© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024
Mit Gotteslob im Bollerwagen
Reportage aus Thüringen: Wenige Wochen vor dem Katholikentag in Erfurt fand im Eichsfeld die größte Männerwallfahrt Deutschlands statt
Daniel Körtel
Beim Schlagen der Glocke, die die Gläubigen um neun Uhr zur heiligen Messe ruft, strömen die Pilger herbei. Bereits seit den frühen Morgenstunden füllt sich der Vorplatz der Kapelle des Wallfahrtsortes Klüschen Hagis im thüringischen Eichsfeld, wenige Kilometer südlich der Kreisstadt Heiligenstadt, die über die für den allgemeinen PKW-Verkehr gesperrte Wachstedter Straße herbeikommen. Es ist Christi Himmelfahrt, ein kirchlicher Feiertag, der in dieser katholischen Hochburg an dieser Stelle eine besondere regionale Bedeutung hat. Denn an diesem Tag findet die Tradition der größten Männerwallfahrt Deutschlands statt, zu der sich mehrere tausend Gläubige aus dem ganzen Eichsfeld versammeln.
„Selig, die den Frieden preisen“ – das im Matthäus-Evangelium hinterlegte Jesus-Wort aus der Bergpredigt ist das Motto der diesjährigen Wallfahrt. Eine naheliegende Wahl in einer Zeit, in der Kriege in Osteuropa und dem Nahen Osten toben, die aber auch erfüllt ist von gesellschaftlichen Konflikten im eigenen Land, auch von Unfrieden im eigenen Leben. Und bereits auf dem Weg wird der Pilger mit Appellen zur Selbstbefragung eingestimmt: „Wie bestimmen Vorurteile dein Verhalten?“ oder auch „Bist du neidisch auf andere?“
Der Hang zwischen der Kapelle und dem Wald ist inzwischen gut gefüllt, fast ausschließlich Männer, zu denen sich auch vereinzelt Frauen gesellen. Ein älterer Wallfahrer bestätigt auf Nachfrage den nach wie vor hohen Stellenwert dieses Ereignisses für die Region, doch mit einem Augenzwinkern weist er auf die Bier- und Imbißtände unterhalb der Kapelle hin: „Es geht nicht nur um Frömmigkeit.“ Schon während des Gottesdienstes dringt ein hörbarer Geräuschpegel durch von jenen Besuchern, denen eher am Vatertag mit Bollerwagen als an spiritueller Einkehr gelegen ist.
Auch ein Büchertisch ist vorhanden. Lagen dort in den vergangenen Jahren sogar Bücher des Linken-Politikers Gregor Gysi und der früheren protestantischen Bischöfin Margot Käßmann und zur LGBTQ-Problematik in der Kirche, so stehen dieses Mal vor allem die aktuellen Titel des Journalisten Peter Hahne und des populären Buchautors Manfred Lütz sowie des früheren Papstsekretärs Georg Gänswein im Angebot.
Erstmals eingerichtet wurde die Männerwallfahrt zum Klüschen Hagis 1957 auf Initiative des katholischen Seelsorgers Ernst Göller (1906–1996). Sie sollte die traditionellen und religiösen Selbstbehauptungskräfte des Eichsfeld gegen die Bedrängung durch das atheistische SED-Regime stärken. Weit über 10.000 Pilger kamen seinerzeit zusammen. In diesem Jahr, so teilte es der für die Wallfahrt zuständige Pastoralreferent Julian Hanstein der JUNGEN FREIHEIT mit, seien es immerhin rund 7.000 gewesen, und damit mehr als die 6.500 im vergangenen Jahr.
Zu Zeiten der DDR nutzten die Bischöfe solche Wallfahrten, um in ihren Predigten der Staatsführung „durch die Blume“ Botschaften zukommen zu lassen, zuweilen auch offene Kritik. Aber auch nach dem Ende der DDR und damit dem Verschwinden der kirchenfeindlichen Repressionen kommt dem Ereignis nach wie vor über das eigentliche kirchliche „Tagesgeschäft“ hinaus eine besondere Bedeutung zu.
So stellte der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr die im ersten Grundgesetzartikel verankerte Menschenwürde in den Mittelpunkt seiner Wallfahrtspredigt. Darin verknüpfte er die Himmelfahrt Christi mit der Menschenwürde, denn so wie Christus erhöht wurde, so auch der Mensch in seiner Würde. Davon ausgehend verteidigte er das Asylrecht als ein „heiliges Recht“ und bedankte sich „bei allen, die sich um Integration bemühen, auch im Eichsfeld“.
Des weiteren ging Neymeyr auch auf den Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche ein, allerdings in scharfer Abgrenzung von Politikern, denen es dabei nur um den „Erhalt des deutschen Volkskörpers“ ginge, und betonte stattdessen: „Jede Schwangerschaft sollte ein Grund zu Freude sein.“
Doch auch in bezug auf ein für die Kirche besonders schwieriges Thema hatte der Bischof eine Botschaft parat: „Wir müssen auch in unserer Kirche lernen, die Menschen anderer sexueller Orientierung zu respektieren“, ohne allerdings diesen Anspruch näher konkret auszugestalten. Den Gläubigen gab Neymeyr eine Warnung mit, die viele überraschte: „Wer Homosexualität vehement ablehnt, der sollte sich darauf gefaßt machen, daß eines Tages sein Sohn kommt und sich als homosexuell erklärt.“
Abschließend verwies Neymeyr auf die kürzlich erfolgte Erklärung der Bischöfe zur Demokratie, ein faktischer Unvereinbarkeitsbeschluß von Christen und der AfD, ohne daß Neymeyr allerdings die Partei beim Namen nannte.
Der politische Charakter der Predigt des Bischofs irritiert viele
Der spärliche Beifall während und am Ende der Predigt deutet darauf hin, daß sie vermutlich nicht den Anklang unter den Gläubigen gefunden hat, den sich der Bischof wohl gewünscht hatte. Ein Pilger beklagte sich währenddessen hörbar über den politischen Charakter der Predigt, die ihm vorkam wie Wahlkampf, so als ob ihm darin der Artikel eins des Grundgesetzes über die Menschenwürde erklärt würde. Er fühle sich dadurch nicht mitgenommen und wies zusätzlich auf den konservativen Charakter der Eichsfelder hin, unter denen es auch AfD-Wähler gebe: „Gilt für jene die Menschenwürde nicht?“
Doch verfügt die katholische Kirche überhaupt noch über die Autorität, um in einem ihrer besonderen Stammlande die Menschen in ihrem Sinne zu lenken? Noch zu DDR-Zeiten gab es eine feste Bindung von Amtskirche und Kirchenvolk, an der sich die SED regelrecht die Zähne ausbiß. Hierfür waren auch die intakten Familienstrukturen im katholischen Milieu hilfreich. Zwar verzichtete die Kirche auf offenen Widerstand und versuchte stattdessen hinter den Kulissen ihren Einfluß geltend zu machen. In seiner umfassenden Dissertationsschrift „Rosenkranzkommunismus“ von 2019 stellt der Historiker Christian Stöber fest, daß „die SED wieder einmal die bittere Erkenntnis [erlangte], daß eine offene Antikirchenpolitik, die sich ausdrücklich gegen den katholischen Glauben richtete, dauerhaft nur schwer bis gar nicht durchzuhalten war, wollte die Partei einen größeren und nachhaltigen politischen Schaden vermeiden.“
Und vor allem der Klerus erwies sich als besonders resistent gegen die Anwerbeversuche der Staatssicherheit. Mit ihrem Eichsfeld-Plan einer forcierten Industrialisierung sollte stattdessen die strukturschwache, von kleinflächiger Landwirtschaft geprägte Region, die als unmittelbares Grenzgebiet besonders unter der Teilung litt, so entwickelt werden, daß sie von der Fortschrittsideologie der SED überzeugt werde. Dennoch ließen sich die Eichsfelder für den Sozialismus nicht gewinnen.
Das blieb auch nach außen nicht verborgen. So war es kein Geringer als Papst Benedikt XVI., der „in seiner Jugend so viel vom Eichsfeld gehört“ habe und daher im September 2011 auf seiner Deutschland-Visite auch im Eichsfeld Station machte, um so den religiösen Selbstbehauptungswillen der Eichsfelder „in zwei gottlosen Diktaturen, die es darauf anlegten, den Menschen ihren angestammten Glauben zu nehmen“, zu würdigen.
Allerdings scheint es sich auch im Fall des Eichsfelds zu bestätigen, daß – neben anderen Gründen – nach dem Wegfall einer Diktatur und damit auch den politischen Solidarisierungseffekten, die Möglichkeiten einer freiheitlichen Demokratie ernste Auflösungserscheinungen im bislang festgefügten kirchlichen Milieu zur Folge haben.
Im November 2022 bestätigte die Seelsorgeamtsleiterin des Bistums Erfurt Anne Rademacher in der Thüringer Allgemeinen, daß inzwischen auch im Eichsfeld Kirchenaustritte und nachlassende Gottesdienstbesuche zum Alltag gehören. Im Bistum Erfurt, zu dem das Eichsfeld gehört, entfielen von 1.670 Kirchenaustritten allein 543 auf diese Region. Zu den Begründungen führte Rademacher eine an, die besonders überrascht: „Gläubige treten aus der Kirche aus, um ihren katholisch geprägten und bis dahin durchaus kirchlich gelebten Glauben erhalten zu können. Diese Menschen leiden an der Diskrepanz zwischen Glaubensleben und (manchen) Kirchenerfahrungen.“
Katholiken sind im Eichsfeld die dominierende Gemeinschaft
Das Eichsfeld gehört verwaltungstechnisch zum Bistum Erfurt. Seine Sonderstellung darin wird dadurch deutlich, daß es 53,7 Prozent (2022) der Kirchenmitglieder des Bistums stellt. Vollkommen anders hingegen stellt sich die Situation in der Stadt Erfurt selbst dar. Gemäß dem Zensus von 2011 stehen hier 13.810 Katholiken gegen 29.690 Protestanten in der Minderheit, die aber gemeinsam nicht einmal annähernd soviel aufbieten können wie die 151.680 Konfessionslosen. Demgegenüber stellt der Landkreis Eichsfeld mit 71.190 Katholiken die dominierende Konfession, während sich dort 10.940 zur evangelischen Kirche beziehungsweise 18.310 als konfessionslos bekennen.
Und doch wird Erfurt, wo der Reformator Martin Luther sein Theologiestudium absolvierte, in diesem Jahr Austragungsort des Deutschen Katholikentages sein, der vom 29. Mai bis 2. Juni stattfindet. Sein Leitwort „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ aus den Psalmen greift das Kernthema der Männerwallfahrt auf. Die erklärte Absicht des Katholikentages ist es, in Erfurt „sich für unsere gemeinsamen Werte, für Freiheit, Demokratie und eine friedliche und offene Gesellschaft einzusetzen“. Als Gäste angesagt sind unter anderem die Klima-Aktivistin Luisa Neubauer, Bundeskanzler Olaf Scholz und der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow.
Das scheint nicht viel Platz zu lassen für die Konflikte in der Kirche, innerhalb Deutschlands und mit Papst Franziskus, der im vergangenen November in einem Schreiben dem von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken angestoßenen liberalen Reformprozeß „Synodaler Weg“ eine deutliche Absage erteilte. Vor allem die angestrebte Demokratisierung kirchlicher Strukturen ist dem Papst ein Dorn im Auge, und er warnt die deutschen Katholiken davor, sich dadurch von der Einheit der Weltkirche zu entfernen.
Christian Stöber Rosenkranzkommunismus Die SED-Diktatur und das katholische Milieu im Eichsfeld 1945–1989 Ch. Links Verlag 424 Seiten, 2020 |