. Skrupellose Raffkes hatten verzweifelten Menschen alles abgekauft, was sie besaßen (nicht nur Häuser und Grundstücke, sondern auch Kleidung, Schmuck oder Lebensmittel — »Tausend Dollar für deine Villa, keinen Pfennig mehr! Das ist mein letztes Angebot!«) Sie hatten sich ausländisches Geld geborgt, für ihr Kapital hohe Zinsen gezahlt und beim Verkauf ihrer »Beute« hohe Spekulationsgewinne erzielt, doch gegen den neuen, knallharten Reichswährungskommissar hatten sie keine Chance. Deutsche, die noch Sachwerte besaßen, faßten wieder Mut und boten sie nicht mehr zu Schleuderpreisen an. Am 20. November hatten die meisten Spekulanten bereits kapituliert. (aus: “Hitlers Bankier – Hjalmar Schacht“; John Weitz)

Die Welle nationaler und internationaler Popularität weckte bei dem hochgewachsenen Mann von hagerer Gestalt mit markanten Stehkragen durchaus höhere Ambitionen. Gleichzeitig entfremdete sich der anfangs liberale Vernunftsrepublikaner von der Weimarer Republik, weil seine berechtigten und weitsichtigen Warnungen vor der Ausgabenpolitik der Reichsregierungen wenig Gehör geschenkt wurden. Im Streit über den Young-Plan, der Deutschlands Reparationsverpflichtungen regeln sollte, trat er von seinem eigentlich auf Lebenszeit bestellten Amt zurück. Von seinem Rückzugsort, dem Landsitz Gühlen, blieb Schacht nicht untätig und knüpfte Verbindungen zum Nationalsozialismus, der sich nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise gewaltig im Aufwind befand. Wie viele andere aus der konservativen Elite gab er sich der trügerischen Illusion hin, die durchaus als mindestens „unappetitlich“ empfundenen Nazis und ihren „Führer“ Adolf Hitler in ihrem Sinne lenken zu können: „Nein, die Nazis können nicht regieren. Aber ich kann durch sie regieren.“

Nur wenige Wochen nach seiner „Machtergreifung“ ernannte Hitler Schacht zum erneuten Reichsbankpräsidenten; 1934 zum Wirtschaftsminister in Personalunion. Mit seinem internationalen Renommee und Netzwerk verschaffte er dem Regime das vorläufige Vertrauen des Auslands. Im Inneren finanzierte er die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die massive Wiederaufrüstung. Allerdings mit Mitteln, die seinem ökonomischen Selbstverständnis vollkommen widersprachen und erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihre inflationäre Wirkung entfalten sollten, so daß 1948 mit Einführung der D-Mark in Westdeutschland eine erneute Währungsreform anstand.

Schacht wollte im konservativen Sinne die Aufrüstung Deutschlands, um das Land wieder zu einem gleichberechtigten Akteur in der Welt zu machen, denn: „Vor oder zwischen den Weltkriegen wurde ein Staat nach der Stärke seiner Armee, nach der Größe seiner Kriegsflotte und der Reichweite seiner Bomber beurteilt“ (John Weitz). Demgegenüber standen die expansiven Ziele Hitlers, der dabei wenig Rücksicht auf die ökonomischen Realitäten nahm. Der aggressive Judenhass der Nazis stieß Schacht zusätzlich ab, und er bekämpfte derartige Tendenzen in seinem Amtsbereich ohne jede Nachsicht, was ihm das Mißtrauen der Parteiführung einbrachte, obwohl er selbst keineswegs frei von antisemitischen Klischees war. Es gehörte damals schon eine gehörige Portion Mut dazu, so wie er nach den Exzessen der Kristallnacht den Lehrlingen der Reichsbank eine solche Ansage zu machen:

„Die Brandstiftung in den jüdischen Synagogen, die Zerstörung und Beraubung jüdischer Geschäfte und die Mißhandlung jüdischer Staatsbürger ist ein so frevelhaftes Unternehmen gewesen, daß es jedem anständigen Deutschen die Schamröte ins Gesicht treiben muß. Ich hoffe, daß keiner von Euch sich an diesen Dingen beteiligt hat. Sollte aber doch einer dabeigewesen sein, so rate ich ihm, sich schleunigst aus der Reichsbank zu entfernen. Wir haben in der Reichsbank für Leute keinen Platz, die das Leben, das Eigentum und die Überzeugung anderer nicht achten. Die Reichsbank ist auf Treu und Glauben aufgebaut.“

Trotz Parteiehrungen immer auf Distanz zu Hitler bedacht, geriet er in zunehmenden Konflikt zum „Führer“. Erst 1937 verlor er nach einer scharf formulierten Denkschrift zu den Autarkiebestrebungen Hitlers sein Amt als Reichswirtschaftsminister. Der endgültige Bruch vollzog sich im Januar 1939 – nur wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – als das Reichsbankdirektorium ein Memorandum an Hitler abschickte, das vor dem Verhängnis einer anhaltend „uferlosen Ausgabenwirtschaft“ warnte und seinem Adressaten die dramatischen Folgen für das Wirtschafts- und Währungsgefüge vor Augen hielt. Doch insgeheim wollte Schacht verhindern, daß auf Reichsbankkredit ein Angriffskrieg finanziert wird. Erbost über diese „Meuterei“ entließ Hitler Schacht aus seinem Amt als Präsident der Reichsbank. Auf Hitlers Wunsch erhielt er aber das Amt eines Ministers ohne Geschäftsbereich, bevor er ihn 1943 auch aus diesem entließ:

„Hitler brannte darauf, Schacht mit seinen ständigen Einwänden, seinen unangenehm rationalen Argumenten und seinem politischen und steuerlichen Konservatismus loszuwerden.“ (John Weitz)

An dieser Stelle muss der Bogen in unsere heutige Zeit geschlagen werden, um auf gewisse Analogien und Musterwiederholungen hinzuweisen, die auf bedenkliche Dispositionen im Nationalcharakter und der Mentalität der Deutschen schließen lassen. So wie im Dritten Reich ein entsetzlicher Dilettantismus brachial zu Werke ging, unbeeindruckt von der Realität und jeder gegenstimmigen Expertise, das Land nach utopischen Vorstellungen umzugestalten, so ist dieses Muster auch heute zu beobachten, sei es in der Klima- und Energiepolitik, sei es in der Migrationspolitik. Um nicht mißverstanden zu werden: Damit sollen die Grünen nicht mit der mörderischen Bewegung der Nationalsozialisten auf ahistorische und polemische Weise gleichgesetzt werden. Obwohl beide Bewegungen durchaus über gemeinsame Wurzeln in der deutschen Romantik verfügen, doch das weiter auszuführen ist hier nicht der geeignete Ort. Wie auch immer, übereinstimmend ist der ideologische Furor, mit dem Fanatiker ohne jede entsprechende fachliche Kompetenz – damals ein Postkartenmaler, heute ein Kinderbuchautor – utopische Ziele umzusetzen suchen – damals eine autarke Nation in ethnischer Reinheit, heute eine multikulturelle Gesellschaft in Klimaneutralität -, und in ihrem Gefolge eine Masse gläubiger Jünger, ungeachtet aller sich abzeichnender negativer Konsequenzen.

Doch zurück zu Schacht: Schon vor seiner „Freisetzung“ gestand er im engen Kreis seinen Irrtum über die Nazis ein: „Wir sind Verbrechern in die Hände gefallen, wie hätte ich das ahnen können.“ Nach dem gescheiterten Attentat des 20. Juli 1944 wurde Schacht festgenommen und verbrachte die Zeit bis zum Kriegsende in verschiedenen Konzentrationslagern. Nur mit knapper Not konnte er dem Tod entkommen, da das Regime ihm seine Kontakte zum Widerstand nicht nachweisen konnte. Das Schweigen der Verschwörer rettete ihn mit knapper Not.

Dennoch schloß sich dem die Internierung durch die Alliierten an, die ihm vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal den Prozeß machten. Die ohnehin schlampige Anklage, die auf ein Todesurteil abzielte, konnte herfür nichts Belastendes vorbringen. Dies wiederum hielt die Justiz der jungen Bundesrepublik ihrerseits nicht davon ab, Schacht unmittelbar strafrechtlich zu verfolgen, letztlich ohne Ergebnis.

Schachts Expertise war weiterhin gefragt. Vor allem die neugegründeten Staaten der ehemaligen Kolonien der Dritten Welt suchten seinen Rat. Ebenso gründete er erfolgreich eine Bank. 1970 verstarb Schacht hochbetagt im Alter von 93 Jahren in München.

Hjalmar Schacht in all seinen Leistungen, aber auch in seinen Widersprüchen, seinen tragischen Irrungen und Wirrungen, die eine bewegte Lebenspanne vom Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich und die Bonner Republik umfassten, ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Als letztes brachte 1997 der jüdischer Historiker John Weitz (1923 – 2002), dessen Familie vor den Nazis aus Deutschland emigrierte, eine beachtliche und faire Biographie heraus, „Hitlers Bankier: Hjalmar Schacht“. Auf die mithin wichtigste Frage in der Vita Schachts, die nach seiner Mitschuld daran, daß Hitler die Welt in Angst und Schrecken versetzte, befand Weitz:

„Er wurde beim Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg freigesprochen, als er sich erfolgreich gegen eine so eng wie möglich gefasste Anklage verteidigte. Die Glaubwürdigkeit des Militärgerichts hing von der Stichhaltigkeit und Durchsetzbarkeit der verhängten Urteile ab. Es konnte keinen Angeklagten verurteilen, weil er den Teufel geliebt hatte. Es konnte ihn nur verurteilen, wenn er dem Teufel bei einem klar zu bestimmenden Verbrechen geholfen hatte. Doch Schachts Verbrechen war seine Bewunderung für den Teufel gewesen.“

John Weitz
Hitlers Bankier: Hjalmar Schacht
Europa Verlag, 1998
450 Seiten
Nur noch antiquarisch erhältlich