Über Hans Eichel (SPD) wußte seinerzeit der SPIEGEL zu berichten, daß er sich nach Übernahme des hessischen Ministerpräsidentenamtes über die ihm gegenüber sehr forsch auftretende Presse in Südhessen wunderte. In Kassel, wo er zuvor Oberbürgermeister war, seien die Journalisten sehr viel netter zu ihm gewesen. Unbestreitbar war über die Jahrzehnte in Nordhessen das Verhältnis zwischen der HNA und der Sozialdemokratie sehr innig gewesen. Das lag zum einen daran, daß die HNA eine Monopolstellung innehat und sich von daher mit keiner Konkurrenz messen mußte, aber vermutlich auch an der Erpressbarkeit ihres Herausgebers Paul Dierichs (1901 – 1996) ob seiner belasteten Vergangenheit im Dritten Reich. Doch die Zeiten und mit ihr der Zeitgeist ändern sich, und so sind nun die Grünen an die Stelle der SPD getreten, wenn es um die politischen Sympathien der HNA-Redakteure geht.
Am vergangenen Sonntag veröffentlichte WELT Online einen Bericht darüber, wie der Kasseler Bundestagsabgeordnete der Grünen, Boris Mijatovic, für Frust in der Bundeswehr sorgte. Erst kürzlich besuchte der Abgeordnete ein BW-Camp im Kosovo, wobei er jedoch nicht das Gespräch mit den „Soldat*innen der Truppe“ suchte. Ein dort stationierter Reservist beklagte bei dem stets um korrektes Gendern bemühten Mijatovic daraufhin die Mißachtung gegenüber den einfachen Soldaten:
Das Verhalten des Abgeordneten zeige ihm, so Meier, „wie weit doch die Vertreter der Politik, trotz aller Versicherungen, von uns Soldaten entfernt sind“. Er habe bei sechs Auslandseinsätzen noch nie erlebt, dass „die Soldaten vor Ort mit derartiger Missachtung behandelt“ wurden.
Er werde daraus persönliche Konsequenzen ziehen und „nicht nur, aber auch aufgrund Ihres Verhaltens nun nach über 30 Jahren Dienst für dieses Land endgültig einen Schlussstrich ziehen und auch für Reserveübungen nicht mehr zur Verfügung stehen“.
Nur zwei Tage nach der WO-Veröffentlichung durfte Mijatovic sich in der HNA vom 16.05.2023 von seiner besten Seite zeigen. In einem von dem erklärten Grünen-Sympathisanten Matthias Lohr geführten Gefälligkeitsinterview durfte er über seine Rolle als Wahlbeobachter in der Türkei Auskunft geben. Lediglich an einer Stelle erlaubte sich Lohr einen kleinen Einwand, als Mijatovic die Gelegenheit nutzte, mit einem Seitenhieb der Kasseler SPD der Türkei ähnliche manipulative Taktiken bei der Stimmauszählung zu unterstellen. Ob es ihm nur darum ging, die Genossen zu ärgern oder die türkischen Verhältnisse zu relativieren – in Kassel jedenfalls werden Grüne und SPD offenbar so schnell keine Freunde mehr.

Doch am Ende des Interviews wird es richtig interessant:
In Deutschland gehören traditionell viele Türken dem Erdogan-Lager an. Welche Eindrücke haben Sie etwa in der Kasseler Community gemacht?
Es stimmt, dass in der Vergangenheit viele Erdogan gewählt haben – wie viele in der Türkei auch. Mittlerweile gibt es hinter der Euphorie jedoch einige Fragezeichen. Auch von Deutschland aus ist die Wirtschaftskrise in der Türkei nicht zu übersehen. So wie es aussieht, wird es am 28. Mai eine ganz enge Kiste.
Mittlerweile liegen die Auszählungsergebnisse der türkischen Präsidentschaftswahlen auch für die großen Städte Deutschlands vor, und was Kassel angeht, so waren diese alles andere als „eine ganz enge Kiste“.

Während selbst im „Shithole“ Berlin Erdogan nur 49,2 Prozent holte, stand Kassel in dieser schon aussagekräftigen Auswertung mit 71,3 Prozent an dritter Stelle!
Mit anderen Worten: Der Möchtegern-Sultan hat in der türkischen Community Kassels eine seiner sichersten Bastionen. Wie jedoch läßt sich dieses Ergebnis mit dem vielbeschworenen Anspruch der nordhessischen Initiative „Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung“ und einer Stadt „für Vielfalt, Toleranz und demokratische Werte“ damit in Übereinstimmung bringen, daß ausgerechnet die größte Zuwanderergruppe mit ihrem Votum für den türkisch-islamistischen Autokraten am Bosporus zeigt, was ihr dies wert ist.
Ein Blick zurück: Im Februar 2018 durfte der Vorsitzende des Kasseler Ausländerbeirats, Kamil Saygin, eine erstaunliche Sicht auf das ansonsten als recht problematisch wahrgenommene Verhältnis zwischen Deutschen und Türken werfen:
Definieren sich die Kasseler Türken als Deutsche oder als in Deutschland lebende Türken?
SAYGIN: Die Leute sehen sich in erster Linie als Menschen. Fragen der nationalen Zugehörigkeit spielen nach meinen Beobachtungen eine untergeordnete Rolle. Vielmehr herrscht Unverständnis über diese immer wieder vorgebrachte Frage.
Aber hat nicht jeder Mensch eine nationale Identität?
SAYGIN: Die Menschen mit Zuwanderungsgeschichte definieren sich eher als Kasselerinnen und Kasseler oder Nordhessinnen und Nordhessen. Zugehörigkeit und Verwurzelung erstreckt sich für viele Menschen mit türkischem Hintergrund irgendwo zwischen Kassel, Vellmar, Baunatal, Istanbul, Izmir, Konya, Mardin, Ankara oder Trabzon.
Seit vergangenem Sonntag wissen wir, was wir von solch schönen Worten zu halten haben: Ein Märchen wie aus „1000 und eine Nacht“… Die irrealen Wunschvorstellungen eines grünen Sektierers, der „Vielfaltsanspruch“ unserer Stadt, sie sind allesamt miteinander gescheitert. Unglaubwürdig ist damit auch die HNA, die die Wahl in Kassel mit seichten Stories begleitet hat. Aufgabe einer kritischen Presse wäre es eigentlich nun, dieses Scheitern auch zu benennen und es auch selbstkritisch zu reflektieren.
Aber im Falle der HNA werden die Leser lange darauf warten müssen…