Eine Unmenge an Literatur, zumeist Sachbücher, ist in den letzten Jahren auf den Markt geworfen worden, um das Phänomen Russland im Allgemeinen und seinen Präsidenten Putin im Besonderen zu erklären. Das Interesse an diesem Stoff dürfte seit Ausbruch des Ukraine-Krieges deutlich gestiegen sein. Auf dem Gebiet der Romane sind es zumeist osteuropäische Autoren, die hier zur Bekanntheit aufgestiegen sind, so wie der Russe Victor Jerofejew zuletzt mit seiner Putin-Parabel „Der Große Gopnik“. Immerhin, aus Westeuropa hat hier ein Autor Aufsehen erregt: Guiliano da Empoli mit „Der Magier im Kreml“. Für den 1973 geborenen italienisch-schweizer Schriftsteller ist es sein erster Roman, der auch mit dem französischen Literaturpreis Grand Prix du Roman de L’Académie francaise ausgezeichnet wurde.
Nicht Putin ist die Hauptfigur seiner Geschichte, sondern der fiktive Wadim Baranow, ein Spindoktor, der für den russischen Präsidenten im Hintergrund die Propagandakulisse des Regimes bestückt. Nach dem Ausscheiden aus dem Regierungsdienst erzählt er einem französischen Besucher, mit dem ihm das Interesse für die Bücher des russischen Schriftstellers Samjatin (1884-1937; Verfasser der Dystopie „Wir“) verbindet, die Geschichte seines Lebens, die auch die des jüngeren Russlands ist, wie es nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde, was es heute ist.
In Baranow kreuzen sich die Lebenslinien der wichtigsten Männer des modernen Russlands. Da ist der spätere Oligarch Michail Chodorkowski, der ihm seine Partnerin Xenja ausspannt. Sowie ein weiterer Oligarch, der 2013 in seinem englischen Exil unter merkwürdigen Umständen verstorbene – war es Suizid oder doch staatlicher Mord? – Boris Beresowski. Ihn, den Produzenten von Trash-TV, vermittelt er an seine „Entdeckung“ Wladimir Putin, dem früheren KGB-Agenten und damaligen Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, den er ab 1999 zum Nachfolger des greisen und alkoholkranken Präsidenten Boris Jelzin aufbaut. Eine Entscheidung, die ihm noch teuer zu stehen kommen sollte.
Baranow führt seinen Besucher durch die wichtigsten Stationen seiner Karriere. Die Katastrophe um den Untergang des U-Bootes „Kursk“, den Tschetschenien-Krieg und vor allem die Zähmung der Oligarchen. Er erklärt, wie Putin nach Innen die traditionelle „Vertikale der Macht“ wiederherstellte und aus einem Rachegefühl für die westliche Demütigung Russlands in den chaotischen Jelzin-Jahren an der Wiederherstellung seiner Weltgeltung arbeitete. Die so einsetzende Dynamik der Macht führt nach der Phase des feudalen Chaos nicht nur zur Widerherstellung der Vertikale der Macht, sondern läßt aus Russlands junger Demokratie eine Autokratie werden. Der derart entrückte Putin, das ist für Baranow der neue Zar. Das Russlandbild, das er dabei vermittelt, ist eines, dessen Volk gefangen ist in seiner Vergangenheit und zweifelhaften Mythen von vergangener Größe anhängt, so daß es selbst einem brutalen Verbrecher wie Stalin nicht trotz, sondern wegen der Massaker höchste Sympathien zukommen läßt.
Schonungslos analysiert Baranow das neue zynische Machtspiel gegenüber einem jener russischen Rocker, die als Freischärler im Donbass gegen die Ukraine agieren, und dabei nicht realisieren, daß sie nicht mehr sind als Marionetten an den Fäden ihrer Moskauer Hintermänner:
„Die Anführer der örtlichen Miliz verstehen es nicht, sie setzen sich immer noch naive Ziele wie den Sieg. Aber du bist nicht so dumm, Alexander. Du begreifst, dass der Krieg ein Prozess ist, dessen Ziele weit über den militärischen Erfolg hinaus gehen. Im Gegenteil, unser Erfolg darf nie vollständig, die Eroberung nie endgültig sein. Was soll Russland mit zwei weiteren Regionen anfangen? Wir haben die Krim zurückerobert, weil sie uns gehört, aber hier ist das Ziel ein anderes. Hier ist unser Ziel nicht die Eroberung, sondern das Chaos. Jeder soll sehen, dass die orangene Revolution die Ukraine in die Anarchie gestürzt hat. Wenn man den Fehler begeht, sich in die Hände der Westler zu begeben, dann endet es so: Sie lassen dich bei Schwierigkeiten im Stich und du stehst mutterseelenallein vor einem zerstörten Land.“
Seinen Protagonisten Baranow nennt Da Empoli einen neuen Rasputin, in Anlehnung an jene geheimnisvolle Gestalt, der dem letzten Zaren nahestand und 1916 einem Mordanschlag zum Opfer fiel. Ein Einzelgänger nahe an der Macht, ohne in der Strategie eigene Akzente zu setzen. Er führt aus, was Putin denkt und in seinem Sinne ist. Dabei ist er selbst alles andere als ein Machtmensch. Seine Vorfahren waren Nonkonformisten, die sich der Anpassung unter das jeweilige System verweigerten. Und für Baranow selbst ist seine Tochter das größte Glück. Eine emotionale Nähe zu seinem „Zaren“ vermag nicht aufzukommen. Freunde werden sie nie. Ihre Wege gehen an einem Punkt auseinander, wo man einander überdrüssig wird.
Da Empoli ist ein großartiger Roman gelungen, der Russland und Putin auf eine Weise näherbringt, die nicht in die moralisierenden Klischees des Schwarz-Weiß-Denkens verfällt. Ihm, dem Westler, ist es gelungen, Russlands Entwicklung aus der Perspektive jener zu beschreiben, die sie erleben, oder besser: erleiden mußten. Ein Russland-Versteher im besten Sinne des Wortes. Und bei allem hält er für den Leser noch eine überraschende und düstere Prophezeiung bereit über das wahre Ende der Geschichte, die so vielen im Westen, die von einem Systemwettstreit zwischen dem demokratischen Westen und dem autokratischen Osten ausgehen, gar nicht schmecken dürfte.
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Giuliano da Empoli Der Magier im Kreml 265 Seiten, 2024 C.H. Beck 24,70 EUR |