„Und sie sagte zu mir: ‚Wissen Sie, das ist ja sehr schön, daß Sie heute Abend hergekommen sind, und ich merke natürlich auch, wie aufgeschlossen Sie sind für alles was hier vorgeht und was uns umtreibt und beschäftigt. Aber ich bleibe dabei, die Fremdheit zwischen Ost und West ist ein Faktor, der auch 30 Jahre nach dem Mauerfall nicht zu bestreiten ist. Und das ist eure Schuld! Das ist die Schuld des Westens, das ist die Schuld der Wessis.‘“ (Der Historiker Karlheinz Weißmann über einen Besuch bei einer jungen Akademikerin in Schwerin im Jahr 2020)
Am heutigen 3. Oktober 2023 feiert Deutschland den 33. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung. Nur noch wenige Jahre und das wiedervereinigte Deutschland ist älter als die DDR, die mit dem 3. Oktober 1990 aufhörte als Staat zu existieren. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, brachte der frühere Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) die Euphorie der damaligen Zeit in einem berühmt gewordenen Satz zum Ausdruck. Deutschland war in diesen Tagen ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer. Schon ein Jahr später trat Ernüchterung ein und die Fahnen verschwanden selbst zu diesem Anlaß. Der „Aufbau Ost“ -und mit ihm der „Wohlstand für alle“ – ließ auf sich warten, und die ehemaligen Bewohner fragten sich, ob sie lediglich Verfügungsmasse eines „Anschlußgebietes“ waren.
Auch mehr als drei Jahrzehnte konnten die durch 40 Jahre Teilung entstandenen Gräben nicht überwinden. Zwar hat sich die ökonomische Situation gebessert, aber mental bestehen Unterschiede zwischen West und Ost, die am deutlichsten im Wahlverhalten zutage treten. Nur in der ehemaligen DDR ist die im Westen gegründete AfD Volkspartei. Hier tritt eine außerordentliche Renitenz gegen die vermeintlichen Segnungen progressiven Strebens zutage, die ihr Ventil nicht nur gegen „die da oben“ sucht, sondern auch gegen die „Scheiß-Wessis“. Wächst in Wahrheit auseinander, was einstmals zusammengehörte…?
Es sind zwei Bücher, die in diesem Jahr als Bestseller zum Thema herausragen. Da ist zum einen „Diesseits der Mauer“ der in der Vorwendezeit im Osten geborenen, heutigen Wahlbritin Katja Hoyer, die die Geschichte der DDR aus einer ungewöhnlichen Perspektive erzählt. Zum anderen die Streitschrift „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ des 1967 in Gera geborenen Germanisten Prof. Dr. Dirk Oschmann. Anläßlich dieses heutigen Feiertages sollen beide Bücher hier näher vorgestellt werden.
Mehr als nur Mauer und Stacheldraht?
Bisherige historische Darstellungen nahmen vor allem die Opfer des DDR-Repressionsapparats in den Fokus, vor allem die Staatssicherheit – kurz „Stasi“ – auch bekannt als „Schild und Schwert“ der SED. Einen neuen und ungewohnten Ansatz verfolgt die Historikerin Katja Hoyer mit ihrer umfangreichen Monographie „Diesseits der Mauer: Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990“.
Sie beginnt mit der Ankunft der künftigen kommunistischen Elite unmittelbar nach der sowjetischen Einnahme von Berlin. Es ist eine Gruppe deutscher Kommunisten mit Walter Ulbricht – dem künftigen Staatsratsvorsitzenden der DDR – an der Spitze, an denen sie ein markantes Merkmal hervorhebt: Sie alle haben die stalinistischen Säuberungen „durch die Abkehr jeglicher Moral überlebt“. Hoyers deutliche Schilderungen der sowjetischen Übergriffe wie die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen, die Raubzüge der Rotarmisten und ihre Rückwirkungen auf die Deutschen sowie die zunehmende politische Unterdrückung durch die Besatzer lassen jedenfalls keinen Spielraum für die Annahme, es hätte irgendein Einvernehmen zwischen den Bewohnern der DDR und ihren sowjetischen Besatzern gegeben, das die heutige angebliche Putin- und Russlandsympathie in Ostdeutschland erklären könnte.
Obgleich Stalins Vorstellungen zur Zukunft Deutschlands sehr diffus waren, und er durchaus Offenheit zeigte für einen Fortbestand Deutschlands als einheitlicher, neutraler Staat mit Armee, zementierte der anbrechende Ost-West-Konflikt die Teilung in eine mit den westlichen Demokratien eng verbundene Bundesrepublik und eine am sowjetischen Modell orientierte DDR. Letztere nennt Hoyer „eher ein deutsches als sowjetisches Projekt“, dessen dauerhafte Existenz als SED-Staat gleichwohl – wie das Ende des Aufstandes von 17. Juni 1953 wie umgekehrt auch die Ereignisse von 1989 belegen – einzig auf der Macht der Bajonette der Roten Armee beruhte.
Nicht allein die ideologische Wirtschaftspolitik war das große Manko im Wiederaufbau der DDR nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges. Ebenso wirkten sich hemmend aus das Fehlen eines industriellen Kerns, der Mangel an effektiven Energieträgern (es gab nur die minderwertige Braunkohle), die Folgen der Reparationen, der Zwangslieferungen in die Sowjetunion und ebenso die Wirkungen der Hallstein-Doktrin der Bundesrepublik, die die DDR international isolieren sollte.
Dennoch nahmen sich Hoyer zufolge die DDR-Bürger der Aufgabe des Wiederaufbaus Ostdeutschlands als sozialistischen Staats mit Stolz, Begeisterung und Hingabe an. Nach den unersprießlichen Jahren der Weimarer Republik und NS-Regimes boten sich den Arbeitern erstmals die Chancen auf Aufstieg, Statusgewinn und Wohlstand:
„So breit der Aufstand von 1953 auch gewesen war, so sehr hatte er auch viele Menschen landauf, landab aufgeschreckt. Zehntausende junge Menschen aus dem Arbeitermilieu wurden zum Studium ermutigt, in Führungspositionen befördert und erhielten Stipendien. Ein signifikanter Teil dieser Bevölkerung sah in Ulbrichts Regime die Inkarnation eines Deutschlands, das für sie kämpfte.“
Sogar ein Apparatschik wie Ulbricht zeigte sich durchaus offen für andere Ansätze in der Wirtschaftspolitik als die des dogmatischen Kommunismus. Die 1960er Jahre boten so die besten Aussichten auf „eine stabile und prosperierende Gesellschaft“, in der „die rigorose Repression der späten 1950er-Jahre allmählich einer Neuorientierung der Beziehungen zwischen der regierenden SED und der Bevölkerung [wich]“.
Dem stand auch nicht der Bau der Mauer entgegen. Hoyer über die Zeit nach dem Mauerbau:
„Das bedeutete, dass Mittelschicht und Facharbeiter einen Weg finden mussten, mit der Situation zu leben, während der Rest der Gesellschaft aufhörte, sich um den Mangel an Ärzten, Zahnärzten, Wissenschaftlern und Bauarbeitern zu sorgen. Es gab bemerkenswerte Ausnahmen, aber im Großen und Ganzen war es so, als ob das Land kollektiv mit den Schultern zuckte und zurück zur Arbeit ging.“
Vorzeigeprojekte dieser Zeit waren das Neubaugebiet Halle-Neustadt und die Neugestaltung des Ostberliner Alexanderplatzes mit seiner berühmten Weltzeituhr, wenngleich – was Hoyer nicht erwähnt – solche Maßnahmen auf Kosten der Provinz gingen, die in Folge allmählich dem Verfall preisgegeben wurde. Dennoch mag man sich durchaus vorstellen, daß beide Orte damals ein sehr viel besseres Bild lieferten als heute, wo sie zu regelrechten Shitholes verkommen sind. Und das ist keineswegs als Kompliment an die damalige DDR-Staatsführung gemeint. Wer kann da den Ostdeutschen schon ihre Verbitterung verdenken darüber, wie die wertvollsten Früchte ihrer Arbeit nach der Wende derart verdarben?
Auf Ulbricht folgte anfangs der 1970er-Jahre der konservativ-dogmatische Honecker und mit ihm eine Verhärtung der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse. An die Stelle der Aufbruchstimmung trat Normalität, aber auch Langeweile und damit auch die sklerotische Erstarrung des Systems – eine „komfortable, jedoch perspektivlose Lethargie“. Vor allem die Jugend kehrte sich ab. Honeckers Versuch, die Bevölkerung durch die Steigerung des Konsums zu gewinnen, überforderte die wirtschaftlichen Möglichkeiten derart, daß Mitte der 1980er-Jahre nur noch der ausgerechnet über den westdeutschen, „erzreaktionären“ CSU-Politiker und bayrischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß eingefädelte Milliardenkredit bei der Bundesrepublik die DDR vor dem Bankrott retten konnte.
Die ökonomischen Randbedingungen verschlechterten sich zunehmend – vor allem durch den Bruch des sowjetischen Versprechens auf billige Öllieferungen -, während Honecker wiederum sich auf dem außenpolitischen Parkett von dem sowjetischen „Bruderstaat“ zu emanzipieren suchte – durchaus mit gewissen Erfolg -, um sich die Reformpolitik Gorbatschows vom Hals zu halten. Dieser wiederum ließ ihn dann im Wendeherbst 1989, der das Endspiel für die DDR einleitete, fallen wie eine heiße Kartoffel.
Hoyer hat schon durch ihre Herkunft – 1985 geboren im brandenburgischen Guben– eine naturgegebene Verbindung zu der Thematik der Geschichte der DDR. Die deutsche Historikerin lebt seit zwölf Jahren in Großbritannien, wo sie mit „Blood and Iron: The Rise and Fall of the German Empire 1871–1918“ bereits einen Bestseller schrieb, dem nun mit „Diesseits der Mauer“ eine deutschsprachige Veröffentlichung folgte.
Die Reaktionen auf ihr neues Buch fielen sehr breit aus. Während die Presse „Diesseits der Mauer“ fast schon euphorisch lobte, fiel die Fachkritik drastisch ins Negative aus. Die Publizistin Ines Geipel warf der Autorin einen „unverhohlenen Revisionskurs“ vor, während der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ihr Verzerrungen und Auslassungen vorhielt.
Und in der Tat wirken manche Ansichten der Autorin befremdlich. Da ist zum beispielsweise der auch von ihr vertretene Mythos von der DDR als ein Staat, der die Nazi-Vergangenheit gründlicher bewältigte und die Verbrechen der Nazis schärfer ahndete, als es in der Bundesrepublik geschah. Doch auch die DDR hat Nazi-Funktionäre allzu bereitwillig absorbiert, allerdings in Stille, und so neue Karrieremöglichkeiten eröffnet. Erwähnt sei hier nur allein jener kuriose Staatsanwalt, der der Blutrichterin Hilde Benjamin assistierte, und der als Beamter vorher allein mit dem Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem Dritten Reich drei gänzlich verschiedenen Systemen diente.
Zum anderen erhält der Leser im Kapitel um den DDR-Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich 1976 in Zeitz aus Protest gegen das kirchenfeindliche SED-Regime selbstverbrannte, einen fast schon verharmlosenden Eindruck vom Leben bekennender Christen in der DDR. Zwar benennt Hoyer den Abriss von intakten Kirchen und die Sabotage von kirchlichen Praktiken. Hier bezeichnet sie die atheistische Jugendweihe als „säkulares Äquivalent zur Konfirmation“, was tatsächlich als Konkurrenzangebot gedacht war. Dennoch ist sich Hoyer sicher:
„Tatsache war jedoch auch, dass die meisten Christen sich mit dem System arrangiert hatten, ebenso wie das System sich mit ihnen.“
In der Praxis sah dieses scheinbare Einvernehmen so aus, daß Christen sehr wohl Diskriminierungen ausgesetzt waren, so daß ihnen Abitur und Studium verwehrt blieben. So auch im Fall des erst kürzlich im hohen Alter von 94 Jahren verstorbenen Landpfarrers Uwe Holmer, der aus Nächstenliebe dem Ehepaar Honecker nach dessen Sturz für zehn Wochen Obdach und Schutz gewährte. Seinen zehn Kindern wurde in der DDR allesamt der Zugang zu einer höheren Schule verweigert. Und niemand in der SED-Staatsführung hat diese Diskriminierung erbitterter betrieben als die Ministerin für Volksbildung Margot Honecker.
Es besteht kein Zweifel: Wer Hoyer liest, könnte durchaus auf den Gedanken kommen, die DDR sei eine „kommode Diktatur“ gewesen, ja sogar ein normaler Staat, mit der sich die Mehrheit ihrer Bewohner identifizieren konnte. Hoyer spricht davon, wie den Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung durch den Westen eine Art „Ballast“ durch eine Vergangenheit zugesprochen wurde, die infolge des Sieges des westlichen Systems restlos entwertet wurde. Es ist ein Narrativ, das seit der Wende besonders von den SED-Nachfolgern PDS und später der Linkspartei gepflegt wurde. Im Fall Hoyers ist das durchaus erklärlich durch den familiären Hintergrund; ihre Eltern waren als NVA-Offizier und Lehrerin Nutznießer des DDR-Systems.
Doch wie es um die Verhältnisse in der DDR tatsächlich bestellt war, hat die DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann (1933 – 1973), deren Roman „Die Geschwister“ dieses Jahr in einer überarbeiteten Neuauflage erschien, nur wenige Monate nach dem Mauerbau drastisch auf den Punkt gebracht:
„Es riecht wieder nach Zuchthausluft.“
Katja Hoyer Diesseits der Mauer Hoffmann und Campe Verlag 592 Seiten, 2023 28,00 Euro |
Beitritt oder Wiedervereinigung?
„Der Diskurs des Westens über den Osten ist monolithisch und extrem binär, weil offenbar die Festlegung ‚Osten‘ aufgrund der vermeintlich eindeutigen historischen und geographischen Konturen so wunderbar leicht zu handhaben ist. Der Westen redet immer positiv von der Vielfalt der Welt, hält aber in schönster Einfalt seine eigene Perspektive für die einzig mögliche. Und mit diesem Monopol der Perspektive verbindet er zugleich das Monopol auf die Wahrheit und das Monopol auf die Moral.“ (Dirk Oschmann, „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“)
Wo Katja Hoyer auf die Vergangenheit der DDR zurückblickt, schaut Dirk Oschmann auf die Gegenwart Deutschlands 33 Jahre nach der Wiedervereinigung. Aufbauend auf einen Beitrag für die FAZ im Februar 2022 unterzieht der 1967 geborene Literaturprofessor in seiner Streitschrift „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“ der Sichtweise der Westdeutschen auf ihre Landsleute in der ehemaligen DDR einer scharfen Abrechnung.
Oschmann beklagt eine paternalistisch-herablassende Haltung des Westens gegenüber dem Osten, in welcher dieser sich stets als Norm sieht und den Osten als Abweichung. Den Osten sieht der Westen wegen seiner angeblichen Selbstradikalisierung als den gesellschaftlichen Spalter Deutschlands.
Oschmann zieht dabei eine Linie eines ausschließlich westdeutsch geführten Diskurses über den Osten von selbst konservativen Intellektuellen wie Wolf Jobst Siedler oder Arnulf Baring, die bereits zur Wendezeit den Ostdeutschen aufgrund ihrer DDR-Sozialisation eine mangelnde Anpassungsfähigkeit an die neuen Gegebenheiten attestierten. In diesem ressentimentgeladenen Bild des Defizitären ist der Ostdeutsche Oschmann zufolge bis heute verharren geblieben: Provinziell, rückständig, gar barbarisch.
Ob die Wahl von Urlaubszielen in der näheren Region – während der weltoffene Westdeutsche die ganze Welt bereist – oder das Defizit von ostdeutschen Führungskräften, vor allem im universitären Überbau – als ursächlich gelten hierfür ausschließlich intrinsische Motivatoren. Oschmann hält dem zum einen entgegen, daß in der DDR – im Gegensatz zur „alten“ Bundesrepublik – Kapitalaufbau schon von Staats wegen nicht möglich war, während der Westdeutsche zusätzlich durch Erbschaften begünstigt sich auch noch in der ehemaligen DDR mit Eigentum versorgen konnte. Die durch den wirtschaftlichen Einbruch bedingten gebrochenen Lebensläufe und Lohnrückstände zum Westen haben eine Umkehrung bislang verhindert.
Damit sind auch akademische Karrieren nur unter erschwerten Bedingungen möglich, denn auch diese setzen genügend Eigenkapital voraus, das im Osten so nicht vorhanden ist. Besondern hebt Oschmann hier den Elitenaustausch in der Post-Wendezeit hervor, als die bisherigen Lehrstuhlinhaber durch solche aus dem Westen ersetzt wurde, die ihre eigenen, westzentrierten Netzwerke mitbrachten. Hier sollte noch hinzugefügt werden, daß auf diesem Weg noch manch abgehalfterter 68er-Aktivist eine neue Karriere starten konnte.
Geradezu in Bitterkeit kommt Oschmann auf den „tendenziösen Machtmißbrauch“ der Westmedien im „Diskurs über den Osten“ zu sprechen, insbesondere die Leitmedien, die vor allem Pegida und die Wahlerfolge der AfD zum Anlaß nahmen, dem Negativ-Image des Ostens noch ein paar kräftige Brauntöne hinzuzufügen.
Wie sehr der Westen die Deutungshoheit über den Osten beansprucht, ruft Oschmann durch den ersten Literaturstreit im wiedervereinigten Deutschland von 1990, als Christa Wolf und ihr „Gesinnungskitsch“ aus dem deutschen Literaturkanon ausgeschlossen werden sollten, und die jüngste Kampagne gegen den Maler Neo Rauch anschaulich in Erinnerung. Immerhin, Rauch revanchierte sich bei seinem Kontrahenten Wolfgang Ullrich von der ZEIT mit dem so treffsicheren Gemälde „Der Anbräuner“.
Was am 03. Oktober 1990 vollzogen wurde, war nach Oschmann weniger eine Wiedervereinigung als ein Beitritt zur alten Bundesrepublik nach ihren Regeln:
„Bis 1989 war man im Osten durch Besatzung und Diktatur entmündigt und eingeschlossen, seit 1990 wird man im Osten vom Westen entmündigt und ausgeschlossen.“
Seiner Ansicht nach hätte eine von beiden Seiten neu ausgearbeitete Verfassung mit neu gewählten Symbolen, wie einer anderen Nationalhymne, diesem Prozeß wenigstens eine Richtung gegeben, mit der sich beide Seiten hätten identifizieren können. Tatsächlich war die alte Bundesrepublik nur in ihrer Selbstwahrnehmung das optimale Vorbild, an dem sich andere orientieren sollten. Nur zwei Jahre nach der Wiedervereinigung haben eine Reihe von herausragenden Persönlichkeiten wie Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Publizist Meinhard Miegel ein Manifest mit dem bezeichnenden Titel „Weil das Land sich ändern muß“ herausgegeben.
Dirk Oschmann Der Osten – Eine westdeutsche Erfindung Ullstein 224 Seiten, 2023 19,99 Euro |
Am heutigen Nationalfeiertag gilt nach wie vor: Auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung – oder des Beitritts – konnten die Folgen einer fast 40jährigen Teilung nicht kompensiert bzw. aufgehoben werden. Stattdessen muß konstatiert werden, daß viel Arges im Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen bereits 1990 angelegt wurde. Nach wie vor ist man in Folge einander vielfach fremd geblieben.
Das beste Mittel gegen diese Fremdheit ist der Austausch. Und zwar noch mehr als vor allem in den sozialen Medien die Vertreter des Mainstreams nach jedem unbotmäßigen Wahlverhalten der „Ossis“ nach dem Reiseboykott geschrien wird. So wie zuletzt im Juni im Fall des thüringischen Landkreises Sonneberg, dem einstigen Zentrum der deutschen Spielwarenherstellung, als der AfD-Kandidat Robert Sesselmann mit einem eindrucksvollen Ergebnis zum neuen Landrat gewählt wurde. Gerade solche Orte sollten die ersten Ziele eines „Wessis“ sein, der den Osten verstehen will.