Ines Geipel zum 65. Geburtstag

Wenn ich mich recht entsinne, dann war es ein Artikel aus der extrem linken „taz“, der mich Anfang 2004 erstmals auf Ines Geipel aufmerksam machte. Darin ging es um eine Lesung in der Erfurter Kaufmannskirche, der für die Publizistin zum Gang in die Löwenhöhle wurde. Das Thema, das sie in ihrem Buch „Für heute reicht’s“ vertrat, konnte auf kaum stärker vermintem Terrain, vor kaum einem unwilligeren Publikum vorgestellt werden: Zwei Jahre zuvor, im April 2002, hinterließ Robert Steinhäuser mit seinem Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium nicht nur 16 Tote, sondern auch eine lange in der Stadtgesellschaft schwärende Wunde. Geipel veröffentlichte nach langen Recherchen vor Ort eine literarische Reportage – „Für heute reicht’s“ – über diesen Amoklauf. Nicht allein Fehler im Polizeieinsatz prangerte sie darin an; auch die aus ihrer Sicht unzureichende Aufarbeitung des Massakers. Doch dabei beließ sie es nicht. Ihre Motivsuche beim Täter verknüpfte sie mit einer tiefenpsychologischen Analyse der Thüringer zur Zeit der Wende und der Umbrüche, dem verlogenen Buchenwald-Mythos aus DDR-Zeiten und der Kindereuthanasie in Jena im Dritten Reich – allesamt unzureichend aufgearbeitet. Ich fand Geipels Einsatz, den in Erfurt offenbar kaum jemand gewünscht hat, mutig. Allgemein beliebt machte sie sich damit nicht. Bei dieser bundesweit beachteten Lesung schlug ihr aus dem Publikum die kalte Ablehnung entgegen: „Sie haben mehr kaputt gemacht, als es gut war.“
![]() | Ines Geipel Für heute reicht’s 256 Seiten, geb. Ausgabe 2004 nur noch antiquarisch erhältlich |
Dabei war Geipel schon vorher bekannt und unbequem. Die frühere DDR-Leistungssportlerin trieb die Doping-Aufarbeitung im DDR-Sport mit voran, von der sie selbst betroffen war. Ihre Sportlaufbahn fand ein jähes Ende, nachdem ihre Fluchtabsichten verraten wurden. Geipels offene Kritik am Tian’anmen-Massaker während ihres Studiums brachte Universität und Partei gegen sie auf. Den Folgen wich sie mit der geglückten Flucht 1989 über Ungarn in die Bundesrepublik aus. Dort nahm sie das Studium der Philosophie und Soziologie auf. Nach verschiedenen Stellen hat sie seit 2001 eine Professur an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch inne.
Als Publizistin blieb Geipel nach „Für heute reicht’s“ weiterhin dem Thema Amok und damit anknüpfend der Überforderung der Gesellschaft verbunden. So folgte 2010 „Seelenriss – Depression und Leistungsdruck“ und 2012 „Der Amok-Komplex“. Dabei öffnete sich für die Autorin mit den gesellschaftlichen Veränderungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ein neues Betätigungsfeld.
![]() | Ines Geipel Seelenriss Depression und Leistungsdruck 238 Seiten, geb. Ausgabe 2010 19,- Euro |
Pegida und der Aufstieg der AfD machte Geipel zur gefragten Gesprächspartnerin, um vor allem dem Westen Deutschlands zu erklären, warum der neue Osten der Bundesrepublik sich fast in Gänze den gesellschaftlichen Denkmustern der alten Bundesrepublik verweigert. Um deutliche und scharfe Worte ist sie dabei nicht verlegen. Das mußte sogar der Leipziger Germanist Dirk Oschmann erfahren, dem sie für seine Wutschrift „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung: Wie die Konstruktion des Ostens unsere Gesellschaft spaltet“ attestiert: „Eine rüde Vollklatsche, ein angesagter Rollenausfall. Hyperpolemisch, grob verfälschend, ressentimentgeladen.“
Ihre Kernthese aus „Umkämpfte Zone“ (2019) besagt, daß der AfD-Erfolg in der alten DDR Folge der dort nicht aufgearbeiteten Vergangenheit zweier Diktaturen – der braunen und der roten – sei. Die frühere DDR als deutscher Sonderfall ausgebliebener Vergangenheitsbewältigung? Die These weist allein schon dadurch Schwächen auf, daß Mitteldeutschland sich im Gleichschritt des politischen Trends nach rechts in jenem Teil Europas bewegt, wo eben keine vergleichbaren Diktaturerfahrungen gemacht wurden. Wenn man von „Sonderfall“ sprechen will, dann doch eher in Bezug auf Westdeutschland.
![]() | Ines Geipel Umkämpfte Zone Mein Bruder, der Osten und der Hass 288 Seiten, Taschenbuch 2020 14,- Euro |
Geipel ist sich dem durchaus bewußt. Auf einer Lesung in Kassel im vergangenen Mai gab sie ihrer Hoffnung fast schon pathetisch Ausdruck, der Westen Deutschland möge noch lange das „Unnormal“ bleiben. Überhaupt scheint sie im Westen auf ein dankbareres Publikum zu treffen als im Osten. Es muß den „Seelenriss“ der Wessis über den undankbaren Osten geradezu streicheln, wenn Geipel ihm bescheinigt, nach all den Mitteltransfers wäre jetzt auch mal der Westen dran. Der Osten, so vermittelt sie, scheint das Glück, das die Erfolgsgeschichte der Wiedervereinigung mit sich brachte, nicht zu schätzen und den Umgang mit der gewonnenen Freiheit (noch) nicht gelernt zu haben.
Zuweilen wirkt ihre Argumentation krude und überspannt. Mit verschwörungstheoretischem Geraune sprach sie zuletzt von einem „dichten Agentennetz“, mit dem sich der Kreml im Osten festgesetzt hätte und verwebt dabei geschickt das BSW mit hinein, ohne explizit zu sagen, es sei aus Russland gesteuert: „Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat von Anfang an eins zu eins das Kreml-Narrativ geliefert. Es geht um Desinformation, Destabilisierung, Revanche.“
In einem Interview mit der WELT 2017 fasste sie politische Ost-Persönlichkeiten wie die damalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry, den Pegida-Mitbegründer Lutz Bachmann, die NSU-Terroristen Beate Zschäpe und Uwe Mundlos und den über unsägliche Chats aus der AfD geworfenen Rostocker Holger Arppe – allesamt geboren in den frühen 1970er Jahren – in eine „Generation Amok“ zusammen. Das Thema „Amok“ scheint Geipel nicht loszulassen. Ist es eine verstellende Brille, durch die sie die Wirklichkeit betrachtet?
„Wir haben die Dimension des gesellschaftlichen Umbruchs, das Wasteland Ost und seine irre Gewaltlust unterschätzt“, konstatiert Geipel am Ende des Interviews, so als ob die Gewalt, die uns heute hauptsächlich begegnet, die Messermorde, die schrecklichen Attentate wie Solingen und Magdeburg ausgerechnet von frustrierten Ostdeutschen ausgegangen wären. Bis 2015 hatten die Ostdeutschen, die bislang keine Erfahrungen mit Massenmigration aus kulturfernstehenden Ländern gemacht haben, ausgiebig Gelegenheit diesbezügliches Anschauungsmaterial im Westen selbst zu sammeln – Kulturschock inklusive -, wo schon in den 1980er Jahren die Integrationsprobleme auf eine tickende Zeitbombe wiesen. Und man muß schon ziemlich verblendet sein, um sich solche Verhältnisse in der von derartigen Problemen unbelasteten eigenen Heimat selbst zu wünschen. Wer will sich dann noch wundern, daß die Zumutung einer Übernahme der von der Realität vollkommen überholten migrationspolitischen Vorstellungen des Westens im Osten als ideologische Kolonisation empfunden werden? Hier kennt man die Verschleierungsmechanismen, die über das Migrationsgeschehen gelegt werden, nur allzu gut aus der DDR. Hieraus rührt das Bonmot, wonach es dem Osten keineswegs an Demokratieerfahrung mangelt, aber dem Westen umso mehr an Diktaturerfahrung.
In „Umkämpfte Zone“ zog Geipel ihre eigene, selbst für DDR-Verhältnisse „ungewöhnliche“ Familienbiographie heran und überträgt die „unbewußt transgenerationelle“ Wirkung paradigmatisch auf die gesamte DDR. Beide Großväter waren in der SS, der Vater wochenlang als Geheimagent in der Bundesrepublik im Einsatz. Der ebenfalls ostsozialisierte Publizist Thorsten Hinz schreibt dazu in seiner Rezension in der Jungen Freiheit:
Was beim Leser zurückbleibt, ist Mitgefühl für ihre und ihres Bruders „Kindheit im Terror“, verursacht durch den Vater. „Wir mußten durch die Realität eines enthemmten Mannes, Vater, der verdeckte Krieger. Es war das Stasi-Prinzip jener Jahre.“ Die Verbindung zwischen dem familiär induzierten Kindheitstrauma und dem Unterdrückerstaat erscheint willkürlich, weil Geipel die konkrete Trauma-Ursache auch auf Nachfragen beschweigt. Auf Seite 114 ist nur zu lesen, sie und ihr Bruder seien jahrelang „die Stechpuppen des Vaters, seine Trainingsobjekte“ gewesen. Wenn Metaphern überhaupt einen Sinn haben sollen, ist damit wohl die Geschichte eines sexuellen Mißbrauchs angedeutet. Die Stasi war des Teufels, doch Kindesmißbrauch war weder ihr Prinzip noch ihre Exklusivität. Einerseits verschließt Geipel den Vater-Tochter-Konflikt in der Krypta ihres Herzens; andererseits projiziert sie ihn unbewiesen auf den Staat. Deshalb ist ihr Buch ein Dokument des Ressentiments und nicht der Analyse. Seine Erhebung zum Wunderbuch über den Osten bedeutet einen weiteren Gewaltakt gegen ihn. (aus: Junge Freiheit 26/2019)
Der Auftritt in Erfurt – an dieser Stelle kommt er mir unwillkürlich in den Sinn. Wie erfolgt die Aufnahme von Geipels publizistischem Schaffen im Osten, wie kommen dort ihre schroffen, teils haarsträubenden Thesen an? Ist Geipels Erfolg, ihre Anerkennung hauptsächlich einer sehr wohlwollenden Rezeption im Westen geschuldet? Verstellt sich der Blick einer im Westen angekommenen Publizistin auf die Befindlichkeiten jener, aus denen sie selbst entwachsen ist?
Zuletzt drohte ein dunkler Schatten auf Geipel zu fallen. Aufklärer des DDR-Dopings erhoben Anfang 2023 gegen sie Vorwürfe, wonach sie ihre Sporterfolge „völlig übertrieben und faktisch falsch“ dargestellt habe, ebenso ihre Behauptung, Opfer von Doping gewesen zu sein. Weiterhin wurden Zweifel an ihre Rolle als DDR-Oppositionelle erhoben. Ines Geipel, die Hochstaplerin?
Eine MDR-Dokumentation transportierte die Vorwürfe öffentlichkeitswirksam. Der Politikwissenschaftler Jochen Staadt witterte in der WELT eine Kampagne gegen Geipel im Vorfeld der Verleihung des Erich-Loest-Preises. Daran beteiligt seien neben dem DDR-kritischen Historiker Ilko Sascha Kowalczuk auch alte Stasileute um die Zeitschrift „Rot-Fuchs“.
Geipel wehrte sich juristisch gegen den „Vernichtungsvorstoß“. Jedoch, sie blitzte damit vor Gericht ab, das die Behauptungen als vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sah. Gleichwohl, Meinungen sind noch keine Fakten. Letztlich überstand sie die undurchsichtige Kampagne unbeschadet.
Ines Geipel wurde am 7. Juli 1960, heute vor 65 Jahren, in Dresden geboren. Neben ihrem zahlreichen publizistischen Schaffen machte sie sich neben der Aufarbeitung des Dopings im DDR-Sport auch um die Würdigung in der DDR unterdrückter Literaten verdient. Ihr zuletzt erschienenes Buch „Fabelland – Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück“ ist nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis.
