Für die Geschichte des Abendlandes ist der fränkische König Karl (747/48 – 814) von weit herausragender Bedeutung. Durch seine Eroberungszüge, in denen er Langobarden und Sachsen unterwarf, schuf er ein gewaltiges Imperium. Den Höhepunkt seiner Herrschaft erreichte er Weihnachten 800 mit der Kaiserkrönung durch den Papst in Rom. Aus dem fränkischen König Karl wurde der römische Kaiser Karl der Große. Damit hatte seit seinem Untergang 476 n. Chr. das Weströmische Reich endlich einen Nachfolger gefunden. Doch nicht allein das, Karls Reich wurde zur Keimzelle von Frankreich und Deutschland. Es ist der Beginn jener als Mittelalter bezeichneten Epoche, die aus den Trümmern der in den Stürmen der Völkerwanderung versunkenen Antike entstand.
Über die Zeiten hinweg wurden vor allem Karls Verdienste betont. Doch auf der anderen Seite stehen die Brutalität, die Verschlagenheit und die Machtgier des Franken, die in dem „Blutgericht von Verden“ im Jahr 782, wo angeblich rund 4 000 aufständische Sachsen hingerichtet wurden, einen entsetzlichen Höhepunkt fand. Das Volk der Sachsen selbst wurde durch Zwangstaufe gebrochen. In der Ausbreitung seines Königreichs und der Verbreitung des christlichen Glaubens ging Karl stets mit dem Schwert in der Hand zu Werk.
Karls dunkle und gewalttätige Natur blieben in der Bewertung späterer Generationen in Anbetracht seiner Leistungen deutlich unterbelichtet. Dem gegenüber setzt jetzt der Splitter Verlag mit dem im April veröffentlichten Abschlußband der zweiteiligen Comicserie „Die Chroniken von Roncesvalles“ – in Lizenz des französischen Comic-Riesen Dargaud – einen Kontrapunkt zu diesem Bild des Frankenherrschers. „Munjoie!“ – der Schlachtruf der fränkischen Krieger – ist der Titel dieses zweiten Bandes nach dem Eröffnungstitel „Die Legende von Roland“, die von dem spanisch-baskischen Zeichner Juan Luis Landa kreiert wurden.
Es ist das Jahr 777. Mitten in einem seiner Kriegszüge in das Land der Sachsen erreicht Karl eine Abordnung aus dem muslimischen Spanien. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist fast die gesamte Halbinsel als Al-Andalus dem grünen Banner des Propheten unterworfen. Doch die muslimischen Besatzer sind uneins. Suleiman Ben Yaqzan Ibn Al-Arabi versucht eine Intrige gegen die Umayyaden-Statthalter. Um seine Besitzungen im Norden von Al-Andalus zu erhalten, will er sich ausgerechnet dem christlichen Frankenkönig Karl unterwerfen.
Karl ist von den sich scheinbar daraus ergebenden Aussichten begeistert. Anstatt sich zufrieden zu geben, daß die innermuslimischen Rivalitäten jede Bedrohung für sein Reich neutralisieren, brennt sein Ehrgeiz darauf, mit der Errichtung einer neuen südlichen Mark, jenseits der Pyrenäen einen lang gehegten Traum zu verwirklichen. Im Folgejahr bricht Karl mit einem Heereszug auf und unterwirft auf seinem Weg nach Saragossa die von den Muslimen unabhängigen Vasconen, die Vorläufer der Basken. Doch am Ziel erfährt er eine unangenehme Überraschung. Saragossa, das sich inzwischen von Suleiman abgesetzt und den Umayyaden zugewandt hat, denkt gar nicht an Übergabe. An seinen starken Befestigungen droht Karls Ehrgeiz zu zerbrechen.
Gegen ihn richten sich von da an nicht nur die von Muslimen bemannten Mauern Saragossas, die christlichen Vasconen und die Hitze Spaniens. Seine mangelnde Umsicht, mit der Karl sich zu viele Feinde geschaffen hat, ruft auch ein versteckt lebendes, uraltes und im Heidentum verwurzeltes Volk auf den Plan. Hier drohen nicht allein die hochfahrenden Pläne Karls kolossal zu scheitern; es erfüllt sich am Ende in der Schlacht von Roncesvalles auch das Schicksal seines tapfersten Ritters Roland, dem eine sterbende sächsische Priesterin seiner Greuel gegen die Sachsen wegen den baldigen Tod vorausgesagt hat.
Als Baske ist Landa nahe an einem historischen Stoff, dessen künstlerische Umsetzung ihm perfekt gelingt. Mit seiner Interpretation des Rolandlieds setzt er vollkommen neue Akzente, bleibt dabei nahe am überlieferten Geschehen, über das die fränkischen Chroniken allerdings nur spärlich Auskunft geben. Kaum verwunderlich, denn über die Mißerfolge der großen Herrscher schrieb man damals nur ungern. So benötigt Landa auch nur ein Panel, um plausibel darzulegen, wie effizient die Großen der damaligen Zeit das Bild über ihre Person unter Kontrolle halten konnten.
Meisterhaft sind Landas Szenarien der Schlachten, mit denen der Leser in den außergewöhnlichsten Perspektiven über das Geschehen fesselt, so wie seine Darstellung der Erstürmung Saragossas.
In die vor Karls Kriegern in das schützende Saragossa fliehenden Zivilisten, die Geißeln der Vasconen, die er in seinem Zorn hinrichten läßt – mit all dem gelingt Landa etwas sehr Ungewöhnliches: Die Schaffung eines Narrativs über den in Hybris – der gefährlichen Selbstüberschätzung und Realitätsverweigerung der Mächtigen – verfallenen Frankenkönig Karl, das selbst in dem hartnäckigsten „Islamophoben“ Sympathien für die von ihm bedrängten Muslime aufkommen läßt.
Vom ausschließlich positiv besetzten Bild Karls des Großen als „Vater und Baumeister Europas“, den die Kirche sogar heiliggesprochen hat, hat sich die moderne Geschichtswissenschaft spätestens 2014 – dem 1200. Jahrestag seines Todes – verabschiedet. Gleichwohl, populär hat sich diese überkommene Vorstellung immer noch gehalten. Juan Luis Landa wird es zu verdanken sein, daß mit „Roncesvalles“ diese so scheinbar überragende Figur auch im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit realistischer dargestellt wird.
Juan Luis Landa Die Chroniken von Roncesvalles Band 1: Das Lied von Roland Splitter Verlag 64 Seiten, 2022, 17,- Euro | |
Juan Luis Landa Die Chroniken von Roncesvalles Band 2: Munjoie! Splitter Verlag 56 Seiten, 2023, 16,- Euro |