Hybris und Mythos: Eine Geschichte des russischen Imperiums

Dass Geschichte in der russischen Ideologie und Staatskunst eine so herausragende Rolle spielt, liegt daran, dass sich in Russland nie ein normaler, freier politischer Diskurs herausgebildet hat. Eine öffentliche Verhandlung um das, was Freiheit, Demokratie oder Sicherheit bedeuten könnte, findet nicht statt. Das heißt, dass der Staat, der in der gesamten russischen Geschichte der Haupttreiber von Veränderungen war, immer dann, wenn er eine bestimmte Politik durchsetzen will, dazu neigt, sich auf historische Erzählungen zu berufen. Diese Erzählungen beruhen allesamt auf Mythen darüber, wie Russlands Entwicklung verläuft oder verlaufen sollte. (Orlando Figes, in der WELT vom 26.11.2022)

Der Begriff des „Putin-Verstehers“ hat seit dem 24. Februar des vergangenen Jahres, dem Beginn des vom russischen Präsidenten Wladimir Putin befohlenen Angriffskrieges gegen die Ukraine, einen unangenehmen Beiklang bekommen. Selbst die vehementesten Vertreter einer wohlwollenden Sichtweise auf Putins Handlungen und Motive waren von dieser schicksalshaften „Zeitenwende“ überrascht und stehen blamiert da. Vielleicht ist es Zeit für eine Rekalibrierung des eigenen Horizonts. Putin zu verstehen heißt Russland zu verstehen. Und um wiederum Russland zu verstehen, ist das Wissen um seine lange und schwierige Geschichte notwendig.

Unter den vielen Titeln, mit denen derzeit der Buchmarkt zum Themenkomplex Russland/Ukraine geflutet wird, ragt besonders „Eine Geschichte Russlands“ des Historikers Orlando Figes heraus. Der 1959 geborene Brite Figes hat sich als Autor preisgekrönter Werke über die russische Geschichte einen Namen gemacht.

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Figes stellt seinem Werk folgende These voraus:

„Russland ist ein Land, das von Ideen, die in der fernen Vergangenheit verwurzelt sind, zusammengehalten wird, und von Geschichten, die ständig umgeschrieben und umfunktioniert wurden, um den aktuellen Bedürfnissen zu entsprechen und die eigene Zukunft neu vorzustellen.“

Die Idee, die an seinem Anfang steht, ist die von der Kiewer Rus, mit der nach Moskauer Verständnis die Staatlichkeit Russlands begann. Die Taufe Wladimir I. im Jahr 988, im orthodoxen Glauben der Großmacht Byzanz öffnete das Land nach Europa, ein Gründungsmythos, auf den sich neben Russland auch die Ukraine und Weißrussland berufen. Figes hält dem entgegen, daß die Geschichte der Kiewer Rus in einem vergleichbaren Verhältnis zur späteren Geschichte Russlands stünde wie das Karolingerreich zu Deutschland oder das Gallien der Merowinger zum modernen Frankreich: „[N]ämlich als eine Quelle der Religion, Sprache und künstlerischen Ausdrucksformen des Landes.“

Die nachfolgende 250jährige Besetzung durch die Mongolen markiert den „tiefen Bruch“ zwischen den Kiewer Rus und dem aufstrebenden Moskauer Reich. Einerseits war Russland in der Besatzungszeit abgeschnitten vom europäischen Einfluß, andererseits entwickelte sich sein Glaube zum „Brennpunkt ihres Durchhaltevermögens“. Mit dem ersten Zaren Iwan dem Schrecklichen (1530 – 1584) verbindet sich der Beginn des imperialen Anspruchs Russlands als dem „Dritten Rom“ und dessen expansiven Ausgreifens nach Osten. Die Sakralisierung seines Amtes, die Identität von Zar und Staat, erfolgte aus der Übernahme byzantinischer Traditionen, während „sich im Westen das Konzept eines abstrakten Staates als Gegengewicht zum König entwickelte“.

Ein Gegengewicht zur Übermacht des autokratischen Zaren konnte sich nicht herausbilden. Die korrupte Adelsschicht der Bojaren – Vorläufer der heutigen Oligarchen – wurde entmachtet. Ebenso fehlte hierfür ein selbstbewußtes und unternehmerisches Bürgertum: „Russland blieb auf seinem autokratischen Pfad.“

Mehr noch, gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurden die Bauern durch Einführung der Leibeigenschaft an Boden und Adelsherren gebunden. Die Kollektivhaftung in den Gemeinden dieses Bauernstaats führte zur Pflicht der Denunziation.

Erste Reformen durch Zar Peter den Großen (1672 – 1725) verstärkten durch ihren „tyrannischen Etatismus“ nur die Rückständigkeit und wurden rückblickend kritisch betrachtet als die traditionelle russische Identität unterminierend. Auch seine Nachfolgerin Katharina die Große hielt trotz der von ihr vertretenen Ideale der Aufklärung nichts von der Idee einer Freiheit der Russen.

Militärisch bildete sich immer schärfer das Muster heraus, daß Russland seine Siege nur der Quantität, also seiner schier unerschöpflichen Masse an Soldaten, und weniger der Qualität des Materials oder seiner Führung verdankte, ein Vorteil, der dem Land heute in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine durch den drastischen Bevölkerungsschwund seiner demographischen Ressourcen fehlt. Allzu oft zeigte sich der Hang zur Hybris, wenn das Militär im Gehorsam auf seine Führung auf einen sicher geglaubten Sieg umso bittere Niederlagen einfuhr.

Das 19. Jahrhundert war geprägt vom Streit zwischen Slawophilen und Westlern – konservativen Kollektivisten und liberalen Individualisten – um den zukünftigen Weg Russlands. Die Abgrenzung zum Westen gewann durch den Krimkrieg (1853 – 1856) an Schärfe, als Moskau die Rolle der feindlichen Allianz von Großbritannien, Frankreich und Sardinien-Piemont als heuchlerische Doppelmoral wahrnahm, wenn diese sich global das nahmen, was man Russland wiederum nicht zugestand. Umso stärker sah sich Russland als Verteidiger christlicher Wertevorstellungen gegen den Säkularismus und den Materialismus des Westens.

Zwar brachte die Oktoberrevolution das Ende der Monarchie und die Abschaffung des Zarentums. Doch in der russischen Mentalität war nach wie vor das Bedürfnis nach einer überhöhten Herrschergestalt vorhanden. Stalin wußte sich in dieser Rolle perfekt zu inszenieren.

Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg 1945 brachte eine neue Variante des russischen Nationalismus hervor, ein messianischer Opfer-Mythos von Russland als Befreier der Menschheit, erst gegen die Mongolen, dann gegen Napoleon und schließlich gegen Hitler-Deutschland und „nicht etwa für sowjetische Ineffizienz und herzlose Missachtung von Menschenleben“. Die Breschnew-Ära ihrerseits instrumentalisierte den Nationalismus als Gegenmittel gegen den Einfluß des Westens.

Besonders interessant wird es im letzten Kapitel des Buches, das bis in die jüngste Putin-Ära führt. Unter Gorbatschow erlebte die Sowjetunion nicht allein das Aufleben zivilgesellschaftlicher Ansätze, sondern auch ihre Auflösung durch die zentrifugalen Kräfte des entfesselten Nationalismus in den Sowjetrepubliken. Den Todesstoß versetzte der Union das erfolgreiche Unabhängigkeitsreferendum der Ukraine. Die alten Eliten gingen übergangslos in das neue System über.

Dem folgenden Chaos unter Jelzin mit seinen sozio-ökonomischen Verwerfungen und dem ideologischen Vakuum stellte sein konservativer Nachfolger Putin sein etatistisches Staatsmodell mit der Betonung auf der „traditionellen Werte“, die Russland stark machten: „Patriotismus, Kollektivismus und die Unterwerfung unter den Staat“. Das Ergebnis war eine gelenkte, autoritäre Schein-Demokratie mit Putin als neuem „Zaren“ an der Spitze. Unterstützt von der Orthodoxen Kirche erlangte der Staat auch die Lufthoheit über den Geschichtsdiskurs, in dem nun deutlich anti-westliche Akzente und eine verklärende Sicht auf die Vergangenheit gesetzt wurden.

Widerspruch ist Figes garantiert bei seiner Darstellung über Putins Verhältnis zum Westen. Er betont das Interesse Putins zu engen Beziehungen zum Westen in seiner ersten Amtszeit, eine Chance, die leichtfertig ausgeschlagen wurde: „Russland wollte Teil Europas sein, mit Respekt behandelt werden.“

Den eigentlichen Bruch zwischen Russland und dem Westen verortet Figes in der NATO-Osterweiterung, die ohne Rücksicht auf russische Empfindlichkeiten und in Mißachtung seiner Geschichte durchgezogen wurde: „Durch die Provokation einer russischen Aggression hatte die NATO erst das Problem geschaffen, dem sie eigentlich entgegen treten wollte. Man könnte meinen, sie brauche ein aggressives Russland, um die eigene Existenz zu rechtfertigen.“ Die Folgen sind bekannt.

Einerseits Teil Europas, andererseits vom Rest des Kontinents nie richtig verstanden – das ist eine der Kontinuitätslinien der Geschichte Russlands. Dazu der Orthodoxe Glaube seiner Bevölkerung, sein messianischer Anspruch, seine imperialen Ambitionen, die stets weit hinter seinen tatsächlichen Fähigkeiten stehen. Und vor allem die autokratische Staatsform, unter der sich nie eine bürgerliche Zivilgesellschaft entfalten konnte. „Despotismus auf der Basis der Versklavung der Gesellschaft“ war das drastische Urteil des Reformers Michail Serpanski Anfang des 19. Jahrhunderts über den Zustand Russlands, der sich offenbar bis heute fortschreibt.

Wie immer das derzeitige Ringen um die Ukraine ausgehen mag, selbst bei einer russischen Niederlage ist kaum anzunehmen, daß diese Linien einen Abbruch erfahren werden und dem „System Putin“ eine liberale Demokratie nachfolgt. Das naheliegende ist die Wahl zwischen einem von zwei Übel: Autokratie oder Chaos. Keines davon wird uns im Westen schmecken.

Orlando Figes
Eine Geschichte Russlands
2022; 448 Seiten; 28,- Euro
Klett Cotta

Der Blick in Russlands Zukunft richtet sich in seine Vergangenheit

„Ich entdeckte den Park wie einen fremden Erdteil. Er hatte seinen eigenen Dschungel, seine Höhlen, seine geheimnisvollen Meere, seine rätselhaften Schlösser, wilde Eingeborene und freundliche Unbekannte. Und die Zukunft sah so aus: ein weißes, luftiges, zerbrechliches Versprechen.“
Juri Trifonow über den Gorki-Park, GEO 10/1979

Mit dem Beginn seines Angriffskrieges gegen die Ukraine ist Russland in eine neue historische Phase eingetreten. Doch statt der von Putin angestrebten Erneuerung des russisch/sowjetischen Imperiums zeigt nun der Weg des Landes mit der größten Landmasse der Welt nur in eine Richtung: Rückwärts in die Vergangenheit.

Symptomatisch hierfür ist der Versuch der russischen Führung, nach dem Rückzug des französischen Autobauers Renault aus dem Land die Fertigungsstätten umzurüsten auf die Wiederbelebung einer Marke, die aus der Sowjet-Ära noch gut bekannt ist, den Moskwitsch. Doch da die vorhandene Technik eine reine Endfertigung ist und Russland aufgrund der Wirtschaftssanktionen von Zulieferungen und Technologietransfers aus dem Westen weitgehend abgeschnitten ist, spricht wenig dafür, daß der „neue Moskwitsch“ auch nur annähernd mit westlichen Modellen mithalten kann, ebenso wenig wie es seine sowjetischen Vorgänger konnten, falls es bei diesem Projekt nicht ohnehin um ein „Potemkinsches Dorf“ handelt.

Russland ist also auf dem besten Weg zurück in eine Zeit, die nur unter dem größten Einsatz von Propaganda strahlend erscheint. Bis an die Zähne atomar bewaffnet, aber mit der Versorgung der eigenen Bevölkerung heillos überfordert, technologisch dem Westen immer weiter hinterherhinkend, jede Eigeninitiative und Freigeist durch ein diktatorisches System erstickend. „Obervolta mit Atomraketen“ höhnte einst Bundeskanzler Helmut Schmidt. Anlaß für Schadenfreude bieten diese trüben Aussichten für Russland keineswegs, denn noch ist nicht ausgemacht, ob die Kollateralschäden der westlichen Russland-Sanktionen aus Deutschland nicht eine gigantische Industrieruine machen.

Die imperiale Sehnsucht vieler Russen ist eine gefährliche Nostalgie, die verkennt, wie sich unter der Stagnation der Zerfall vorbereitete, der am Ende die Sowjetunion kollabieren ließ. In jüngster Zeit hat die in Moskau geborene und nach Deutschland ausgewanderte Schriftstellerin Katerina Poladjan in „Zukunftsmusik“ (2022) einen literarischen Rückblick in die triste Lebenswirklichkeit der russischen Provinz Mitte der 1980er Jahre gegeben. Doch noch interessanter ist der Griff zu Klassikern aus der Zeit des Kalten Krieges, die uns einen ungleich dichteren Bezug liefern. Dem amerikanischen Schriftsteller Martin Cruz Smith (*1942) ist 1981 mit dem Thriller „Gorki Park“ ein Weltbestseller gelungen, dem kurz darauf mit „Gorky Park“ die nicht weniger erfolgreiche Hollywood-Verfilmung folgte.

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In einer typisch kalten Winternacht werden im Moskauer Gorki Park die drei mit Schnee überdeckten Leichen zweier Männer und einer Frau entdeckt. Ihre Gesichtshaut wurde fachmännisch abgezogen, sämtliche Fingerkuppen abgeschnitten, was ihre Identifizierung zur damaligen Zeit unmöglich macht. Der KGB lehnt alle weiteren Ermittlungen ab, die er der Miliz überläßt. Dem Leitenden Ermittler Arkadi Renko ist nicht wohl dabei. Gleichwohl setzt er seine Arbeit fort und stößt durch die Schlittschuhe des weiblichen Opfers auf eine junge Frau, Irina Asanova, die mit den Toten offenbar in näherer Verbindung steht und mit der er bald eine tragische Liebesbeziehung eingeht. Zeitgleich macht Renko die keineswegs zufällige Bekanntschaft mit dem Amerikaner Jack Osborne, einem umtriebigen und habgierigen Geschäftsmann mit dunkler Vergangenheit, der bestens mit dem FBI und dem KGB vernetzt ist. Doch auch Irina und Osborne sind einander nicht unbekannt. Zu spät erkennt Renko, daß er nur Spielball ist in einem mörderischen Komplott um eines der wichtigsten Wirtschaftsgüter, auf das die Sowjetunion noch ein Monopol hat: den lukrativen Handel mit äußerst wertvollen Zobelpelzen.

Buch und Film trafen seinerzeit einen Nerv in der Leserschaft. Der Kalte Krieg erreichte nach der Entspannungspolitik der 1970er Jahre mit dem Präsidentschaftsantritt von Ronald Reagan einen neuen Höhepunkt. Reagan erklärte die Sowjetunion umgehend zum „Reich des Bösen“ und fachte den Rüstungswettlauf an. Die inneren Verhältnisse Sowjet-Russlands harrten unter Leonid Breschnew und seinen greisen Nachfolgern Andropow und Tschernjenko weiterhin in Erstarrung.

Martin Cruz Smith vermittelt in seinem „Gorki Park“ das Bild eines Landes, das von Rückständigkeit geprägt und von Korruption zerfressen ist. Selbst einfache Haushaltsgeräte im Neuzustand funktionieren nicht. Schwarzmarkthändler führen ein parasitäres Leben auf Kosten der Allgemeinheit. Wie ein Krake hält der KGB seine Finger über das Land. Antisemitische Vorurteile sind selbst in den Kreisen der Elite virulent. Die Wirklichkeit wird den Bedürfnissen des Staates angepasst:

„Angenommen ein verdienter Künstler bittet seine Frau eines Nachts, aus dem Auto zu steigen, um Glasscherben von der Straße zu räumen, und überfährt sie dabei. Eine junge Frau, die bald heiraten will, bringt ihre Großeltern ins Bett, schließt das Fenster und dreht das Gas auf, bevor sie abends ausgeht. Ein fleißiger Landwirt, ein angesehener Kolchosbauer, erwürgt ein Flittchen aus Moskau. Das sind Dinge, die offiziell nicht passieren dürfen, aber sie sind die Wahrheit: Ein Mann, der sich eine Geliebte und ein Auto leisten kann; eine junge Frau, die mit ihrem Ehemann im selben Zimmer mit den Großeltern hausen muss; ein Bauerntölpel, der dumpf ahnt, dass er sein Leben lang nicht aus seinem erbärmlichen Nest am Ende der Welt rauskommen wird. Solche Dinge erscheinen nicht in unseren Berichten, aber wir wissen darüber Bescheid. Deshalb müssen wir das Recht haben, die Wahrheit zu verändern.“

Es ist ein System, in dem „wir keinem trauen dürfen“. In diesem Umfeld wirkt der gradlinige Ermittler Renko wie ein trotziger Solitär, dem insgeheim Verachtung ob seines „Moralismus“ entgegengebracht wird. Alles in allem keine Eigenschaften, die ihren Träger zu einer Karriere empfehlen.

Smith kannte die Sowjetunion zwar nur aus der Anschauung einer einmaligen Pauschalreise, recherchierte darüber hinaus aber umfangreich durch Befragungen bei russischen Immigranten. Wie gut seine Recherchen seinen Blick auf Russland geschärft haben, zeigt schon die Wahl des Gorki Park als zentralen Ausgangspunkt seines Plots. Der im 19. Jahrhundert angelegte Park, dessen Benennung übrigens nicht auf den russischen Schriftsteller Maxim Gorki (1868 – 1936) zurückgeht, ist für die Moskauer Kultur von zentraler Bedeutung. Er ist nicht alleine Freizeitpark und Sportstätte. Hier trifft man sich nicht nur zum Spazieren gehen oder zum Schachspiel, versammelten sich die Veteranen des „großen vaterländischen Krieg“. Oder eben wie die drei Mordopfer aus Cruz‘ Roman zum winterlichen Schlittschuhlaufen unter donnernder Musik.

Mit Arkadi Renko begründete Smith eine bis heute erfolgreiche Serie, die parallel zur aktuellen Entwicklung Russlands Schritt hält. Zuletzt erschien 2021 mit „Der Spur des Bären“ die neueste Folge, in der sein altersloser Held wider Willen zum Instrument einer Intrige des Kremls gegen einen politisch zu ehrgeizigen Oligarchen wird.

Die Verfilmung von 1983 bietet noch den zusätzlichen Reiz eines Wiedersehens mit einer alten Garde Hollywoods, die inzwischen fast vollständig abgetreten ist. William Hurt in der Rolle des Arkadi Renko ist erst im März verstorben. Brian Dennehey in der Rolle des amerikanischen Polizisten William Kirwill, dem Bruder eines der drei Mordopfer, starb zwei Jahre zuvor. Für die Hollywood-Legende Lee Marvin als Jack Osborne war es eine seiner letzten Filmrollen († 1986). Ein Wiedererkennen dürfte es für Star-Wars-Enthusiasten in der Rolle des leicht exzentrischen Anthropologen Andreev geben, der mit seinem ausgeklügelten Verfahren aus den Totenschädeln der Mordopfer ihr ursprüngliches Aussehen wiederherstellt; ihn verkörpert der Schotte Ian McDiarmid, besser bekannt als der Imperator Palpatine / Darth Sidious. Das in der Verfilmung dargestellte Rekonstruktionsverfahren hat übrigens einen realen Hintergrund und war für Smith der Auslöser für die Idee des „Gorki Park“.

Nicht unerwähnt bleiben sollte der Einsatz des noch jungen Filmkomponisten James Horner(1953 – 2015), der gerade seinen Durchbruch in Hollywood feierte, und dessen Soundtrack dem „Gorky Park“ den dramatischen Feinschliff verpasste.

Main Titel – Gorky Park OST (James Horner)

Dem Erfolg des „Gorki Park“ im Westen stand wiederum der Verriss in der sowjetischen Literaturkritik gegenüber, die darin ihr Land verunglimpft sah, obwohl sich Cruz manch kritische Seitenhiebe auf seine Heimat nicht verkniff. Doch das letzte, was man Cruz‘ Werk vorwerfen kann, ist daß es das Produkt eines „kalten Kriegers“ ist. Kaum verwunderlich, daß die Verfilmung des Romans nicht an den Originalschauplätzen stattfand, sondern in Finnland. Zu dem damaligen Zeitpunkt hätte es wohl kaum jemand für möglich gehalten, daß der „Wind of Change“ bald für eine vollkommene Umdrehung der Verhältnisse sorgen würde. 1985 leitete Michail Gorbatschow als neuer sowjetischer Generalsekretär mit Glasnost und Perestrojka jene Wende ein, die zum Fall des „Eisernen Vorhangs“ und dem Untergang der Sowjetunion führte. Schon bereits 1989 konnte mit „Das Russland-Haus“ (in den Hauptrollen Sean Connery und Michelle Pfeiffer) der gleichnamige Agententhriller von John Le Carré mit offizieller Genehmigung in Moskau und Leningrad gedreht werden.

War „Gorki Park“ das Abbild der russisch-sowjetischen Misere, so reflektierte „Das Russland-Haus“ alle Hoffnungen auf einen globalen Frieden, die allzu schnell in bitterer Enttäuschung endeten. Wie lange wird es wohl dieses Mal dauern, bis wieder Hoffnung keimen kann?

 Martin Cruz Smith
Gorki Park
Neuauflage 2015
416 Seiten; 9,99 Euro
Gorky Park
Mit William Hurt, Brian Dennehy, Joanna Pacula, Lee Marvin
2 Stunden und 3 Minuten

Friedenslogik statt Sicherheitslogik?

Ein Schlaglicht auf die Stimmungslage in Deutschland in Bezug auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die Position Deutschlands darin warf vergangenen Sonntagnachmittag eine Vortragsveranstaltung in der Kasseler Kirche St. Familia. Zu Gast war Clemens Ronnefeldt, langjähriger Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des internationalen Versöhnungsbundes, wohnhaft in der Ukraine. Thema seines an rund 100 Zuhörer gerichteten Vortrags: „Der Ukraine-Krieg: Hintergründe und Perspektiven“. Die eigentliche thematische Stoßrichtung gab der frühere Dechant Harald Fischer in seiner Eröffnung vor, als er auf den Druck hinwies, den „die Zeitenwende in der jüngeren Geschichte“ auf die Friedensbewegung in Deutschland ausübt und sie in eine Position rücke, in der sie sich entschuldigen müsse. Fischer ist ein prominenter und keineswegs unumstrittener Aktivist der lokalen Friedensbewegung, der immer wieder als Wortführer gegen die nordhessische Rüstungsindustrie von sich reden machte.

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Zu Beginn gab Ronnefeldt einen historischen Überblick über das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine von den Kiewer Rus bis in die heutige Zeit. Seine informativen Ausführungen machten deutlich, wieso der Krieg, den Russland dort führt, keiner über Rohstoffe ist, sondern ein „Beziehungs- und Identitätskrieg“.

Über die unübersehbaren Spaltungstendenzen in der Ukraine in der Präsidentschaftswahl von 2004 habe Ronnefeldt nach eigenem Bekunden „die Luft angehalten“. Er habe der Ukraine die Rolle „eines Brückenlandes gewünscht, das seine Füße in beiden Lagern behält“. Doch vor die Wahl gestellt zwischen dem Westen und Russland mußte es zum Riss kommen.

In seinem Porträt des russischen Präsidenten Putin fand er seine christlich-orthodoxe Taufe auf Betreiben der Mutter bemerkenswert, von der der Vater – ein Kommunist und Atheist – nichts wissen durfte. Als eine wichtige Prägung erscheint sowohl der geglückte Bluff mit angeblichen Scharfschützen zum Schutz der Dresdner KGB-Filiale zur Abschreckung ostdeutscher Bürgerrechtsdemonstranten, als auch die etwa zeitgleiche Niederschlagung der chinesischen Bürgerrechtsbewegung durch das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.

Kritisch ging Ronnefeldt auf die bekannten Bilder ein, in denen sich Putin mit freiem Oberkörper in Machopose inszeniert und in denen er ihm ein Problem mit seiner Männlichkeit attestiert. Ohne die Überwindung des damit verbundenen patriarchalischen Denkens würde das Leiden der Menschen kein Ende finden.

Bei aller gebotenen Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands in der Ukraine sparte er die NATO von einer Mitverantwortung an der Entwicklung dahin nicht aus. Er begründete seinen Fokus auf die NATO dahingehend, daß hier die Seite liege, auf die man Einfluß habe. Nach dem mündlichen Versprechen an die Sowjetunion durch den damaligen Außenministers James Baker 1990, die Nato um „keinen Inch nach Osten“ zu erweitern, sah er seit 1992 mit den neoliberalen Wolfowitz, Friedman und Brzeziński eine gegenteilige amerikanische Politik am Wirken, die Russland nicht auf Augenhöhe begegnen wollte, sondern als künftigen potentiellen Konkurrenten niederzuhalten versuchte. Besonders bei Brzeziński, dem Verfasser des Bestsellers „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, konnte der Referent kaum seine Fassungslosigkeit verbergen, daß die westlichen Staaten nicht gegen seinen Einfluß opponiert haben.

Dagegen lobte Ronnefeldt die nach seiner Ansicht auf Ausgleich bedachte Politik der Regierung Merkel, während die USA diese immer wieder konterkariert habe. Als entscheidende Wegmarken hob Ronnefeldt die Münchener Sicherheitskonferenz von 2007 hervor, in der Putin explizit die Haltung Russlands gegenüber einer weiteren Runde der NATO-Osterweiterung vortrug, wie auch die völkerrechtswidrige Abtrennung des Kosovo 2007 mit westlicher Hilfe.

Mit großem Beifall goutierte das Publikum Ronnefeldts rhetorische Frage zu den Auswirkungen der amerikanischen Politik in der Ukraine: „Wieviel Blut wird fließen für höhere, übergeordnete Ziele?“

Reichlich naiv und von der Realität überholt wirken jedoch seine Alternativen zu einem bewaffneten Widerstand der Ukrainer gegen die russischen Invasoren, in denen er dem gewaltfreien Widerstand den Vorzug gab. Seine Berufung auf frühere Umfragen unter der ukrainischen Bevölkerung, die inzwischen allesamt Makulatur sein dürften, wirkte da reichlich irreal, was aber im Publikum niemanden aufzufallen schien. Ronnefeldt traf sich hier mit dem Aktivismus seines Gastgebers Fischer, indem er der deutschen Rüstungsindustrie vorhielt, ob es sie überhaupt interessiere, „was die Menschen dort denken?“

Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob es Ronnefeldt überhaupt für möglich halten könnte, daß die Ukrainer die Waffen aus deutscher Produktion geradezu herbeisehnen? Denn mit gewaltfreiem Widerstand und zivilgesellschaftlichen Ungehorsam lassen sich Massaker wie in Butscha wohl kaum verhindern.

Was können „wir“ tun, um den Krieg in der Ukraine zu beenden? Ronnefeldt problematisierte hier vor allem die deutsche Rüstungsindustrie, die über den Suchkopf auch Zulieferer für die türkische Drohne ist, die wiederum vertragswidrig von der Ukraine eingesetzt würde. An dem betreffenden Unternehmen hielte die Bundesrepublik eine Sperrminorität, die sie unter fadenscheinigen Begründungen nicht anwende. Ebenso kritisierte Ronnefeldt die durchaus bedenklichen Netzwerkverbindungen zwischen der Rüstungsindustrie und der Münchener Sicherheitskonferenz zu ihrem gegenseitigen materiellen Vorteil.

Weiterhin rief er gezielt in Richtung Publikum dazu auf: „Nehmen Sie Deserteure auf!“, ohne allerdings zu reflektieren, daß es durchaus einen Unterschied macht, ob ein Soldat der Aggressormacht oder der angegriffenen Seite fahnenflüchtig wird.

Ebenso riet er zum Erhalt der zivilgesellschaftlichen Kräfte, beispielsweise durch Städtepartnerschaften, so als ob die – mittlerweile auf Eis gelegte – Städtepartnerschaft Kassels mit dem russischen Jaroslaw irgendwie etwas geändert hätte.

Keinen leichten Stand hatte an dem Nachmittag der Kasseler Bundestagsabgeordnete der Grünen, Boris Mijatovic, der unter deutlichen Unmutsbekundungen aus dem Publikum von Fischer zu einer Stellungnahme nach vorne gebeten wurde. Besonders hörbar mit spöttischem Unterton fiel der Satz „Frieden schaffen mit schweren Waffen“, und das aus einem Milieu, in dem die Grünen einst Zuhause waren. Zwar stimme er Teilen des Vortrags zu (ohne zu sagen welchen), doch außer nichtssagenden Phrasen über Besonnenheit und rationales Handeln hatte Mijatovic nichts anzubieten.

In seinem Schlußwort betonte Ronnefeldt die weitere Notwendigkeit einer Friedensbewegung. An die Stelle der Sicherheitslogik müsse eine Friedenslogik treten, um die eigene Sicherheit nicht auf Kosten anderer zu sichern: „In einer vernetzten Welt kann es nur noch gemeinsame Sicherheitsinteressen geben.“

Fischer wiederum kritisierte die Lieferungen schwerer Waffen in die Ukraine, die für ihn eine moralische Glaubensfrage sei: „Es ist als teste der Westen aus, wo für Putin die Schmerzgrenze für den Atomwaffeneinsatz liegt.“
Es war, um einen ironischen Vergleich zur Militärsprache zu bemühen, ein Nachmittag, an dem es einem führenden Aktivisten der kirchlichen Friedensbewegung darum ging, die eigenen Truppen moralisch aufzubauen und zu stärken, nachdem der russische Angriff auch sie kalt erwischt hat.

Wenig überraschend war, daß während des Vortrags auch Flugblätter des marxistischen und kaum seriösen „Kasseler Friedensforum“ verteilt wurden. Und wenn Ronnefeldts Vortrag sich von einem thematisch ähnlichen im Café Buchoase unterschieden hätte, dann vor allem dadurch, daß er sehr deutlich gemacht hat, daß die Behauptung Russlands von der „Entnazifizierung der Ukraine“ eine reine Propagandalüge ist, um die Russen „bei der Stange zu halten, weil der Große Vaterländische Krieg [der Zweite Weltkrieg] der letzte gute gewesen ist“.

Daß die vom Bundeskanzler ausgerufene „Zeitenwende“ einhellig von der Bevölkerung nachvollzogen wurde, läßt sich hiernach jedenfalls nicht bestätigen, im Gegenteil. Wortmeldungen aus dem Publikum lassen ahnen, das die nicht nur in der Friedensbewegung traditionell gegen die Amerikaner gerichtete Vorbehalte – um nicht zu sagen: antiamerikanische Ressentiments – nach wie vor fest verankert sind. Die deutsche Front des politischen Krieges gegen Russland scheint vielleicht brüchiger zu sein, als es manchen Strategen in Berlin, Brüssel oder Washington lieb sein kann.

Putins Werk und Amerikas Beitrag

Der Krieg ist nicht nur der „Vater aller Dinge“ (Heraklit), sein Ausbruch selbst hat zumeist viele Väter. Mit anderen Worten, die Ursachen eines gewaltsamen Konfliktes zwischen Staaten und Nationen lassen sich in den seltensten Fällen monokausal erklären. Die Wurzeln seiner Genese lassen sich oft weit in die Vergangenheit zurückverfolgen, teilweise mit komplexen Verästelungen, in denen sich Ursache und Wirkung nur noch schwer voneinander unterscheiden lassen. Das gilt auch für den gegenwärtigen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Zwar ist Russland aufgrund seines im Februar erfolgten Angriffs nach wiederholter Lüge, es würde an seiner Grenze zur Ukraine lediglich Manöver abhalten, unzweifelhaft in der Rolle des Aggressors. Doch auch dieser Konflikt hat eine Vorgeschichte, die viel mit dem Verhalten des Westens gegenüber Russland tun hat.

Der amerikanische Journalist Tim Weiner ist in der Geheimdienst-Szene bestens vernetzt. International bekannt wurde er als Verfasser einer umfassenden Monographie über die Geschichte des US-Geheimdienstes CIA („CIA: Die ganze Geschichte“; 2007). In seinem letzten, 2021 auf Deutsch erschienenen Werk, – also noch vor Ausbruch des Ukraine-Krieges – beleuchtet er das 75jährige Ringen der USA und der Sowjetunion bzw. Russlands um die Weltherrschaft: „Macht und Wahn. Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945“.

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Weiner beginnt seine Darstellung mit dem berühmten „Langen Telegramm“ des amerikanischen Diplomaten George F. Kennan (1904 – 2005) von 1946, in dem er seiner Regierung im aufziehenden Kalten Krieg eine neue Strategie zur Eindämmung des Sowjetkommunismus unterbreitete. Dies war die Geburtsstunde des politischen Kampfes zwischen den beiden Weltmächten, der mit nichtmilitärischen Mitteln ausgetragen wurde. Seine Instrumente waren verdeckte Operationen, Fake News und Propaganda. Die Schauplätze waren die Länder der Dritten Welt und die osteuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion; ihre Akteure vor allem die Geheimdienste CIA und KGB.

Dabei war Amerika in der Wahl seiner Methoden keineswegs zimperlich. Wo es die US-Administration als notwendig für ihre Interessen erachtete, wurden wie im Iran oder Kongo mißliebige Regierungschefs weggeputscht oder gar liquidiert und die schlimmsten Potentaten hofiert: „Menschenrechte [spielten] in der amerikanischen Außenpolitik nur selten eine Rolle.“

Zu den größten amerikanischen Erfolgen im Informationskrieg im Kalten Krieg dürfte die Herbeischaffung und globale Verbreitung der Geheimrede von Chruschtschow vom 1956 sein, in der er mit seinem Vorgänger Stalin abrechnete.

Die sowjetische Seite wiederum konnte sich mit der Erfindung der Verschwörungstheorie „revanchieren“, wonach AIDS eine in amerikanischen Militärlabors gezüchtete Krankheit sei. Diese Mär hat über den Kalten Krieg hinaus bis heute in Millionen Köpfen überlebt.

Von besonderem Interesse ist die zweite Hälfte des Buches, in welchem Weiner die weitere Entwicklung nach dem Triumph der USA im Kalten Krieg beschreibt, und hier vor allem der Weg, den die USA mit der NATO-Osterweiterung eingeschlagen haben.

In den vergangenen Wochen und Monaten wurde in den deutschen Medien vielfach verbreitet, es sei ein Mythos gewesen, „dass sich die Nato mit der Osterweiterung schuldig gemacht habe, weil diese gegen Versprechen von Anfang der 90er verstoßen habe. (…) Dieses Narrativ sollte sich erledigt haben. (…) Die Regierung Jelzin aber akzeptierte das Selbstbestimmungsrecht der Warschauer-Pakt-Staaten und ehemaliger Sowjetrepubliken: Im Budapester Memorandum bestätigte Russland deren Souveränität – für den Verzicht auf Nuklearwaffen.“ (pars pro toto Mark-Christian von Busse in der HNA vom 15. März 2022). Jedoch, ganz so einfach stellt sich die Historie der NATO-Osterweiterung nicht dar.

Bereits US-Außenminister George Baker gab 1990 dem sowjetischen Staatschef Gorbatschow die „kategorische Zusicherung“: „Nicht einen Zoll weiter nach Osten.“ Vor einer Abkehr dieser Linie warnten auch hochrangige Militärs und Diplomaten, wonach „die Russen die Erweiterung der NATO als existenzielle Bedrohung betrachten würden“.

Gorbatschows Nachfolger Jelzin, den Weiner in entscheidenden Momenten als alkoholisiert beschreibt, ließ sich auf das „doppelzüngige Spiel“ des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton ein, der einerseits Jelzin unterstützte, andererseits das Projekt der NATO-Osterweiterung betrieb. Die Clinton-Administration hatte selbst nach Einschätzung ihrer eigenen Diplomaten die Russen in dieser Frage eindeutig hintergangen. Vize-Außenminister Strobe Talbott bekannte intern: „Die NATO-Erweiterung wird, wenn sie stattfindet, per definitionem Bestrafung oder ‚Neo-Containment‘ des bösen Bären sein“.

Talbott machte unumwunden deutlich, daß es zwischen den USA und Russland nicht um eine Begegnung auf Augenhöhe gehen könnte. Amerika wollte der Sieger des Kalten Kriegs sein. Es wollte seine Macht und seinen Einfluß weltweit ausdehnen und wiederholte damit den Fehler, der nach dem Zweiten Weltkrieg begangen wurde, als man es sträflich unterließ, den früheren Feind in eine seine Interessen berücksichtigende Friedensordnung einzubinden.

Das mit dem Budapester Memorandum verbundene Beitrittsangebot der NATO an Polen, Ungarn und die Tschechische Republik fasst Weiner in seiner Wirkung auf die russische Seite drastisch zusammen: „Dies verstärkte Russlands Gefühl, dass die Amerikaner den Bären nicht nur in einen Käfig sperren, sondern ihm auch noch die Augen ausstechen wollten.“

Das „große Spiel“ erfuhr 2000 eine bedeutende Wende, als Wladimir Putin von Jelzin das Amt des Russischen Staatspräsidenten erbte. Der frühere KGB-Agent Putin – „ein Tschekist bis ins Mark“ – , getrieben von seiner traumatischen, hautnahen Erfahrung des Untergangs der Sowjetunion, hatte zwei Ziele: Rache an Amerika und die Wiederherstellung der alten Größe Russlands. Umgehend wurde der Staatsapparat mit Geheimdienstagenten durchsetzt und so aus den Trümmern der Sowjetunion ein neuer Geheimdienststaat geschaffen, der den früheren politischen Krieg wiederaufnahm.

Der Informationskrieg wurde zu Putins stärkster Waffe, seine Instrumente Cyberangriffe, Medienmanipulation und psychologische Operationen, „die effizienteste politische Kriegsführung des 21. Jahrhunderts“. Die Cyberattacken auf Estland 2007 und der Hack in die IT-Wahlmaschinerie der Ukraine waren erste Kostproben der neosowjetischen Strategie Putins.

Besonderes Aufsehen erregte 2014 die Veröffentlichung eines von russischen Geheimagenten mitgeschnittenen Telefonats zwischen der hochrangigen US-Diplomatin Victoria Nuland und dem amerikanischen Botschafter in der Ukraine, das die tiefe amerikanischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes dokumentierte. Berühmt wurde dieses Telefonat wegen des darin enthaltenen Kraftausdrucks von Nuland, man könne „auf die EU scheißen“.

Doch das waren nur Gesellenstücke auf dem Weg zum großen Ziel: Die heimliche Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahl von 2016, dem großen Zweikampf der Kandidaten Hillary Clinton und Donald Trump.

Weiner legt ausführlich dar, wie Russland mithilfe seiner in Sankt Petersburg ansässigen Troll-Fabrik in den Wahlkampf eingriff, zugunsten des Kreml-Wunschkandidaten Trump. Kompromittierendes Material gegen Clinton wurde von den Servern der Demokratischen Partei gestohlen und WikiLeaks zugespielt, das Internet mit Fake News geflutet und aufgeheizt, während das amerikanische Programm von Russia Today eine massive Kampagne fuhr, um durch die Unterstützung einer linken Außenseiter-Kandidatin Clinton entscheidende Stimmen zu entziehen und die Wählerschaft der Demokraten zu spalten. Der Angriff traf die USA vollkommen unvorbereitet. Ebenso gab es zahlreiche vom FBI dokumentierte Kontakte der Teams von Trump und Putin.

Das Ende der Geschichte ist bekannt: Mit Trump wurde ein Kandidat zum Präsidenten gewählt, der den Interessen des Kremls am dienlichsten war, der die NATO für „obsolet“ hielt, das außenpolitische Engagement der USA zurückfahren wollte und darüber hinaus Putin mit viel Lob bedachte.

Weiner läßt offen, ob er den heimlichen Angriff des Kremls als den entscheidenden Ausschlag für Trumps Wahl ansieht. Ebenso legt er sich nicht explizit fest, ob er Trump für einen russischen Einflußagenten hält.
Dennoch, Trump belastendes Material gibt es zuhauf. Doch sollte nicht außer Acht gelassen werden, daß Putins Trolle die politisch aufgeheizte Stimmung und die ihr zugrunde liegende jahrzehntelange Entwicklung gesellschaftlicher Spaltungen lediglich für ihre Zwecke instrumentalisieren, aber keineswegs lenken oder gar herbeiführen konnten. Es bleiben auch Zweifel an Trumps Nutzen für Russland, denn immerhin hat er sich gegen eines der wichtigsten Kreml-Projekte, die Erdgasverbindung Nord Stream 2, ausgesprochen. Dennoch, auch ohne den letzten Beweis muß unter der Last der Fakten Trumps Wahlsieg mindestens als kompromittiert angesehen werden.

Wäre Weiners Buch ein Politthriller, er wäre höchst unterhaltsam. Aber tatsächlich ist es ein beklemmendes Dokument, das auf eine für die westlichen Demokratien trübe Zukunft einstimmt, eine Zeit, in der es den Wählern immer schwerer fallen wird, die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden und dabei jede Sicherheit zu verlieren gehen droht, in ihren politischen Entscheidungen nicht Opfer einer perfiden Manipulation zu sein. Und die schlimmste Vorstellung daran: Die Marionettenspieler müssen noch nicht einmal im feindlichen Ausland sitzen – sie könnten auch aus dem eigenen Land kommen.

Tim Weiner
Macht und Wahn
Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945
2021; 352 Seiten; 26,- Euro