Es hätte nicht viel gefehlt, und das Lesedinner mit dem Schriftsteller Ingo Schulze wäre kurzfristig abgesagt worden. Seine weitere Zugfahrt nach Kassel drohte in Göttingen komplett auszufallen, weil ein Fahrgast sich weigerte, den vorgeschriebenen Mund-Nasen-Schutz aufzusetzen. Aber so konnte am vergangenen Freitagabend des 3. September 2021 nach mehreren coronabedingten Verschiebungen die Veranstaltung im Rahmen des Literarischer Frühling in der Heimat der Brüder Grimm dennoch endlich nachgeholt werden, wenngleich auch nicht im Frühling, sondern im recht warmen Spätsommer.
Das Romantik Hotel Landhaus Bärenmühle, abseits gelegen zwischen Bad Wildungen und Frankenberg, bot den gediegenen Rahmen für das Lesedinner, zwar nicht in den Innenräumen, sondern in einem externen Zelt. Doch das Ambiente darin war recht edel gehalten. Für Berichterstatter, wie geladenen Gast, war es die erste Erfahrung eines solchen Lesedinners.
Ein Vier-Gänge-Menü bot den Rahmen, passend zum Thema des Abends bestehend aus einer Mischung lokaler und ostdeutscher Spezialitäten wie Ellershäuser Ziegenfrischkäse, Leipziger Allerlei und Sächsischer Eierbemme. Als Mitorganisatorin des Literarischen Frühlings und Inhaberin des gemeinsam mit ihren Geschwistern von ihren Eltern übernommenen Landhauses Bärenmühle hat die frühere Journalistin von hohem Renommee der Süddeutschen Zeitung es verstanden, ein Kulturereignis erster Klasse aufzustellen.
Kohl, die durch den Abend auch als Moderatorin führte, stellte Ingo Schulze als „Chronisten deutsch-deutscher Befindlichkeiten“ vor. Der gebürtige Dresdner gehört mit seinen Romanen zu den bedeutendsten Schriftstellern ostdeutscher Provenienz. Anlaß der Einladung war sein aktueller Roman „Die rechtschaffenen Mörder“.
Anders als es der Titel nahelegt, handelt es sich dabei keineswegs um einen Kriminalroman. Es ist eine Dresden-Roman, über eine Stadt, in der sich wie in einem Brennglas die gesellschaftspolitische Spaltung Deutschlands fokussiert. Als eine Parabel auf diese Spaltung erzählt uns Schulze die fiktive Geschichte des Dresdner Buchhändlers Norbert Paulini, eines schrulligen Sonderlings, und seines Antiquariats durch die Wechselfälle der 1970er Jahre bis in die heutige Zeit. Ohne selbst der Opposition anzugehören, entwickelt sich in den Vorwendejahren sein renommiertes Geschäft zu einem Gegenpol zur Staatsmacht, dort wo Wohn- und Geschäftsräume in einem sind – ein Leben nur für die Bücher. Der Autor läßt sein Alter ego, den Schriftsteller Schultze, über den Büchernarren sagen:
„Meine Erzählung sollte Paulini als den großen Leser zeigen, der über die Zeiten und Systeme hinweg aufgrund seiner Veranlagung und Leidenschaft zum Bollwerk wird gegen das, was uns Büchermenschen bedroht, der, weil er seinen Wünschen und Überzeugungen treu bleibt, sich gewissermaßen auf natürliche Weise gegen das stemmt, was uns Jahr für Jahr aushöhlt und wegschwemmt und eines Tages nichts mehr von dem übrig gelassen haben wird, wofür wir zu leben geglaubt habe. Wären wir nicht ohne die Paulinis dieser Welt verloren?“
Doch so einfach wird es dem Leser nicht gemacht, im weiteren Verlauf der Geschichte den Hauptprotagonisten als Sympathiefigur anzunehmen.
In den Wendeumbrüchen mißlingt Paulini die Anpassung an die neuen Bedingungen. Restitutionsansprüche an das Geschäftshaus und das Elbehochwasser setzen ihm zu. Es folgt der soziale Abstieg. Im Verlauf der folgenden Jahre radikalisiert sich Paulini und gerät gemeinsam mit seinem Sohn in polizeiliche Ermittlungen über fremdenfeindliche Vorfälle. Das Ende des Romans, so viel sei hier schon vorweggenommen, läßt in seiner Uneindeutigkeit über die Umstände von Paulinis Tod den Leser ratlos zurück, ein Umstand, der vom Autor durchaus beabsichtigt ist.
Im Gespräch mit dem Autor entwickelte Moderatorin Kohl das Bild eines vielschichtigen Dresden-Romans, den Schulze mit „Die rechtschaffenen Mörder“ geschaffen habe, „ein Roman mit vielen, vielen Rätseln“, „als Plädoyer gegen die Eindeutigkeiten“. Das weitere Gespräch warf nicht nur die Frage nach der speziellen gesellschaftspolitischen Situation in Dresden, sondern nach dem Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschen auf. „Dem Westen“, so Schulze, „fehle nichts so sehr wie die nicht-westliche Erfahrung, um sich selbst zu verstehen“.
Dennoch erlaubte sich Kohl die Frage an Schulze zu einem anderen Schriftstellerkollegen in Dresden, Uwe Tellkamp, in Zusammenhang mit seinem Roman, „wie driftet man durch die Welt, ich will nicht abdriften sagen“. Tellkamp hatte sich unter anderem entschieden gegen die Politik der offenen Grenzen in der Migrationskrise 2015 positioniert. Ein konsterniertes Gesicht aufziehend, sagte Schulze, es habe ihn nicht in Tellkamps Erfolgsroman „Der Turm“ – ebenfalls eine Wende-Geschichte aus Dresden – gezogen. Und mit sarkastischem Unterton legte er noch unter dem Gelächter des Publikums nach, „Der Turm“ passe „wunderbar in das westliche Bild, um den Osten zu erklären“. Die Dresdner Fehden, sie waren auch an diesem Abend in Nordhessen präsent.
Dresden, der Osten und der Westen, der deutsche Riss – einen derart komplexen Themenzusammenhang anhand eines so vielschichtigen Buches wie „Die rechtschaffenen Mörder“ eingehend auszuloten, das wäre im Rahmen eines derartigen Lesedinners eine kaum zu bewältigende Herausforderung gewesen. Das eigentliche Kunststück einer solchen Veranstaltung ist die gelungene Balance zwischen dem kulinarischen Genuß eines Vier-Gänge-Menüs und der hinreichenden Vermittlung des literarischen Themas.
Somit blieben leider wichtige Punkte unerwähnt: Zum einen die Rolle von Schulz in der nach wie vor laufenden Debatte um die Dresdener Buchhändlerin Susanne Dagen vom Buchhaus Loschwitz wegen ihrer „rechtsabweichlerischen Tendenzen“, in der es zum Bruch zwischen beiden gekommen ist. Zum anderen damit hineinspielend seine eindeutige Positionierung zum Rauswurf von Monika Maron aus ihrem bisherigen Verlag S. Fischer, dem er seinen Dank aussprach, „dass er, nicht so wie ich und viele andere auch, stillschweigend weggeschaut hat.“ Es hätte wohl auch den Rahmen der Veranstaltung ob des um diese Causa uninformierten Publikums gesprengt.
Somit bleibt ein Abend, der in gelungener Weise aufgezeigt hat, wie eine gehobene Kulturvermittlung selbst in der Abgeschiedenheit des nordhessischen Umlands von Kassel gelingen kann.
Ingo Schulze |