Er formte in einem blutigen Bürgerkrieg aus einem Bundesstaat eine Nation

Das historische Porträt: Abraham Lincoln

„Könnte ich die Union retten, ohne auch nur einen Sklaven zu befreien, so würde ich es tun; könnte ich sie retten, indem ich alle Sklaven befreite, so würde ich es tun; und könnte ich die Union retten, indem ich einige Sklaven befreite und andere nicht, so würde ich auch das tun.“
Abraham Lincoln (1862)

Es war eine bemerkenswerte Szene: Im Gerichtsgebäude von Appomattox Court House in Virginia traf am Vormittag des 9. April 1865 der Konföderierten-General Robert E. Lee in tadelloser Uniform auf seinen Gegenspieler Ulysses S. Grant, um ihm die bedingungslose Kapitulation seiner ihm unterstellten und völlig entkräfteten Truppen zu unterbreiten. Richmond, die Hauptstadt der abtrünnigen Südstaaten, war erst wenige Tage zuvor gefallen. Es entspannte sich ein freundliches Gespräch zwischen zwei Gegnern, die sich vier Jahre lang einen äußerst zähen und blutigen Krieg geliefert hatten. Am Ende entließ der Sieger Grant in einer ehrenvollen Parade den unterlegenen Lee und seine Soldaten nach Hause gegen das Versprechen, die Waffen niederzulegen und die Kämpfe nicht wiederaufzunehmen. Entgegen den üblichen Konventionen durften sie sogar ihre Pferde behalten; diese würden für den Wiederaufbau ihrer Heimat gebraucht.

Der eigentliche Triumphator aus dem Sezessionskrieg saß jedoch rund 300 Kilometer nördlich, im Weißen Haus, dem Amtssitz des amerikanischen Präsidenten in Washington: Abraham Lincoln, dessen Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten 1860 als Auslöser der Abspaltung der Südstaaten und damit des 1861 beginnenden Sezessionskrieges gilt.

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Abraham Lincoln (1809-1865)

Lincoln hatte auf seinem Weg in das höchste Amt der USA einen bemerkenswerten Weg zurückgelegt, der an den berühmten amerikanischen Traum „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ erinnert. Am 12. Februar 1809 in einer Blockhütte in Kentucky geboren, wuchs er in den Frontiers des mittleren Westens heran. Seine Kindheit und Jugend waren geprägt von harter körperlicher Arbeit, in der ihm die Möglichkeiten höherer Bildung versagt blieben.

Erst als junger Mann erarbeitete sich Lincoln im Selbststudium das nötige Wissen, um ab 1838 als Anwalt praktizieren zu können. Gleichzeitig nahm er seine politische Karriere in Angriff, deren erste Station ihn in das Parlament des Bundesstaates Illinois führte, erst noch für die national-liberalen Whigs, die später in die neugegründeten Republikaner aufgingen. Neben seiner auffallenden hochgewachsenen, hageren Statur wurde sein Ruf als „honest Abe“, der ehrliche Abe, der es als Selfmademan aus den Frontiers in das Bürgertum geschafft hat, zu seinem Markenzeichen.

1842 folgte die Hochzeit mit Mary Todd. Ihre Herkunft aus einer wohlhabenden Familie von sklavenhaltenden Pflanzern war kein Hindernis; zumal Lincoln bis dahin nicht als radikaler Abolutionist aufgefallen ist. Aus ihrer Ehe sollten schließlich vier Söhne hervorgehen. Mary wurde auch zum antreibenden Motor seines politischen Ehrgeizes.

Mit seinem rhetorischen Talent, seinem Humor und seiner authentischen Volksverbundenheit konnte sich Lincoln zunehmend politisch profilieren. Im Klima der sich verschärfenden Zuspitzung der Gegensätze zwischen den Nord- und den Südstaaten in der Sklavenfrage stieg sein Stern immer weiter auf. Mit der geschickten Instrumentalisierung des republikanischen Parteiapparats gelang ihm schließlich im Mai 1860 die Nominierung als Präsidentschaftskandidat.

Zu diesem Zeitpunkt trieb der Streit zwischen Nord und Süd über die Sklaverei seinem Höhepunkt entgegen. Der Süden mit seiner Agrarwirtschaft wollte auf diese „besondere Institution“ um keinen Preis verzichten und betrieb ihre Ausdehnung auf die neuen Territorien, was der Norden wiederum zu verhindern suchte. Sämtliche Kompromisse, die ein Gleichgewicht herstellen sollten, hatten sich verbraucht. Es bleibt ein historisches Rätsel, warum der Süden unbeirrbar auf seinem Standpunkt beharrte. Konnte noch in der Antike Sklaverei selbstverständlich sein, da Freiheit nur von Wert war, wenn es daneben auch Unfreiheit gab, so konnte unter dem Einfluß der europäischen Aufklärung eine Freiheit nicht mehr auf den Knochen anderer Menschen gedeihen.

In seiner Kampagne setzt Lincoln vor allem auf industriellen Fortschritt, Schutzzollpolitik, den Ausbau der Infrastruktur und die Rechte der Einwanderer. In letzterem zeigte sich der zunehmende Einfluß der Immigration aus Deutschland, vor allem nach der gescheiterten Revolution von 1848. Diese Wählergruppe, zu der auch ein namhafter deutscher Exilant namens Carl Schurz – US-Innenminister von 1877-1881 – zählte, erwies sich als starke Stütze von Lincolns Kampagne.

Mit nur 40 Prozent der Stimmen, aber der überwältigenden Mehrheit der Wahlmännerstimmen, konnte Lincoln die Präsidentschaftswahl im November 1860 gegen drei Gegenkandidaten für sich entscheiden. Die fortschreitende Zersplitterung des Landes zeigte sich in dieser Wahl schon allein daran, daß es den Demokraten – zum Vorteil Lincolns – nicht gelang, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen.

Obwohl Lincolns Programm keineswegs die Abschaffung der Sklaverei vorsah, sondern vielmehr ihre Eindämmung, nahmen die Südstaaten seine Wahl wiederum zum Anlaß, aus der Union auszutreten und die Konföderierten Staaten von Amerika (CSA) zu konstituieren. Als Lincoln am 4. März 1861 in sein Amt eingeführt wurde, waren die USA faktisch ein geteiltes Land.

Lincoln konnte in seinem politischen Selbstverständnis diese Spaltung nicht hinnehmen, stellte sie doch den Erfolg des amerikanischen Experiments, als das die USA gegründet waren und dem er sich zutiefst verpflichtet fühlte, in Frage. Konnte eine demokratische Republik auf Dauer Bestand haben, wenn es der bei einer Abstimmung unterlegenen Minderheit gestattet war, aus dieser auszutreten? Lincoln nahm die Herausforderung des sich aus dieser Frage ergebenden Sezessionskrieges an. Es gab durchaus kritische Stimmen, die Zweifel hatten an dem „Erhalt einer Union allein auf der Macht der Bajonette“.

Den Rest der verbliebenen Union dennoch auf diesen Bürgerkrieg einzuschwören, war Lincolns erste herausragende Leistung als Präsident.
Bis dahin und auch danach wurde auf dem amerikanischen Doppelkontinent keine kriegerische Auseinandersetzung mit einer derartigen Totalität ausgefochten wie im vierjährigen Ringen des Sezessionskriegs. Sein Blutzoll belief sich auf weit über 500.000 Soldaten. In seinen Materialschlachten, in denen ganze Massenheere kämpften, und für die Namen wie Bull Run, Shilo, Vicksburg, Antietam und Gettysburg stehen, nahm er als erster moderner Volkskrieg das Grauen des Ersten Weltkriegs vorweg.

„Amerikas blutigster Tag“: Die Schlacht am Antietam (17. Sept. 1862), Kurz & Allison

Politisch sollte der Sezessionskrieg auch das Schwert werden, das den schier unlösbar erscheinenden Knoten der Sklavereifrage durchtrennte. Um die Südstaaten zu schwächen, die europäischen Mächte aus dem Konflikt herauszuhalten und der eigenen Seite eine höhere moralische Rechtfertigung zu geben, verfügte Lincoln für den 1. Januar 1863 die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten, als letzten Schritt vor ihrer endgültigen Abschaffung in der gesamten Union 1865.

Dabei muß festgehalten werden, daß Lincoln erst im Laufe seiner Amtszeit von gewissen früheren Positionen in der Frage der künftigen Stellung der Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft abrückte. Vertrat er zuvor noch die Ansicht, die Schwarzen könnten niemals gleichwertige Bürger werden und sollten im Rahmen eines Rekolonialisierungsprojektes wieder nach Afrika zurückgeführt werden, vollzog er als Präsident vor allem unter dem Einfluß des Aktivisten Frederick Douglass, einem früheren Sklaven, eine Wende, in der er ihre soziale Gleichheit mit den Weißen befürwortete.

Den Kipppunkt zum Sieg erreichten die Nordstaaten mit einem Strategiewechsel, indem sie den totalen Krieg auf eine neue Stufe hoben. Mit dem neuen Oberbefehlshaber Grant an der Spitze wurden die Kampfhandlungen an allen Fronten ausgedehnt. Und als besonders effektiv sollte sich die Einbeziehung der Zivilbevölkerung in den Südstaaten zeigen. „Sherman‘s Raid“, der Marsch des Nordstaaten-Generals William T. Sherman nach Savannah am Atlantik, in welchem er mit seiner Armee wie ein alles verschlingender Lindwurm eine Schneise der Verwüstung hinter sich herzog, trennte den Süden in zwei Hälften. Das von Unionssoldaten angesteckte Atlanta sollte für den Süden zum Fanal werden. Der Konföderation sollte ökonomisch endgültig das Genick gebrochen und ihrer Bevölkerung jeder Geschmack an einer Rebellion genommen werden.

Mit dem Ende des Sezessionskrieges hatte Lincoln seinen Platz als bedeutendster Präsident der USA sicher. Er rettete die Union vor ihrem Zerfall und damit die Idee der Demokratie. Er organisierte 1864 unter den Bedingungen eines auf eigenen Boden ausgetragenen Krieges eine Präsidentschaftswahl, die er gegen die gegenüber dem Süden kompromißbereiten Demokraten schließlich mit Bravour gewann. Und er beendete den Skandal der die Werte der amerikanischen Verfassung untergrabenden Sklaverei. Lincoln war der „konservative Revolutionär“, der aus einer Union von Einzelstaaten eine Nation formte und damit den „Grundstock für die ‚imperiale Präsidentschaft‘ des 20. Jahrhunderts“ legte (Jörg Nagler).

Doch auf der anderen Seite steht sein „laxer Umgang“ mit den Bürgerrechten, der ihm oft den Vorwurf des „Diktators“ einbrachte. Die Aufhebung des Habeas Corpus Acts, der willkürliche Verhaftungen ohne richterlichen Beschluß verbot, stellte keine Banalität dar und wurde nach dem Krieg vom Obersten Gericht einkassiert. Immerhin mußte für die Implementierung dieses Bürgerrechts im englischen Mutterland rund 200 Jahre zuvor ein König seinen Kopf rollen lassen.

Noch schwerer jedoch wiegt die Strategie der verbrannten Erde, mit der der Süden überzogen wurde, obwohl in Lincolns Regierung anfangs noch Grundsätze eines die Zivilbevölkerung schützenden, fortschrittlichen Kriegsrechts formuliert wurden.

In diesem Punkt geht der Lincoln-Biograph Jörg Nagler mit dem Präsidenten kritisch ins Gericht: „Inwieweit er über die Einzelheiten des Vernichtungsfeldzuges und seiner Auswirkungen informiert war, ist nicht bekannt. (…). Trotzdem muß Lincoln sie erkannt haben. Er hat die [verheerenden zivilen Konsequenzen] nicht nur toleriert, sondern Sherman nach deren ‚erfolgreichem‘ Abschluß seine ‚dankbare Anerkennung‘ ausgesprochen, was einen dunklen Fleck in der Beurteilung seiner Persönlichkeit und moralischen Integrität hinterlassen hat.

Den Triumph des Sieges konnte Lincoln nicht lange auskosten. Bereits sechs Tage später, am 15. April – einem Karfreitag -, erlag er einem Attentat des Südstaaten-Extremisten John Wilkes Booth, das dieser auf ihn während einer Theateraufführung im Beisein seiner Ehefrau Mary in Washington verübte. Ist Lincoln schon im Leben zu einzigartiger Größe aufgestiegen, so sollte ihm dieser Tod an einem Karfreitag unmittelbar nach dem Sieg noch eine die politische Kultur der USA kennzeichnende zivilreligiöse Weihe – ikonisch verstärkt mit den bekannten späten Porträts, in denen Lincoln die Last des Amtes regelrecht in sein Gesicht eingetrieben schien – zum bis heute wirksamen nationalen Märtyrer-Mythos geben.

Doch 150 Jahre nach seinem Tod hat die Strahlkraft von Lincolns Mythos spürbar nachgelassen. Amerikans Demokratie steht stärker unter Druck denn je. Spätestens zur Präsidentschaftswahl 2016 zwischen Hillary Clinton und Donald Trump wurde eine neue Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft offenbar, deren Gräben sich nicht geographisch einordnen lassen. Sie ziehen sich zwischen Generationen und Rassen, trennen liberale urbane Zentren von konservativen ländlichen Regionen, scheiden kosmopolitische Anywheres von verwurzelten Somewheres.

Es ist eine merkwürdige Volte der Geschichte, daß in diesem Kulturkampf der Furor der „woken“ Bewegung nicht allein die Denkmäler der konföderierten Kriegshelden wie Lee vom Sockel stürzt, sondern die Hand sogar an Lincolns Erbe legt: Aus San Franciso wurde der – letztlich aufgrund des Widerstands der Eltern gescheiterte – Versuch einer linksliberalen Schulbehörde bekannt, „im Namen der sozialen Gerechtigkeit“ Lincoln als Namensgeber von Lehranstalten zu streichen, aufgrund seiner gegenüber den Indianern ablehnenden Haltung.

Die USA befinden sich unbezweifelbar in einem „kalten Bürgerkrieg“ und die Angst, daß aus diesem ein heißer werden könnte, ist allgegenwärtig. Und ob Präsident Joe Biden das Talent und das Format besitzt, diese Gegensätze miteinander zu versöhnen und einen neuen Konsens herzustellen vermag, ist noch vollkommen offen.

 Jörg Nagler
Abraham Lincoln. Amerikas großer Präsident
2009; 464 Seiten
Ken Burns
Civil War – Der Amerikanische Bürgerkrieg [5 DVDs]
1990; 11 h:15 Min.
Günter Schomaekers
Der Bürgerkrieg in Nordamerika
1977; 160 Seiten
Torben Lütjen
Amerika im Kalten Bürgerkrieg – Wie ein Land seine Mitte verliert
2020; 208 Seiten, 20,- Euro