Das Herbstrascheln im Blätterwald

Im Herbst raschelt in Südniedersachsen nicht nur das Herbstlaub, auch der Blätterwald gerät in Bewegung. Dann ist im Oktober die Zeit gekommen für den Göttinger Literaturherbst, eine seit über 30 Jahren bestehende Kulturinstitution. Auch in diesem Jahr bot das Programm den Auftritt zahlreicher Schriftsteller, die ihre aktuellen Werke und ihr Schaffen insgesamt vorstellen. Aus dem Programm von 2023 sollen hier drei von ihnen näher vorgestellt werden.

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Andrej Kurkow: Der russischsprachige Ukrainer

Erstaunlich gering war das Interesse für Andrej Kurkow. Der 1961 in Leningrad geborene Ukrainer zählt sich zur russischsprachigen Minderheit der Ukraine und hat sich mit Romanen wie „Picknick auf dem Eis“ (1999) und „Graue Bienen“ (2019) erfolgreich international als Schriftsteller etabliert. Doch nicht nur Romane, auch Kinder-Bilderbücher wie das von Tania Goryushina illustrierte „Warum den Igel keiner streichelt“ gehören zu seinen Werken. Trotz des Ukrainekrieges, den er mit seinem „Tagebuch einer Invasion“ (2022) beobachtete, war am Freitagabend des 27. Oktober das Alte Rathaus bestenfalls zu einem Viertel mit Zuschauern belegt. Ein Zeichen dafür, daß das deutsche Publikum dieses Krieges überdrüssig ist?

Andrej Kurkow / © D. Körtel

Kurkov jedenfalls hatte sein neues Buch „Samson und das gestohlene Herz“ mit im Gepäck, aus dem der polyglotte Ukrainer mit russischer Muttersprache in einwandfreiem Deutsch vorlas. Es ist der Folgeband von „Samson und Nadjeschda“, einer Kriminalgeschichte aus dem Kiew von 1919, aus der Phase des Bürgerkriegs, die sich der bolschewistischen Revolution von 1917 anschloß. Obwohl es der Titel nahelegt, ist der Hintergrund der Geschichte keine Romanze, sondern spielt im Fleischgewerbe Kiews. Sein Held, der Ermittler Samson, hat nichts mit seinem biblischen Namensvetter gemeinsam, sondern versucht einfach nur zu überleben.

Auf das Thema des Krieges in der Ukraine wurde natürlich auch eingegangen. Kurkow gab einen kritischen Hieb auf die russische Literatur, die im Gegensatz zur ukrainischen vollkommen humorlos sei: „Dostojewski“, der große russische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, „ist nicht lustig.“

Als Folge des Krieges sieht er die russische Sprache in der Ukraine im Niedergang. Viele Jüngere wollten sie nicht mehr sprechen. Auch physisch werde es immer weniger Russischsprechende geben: „Die russische Kultur und Sprache wird künftig keine Rolle mehr in der Ukraine spielen“, so Kurkov ohne jedes Bedauern in der Stimme.

Die militärische Situation sieht er als konsolidiert an: „Es gibt Hoffnung.“ Im Gegensatz zum Bürgerkrieg, als sechs Armeen um die Macht in Kiew kämpften, stehe die Ukraine nur noch einem Feind gegenüber.

Hoffnung darauf, daß sich negative Einstellungen ändern können, schöpft Kurkow aus der Erfahrung, als er mit elf Jahren es ablehnte, in der Schule das Fach Deutsch zu lernen: Weil die Deutschen im Zweiten Weltkrieg seinen Großvater umbrachten. Doch immerhin, mit 36 Jahren änderte er seine Meinung.

Richard Ford: Das letzte Kapitel im Leben des Frank Bascombe

Zu den Stargästen des diesjährigen Literaturherbstes zählt zweifellos Richard Ford. Der US-Amerikaner aus New Jersey feiert vor allem mit seiner Romanreihe über das Leben seines Protagonisten Frank Bascombe weltweit Erfolge. Aktuell ist das fünfte und letzte Buch erschienen, „Valentinstag“, in dem der gealterte Frank Bascombe an eben jenem Feiertag mit seinem todkranken Sohn eine Reise zum Mount Rushmore unternimmt, jenem ikonischen Denkmal im US-Bundesstaat South Dakota, das in gigantischer Form die Köpfe der US-Präsidenten George Washington, Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt und Abraham Lincoln ziert. Auf ihrer besonderen Reise vertauschen Vater und Sohn oft die Rollen, eine Beziehung voller Urgefühle.

Die NDR-Journalistin Margarete von Schwarzkopf suchte am Sonntagabend des 29. Oktober in der restlos ausverkauften Sheddachhale das Gespräch mit Ford, unterstützt von dem Schauspieler Benno Führmann („Babylon“), der Textpassagen aus „Valentinstag“ vortrug. Alle drei ergaben ein sich perfekt ergänzendes Ensemble, das nicht nur seinen Spaß miteinander hatte, sondern diesen auch in das Publikum vermitteln konnte. Naheliegend galt ihr Interesse vor allem dem Protagonisten Bascombe, in dem man ein Alter Ego seines Schöpfers vermuten könnte. Denn beide sind fast gleich alt – Bascombe 74, Ford 79 – und Ford war zeitweise – wie Bascombe – Sportreporter, bevor er hauptberuflich Schriftsteller wurde. Bascombe, so Ford, ist eine spezielle Figur, kein Durchschnitts-Amerikaner, wie vielleicht viele Leser vermuten würden. Diese Vorstellung eines Durchschnitts-Amerikaners sieht Ford auch als abwegig an. „Valentinstag“ ist trotz des traurigen Hintergrunds auch eine Geschichte über Glück, denn: „Glück ist, wenn man Unglück hinter sich läßt.“ Seine Ehefrau, so Ford, sagte ihm: „Schreib über glückliche Menschen.“ Und vielleicht ist das der verborgene Kern von „Valentinstag“, daß man sich Frank Bascombe als einen solchen glücklichen Menschen vorstellen muß. Und so war es diese Stelle aus dem Prolog von „Valentinstag“, die Führmann mit so viel Eleganz vortrug, die die Zuhörer wohl am meisten berührte:

Wozu nicht mehr viel zu sagen ist. Wie kommt es, dass eine lange schlafende Idee wieder zum Leben erwacht und als komplett erneuertes Ziel ihr strahlend helles Lebensbanner schwenkt? Glücklich sein – bevor der graue Vorhang fällt. Oder zumindest drüber nachdenken, warum du es nicht bist, wenn du es nicht bist. Und ob es überhaupt was bringt, sich darum zu scheren. Was ich behaupten würde. Es bringt was, sich darum zu scheren – mehr Sicherheiten habe ich allerdings auch nicht anzubieten. Aber wer zur Tür hinausgeht (das wusste meine Mutter, das »wusste« sogar Pug Minokur, falls er überhaupt etwas wusste) und sich nicht darum schert, ob er glücklich ist, der zollt dem Leben weniger als den vollen Tribut. Was doch schließlich unser Daseinsgrund ist. Dem Leben seinen vollen Tribut zu zollen, egal wer wir sind. Oder etwa nicht?

Natürlich vermittelt „Valentinstag“ auch einen Eindruck über „die Lage des Landes“ (so wie der gleichnamige dritte Titel der Bascombe-Reihe). Mit dem Mount Rushmore verbindet Ford ein Erlebnis, als er zur gleichen Zeit dort war wie US-Präsident Donald Trump, dessen Blick auf das kolossale Monument ihm erschien, als wolle jener auch sein Abbild dort sehen.

Die Fahrt von Minnesota zum Mount Rushmore folgt einer korrupten amerikanischen Tradition, in der sich die Nation von Ost nach West bewegte, dabei alles unter ihr ruinierend. Amerika sei heute ein gefährdetes und gefährliches Land. Dennoch sagt Ford von sich: „I am an american patriot, even today – ich bin ein amerikanischer Patriot, selbst heute.“

Richard Ford / © D. Körtel

Seinen Weg zum Schriftsteller beschreibt Ford als einen mit Brüchen. Auf zwei erfolglose Bücher in den 1970ern folgte eine Phase als Sportreporter, bevor er in den 1980er Jahren zum Durchbruch fand. Sein Schreibprozeß bringt in dem, was seine Figuren tun, immer wieder Überraschungen hervor; die Rollen sind nicht vorgeschrieben. In all seinen Büchern suche er nach der Gelegenheit, daß jemand sagt: Ich liebe dich. Schreiben selbst sei nicht hart. Er sei darin aufgegangen. Und wie mit einem Augenzwinkern: Auch müsse er aufgrund seines Alters keine Rücksicht auf die political correctness nehmen.

Frank Bascombe ist am letzten Kapitel seines Lebens angelangt. Doch damit ist sein Schöpfer Richard Ford noch lange nicht am Ende. Zwar fühle er sich nach jedem Buch leer. So zog er das rote Notizbuch aus seinem Jackett, in dem er immer die Ideen für neue Geschichten hineinschreibt, die ihm unterwegs einfallen. Der alte weiße Mann aus New Jersey wird uns bestimmt noch was zu erzählen haben. Das Publikum wird es mit Beruhigung aufgenommen haben.

Richard G. Kratz: Gottes Wort aus der Höhle

Was 1947 Beduinen zufällig in einer Höhle am Toten Meer entdeckten, sollte sich als der bedeutendste Fund aus der Antike erweisen. Die darin vorgefundenen Tonkrüge enthielten Schriftrollen mit den ältesten Niederschriften der hebräischen Bibel, des Alten Testament. Die Schriftrollen von Khirbet Qumran wurden zur Sensation über die Fachwelt hinaus. Erst 1991 wurde ihr Inhalt vollständig freigegeben.

Wenn es einen deutschen Experten für Qumran gibt, dann Reinhard G. Kratz. Der Professor für Altes Testament an der Georg-August-Universität Göttingen ist auch Leiter der Qumran-Forschungsstelle der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Am 1. November stellte er im Gespräch mit Jonas Maatsch, Generalsekretär der Akademie, in der Alten Mensa sein 2022 erschienenes Fachbuch „Qumran“ mit dem aktuellen Erkenntnisstand vor.
Obgleich anspruchsvolles Fachbuch, so versicherte Kratz zu Beginn, daß das Lektorat des Verlags Beck auf gute Lesbarkeit geachtet hätte. Auch konnte ein Hinweis auf die aktuellen Vorgänge über den Ausbruch antisemitischer Ressentiments nicht ausbleiben.

Richard G. Kratz (re.) / © D. Körtel

Die in Qumran vorgefundenen Handschriften enthalten alle Bücher der Hebräischen Bibel, bis auf das Buch Ester, zuzüglich parabiblische Texte wie apokryphe Psalmen, die nicht in den biblischen Kanon kamen. Hinzu kommen auch – anonyme – Texte der in Qumran siedelnden Gruppe selbst. Ein kurioses Detail: Auch in kryptischer Schrift verfasste Texte sind aufgefunden worden, deren Inhalt sich nach ihrer Entschlüsselung allerdings als banal erwiesen. Warum sie dennoch verschlüsselt worden sind, sei ein Rätsel, so Kratz.

Die in Quamran aktive Gemeinschaft hält Kratz nicht identisch mit der fundamentalistischen Bewegung der Essener, auch wenn Schnittmengen durchaus erkennbar seien. Ehelosigkeit wie bei den Essenern wurde dort nicht praktiziert. Auch sei Qumran kein Zentrum gewesen. Seine Lage an einer belebten Straße mache es nicht zu einem Rückzugsort. Hier sei so etwas wie ein „Club“, der über mehrere Niederlassungen verfüge, aktiv gewesen, eine Bewegung frommer Zellen, die sich nach dem Vorbild antiker griechischer Vereine organisiert habe. Ihre Mitglieder standen zueinander in Gütergemeinschaft, „geistige Aussteiger“ mit Familien und in normalen Berufen tätig, deren subversive Ideologie sie abgeschirmt habe von der Versammlung der „Männer des Frevels“, also ein radikales Gegenbild des „wahren Israel / Juda“. Kratz beschrieb weiter die inneren Verhältnisse der Qumran-Gemeinschaft als die eines Kultes, in dem üblicherweise die Verstöße gegen die Gemeinschaftsordnung am härtesten bestraft wurden, in der Regel mit – temporärem – Gemeinschaftsentzug.

Die populäre Selbstbezeichnung der heutigen Klimabewegung aufgreifend, nannte Kratz die Gemeinschaft von Qumran aufgrund ihres eschatologischen – also eine nahe Endzeit des göttlichen Eingreifens erwartenden – Charakters die „Letzte Generation“. Und in gewisser Weise war sie es auch, bis sie im Zuge der römischen Niederwerfung des jüdischen Aufstands (66 – 70 n. Chr.) ausgelöscht wurde.

Die bemerkenswerteste Erkenntnis fiel zum Ende. Die in Qumran vorgefundenen Texte sind durchaus nicht identisch und weisen gewisse Abweichungen zueinander auf, was die Gültigkeit heutiger Fassungen eigentlich in Frage stellen sollte. Für die Zeit damals jedoch waren diese Abweichungen kein Problem, das die Heiligkeit der Texte in Frage stellen sollte, denn diese -so Kratz – lag nicht in ihren Buchstaben. Denn nach dem Verständnis ihrer Schreiber war der eigentliche Autor immer Gott.