„Selbst wenn Jahrzehnte dazwischen liegen, kann man nicht Millionen Juden töten und später dann Millionen ihrer schlimmsten Feinde holen.“
Karl Lagerfeld (1933 – 2019) im November 2017
Das Aufflackern des Nahostkonfliktes im vergangenen Mai durch die Raketenangriffe der islamistischen Hamas vom Gaza-Streifen auf israelisches Territorium und der darauf folgenden militärischen Reaktion Israels warf auch auf Westeuropa die Zündfunken auf ein kaum verdecktes antisemitisches Ressentiment zugewanderter Migranten aus dem islamischen Kulturraum. Den Lockdown-Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie zum Trotz gingen auch in Deutschland zahlreiche Muslime zugunsten der Palästinenser auf die Straße, durchgehend aggressiv im Ton, zuweilen auch verbunden mit Gewaltausschreitungen.
Es ist nicht das erste Mal, daß der Nahostkonflikt derartig haßerfüllte Reaktionen unter den in Deutschland lebenden Muslimen hervorruft. Bereits im Sommer 2014 demonstrierten vorwiegend Tausende vorwiegend muslimische Demonstranten gegen die israelische Militärpolitik. Nicht allein der Schlachtruf „Allahu Akbar“ (Allah ist der Größte) wurde von den Mengen skandiert; auch Parolen wie „Kindermörder Israel“ oder „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ waren zu hören.
Der Protest tobte auch in Kassel, wo es zu der skurrilen Szene kam mit einem jungen Muslim, der auffällig sein T-Shirt mit der Aufschrift „Don’t panic, I’m Muslim“ („Nicht in Panik geraten, ich bin Muslim“) zu Schau stellte. Vor dem Hintergrund des aggressiven Charakters der Proteste mag das je nach Gemütszustand des Beobachters aberwitzig oder verstörend wirken. Doch Sympathiepunkte bei den vielfach den Folgen der Zuwanderung und dem damit verbundenen Import externer Konflikte skeptisch gegenüberstehenden Deutschen dürfte dieser junge Mann mit seiner wenig glaubwürdigen Botschaft dennoch auf keinen Fall gewonnen haben.
2014 übte sich das sonst die Vorzüge einer ethnisch und kulturell vielfältigen Gesellschaft überbetonende Establishment in Sprachlosigkeit über das offenkundige Scheitern ihres ambitionierten Projektes einer „Bunten Republik Deutschland“. Sechs Jahre später ringen ihre Vertreter immer noch um Fassung und versprechen die Abschiebung antisemitischer Migranten, so als ob ihnen dieses Mal etwas in der Regulierung eines vollkommen außer Rand und Band geratenen Asylsystems gelingen sollte, an der sie schon so oft gescheitert sind – falls sie es denn je ernsthaft angegangen sind.
Doch statt die Warnungen vor einem aus dem islamischen Kulturraum importierten Antisemitismus ernst zu nehmen, haben die Mainstreammedien dem Publikum erstaunliche Erklärungen für den muslimischen Antisemitismus präsentiert. So wollte in einem Interview mit der HNA (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine) der als Experte für jüdische Weltverschwörungen vorgestellte Julian Timm nicht von einem importierten Antisemitismus sprechen, „da der europäische Antisemitismus zunächst ab dem 19. Jahrhundert in den arabischen Raum gelangte und somit ein europäisches Phänomen ist.“ – Doch wenn der „Experte“ Timm eines damit unter Beweis gestellt hat, dann daß man sich in Sachen Schuldstolz auch weiterhin von niemanden die Butter vom Brot nehmen lassen will (HNA vom 01. Juni 2021).
Martin Gilbert (1936 – 2015), selbst Jude, ist hierzulande ein Unbekannter. Doch in Großbritannien zählt der zu Lebzeiten vielfach geehrte zu den bedeutendsten Historikern des Landes. Schwerpunkte seines Schaffens waren der britische Premier Winston Churchill und der Holocaust. Sein 2010 veröffentlichtes, letztes Werk behandelte die prekäre Existenz der Juden unter muslimischer Herrschaft; „In Ishmael’s House“.
Obwohl es ein anhaltend aktuelles Thema behandelt, obgleich es in Umfang und Detailfülle den Stellenwert eines Standardwerks einnimmt, ist auch elf Jahre nach seinem Erscheinen eine deutsche Übersetzung nicht in Sicht. Dieses Defizit sagt einiges über die Diskursverhältnisse hierzulande aus, wo die Angst, der „falschen Seite“ Nahrung zu geben, jeden Tag größer wird.
Der Titel „In Ishmael’s House“ nimmt Bezug auf den gemeinsamen mythischen Ursprung von Juden und Arabern. Demzufolge leiten sich die Araber ab von Ismael, dem von Abraham mit seiner Magd Hagar gezeugten Sohn. Obgleich diese Verbindung von Abrahams Ehefrau Sarah gestiftet wurde, sorgte sie später dafür, daß Ismael und seine Mutter in die Wüste verstoßen wurden, wo Gott sie unter seinen Schutz stellte. Später zeugte Abraham mit Sarah seinen Sohn Isaak, aus dessen Sohn Jakob – der später Israel genannt wurde – die zwölf Stämme Israels hervorgingen. Somit gilt Abraham als Stammvater der Juden wie der Araber.
Doch die gemeinsame, verzwickte Geschichte von Juden und Muslimen beginnt nicht mit Abraham, sondern dem Aufstieg Mohammeds (570 – 613) zum Religionsstifter des Islam. Hier setzt auch Gilberts Monographie an. Neben dem Christentum zog Mohammed auch zahlreiche Einflüsse und Inspirationen aus dem Judentum, das auf der arabischen Halbinsel bereits stark verankert war. Doch sein eifriges Bemühen um die Anerkennung der Juden als Propheten Gottes lief ins Leere; war doch die Prophetenzeit für die Juden mit Maleachi im vierten vorchristlichen Jahrhundert abgeschlossen. Ihre teils spöttische Opposition zum Anspruch Mohammeds mußte zwangsläufig in ihm den Keim der tiefen Feindschaft setzen. Die Trennlinie, die er zwischen sich und den Juden setzte, wurde am deutlichsten in seiner Abkehr im Gebetsritual in Richtung Jerusalem zugunsten Mekkas.
Für ihre Verbindung zu Mohammeds heidnischen Feinden mußten die Juden am Ende einen tödlichen Preis bezahlen. Sein Sieg über den jüdischen Stamm der Qurayzah endete mit der Hinrichtung aller wehrfähigen Männer, der Versklavung der Frauen und der Verteilung ihres Eigentums als Beute unter Mohammeds Kriegern. Der nachfolgende Feldzug gegen die Qurazah in der Oase Khaibar beendete schließlich die Existenz jüdischer Stämme in Arabien.
Die Behandlung der unterworfenen Juden wurde zum Präzedenzfall für die entsprechenden Scharia-Regularien, die spätere eroberte nicht-muslimische Völker betrafen. Sie erhielten als Dhimmis einen Schutzstatus, unter dem sie einerseits ihren Glauben weiter ausüben konnten. Andererseits mußten sie 50 Prozent ihrer Ernte aus der Landwirtschaft der Oasen an die Eroberer abgeben. Das Land selbst wurde muslimisches Gemeindeeigentum. Gilbert konstatiert:
„Für einige Muslime, die auf diese Episode zurückblicken, (…) symbolisiert die Schlacht von Khaibar die Niederlage ihrer jüdischen ungläubigen Feinde und der Beginn der sanktionierten Erniedrigung der Juden unter der Dhimmi-Praxis. Für Nicht-Muslime symbolisiert Khaibar den Beginn reglementierter Diskriminierung, die Jahrhunderte andauerte.“
Mohammed gab sich jedoch damit nicht zufrieden. Als letzte Verfügung vor seinem Tod befahl er die Vertreibung aller Juden aus Arabien.
Der Status des Dhimmis bot den Juden einen zweifelhaften Schutz vor Verfolgung, immer abhängig von den gegenwärtigen Launen ihrer muslimischen Herrscher. Die Diskriminierung fand eine noch erniedrigendere Ausweitung in der Verpflichtung spezielle Kleidung zu tragen, dem Verbot Waffen zu tragen oder Pferde zu reiten. In Zeiten wachsenden Fundamentalismus nahm auch der Druck auf die Juden immer wieder zu. Konvertierten begegnete man mit Mißtrauen. Dennoch konnte sich auf der intellektuellen Ebene jüdisches und muslimisches Leben unter Beachtung der Rangunterschiede durchaus gegenseitig verbinden.
Bemerkenswert ist die Förderung, die die Juden im Osmanischen Imperium erhielten, das ihnen im Spätmittelalter einen Schutzhafen bot gegen die Wellen der Verfolgung in den Ländern der Christenheit wie in der übrigen muslimischen Welt. Diese wohlwollende Behandlung steht im auffallenden Kontrast zur antisemitischen Haltung des türkischen Staatspräsidenten Erdogan, der sich gerne als Neo-Osmanen inszeniert. Doch auch unter den Osmanen war die Sicherheit der Juden nicht gewährleistet:
„Doch egal wie weit sich das Osmanische Imperium erstreckte, Juden, die innerhalb seiner Grenzen lebten, verblieben unter dem ominösen Schatten des Dhimmi-Status. Sie erbten die fundamentale Unsicherheit des Lebens unter muslimischer Herrschaft: Die dualen Aussichten von Möglichkeiten und Restriktionen, Schutz und Verfolgung.“
Somit zieht sich über die Jahrhunderte hinweg ein roter Faden aus Übergriffen der Muslime an Juden – auf Einzelne wie kollektiv – durch die Seiten von Gilberts Werk. Noch 1912 kam es in der marokkanischen Stadt Fez zu einem Pogrom an der jüdischen Bevölkerung, dessen Opferzahl mit mehr als 60 Toten das Pogrom im russischen Kischinau neun Jahre zuvor übertraf:
„Doch das Pogrom von Kischinau, in welchem 49 Juden ermordet wurden, hatte zu weitverbreiteten Protesten in der christlichen Welt geführt, von Christen und Juden gleichermaßen. Über das Fez-Pogrom wurde weit weniger berichtet – und dann ignoriert.“
Zwar kam im 19. Jahrhundert auch der Einfluß des europäischen Antisemitismus zusätzlich ins Spiel, doch traf er hier auf einen ohnehin schon religiös beackerten, äußerst fruchtbaren Boden. Zum anderen muß an dieser Stelle aber auch der zunehmende Druck der europäischen Großmächte auf das Osmanische Reich benannt werden, die bedrückende Situation seiner Untertanen zu verbessern. Es brauchte keine Europäer, um dem muslimischen Antisemitismus ins Leben zu rufen – aber es bedurfte der Europäer, um dem Los der Juden unter den Muslimen endlich Linderung zu verschaffen.
Das 20. Jahrhundert schaffte mit dem Aufstieg des arabischen und jüdischen Nationalismus eine neue Dynamik im Verhältnis zwischen Juden und Muslimen. Im Vorfeld der Gründung des Staates Israel (1948) operierten die arabischen Regime mit ihren jüdischen Minderheiten als einem Faustpfand. Letztlich war deren Situation derart unhaltbar geworden, daß sich innerhalb weniger Jahre aus dem Orient und Nordafrika ein regelrechter Exodus von rund 850.000 Flüchtlingen nach Israel ergab, dem ersten Platz in der jüdischen Geschichte seit rund 2000 Jahren, wo Juden nicht als Bürger zweiter Klasse lebten.
Vielfach wird in der Debatte um den Nahostkonflikt die ungeklärte Situation der palästinensischen Flüchtlinge betont. Doch weit weniger bekannt ist, daß auf der Ebene der politischen Verhandlungen eine diesbezügliche Lösung untrennbar verknüpft ist mit der Restitution der jüdischen Flüchtlinge, die unter nicht weniger dramatischen Umständen ihre alte Heimat verlassen mußten.
Die komplexe gemeinsame Geschichte von Juden und Muslimen, wie sie Gilbert detailliert ausbreitet, zeigt auf, daß die Judenfeindschaft im Islam weiter zurückreicht als der Nahostkonflikt. In ihren Wurzeln reicht sie weit in die Ursprünge des Islam. Es ist also ein Irrglaube anzunehmen, eine wie auch immer geartete Lösung des Nahost-Konfliktes würde hier für Entspannung sorgen. Es ist eher so, daß die theologische Begründung des islamischen Antisemitismus einer rationalen Friedenslösung eine schier unüberwindbare Barriere aufgebaut hat.
Gewiß ist der religiös grundierte Antisemitismus auch im Abendland nicht unbekannt. Selbst in der Christenheit war er fast über seine gesamte Geschichte hinweg Bestandteil der Tradition. In seinem Buch „Im Schatten des Schwertes“ weist der britische Autor Tom Holland hier auf byzantinische Vorbilder aus der Zeit des Kaisers Herakleios (um 575 – 641) hin, die eindeutig auf den Islam abgefärbt haben. Doch die eigentliche Frage muß sein, wie das Christentum theologisch mit seiner inhärenten, immerhin bis zum Apostel Paulus rückverfolgbaren antisemitischen Tradition brechen konnte und was im Islam geschehen muß, um den gleichen Wandel zu vollziehen?
Was letztlich in der Behandlung der Juden durch Muslime so bedeutsam ist, ist die darin offenkundige Widerlegung des islamischen Anspruchs, eine Religion des Friedens zu sein. Es sei denn, man akzeptiert die Formel eines „Friedens durch Unterwerfung“, und zwar alleine unter dem muslimischen Willen, was sich allzu oft als Auslieferung in die Willkür des Eroberers entlarvte.
Seinen Kollegen Bernard Lewis, auch er Jude, zitierend, wies Gilbert darauf hin, „daß es in der islamischen Geschichte keine Parallele zur Vertreibung aus Spanien und der Inquisition, den russischen Pogromen und dem Holocaust durch die Nazis gibt.“ Aber ebenso wenig gebe es „in der Geschichte von Juden unter dem Islam etwas Vergleichbares zu der fortschrittlichen Emanzipation und Akzeptanz der Juden im demokratischen Westen durch die letzten drei Jahrhunderte.“
Es geht nicht alleine um Juden und Muslime. Nicht weit entfernt vom scharfen Gegensatz der Muslime zu den Juden ist der zu anderen Gruppen, denen ein gleichwertiger Status abgesprochen wird, so den Frauen und den sogenannten „Ungläubigen“, und da vor allem Säkulare und Atheisten. Mit steigenden Bevölkerungsanteil der Muslime in den westeuropäischen Staaten wird dieses Problem auch hier zu einer existentiellen Herausforderung.
Martin Gilbert
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