Mit Gotteslob im Bollerwagen

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024

Mit Gotteslob im Bollerwagen

Reportage aus Thüringen: Wenige Wochen vor dem Katholikentag in Erfurt fand im Eichsfeld die größte Männerwallfahrt Deutschlands statt

Daniel Körtel

Beim Schlagen der Glocke, die die Gläubigen um neun Uhr zur heiligen Messe ruft, strömen die Pilger herbei. Bereits seit den frühen Morgenstunden füllt sich der Vorplatz der Kapelle des Wallfahrtsortes Klüschen Hagis im thüringischen Eichsfeld, wenige Kilometer südlich der Kreisstadt Heiligenstadt, die über die für den allgemeinen PKW-Verkehr gesperrte Wachstedter Straße herbeikommen. Es ist Christi Himmelfahrt, ein kirchlicher Feiertag, der in dieser katholischen Hochburg an dieser Stelle eine besondere regionale Bedeutung hat. Denn an diesem Tag findet die Tradition der größten Männerwallfahrt Deutschlands statt, zu der sich mehrere tausend Gläubige aus dem ganzen Eichsfeld versammeln.

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„Selig, die den Frieden preisen“ – das im Matthäus-Evangelium hinterlegte Jesus-Wort aus der Bergpredigt ist das Motto der diesjährigen Wallfahrt. Eine naheliegende Wahl in einer Zeit, in der Kriege in Osteuropa und dem Nahen Osten toben, die aber auch erfüllt ist von gesellschaftlichen Konflikten im eigenen Land, auch von Unfrieden im eigenen Leben. Und bereits auf dem Weg wird der Pilger mit Appellen zur Selbstbefragung eingestimmt: „Wie bestimmen Vorurteile dein Verhalten?“ oder auch „Bist du neidisch auf andere?“

Der Hang zwischen der Kapelle und dem Wald ist inzwischen gut gefüllt, fast ausschließlich Männer, zu denen sich auch vereinzelt Frauen gesellen. Ein älterer Wallfahrer bestätigt auf Nachfrage den nach wie vor hohen Stellenwert dieses Ereignisses für die Region, doch mit einem Augenzwinkern weist er auf die Bier- und Imbißtände unterhalb der Kapelle hin: „Es geht nicht nur um Frömmigkeit.“ Schon während des Gottesdienstes dringt ein hörbarer Geräuschpegel durch von jenen Besuchern, denen eher am Vatertag mit Bollerwagen als an spiritueller Einkehr gelegen ist.

Auch ein Büchertisch ist vorhanden. Lagen dort in den vergangenen Jahren sogar Bücher des Linken-Politikers Gregor Gysi und der früheren protestantischen Bischöfin Margot Käßmann und zur LGBTQ-Problematik in der Kirche, so stehen dieses Mal vor allem die aktuellen Titel des Journalisten Peter Hahne und des populären Buchautors Manfred Lütz sowie des früheren Papstsekretärs Georg Gänswein im Angebot.

Erstmals eingerichtet wurde die Männerwallfahrt zum Klüschen Hagis 1957 auf Initiative des katholischen Seelsorgers Ernst Göller (1906–1996). Sie sollte die traditionellen und religiösen Selbstbehauptungskräfte des Eichsfeld gegen die Bedrängung durch das atheistische SED-Regime stärken. Weit über 10.000 Pilger kamen seinerzeit zusammen. In diesem Jahr, so teilte es der für die Wallfahrt zuständige Pastoralreferent Julian Hanstein der JUNGEN FREIHEIT mit, seien es immerhin rund 7.000 gewesen, und damit mehr als die 6.500 im vergangenen Jahr.

Männerwallfahrt zum Klüschen Hagis (Eichsfeld), Himmelfahrt 2024 / © Daniel Körtel

Zu Zeiten der DDR nutzten die Bischöfe solche Wallfahrten, um in ihren Predigten der Staatsführung „durch die Blume“ Botschaften zukommen zu lassen, zuweilen auch offene Kritik. Aber auch nach dem Ende der DDR und damit dem Verschwinden der kirchenfeindlichen Repressionen kommt dem Ereignis nach wie vor über das eigentliche kirchliche „Tagesgeschäft“ hinaus eine besondere Bedeutung zu.

So stellte der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr die im ersten Grundgesetzartikel verankerte Menschenwürde in den Mittelpunkt seiner Wallfahrtspredigt. Darin verknüpfte er die Himmelfahrt Christi mit der Menschenwürde, denn so wie Christus erhöht wurde, so auch der Mensch in seiner Würde. Davon ausgehend verteidigte er das Asylrecht als ein „heiliges Recht“ und bedankte sich „bei allen, die sich um Integration bemühen, auch im Eichsfeld“.

Des weiteren ging Neymeyr auch auf den Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche ein, allerdings in scharfer Abgrenzung von Politikern, denen es dabei nur um den „Erhalt des deutschen Volkskörpers“ ginge, und betonte stattdessen: „Jede Schwangerschaft sollte ein Grund zu Freude sein.“

Doch auch in bezug auf ein für die Kirche besonders schwieriges Thema hatte der Bischof eine Botschaft parat: „Wir müssen auch in unserer Kirche lernen, die Menschen anderer sexueller Orientierung zu respektieren“, ohne allerdings diesen Anspruch näher konkret auszugestalten. Den Gläubigen gab Neymeyr eine Warnung mit, die viele überraschte: „Wer Homosexualität vehement ablehnt, der sollte sich darauf gefaßt machen, daß eines Tages sein Sohn kommt und sich als homosexuell erklärt.“

Abschließend verwies Neymeyr auf die kürzlich erfolgte Erklärung der Bischöfe zur Demokratie, ein faktischer Unvereinbarkeitsbeschluß von Christen und der AfD, ohne daß Neymeyr allerdings die Partei beim Namen nannte.

Der politische Charakter der Predigt des Bischofs irritiert viele

Der spärliche Beifall während und am Ende der Predigt deutet darauf hin, daß sie vermutlich nicht den Anklang unter den Gläubigen gefunden hat, den sich der Bischof wohl gewünscht hatte. Ein Pilger beklagte sich währenddessen hörbar über den politischen Charakter der Predigt, die ihm vorkam wie Wahlkampf, so als ob ihm darin der Artikel eins des Grundgesetzes über die Menschenwürde erklärt würde. Er fühle sich dadurch nicht mitgenommen und wies zusätzlich auf den konservativen Charakter der Eichsfelder hin, unter denen es auch AfD-Wähler gebe: „Gilt für jene die Menschenwürde nicht?“

Doch verfügt die katholische Kirche überhaupt noch über die Autorität, um in einem ihrer besonderen Stammlande die Menschen in ihrem Sinne zu lenken? Noch zu DDR-Zeiten gab es eine feste Bindung von Amtskirche und Kirchenvolk, an der sich die SED regelrecht die Zähne ausbiß. Hierfür waren auch die intakten Familienstrukturen im katholischen Milieu hilfreich. Zwar verzichtete die Kirche auf offenen Widerstand und versuchte stattdessen hinter den Kulissen ihren Einfluß geltend zu machen. In seiner umfassenden Dissertationsschrift „Rosenkranzkommunismus“ von 2019 stellt der Historiker Christian Stöber fest, daß „die SED wieder einmal die bittere Erkenntnis [erlangte], daß eine offene Antikirchenpolitik, die sich ausdrücklich gegen den katholischen Glauben richtete, dauerhaft nur schwer bis gar nicht durchzuhalten war, wollte die Partei einen größeren und nachhaltigen politischen Schaden vermeiden.“

Und vor allem der Klerus erwies sich als besonders resistent gegen die Anwerbeversuche der Staatssicherheit. Mit ihrem Eichsfeld-Plan einer forcierten Industrialisierung sollte stattdessen die strukturschwache, von kleinflächiger Landwirtschaft geprägte Region, die als unmittelbares Grenzgebiet besonders unter der Teilung litt, so entwickelt werden, daß sie von der Fortschrittsideologie der SED überzeugt werde. Dennoch ließen sich die Eichsfelder für den Sozialismus nicht gewinnen.

Das blieb auch nach außen nicht verborgen. So war es kein Geringer als Papst Benedikt XVI., der „in seiner Jugend so viel vom Eichsfeld gehört“ habe und daher im September 2011 auf seiner Deutschland-Visite auch im Eichsfeld Station machte, um so den religiösen Selbstbehauptungswillen der Eichsfelder „in zwei gottlosen Diktaturen, die es darauf anlegten, den Menschen ihren angestammten Glauben zu nehmen“, zu würdigen.

Allerdings scheint es sich auch im Fall des Eichsfelds zu bestätigen, daß – neben anderen Gründen – nach dem Wegfall einer Diktatur und damit auch den politischen Solidarisierungseffekten, die Möglichkeiten einer freiheitlichen Demokratie ernste Auflösungserscheinungen im bislang festgefügten kirchlichen Milieu zur Folge haben.

Im November 2022 bestätigte die Seelsorgeamtsleiterin des Bistums Erfurt Anne Rademacher in der Thüringer Allgemeinen, daß inzwischen auch im Eichsfeld Kirchenaustritte und nachlassende Gottesdienstbesuche zum Alltag gehören. Im Bistum Erfurt, zu dem das Eichsfeld gehört, entfielen von 1.670 Kirchenaustritten allein 543 auf diese Region. Zu den Begründungen führte Rademacher eine an, die besonders überrascht: „Gläubige treten aus der Kirche aus, um ihren katholisch geprägten und bis dahin durchaus kirchlich gelebten Glauben erhalten zu können. Diese Menschen leiden an der Diskrepanz zwischen Glaubensleben und (manchen) Kirchenerfahrungen.“

Katholiken sind im Eichsfeld die dominierende Gemeinschaft

Das Eichsfeld gehört verwaltungstechnisch zum Bistum Erfurt. Seine Sonderstellung darin wird dadurch deutlich, daß es 53,7 Prozent (2022) der Kirchenmitglieder des Bistums stellt. Vollkommen anders hingegen stellt sich die Situation in der Stadt Erfurt selbst dar. Gemäß dem Zensus von 2011 stehen hier 13.810 Katholiken gegen 29.690 Protestanten in der Minderheit, die aber gemeinsam nicht einmal annähernd soviel aufbieten können wie die 151.680 Konfessionslosen. Demgegenüber stellt der Landkreis Eichsfeld mit 71.190 Katholiken die dominierende Konfession, während sich dort 10.940 zur evangelischen Kirche beziehungsweise 18.310 als konfessionslos bekennen.

Und doch wird Erfurt, wo der Reformator Martin Luther sein Theologiestudium absolvierte, in diesem Jahr Austragungsort des Deutschen Katholikentages sein, der vom 29. Mai bis 2. Juni stattfindet. Sein Leitwort „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ aus den Psalmen greift das Kernthema der Männerwallfahrt auf. Die erklärte Absicht des Katholikentages ist es, in Erfurt „sich für unsere gemeinsamen Werte, für Freiheit, Demokratie und eine friedliche und offene Gesellschaft einzusetzen“. Als Gäste angesagt sind unter anderem die Klima-Aktivistin Luisa Neubauer, Bundeskanzler Olaf Scholz und der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow.

Das scheint nicht viel Platz zu lassen für die Konflikte in der Kirche, innerhalb Deutschlands und mit Papst Franziskus, der im vergangenen November in einem Schreiben dem von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken angestoßenen liberalen Reformprozeß „Synodaler Weg“ eine deutliche Absage erteilte. Vor allem die angestrebte Demokratisierung kirchlicher Strukturen ist dem Papst ein Dorn im Auge, und er warnt die deutschen Katholiken davor, sich dadurch von der Einheit der Weltkirche zu entfernen.

Christian Stöber
Rosenkranzkommunismus

Die SED-Diktatur und das katholische Milieu im Eichsfeld 1945–1989
Ch. Links Verlag
424 Seiten, 2020

Die alles erstickende Asche

„Wenn meine Arbeit nicht misslungen ist, habe ich erzählt, was mit Menschen geschieht, wenn sie Verhältnissen unterworfen sind, in denen sie eine relative materielle Sorglosigkeit mit ihrer geistigen Freiheit bezahlen.“ (Monika Maron)

Es war einer der spektakulärsten Fälle von Cancel Culture in den letzten Jahren, einem Phänomen, das es angeblich in Deutschland gar nicht gibt: Der Ende 2020 vorgenommene, ungnädige Rauswurf der Erfolgsschriftstellerin Monika Maron aus dem S. Fischer Verlag, der sie seit Jahrzehnten in ihrer publizistischen Arbeit betreute. Dem vorausgegangen war ein längerer, durchaus gegenseitiger Entfremdungsprozeß, den Maron vor allem mit ihren zunehmend „galligen“ Essays über Fehlentwicklungen in Deutschland, vor allem über die Islamisierung, beförderte. Auch wurde man dort offenbar mit ihren letzten Romanen „Artur Lanz“ und „Munin oder Chaos im Kopf“ nicht mehr so recht warm. Ebenso wurde ihr ihre Freundschaft zur Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen, die sie mit einem Essayband gemeinsam mit anderen „rechtsverdächtigen Abweichlern“ in ihre Buchreihe „Exil“ aufnahm, als Kontaktschuld zur Last gelegt. Glücklicherweise dauerte es nicht lange, und mit Hoffmann und Campe sprang ein anderer renommierter Verlag in die Lücke. Pünktlich einen Monat vor ihrem 80. Geburtstag am heutigen 3. Juni 2021 erschien unter ihrem neuen Flaggschiff ihr zu Ehren der Band „Was ist hier eigentlich los?“, der ihre bedeutendsten Essays aus den letzten Jahrzehnten versammelt.

Doch hier soll es nicht um diesen Essay-Band gehen. Das Jubiläum ist Anlaß, um das Werk zu betrachten, mit dem die Erfolgsgeschichte der Schriftstellerin Monika Maron begann: „Flugasche“.

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Monika Maron
Flugasche: Roman
Fischer Taschenbuch
256 Seiten; 15,00 Euro

Als „Flugasche“ 1981 in Westdeutschland erschien, lebte Maron noch in der DDR. In diesem Roman verarbeitete sie ihre Erfahrungen, die sie wenige Jahre zuvor als Reporterin der Ost-Berliner Wochenpost mit einem Bericht über das berüchtigte Chemierevier Bitterfeld machte. Die die Industriewerke versorgenden Kraftwerke hatten keine ausreichenden Staubfilter, so daß viele der in der Kohlenasche enthaltenen Schwermetallverbindungen durch die Schornsteine ausgestoßen wurden. Die aus dem Verbrennungsprozeß und entstandenen Stickstoffoxide erzeugten zusammen mit der nicht vorhandenen Entschwefelung jenen „sauren Regen“, der die Wälder im Erzgebirge zu Stangenhölzer verkümmern ließ; von den gesundheitlichen Gefahren für die Bevölkerung ganz zu schweigen.

An dieser Stelle möchte ich – quasi als kleinen Exkurs – meine eigenen Erfahrungen über die desaströse Umweltbilanz der DDR einschieben. Kurz nach der Wende erhielt das Büro, für das ich damals tätig war, den Auftrag die Vorarbeiten für den Bau einer neuen Kläranlage für eine Stadt – nennen wir sie Q. – im wiedergegründeten Bundesland Sachsen-Anhalt zu leisten. Auf dem Gelände der bisherigen Abwasserentsorgung wurde eine automatisierte Anlage zur Probeentnahme des einströmenden Abwassers eingerichtet, um so die Größenordnung der neu zu bauenden Kläranlage zu ermitteln.

Abwasserentsorgung in Mitteldeutschland, 1992 / © Daniel Körtel

Das bis dahin vorhandene System der Abwasserentsorgung von Q. primitiv zu nennen, wäre noch eine Untertreibung. Über ein marodes Verteilsystem wurde das Abwasser in verschiedene Klärteiche geleitet. War ein Teich voll, wurde der Schieber zum nächsten Teich geöffnet. Die rostzerfressenen Rohre des Schutzgeländers um das Verteiler- und Pumpsystem wurden im Inneren von Weidenstöcken notdürftig vor dem Abbrechen bewahrt. Der nach der Verdunstung und Versickerung des Wassers zurückgebliebene Trockenschlamm, der ohne jede Grobsiebung noch alles enthielt, was er mit sich geführt hat, wurde auf meterhohe Halden aufgetürmt. Direkt daneben wurde Feldwirtschaft betrieben.

Abwasserentsorgung in Mitteldeutschland, 1992 / © Daniel Körtel

Um die Mittagszeit kam es täglich zu einem merkwürdigen Phänomen. Das Abwasser nahm im Gerinne eine milchig weiße Färbung unbekannter Zusammensetzung an. Der Wassermeister konnte keine Auskunft über die Ursache abgeben, stellte aber fest, daß zur Vorwende-Zeit die Färbung noch ausgeprägter war. Welcher Produktionsbetrieb auch immer dafür verantwortlich war, der wirtschaftliche Einbruch machte sich bereits hierbei sichtbar.

Abwasserentsorgung in Mitteldeutschland, 1992 / © Daniel Körtel

Überhaupt war das Abwasser dieser Stadt eine bizarre Mischung. Bei einer Zufallsstichprobe aus dem Kanalsystem offenbarte bereits eine sensorische Inaugenscheinnahme der schillernden Farben und des beißenden Gestanks nach Lösemitteln ohne jede komplexe chemische Analyse, was für eine extreme Giftbrühe man vor sich hatte. Doch das erstaunlichste ist, daß an der Stelle der Entsorgungsruine noch zur Zeit des Kaiserreichs eine hochmoderne Anlage mit einem villenartigen Betriebsgebäude stand, die man für diese Zeit nicht erwartet hätte! Die Inschrift einer verwitterten, heute nicht mehr vorhandenen Mauer erinnerte noch an ihre Errichtung in den Jahren 1907-09. Erst die Einführung synthetischer Waschmittel in der Nachkriegszeit und ihre Vernachlässigung in der DDR gaben der Anlage den Rest. Der durch die Stadt strömende Fluß, der zu den idyllischsten der Region gehörte – was gottseidank heute wieder der Fall ist -, war bereits Anfang der 1950er Jahre ein totes Gewässer, nachdem die sowjetische Besatzungsmacht ihre Politik der Kriegsreparationen durch Demontage beendet hatte. Seither galt auch für die „verbündete“ DDR die Überlegenheit des Sozialismus mittels Industrialisierung, ohne Rücksicht auf ökologische Verluste, zu demonstrieren.

Abwasserentsorgung in Mitteldeutschland, 1992 / © Daniel Körtel

Wer also glaubt, es gäbe einen systemimmanenten Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Umweltzerstörung, und daher „alternative Modelle“ unter so wohlklingenden Namen wie „Ökosozialismus“ befürwortet, der sollte sich vor Augen halten, wie weit die DDR mit solchen Utopien gekommen ist. Auch aus Perspektive des Umweltschutzes war der Zusammenbruch der DDR ein großer Segen.

Doch zurück zu „Flugasche“. Maron stellt weniger die Bitterfelder Zustände in den Mittelpunkt ihrer Geschichte, sondern den Kampf ihrer Protagonistin Josefa Nadler, in der Illustrierten Woche eine Reportage über „die schmutzigste Stadt Europas“ zu publizieren. Mit ihrer Beharrlichkeit, die Mißstände in Bitterfeld aufzuzeigen, eckt Josefa, alleinerziehende Mutter eines heranwachsenden Jungen, in der Redaktion an. Josefa verweigert sich, die Beschreibungen ihres Textes zu relativieren. Es wäre zum Preis einer Selbstverleugnung, den sie nicht leisten will.

Doch das absichtsvolle Beschweigen der Wahrheit, die Unterordnung unter die bestimmende Linie der Partei führt zu einem Auseinanderklaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, den selbst den selbst eine überzeugte Idealistin wie Josefas Kollegin Luise einer schweren inneren Belastungsprobe unterzieht:

„Luise war Kommunistin, und ihr ideelles Bekenntnis galt der Befreiung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten. Als Ergebnis ihrer Arbeit lag aber Woche für Woche eine Zeitung vor, die ihr nicht gefiel und denen nicht, für die sie gemacht wurde, in der verschwiegen wurde, wovon Luise hätte sprechen müssen, in der nichts zu lesen war über Flugaschekammern, verätzte Bäume und vergessene Städte.“

Josefas Entschluß, sich in einem Beschwerdebrief über die Mißstände an die staatlichen Stellen zu wenden, hat für sie drastische Konsequenzen. Die Parteigruppe der Redaktion unterzieht sie einem inquisitorischen Tribunal, „wie man der Genossin helfen könne“. Es ist die Gelegenheit zu kleinlicher Abrechnung selbst banaler Animositäten, die sich in Orwellscher Begriffsverdrehung als „wohlmeinende Kritik“ tarnt, die nur eines zum Ziel hat: den Menschen zu brechen. Josefas Reaktion, noch bevor endgültig über ihren Ausschluß aus der Partei entschieden wird, ist der vollständige Rückzug aus Partei und Redaktion.

Fiktiv und doch autobiographisch – was Monika Maron in „Flugasche“ verarbeitete, sind ihre eigenen Erfahrungen als Reporterin in Ost-Berlin. Nachdem sie das Manuskript beim Greifenverlag in Rudolfstadt eingereicht hatte, ließen sich die staatlichen Genehmigungsstellen sehr viel Zeit mit der Prüfung. Frustriert von diesem jahrelangen Nervenkrieg, reichte sie es über einen von einem Mittelsmann eingefädelten Kontakt beim westdeutschen Fischer Verlag ein, der es 1981 veröffentlichte. Eine sinnvolle Zukunft in der DDR hatte Maron danach nicht mehr zu erwarten. Sie siedelte 1988 in die Bundesrepublik über und setzte dort ihre Schriftstellerkarriere erfolgreich fort.

Mehr als 40 Jahre nach Erscheinen von „Flugasche“, mehr als 30 Jahre nach der Wende sind die desaströsen ökologischen Zustände in Bitterfeld ein Fall für die Geschichtsbücher. Und doch besitzt der Roman eine beklemmende Aktualität in der Beschreibung frappierend ähnlicher „medialer Bewußtseinsvermittlung“ in der DDR damals und in der Bundesrepublik Deutschland heute. Wer findet in Passagen wie dieser nicht das Credo des postmodernen Haltungsjournalismus wieder, dessen Vertreter vor nichts mehr Angst zu haben scheinen, als etwas zu berichten, was den „Falschen“ nützt:

„Ich habe mir fast schon abgewöhnt, öffentlich über Alternativen zu reden, Gedanken auszusprechen, deren Undruckbarkeit ich ermessen kann. Wozu auch? Ich weiß vorher, was man mir antworten würde, und es hängt mir zum Halse heraus: Damit lieferst du dem Gegner die Argumente. Du kannst alles schreiben, wenn du es nur richtig einordnest.“

Auch heute finden sich Beispiele zuhauf, wie die „Wahrheit hinter schönen Sätzen [versteckt]“ wird. Da wird der Massenansturm auf Deutschland 2015 zur „hohen Zuwanderung“ verniedlicht, da wird ein judenfeindliche Parolen skandierender Mob zu einem Haufen „erlebnisorientierter Jugendlicher“ und so wie Josefa Nadler einen „Helden der Arbeit“ aus dem schmutzigsten Loch Bitterfelds porträtiert, um die humanitäre Arbeitswelt im Sozialismus zu belegen, werden Einzelbeispiele erfolgreicher Zuwanderer zu Wegmarken gelungener Integration und „bunter“ Gesellschaft hochgeschrieben.

Wie sehr sich in der „Bewußtseinsindustrie“ (Hans-Magnus Enzensberger) die Verhältnisse unter den informellen Vorgaben der political correctness denen der von Maron in der totalitären DDR erlebten fast schon beliebig nahe angeglichen haben, zeigt sich bei Birk Meinhardt, der desillusioniert in seinem Buch „Wie ich meine Zeitung verlor“ über seine journalistische Laufbahn nach der Wende durch die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet. Auf die ablehnende Kritik seines Vorgesetzten zu einem Text über einen Angehörigen der rechten Szene, der von der Justiz zu Unrecht eines Gewaltverbrechens beschuldigt wurde, schreibt ihm Meinhardt zurück:

„Die Rechten, sagen Sie, könnten meine Geschichte für ihre Zwecke nutzen. Das ist, warten Sie mit der Empörung, genau das Argument, das ich in meinem ersten Leben, als junger Journalist in der DDR, oft, zu oft gehört habe. Deine Kritik hier, hieß es, mag ja berechtigt sein, aber sie könne dem Klassenfeind zupaß kommen, also lassen wir das bleiben.“

Und auch hier wieder der Bezug zu Monika Maron, der kaum ein Zufall sein kann: Beiden gemeinsam ist die sinnesschärfende Prägung durch die DDR. Meinhardt erlebte diese Zeit zwar nicht als Dissident, aber kam aus ihr heraus mit der Erfahrung eines Systems, das auch daran zusammenbrach, weil es nicht imstande war, seine Defizite und Mißstände in den Medien adäquat darzustellen und sich stattdessen zu Verlogenheit und Schönfärberei verstieg.

Und Maron selbst schrieb zuletzt in ihrem Essay „Unser galliges Gelächter“:

„Kürzlich erzählte ich einem Freund, ich fühlte mich beim Schreiben zuweilen wie früher, als ich mein erstes Buch Flugasche geschrieben habe, wieder gedrängt ins Politische, weil es mich jeden Tag umtreibt, und bedrängt von dem Gedanken, was ich mir wohl einbrocke, wenn ich einen Protagonisten meines Buches diesen oder jenen Satz sagen lasse. Der Freund war empört: Wie ich die Bundesrepublik mit der DDR vergleichen könne und ob ich noch ganz bei Verstand sei. Es liegt mir fern, die Bundesrepublik mit der DDR zu vergleichen. Weder fürchte ich, mein Buch könnte wie in der DDR verboten werden, noch halte ich für möglich, daß ich juristisch belangt werden könnte. Und trotzdem habe ich dieses Gefühl.

Natürlich, Deutschland ist ein Rechtsstaat; darum werden Bücher nicht verboten und Schriftsteller nicht verhaftet. Aber jenseits des Gesetzes gibt es eine Deutungsmacht, die blindlings mit Verdächtigungen um sich werfen darf, sobald das, was sie als Wahrheit ausgibt, in Frage gestellt wird.“

Es ist hierbei besonders passend, daß dieser Essay 2019 erstmals in der NZZ (Neue Zürcher Zeitung) erschienen ist, die von Hans-Georg Maaßen, dem früheren Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, aufgrund ihrer offenen Berichterstattung über die Zustände in Deutschland mit dem früheren Westfernsehen vergleichen wurde, aus dem sich die DDR-Bürger gleichermaßen über ihr Land informieren konnten.

„Flugasche“, die von einem maroden Kraftwerk ausgestoßene stoffliche Substanz hoher Toxizität, ist somit auch als Metapher zu verstehen, als Metapher für die Geisteshaltung eines Machtapparats, die sich „als ideologisch intendierter Konformitäts- und Normierungsdruck auf immer mehr Lebensbereiche [legt]“ (Thorsten Hinz).

Ihre kritischen Äußerungen zum sich verengenden Meinungskorridor und zu den Folgen einer drohenden Islamisierung, ihre Kontakte mit den „falschen“ Leuten sowie die letzten Veröffentlichungen haben Maron das zur Abschreckung gedachte Etikett „umstritten“ eingebracht. Doch was heute ein umstrittener Schriftsteller ist, signalisiert tatsächlich einen Charakter, der etwas mitzuteilen hat, dessen Gedanken Wagnisse darstellen, der nicht vor dem Zeitgeist kapituliert.

Frau Monika Maron, alles Gute zu Ihrem 80. Geburtstag!

Monika Maron
Was ist eigentlich los?
Ausgewählte Essays aus vier Jahrzehnten
192 Seiten; 22,- Euro