Für die bedeutendste Industrienation der Welt mit dem Anspruch auf globale Geltung ihrer Werte war die Nachricht ein beschämendes Debakel: Wie das Ärzteblatt in einer Meldung vom 30. Oktober 2019 berichtete, sank in den USA erstmals seit 1993 die Lebenserwartung. Ursache dieses Rückgangs ist die steigende Zahl von Opioid-Toten, Folge der seit rund 25 Jahren grassierenden Opioid-Krise, der allein 2018 rund 32.000 Menschen infolge von Überdosen, wie beispielsweise mit Fentanyl, zum Opfer fielen.
Der Medienkonzern Disney ist allgemein bekannt für sein seichtes Unterhaltungsprogramm. Doch zu den Perlen ernsthafterer Angebote zählt aktuell auf seinem Streaming-Kanal die Dramaserie „Dopesick“, die die Opioid-Krise einem breiten Publikum vermittelt. Hauptprotagonist ist der Hollywood-Schauspieler und Oscarpreisträger Michael Keaton („Batman“, „Birdman“) in der Rolle des Arztes Dr. Samuel Finnix, der seinen Patienten im Vertrauen auf die nicht süchtig machende Wirkung das Schmerzmittels OxyContin verschreibt. Doch „Oxy“ hält nicht das, was der Pharmakonzern Perdue verspricht; es macht hochgradig süchtig. Oxy wird der Auslöser für eine neue Drogenepidemie, der tragischerweise auch Dr. Finnix zum Opfer fällt.
Grundlage der Serie ist das Buch „Dopesick – Wie Ärzte und die Pharmaindustrie uns süchtig machen“ der preisgekrönten Journalistin und Autorin Beth Macy. Darin geht sie der Historie der Opioid-Krise nach und interviewte dazu zahlreiche Betroffene wie Ärzte, Polizeiermittler, Juristen, Süchtige und ihre Familienangehörigen.
Ausgangspunkt war 1996 die Markteinführung von OxyContin durch den Pharmakonzern Perdue. Etwa zeitgleich zog eine neue Kultur der Schmerzbetrachtung ein, wonach Schmerz als „fünftes Vitalzeichen“ eine höhere medizinische Aufmerksamkeit erhielt. Genau hierauf zielte Perdues Marketingstrategie ab, das Medikament bereits bei Alltagsschmerzen anzuwenden. Das Suchtpotential wurde bewußt heruntergespielt mit der unbelegten Behauptung, durch seinen retardierenden – also verzögernden – Wirkungsmechanismus würden lediglich weniger als ein Prozent der Patienten süchtig werden!
Die Ärzte, Krankenschwestern und Apotheker wurden von Perdues Vertretern mit teuren Werbegeschenken korrumpiert, wozu sogar kostenlose Trips nach Florida gehörten. Die aufsichtführende Behörde FDA (Food and Drug Administration) erwies sich als Totalausfall. Perdue hat in einem Paradebeispiel für die von orthodoxen Ökonomen gerne negierte angebotsorientierte Marktwirtschaft einen eigenen Absatzmarkt für ein höchst bedenkliches Produkt geschaffen.
Der Ausgangspunkt der Krise waren sozial deprivierte Regionen wie die isolierten Appalachen, der Rust Belt im Mittleren Westen und das ländliche Maine, wo die ökonomische Hoffnungslosigkeit der beste Wachstumsboden für ein Suchtmittel wie Oxy bietet. Da ohnehin von der Politik abgeschrieben und die Vernetzungsmöglichkeiten des Internets noch in den Kinderschuhen steckten, dauerte es, bis das Ausmaß der Folgen des Oxy-Konsums sichtbar wurden. Die Beschaffungskriminalität grassierte, Oxy wurde zur Einstiegsdroge für Heroin und Fentanyl und die Zahl der Todesopfer von Überdosen schwoll bedenklich an. Die Verhinderung des „Turkeys“ oder „Dopesick“, also des schmerzhaften Entzugs der Droge, wurde zur obersten Priorität im Leben der Junkies. Oxy wurde so zu einer Seuche, die vor allem das weiße Amerika in seinen besten Jahren traf. Und der Weg dahin führte über ein verschreibungspflichtiges Medikament.
Geebnet wurde dieser Weg von Ärzten, die einerseits bestochen, andererseits vertrauend auf die von der FDA abgesicherten Versprechungen auf die scheinbaren Segnungen des Oxys zu Dealern wurden, während die Sacklers als Eigentümer von Perdue zu einer der reichsten Familien der USA aufstieg – ganz legale Drogenbarone, die sich nebenher als Kunstmäzene einen Namen machten.
Es hat lange gedauert, bis das Bewußtsein für die Krise einen Schwellenwert erreicht an, an dem endlich ihr Ausmaß begriffen wurde. Zu verdanken ist dies vor allem der unermüdlichen Arbeit von Basisgruppen, die direkt am Ort des Geschehens operierten. Ihre Bewältigung wird zu einer Daueraufgabe werden, denn Opioidabhängigkeit ist eine mit vielen Rückfällen behaftete lebenslange Erkrankung. Die ökonomischen und sozialen Folgen der Abwehrmaßnahmen gegen die Covid-Pandemie haben die Opioid-Krise sogar verstärkt. Erst langsam setzt sich in den USA die Erkenntnis durch, daß der beste Weg aus der Abhängigkeit durch die medikamentöse Substitutionstherapie erfolgt und nicht durch Askese, die das Problem eher verschlimmert. Dabei ist der Therapiebedarf größer als das Angebot. Erschwerend kommt hinzu, daß es in den USA kein wie in Deutschland verpflichtendes und vergleichbares Krankenversicherungssystem gibt.
Aktueller Stand der juristischen Aufarbeitung der Opioid-Krise ist ein im vorigen Jahr abgeschlossener Vergleich zwischen 15 Bundesstaaten und Perdue Pharma über eine Summe von 4,5 Milliarden Dollar. Mit einer Vergleichssumme von sogar 26 Milliarden Dollar wurden weitere Profiteure der Krise zur Kasse gebeten, drei Großhändler für Medikamente sowie der Pharma-Konzern Johnson & Johnson.
Noch in den 1980er Jahren konnte ein Mainstream-Magazin, wie „Der Spiegel“, Titel auf den Markt bringen, wonach die Pharmaindustrie weniger das Wohl der Patienten als vielmehr ihre eigenen Interessen der Gewinnmaximierung im Blick hat, und dabei zu verantwortungslosen Methoden greift. Heute, in den Hochzeiten von Corona und der Debatte über die Impfpflicht, wird dieselbe These in das Reich der Verschwörungsmythen verwiesen. OxyContin und Perdue sind aber der beste Beweis, daß darin mehr als ein Körnchen Wahrheit steckt. Ungeachtet der Frage, ob die Impfung das wirksamste Mittel gegen die Covid-Pandemie ist – aber wer will da noch Impfskeptikern und-verweigerern ihre kritische Haltung übelnehmen?
Beth Macy Dopesick: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie uns süchtig machen 464 Seiten; 22,- EU |