Der Bankier, der Deutschland vor der Pleite rettete

Das historische Porträt: Hjalmar Schacht (1877 – 1970)

Nur vier Jahre nach der Abdankung des Kaisers im November 1918 erlebte die nachfolgende Weimarer Republik die schlimmste Krise seit ihrem Bestehen. Anfang 1923 besetzten die Franzosen mit belgischer Unterstützung das Ruhrgebiet, die industrielle Kernzone des Deutschen Reichs, um ihre Reparationsforderungen aus dem Ersten Weltkrieg gegenüber der Reichsregierung durchzusetzen und gegebenenfalls einen Zerfall Deutschlands herbeizuführen. Die Antwort auf den Einmarsch war die Ausrufung des Ruhrkampfs durch die Reichsregierung, die mit den Mitteln des passiven Widerstands den Rückzug der fremden Truppen erzwingen wollte. Eines dieser Mittel war der Streik der Arbeiter in den Betrieben und der Angestellten in den öffentlichen Verwaltungen. Die Lohnausfälle übernahm die Regierung, die jedoch nicht über die entsprechenden Ressourcen verfügte und einfach die Notenpresse anwarf.

Doch damit entwickelte sich die ohnehin schon galoppierende Inflation der Reichsmark in eine nie dagewesene Hyperinflation, die in einem rasenden Tempo sämtliche Bargeldbestände und Sparguthaben entwertete. Was der deutschen Exportindustrie satte Vorteile verschaffte, führte in weiten Teilen der Arbeiterschaft und des Mittelstandes zur sozialen Verelendung. Gleichzeitig polarisierte sich die politische Stimmung im Land zwischen dem rechten und linken Spektrum. Deutsche Kommunisten versuchten sich an ihrer Version der bolschewistischen Revolution und der damals noch relativ unbekannte Adolf Hitler probte im November den letztlich gescheiterten Aufstand.

Doch die Republik sollte es tatsächlich bis zum Ende dieses Krisenjahres schaffen, die Kontrolle wiederzuerlangen. Zwar mußte der Ruhrkampf erfolglos abgebrochen werden. Aber mit der im Oktober eingefädelten Währungsreform gelang wieder eine Stabilisierung des zerrütteten Wirtschaftsgefüges, durch die sich das Reich erholen konnte. Das Jahr endete mit einer Personalie, deren Name eng mit dieser Reform verbunden ist und die im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen sollte: Nach dem Tod des greisen und altersstarrsinnigen Reichbankpräsidenten Havenstein ernannte Reichspräsident Ebert am 22. Dezember 1923 – heute vor genau 100 Jahren – den Reichswährungskommissar Hjalmar Schacht zu seinem Nachfolger. Er sollte dieses machtvolle Amt über das Ende der Weimarer Republik – mit einer mehrjährigen Unterbrechung – bis 1939 innehaben.

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Die Bedeutung der Währungssouveränität kann in Krisenzeiten wie 1923 gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Geldentwertung dürfte einer der bedeutendsten Faktoren gewesen sein, die den Weg Hitlers zur „Machtergreifung“ ebneten. Und selbst heute, wo eine vom Krieg in der Ukraine ausgelöste Inflation zu einer der größten Sorgen der Bundesbürger zählt, machen sich die damals in das kollektive Gedächtnis des deutschen Volkes eingebrannten traumatischen Erfahrungen bemerkbar. Und aktuell findet sich in Russland das bestätigende Pendant zu Schacht in der Zentralbankpräsidentin Elwira Sachipsadowna Nabiullina, die wider Erwarten das Kunststück fertigbrachte, die Wirtschaft zu stabilisieren und den westlichen Sanktionen die erhoffte Wirkung zu nehmen.

Geboren wurde Horace Greeley Hjalmar Schacht am 22. Januar 1877 in Tingleff (Nordschleswig). Seine Wurzeln väterlicherseits lagen im deutschen Bürgertum, während seine Mutter dem dänischen Adel entstammte. Seine weiteren Vornamen Horace Greeley gaben einen Hinweis auf die weltoffene Prägung der Region, die durch die Hanse über die alte Tradition eines weitverzweigten Handelsnetzwerk verfügte. Seit 1906, mit einer Unterbrechung während des Nationalsozialismus, war Schacht Mitglied von Freimaurerlogen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Kindheit waren weitgehend prekär. Vorübergehend versuchte sich die Familie als Auswanderer in die USA. Aber dennoch konnten die Eltern dem jungen Schacht jenes bürgerliche Leistungs- und Bildungsethos vermitteln, das ihn zu einem erfolgreichen Studium mit Promotion verhalf. Dem Studium folgte eine kurze Berufstätigkeit im Journalismus, dem sich die Karriere im Bankgewerbe anschloß. Doch dann kam das Krisenjahr 1923 und damit Schachts große Stunde als Retter der deutschen Währung.

Die Ursachen des Währungsverfalls liegen weiter zurück als mit dem Anwerfen der Notenpresse durch den Ruhrkampf. Der entscheidende Fehler lag in der kritischen Entscheidung der damaligen Reichsregierung, die finanziellen Lasten des Ersten Weltkrieges nicht mit Steuererhöhungen – insbesondere für die Kriegsprofiteure – zu schultern, sondern mit einer steigenden Schuldenaufnahme. Den fatalen Weg in den Schuldenstaat setzte die der Monarchie folgende Republik fort, um sich so die Legitimität zu erkaufen. Später kam die Idee auf, sich mithilfe der Notenpresse zu entschulden. Doch erst im Herbst 1923, als die Krise eskalierte, unternahm die Reichsregierung robuste Maßnahmen, um gegenzusteuern. Die erste, durch den einflußreichen Reichstagsabgeordneten und früheren Finanzmister Karl Helfferich vorgetragene Idee, die bisherige Währung durch eine roggengedeckte zu ersetzen, fiel durch. Am Ende kam die Reform durch die Rentenmark, für die der Staat mit seinem gesamten Grundbesitz und seinen letzten Goldreserven einstand. Helfferich als erste Wahl für den Posten des Reichswährungskommissars, der die Reform durchsetzen sollte, war dem sozialdemokratischen Präsidenten Ebert wegen seiner Rolle als rechter Einpeitscher der politischen Stimmung im Vorfeld der Ermordung des Politikers Matthias Erzberger von 1921 nicht vermittelbar. So kam am Ende Schacht in die engere Auswahl, der sich ab November 1923 ausgestattet mit quasi diktatorischen Vollmachten umgehend ans Werk machte:

Schacht hatte die Strategie, nach der er die Inflation bekämpfte, zwar nicht selbst entworfen, doch durch seine kompromisslose und konsequente Umsetzung des Rentenmark-Plans wurde er als »der Bankier, der sein Land rettete« weltberühmt. Am 15. November 1923 wurden die Druckerpressen angehalten und auf die neue Rentenmark umgestellt. Für eine Rentenmark mußte man eine Billion (1.ooo.ooo.ooo.ooo) alte Reichsmark hinblättern; wem dieser Wechselkurs nicht paßte, der konnte es ja lassen. Wer Grundstücke besaß, konnte eine auf Rentenmark ausgestellte Anleihe zu vier Prozent erwerben, die zu fünf Prozent kündbar bar, obwohl über die Laufzeit der Anleihe keine genauen Angaben gemacht wurden. Es kam in einem heftigen Kampf mit den Spekulanten. Skrupellose Raffkes hatten verzweifelten Menschen alles abgekauft, was sie besaßen (nicht nur Häuser und Grundstücke, sondern auch Kleidung, Schmuck oder Lebensmittel — »Tausend Dollar für deine Villa, keinen Pfennig mehr! Das ist mein letztes Angebot!«) Sie hatten sich ausländisches Geld geborgt, für ihr Kapital hohe Zinsen gezahlt und beim Verkauf ihrer »Beute« hohe Spekulationsgewinne erzielt, doch gegen den neuen, knallharten Reichswährungskommissar hatten sie keine Chance. Deutsche, die noch Sachwerte besaßen, faßten wieder Mut und boten sie nicht mehr zu Schleuderpreisen an. Am 20. November hatten die meisten Spekulanten bereits kapituliert. (aus: “Hitlers Bankier – Hjalmar Schacht“; John Weitz)

Die Welle nationaler und internationaler Popularität weckte bei dem hochgewachsenen Mann von hagerer Gestalt mit markanten Stehkragen durchaus höhere Ambitionen. Gleichzeitig entfremdete sich der anfangs liberale Vernunftsrepublikaner von der Weimarer Republik, weil seine berechtigten und weitsichtigen Warnungen vor der Ausgabenpolitik der Reichsregierungen wenig Gehör geschenkt wurden. Im Streit über den Young-Plan, der Deutschlands Reparationsverpflichtungen regeln sollte, trat er von seinem eigentlich auf Lebenszeit bestellten Amt zurück. Von seinem Rückzugsort, dem Landsitz Gühlen, blieb Schacht nicht untätig und knüpfte Verbindungen zum Nationalsozialismus, der sich nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise gewaltig im Aufwind befand. Wie viele andere aus der konservativen Elite gab er sich der trügerischen Illusion hin, die durchaus als mindestens „unappetitlich“ empfundenen Nazis und ihren „Führer“ Adolf Hitler in ihrem Sinne lenken zu können: „Nein, die Nazis können nicht regieren. Aber ich kann durch sie regieren.“

Nur wenige Wochen nach seiner „Machtergreifung“ ernannte Hitler Schacht zum erneuten Reichsbankpräsidenten; 1934 zum Wirtschaftsminister in Personalunion. Mit seinem internationalen Renommee und Netzwerk verschaffte er dem Regime das vorläufige Vertrauen des Auslands. Im Inneren finanzierte er die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die massive Wiederaufrüstung. Allerdings mit Mitteln, die seinem ökonomischen Selbstverständnis vollkommen widersprachen und erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihre inflationäre Wirkung entfalten sollten, so daß 1948 mit Einführung der D-Mark in Westdeutschland eine erneute Währungsreform anstand.

Schacht wollte im konservativen Sinne die Aufrüstung Deutschlands, um das Land wieder zu einem gleichberechtigten Akteur in der Welt zu machen, denn: „Vor oder zwischen den Weltkriegen wurde ein Staat nach der Stärke seiner Armee, nach der Größe seiner Kriegsflotte und der Reichweite seiner Bomber beurteilt“ (John Weitz). Demgegenüber standen die expansiven Ziele Hitlers, der dabei wenig Rücksicht auf die ökonomischen Realitäten nahm. Der aggressive Judenhass der Nazis stieß Schacht zusätzlich ab, und er bekämpfte derartige Tendenzen in seinem Amtsbereich ohne jede Nachsicht, was ihm das Mißtrauen der Parteiführung einbrachte, obwohl er selbst keineswegs frei von antisemitischen Klischees war. Es gehörte damals schon eine gehörige Portion Mut dazu, so wie er nach den Exzessen der Kristallnacht den Lehrlingen der Reichsbank eine solche Ansage zu machen:

„Die Brandstiftung in den jüdischen Synagogen, die Zerstörung und Beraubung jüdischer Geschäfte und die Mißhandlung jüdischer Staatsbürger ist ein so frevelhaftes Unternehmen gewesen, daß es jedem anständigen Deutschen die Schamröte ins Gesicht treiben muß. Ich hoffe, daß keiner von Euch sich an diesen Dingen beteiligt hat. Sollte aber doch einer dabeigewesen sein, so rate ich ihm, sich schleunigst aus der Reichsbank zu entfernen. Wir haben in der Reichsbank für Leute keinen Platz, die das Leben, das Eigentum und die Überzeugung anderer nicht achten. Die Reichsbank ist auf Treu und Glauben aufgebaut.“

Trotz Parteiehrungen immer auf Distanz zu Hitler bedacht, geriet er in zunehmenden Konflikt zum „Führer“. Erst 1937 verlor er nach einer scharf formulierten Denkschrift zu den Autarkiebestrebungen Hitlers sein Amt als Reichswirtschaftsminister. Der endgültige Bruch vollzog sich im Januar 1939 – nur wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – als das Reichsbankdirektorium ein Memorandum an Hitler abschickte, das vor dem Verhängnis einer anhaltend „uferlosen Ausgabenwirtschaft“ warnte und seinem Adressaten die dramatischen Folgen für das Wirtschafts- und Währungsgefüge vor Augen hielt. Doch insgeheim wollte Schacht verhindern, daß auf Reichsbankkredit ein Angriffskrieg finanziert wird. Erbost über diese „Meuterei“ entließ Hitler Schacht aus seinem Amt als Präsident der Reichsbank. Auf Hitlers Wunsch erhielt er aber das Amt eines Ministers ohne Geschäftsbereich, bevor er ihn 1943 auch aus diesem entließ:

„Hitler brannte darauf, Schacht mit seinen ständigen Einwänden, seinen unangenehm rationalen Argumenten und seinem politischen und steuerlichen Konservatismus loszuwerden.“ (John Weitz)

An dieser Stelle muss der Bogen in unsere heutige Zeit geschlagen werden, um auf gewisse Analogien und Musterwiederholungen hinzuweisen, die auf bedenkliche Dispositionen im Nationalcharakter und der Mentalität der Deutschen schließen lassen. So wie im Dritten Reich ein entsetzlicher Dilettantismus brachial zu Werke ging, unbeeindruckt von der Realität und jeder gegenstimmigen Expertise, das Land nach utopischen Vorstellungen umzugestalten, so ist dieses Muster auch heute zu beobachten, sei es in der Klima- und Energiepolitik, sei es in der Migrationspolitik. Um nicht mißverstanden zu werden: Damit sollen die Grünen nicht mit der mörderischen Bewegung der Nationalsozialisten auf ahistorische und polemische Weise gleichgesetzt werden. Obwohl beide Bewegungen durchaus über gemeinsame Wurzeln in der deutschen Romantik verfügen, doch das weiter auszuführen ist hier nicht der geeignete Ort. Wie auch immer, übereinstimmend ist der ideologische Furor, mit dem Fanatiker ohne jede entsprechende fachliche Kompetenz – damals ein Postkartenmaler, heute ein Kinderbuchautor – utopische Ziele umzusetzen suchen – damals eine autarke Nation in ethnischer Reinheit, heute eine multikulturelle Gesellschaft in Klimaneutralität -, und in ihrem Gefolge eine Masse gläubiger Jünger, ungeachtet aller sich abzeichnender negativer Konsequenzen.

Doch zurück zu Schacht: Schon vor seiner „Freisetzung“ gestand er im engen Kreis seinen Irrtum über die Nazis ein: „Wir sind Verbrechern in die Hände gefallen, wie hätte ich das ahnen können.“ Nach dem gescheiterten Attentat des 20. Juli 1944 wurde Schacht festgenommen und verbrachte die Zeit bis zum Kriegsende in verschiedenen Konzentrationslagern. Nur mit knapper Not konnte er dem Tod entkommen, da das Regime ihm seine Kontakte zum Widerstand nicht nachweisen konnte. Das Schweigen der Verschwörer rettete ihn mit knapper Not.

Dennoch schloß sich dem die Internierung durch die Alliierten an, die ihm vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal den Prozeß machten. Die ohnehin schlampige Anklage, die auf ein Todesurteil abzielte, konnte herfür nichts Belastendes vorbringen. Dies wiederum hielt die Justiz der jungen Bundesrepublik ihrerseits nicht davon ab, Schacht unmittelbar strafrechtlich zu verfolgen, letztlich ohne Ergebnis.

Schachts Expertise war weiterhin gefragt. Vor allem die neugegründeten Staaten der ehemaligen Kolonien der Dritten Welt suchten seinen Rat. Ebenso gründete er erfolgreich eine Bank. 1970 verstarb Schacht hochbetagt im Alter von 93 Jahren in München.

Hjalmar Schacht in all seinen Leistungen, aber auch in seinen Widersprüchen, seinen tragischen Irrungen und Wirrungen, die eine bewegte Lebenspanne vom Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich und die Bonner Republik umfassten, ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Als letztes brachte 1997 der jüdischer Historiker John Weitz (1923 – 2002), dessen Familie vor den Nazis aus Deutschland emigrierte, eine beachtliche und faire Biographie heraus, „Hitlers Bankier: Hjalmar Schacht“. Auf die mithin wichtigste Frage in der Vita Schachts, die nach seiner Mitschuld daran, daß Hitler die Welt in Angst und Schrecken versetzte, befand Weitz:

„Er wurde beim Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg freigesprochen, als er sich erfolgreich gegen eine so eng wie möglich gefasste Anklage verteidigte. Die Glaubwürdigkeit des Militärgerichts hing von der Stichhaltigkeit und Durchsetzbarkeit der verhängten Urteile ab. Es konnte keinen Angeklagten verurteilen, weil er den Teufel geliebt hatte. Es konnte ihn nur verurteilen, wenn er dem Teufel bei einem klar zu bestimmenden Verbrechen geholfen hatte. Doch Schachts Verbrechen war seine Bewunderung für den Teufel gewesen.“

John Weitz
Hitlers Bankier: Hjalmar Schacht
Europa Verlag, 1998
450 Seiten
Nur noch antiquarisch erhältlich

Letzte Siege der Weimarer Republik über ihre Feinde

Mit dem Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs hat 2014 ein enger Reigen 100jähriger Jahrestage der deutschen Geschichte begonnen. Es folgten unter anderem vier Jahre später der Jahrestag des Waffenstillstands und das Ende des Kaiserreiches und damit die Ausrufung der deutschen Republik. Für das nächste Jahr ist ein weiterer Höhepunkt abzusehen: die Krise der Weimarer Republik von 1923 mit der Ruhrbesetzung und der Hyperinflation und damit verbunden dem letztlich gescheiterten Versuch eines damals noch unbedeutenden Rechtsextremisten namens Adolf Hitler, mit seinem Münchner Marsch vom 9. November des Jahres sich in Nachahmung seines italienischen Vorbildes Mussolini in Bayern an die Macht zu putschen. Kuriosität am Rande, wie sehr Zufälle den Lauf der Geschichte bestimmen: Zu seiner Linken nur wenige Zentimeter von Hitler entfernt wurde sein Parteigenosse Max Erwin von Scheubner-Richter von einer Kugel tödlich getroffen. Welchen Weg hätte die Geschichte genommen, wenn das Geschoß stattdessen ihn selbst getroffen hätte?

Der Buchmarkt läuft sich bereits warm im Hinblick auf das Gedenken an 1923. Zahlreiche historische Titel liegen bereits hierzu auf den Tischen der Buchhandlungen. Einer davon, „1923 – Ein deutsches Trauma“ von Mark Jones, verdient dabei eine besondere Aufmerksamkeit.

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Der irische Historiker Jones (* 1981) setzt seine Darstellung beim Vertrag von Rapallo an (April 1922), mit dem das international isolierte und durch das Diktat von Versailles geschwächte Deutschland die Annäherung an das bolschewistische Russland besiegelte, zum Verdruß der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, vor allem von Frankreich als der größte Gläubiger Russlands. Trotz des Erfolgs, der verhinderte, daß die Westmächte Deutschland auch noch die Kriegs- und Vorkriegsschulden des zaristischen Russlands aufbürdeten, fiel wenige Monate später mit Außenminister Walther Rathenau der Architekt der Einigung einem Attentat der rechtsextremen „Organisation Consul“ zum Opfer.

Zu Beginn des Jahres 1923 nahm Frankreich unter Ministerpräsident Raymond Poincaré (1860 – 1934) die nicht vollständig von Deutschland erfüllten Reparationsforderungen zum Anlaß, gemeinsam mit belgischen Truppen das Ruhrgebiet, neben Oberschlesien die industrielle Herzkammer des Reichs, zu besetzen.

An dieser Stelle muß ein ergänzender Hinweis zu Poincaré eingeschoben werden, der dessen sinistere Rolle in der Geschichte erhellt. Poincaré stand bereit 1914 als Staatspräsident an Frankreichs Spitze. 2016 stellte der deutsche Historiker Rainer F. Schmidt die gut begründete These auf, daß dieser durch sein Taktieren entscheidend den Ausbruch des Ersten Weltkrieg zu verantworten habe. Ihm ging es vor allem um Rache für den Verlust von Elsass-Lothringen, aus dem seine Familie nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870-71) vertrieben worden war.

Doch der Sieg über Deutschland im Ersten Weltkrieg war dem ausgewiesenen Deutschenhasser Poincaré nicht genug. In der Ruhrbesetzung ging es nur vordergründig um Reparationen. Sie bot vor allem den Hebel für die Umsetzung des alten französischen Traums, Deutschland so zu zersplittern, daß der ungeliebte Nachbar und „Erbfeind“ als Konkurrent auf Dauer ausfiel und Frankreich so den europäischen Kontinent dominieren konnte.

Für die wehrlos gemachten Deutschen wiederum mußte die Ruhrbesetzung wie ein Hohn erscheinen auf die Versprechungen der Sieger, eine Friedensordnung auf der Basis des Rechts zu begründen. Frankreich nahm sich aus eigener Macht das heraus, was es ihm zuzugestehen meinte, während Großbritannien dabei tatenlos zusah und sich auch die Amerikaner in der Ferne vornehm zurückhielten. Was Deutschland in diesen Tagen widerfuhr, war nicht die Herrschaft des Völkerrechts, sondern die Willkür des Siegers.

Die Deutschen bedienten sich des einzigen Mittels, das ihnen zur Verfügung stand: Der Weg des passiven Widerstands, ausgerufen von der Reichsregierung. Den Besatzern wurde jegliche Kooperation verweigert, die Arbeiterschaft des Ruhrgebiets ging in den Streik.

Ausführlich beschreibt Jones das Leiden der Bevölkerung unter der Besatzung, in einer Deutlichkeit wie es nur ein auswärtiger Historiker vermag, wo seine deutschen Kollegen mit Scheuklappen beschränkt sind. Übergriffe französischer Soldaten auf Zivilisten waren an der Tagesordnung. Wer nicht spurte, wurde in das unbesetzte Reichsgebiet ausgewiesen. Besonders zu leiden hatten die Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen durch Soldaten wurden:

„Das Muster sexueller Gewalt entsprach dem Muster anderer Gewaltakte, darunter die Tötung deutscher Zivilisten durch französisches und belgisches Militär. Vergewaltigung war Bestandteil der allgemeinen Gewaltkultur der Besatzungstruppen gegen die zivile Bevölkerung des Ruhrgebiets“.

Diese Demütigung wurde als besonders schwer empfunden, wenn sie von Soldaten aus den Kolonien verübt wurde. Die Ahndung solcher Verbrechen durch die Armeeführung war allenfalls lasch. Jones konstatiert: „Insgesamt kam die überwältigende Mehrheit der Soldaten mit ihren Verbrechen davon.“

Die Reichsregierung zu Berlin kompensierte den Lohnausfall der Ruhr-Arbeiter durch das verhängnisvolle Anwerfen der Gelddruckerpresse. Das Ergebnis war eine historisch beispielslose Hyperinflation, die die Sparguthaben restlos entwertete und das Wirtschaftsgefüge und die Staatsfinanzen zerrüttete, ohne daß sich ein Abzug der Besatzer abzeichnete.

Zum passiven Widerstand kam der vom Staatsapparat insgeheim geförderte aktive Widerstand. Aktivisten verübten vor allem auf die Bahnverbindungen des Ruhrgebietes Sprengstoffanschläge. Todesopfer waren dabei nicht beabsichtigt, kamen aber vor. Die repressive Antwort der Besatzer bestand in Deportationen und den Mißbrauch von Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Berühmt wurde der Fall des Stoßtruppführers Albert Leo Schlageter (1894 – 1923), an dem die Franzosen in einem kurzen Prozeß ein Exempel statuierten und zum Tode verurteilten. Seine Hinrichtung, aus der später im Dritten Reich ein nationaler Heldenmythos gewoben wurde, geriet für die Besatzer zum „kolossalen Eigentor“, brachte sie die Bevölkerung doch nur noch mehr gegen sie auf.

Gleichzeitig eskalierte die politische Polarisierung zwischen Links- und Rechtsextremisten im übrigen Reichsgebiet. Separatisten machten gemeinsame Sache mit den Besatzern, was letztlich mangels Unterstützung aus dem Volk scheiterte. Antisemitische Übergriffe auf Juden erreichten ein zuvor nicht gekanntes Ausmaß. Ende Oktober probte die moskauhörige KPD in Hamburg und Schleswig-Holstein den bewaffneten Aufstand. Dem gescheiterten Auftakt für eine deutsche Oktoberrevolution kostete am Ende 24 Kommunisten und 17 Polizisten das Leben. Etwa gleichzeitig beendete die Reichswehr in Mitteldeutschland gewaltsame revolutionäre Umtriebe. Der eingangs erwähnte Hitlerputsch mit dem Fall seines Initiators war der letzte Höhepunkt der Krise.

Letztlich mußte sich die Reichsregierung geschlagen geben. Im September 1923 gab Reichskanzler Cuno das Ende des Ruhrkampfes bekannt und schlug einen Kurs der Stabilisierung ein. Doch für die Besatzer war das kein Anlaß, sich als Gewinner zu fühlen:

„Als die Hyperinflation im Spätsommer 1923 ihren Höhepunkt erreichte, war klar, daß sie für alle Seiten ein Desaster war. Nach zehn Monaten hatten die Franzosen weniger Koks und Kohle bekommen als in den letzten Tagen vor der Besatzung; und für die Weimarer Republik waren die Kosten für die Finanzierung des passiven Widerstands höher als die Ausgaben für die Reparationszahlungen.“

Es folgten eine Währungsreform, die der Hyperinflation erfolgreich Einhalt gebot. Eine Neuverhandlung der Reparationen führte zum Abschluß des für Deutschland günstigeren Dawes-Plans, durch den Frankreich in seinen weitreichenden Zielen zurückstecken mußte und schließlich im Sommer 1925 seine Truppen abzog. Frankreich, so Jones, hatte sich „verzockt“.

Im Ergebnis des Ausgangs aus der Ruhrkrise zieht Jones ein positives Fazit und erinnert daran, „dass die Geschichte des Jahres 1923 nicht nur von Radikalisierung und Gewalt handelt; sie ist auch eine Geschichte des Sieges der deutschen Demokraten über ihre Widersacher.“ Doch war es nicht eher ein Pyrrhussieg? Jones nennt das Jahr 1923 „ein deutsches Trauma“. Traumata haben die unangenehme Eigenschaft, selbst auf lange Zeit nicht von allein zu verschwinden. Die Erfahrung der Wehrlosigkeit, des Ausgeliefertseins, der Demütigung und der Entrechtung wird in den Köpfen vieler Deutscher damals noch lange präsent gewesen sein und mit den Boden bereitet haben für den Aufstieg eines vermeintlichen Erlösers in Gestalt des „Führers“.

Es besteht eine merkwürdige Koinzidenz zum 100. Jahrestag der Ruhrkrise der Weimarer Republik und der gegenwärtigen Krise, die die Bundesrepublik gerade durchmacht und die voraussichtlich im kommenden Jahr auf ihren Höhepunkt zusteuert. Analogien sind kaum vorhanden. Zwar sind die aktuell rund 10 Prozent Inflation kein Vergleich zur Hyperinflation, wecken aber doch unangenehme Erinnerungen an damals. Und die Ausgabenpolitik der Ampelkoalition ist keineswegs geeignet, das Gespenst der Inflation auf mittlerer Sicht wieder einzufangen. Auch ist Deutschland in Westeuropa keineswegs isoliert, aber vor allem durch seine gesinnungsethische und desaströse Migrationspolitik sowie seine Energiewende ein Solitär unter seinen Verbündeten. Putins Anwendung der russischen Energielieferungen als Waffe gegen den Westen hat nur die inhärenten Mängel einer vollkommen unausgegorenen Energiewende aufgedeckt. Es steht allen offiziellen Bekundungen zum Trotz der Feind im Inneren heute keineswegs „rechts“, im Gegenteil; mit den weit links angesiedelten und von ideologischen Beglückungsutopien durchdrungenen Grünen haben wir „die heuchlerischste, abgehobenste, verlogenste, inkompetenteste und gemessen an dem Schaden, den sie verursachen, derzeit auch die gefährlichste Partei, die wir aktuell im Bundestag haben“ (Sarah Wagenknecht) und sogar in entscheidenden Schlüsselressorts der Bundesregierung!

Aber wenn beide Krisen etwas gemeinsam haben, dann daß damals wie heute die Existenz Deutschlands als modernes Industrieland mit funktionierender Währung auf dem Spiel stand beziehungsweise wieder auf dem Spiel steht. 1923 konnte diese Gefahr noch abgebogen werden. Doch, daß wir dieses mal wieder so viel Glück haben werden, dafür gibt es allein bei dem Personal unserer politischen Elite mehr als berechtigte Zweifel.

 

Mark Jones
1923 – Ein deutsches Trauma
Propyläen
384 Seiten; 26,- Euro