Die vergessene Pandemie

Auf dem ersten Blick erscheint es wie ein Idyll, das der amerikanische Schriftsteller Thomas Mullen in seinem Debütroman „Die Stadt am Ende der Welt“ entwirft. Angesiedelt im US-Bundesstaat Washington, der nordwestlichsten Ecke der USA mit ihren schier endlos weiten Wäldern, hat der Holzunternehmer Charles Worthy sich einen idealistischen Traum verwirklicht. In einer abgeschiedenen Ecke des Bundesstaats gründete er um sein Holzfäller- und Sägerei-Unternehmen die Stadt Commonwealth. Die Stadt soll das Gegenmodell zu den ausbeuterischen Praktiken seiner Branche sein, die wenig auf faire Behandlung und gute Entlohnung ihrer Arbeiter gibt. Und der Erfolg scheint ihm recht zu geben, denn Stadt und Unternehmen wachsen.

Denn es ist alles andere als eine gewöhnliche und gute Zeit. Es ist 1918 und die USA befinden sich seit mehr als einem Jahr an der Seite der Entente im Krieg gegen Deutschland. Immerhin, der Krieg tobt in Europa auf der anderen Seite des Atlantiks. Doch hier, in ihrem Zuhause, kündigt sich eine andere tödliche Bedrohung an, die gerade weltweit zuschlägt. Ausgehend von den frisch errichteten Militärlagern verbreitet sich die Spanische Grippe über das ganze Land. Die Opferzahlen steigen rasant, die Mediziner sind machtlos. Am Ende wird sie 20 bis 50 Millionen Menschen weltweit das Leben gekostet haben.

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Bislang blieb Commonwealth verschont. Und damit das so bleibt, verfällt Worthy auf die Idee einer Quarantäne über die Stadt, bis die Epidemie abgeklungen ist. Die Bürgerversammlung stimmt zu. Straßensperren werden errichtet, bewaffnete Wachposten aufgestellt. Doch Worthys freigeistige Ehefrau Rebecca überkommt eine düstere Ahnung:

„In Rebeccas Augen war es eine eitle Freude, denn der Mut, den sie mit dieser Abstimmung bewiesen hatten, war von zweifelhafter Natur, ein Kompromiss auf Kosten ihrer moralischen Prinzipien, der ihnen vielleicht schon bald eine schwere Bürde werden würde.“

Bis zum Ernstfall dauert es nicht lange. Ein unbekannter Soldat will des Nachts den Zugang zur Stadt erzwingen und bezahlt den Versuch mit seinem Leben. Der Sägewerksarbeiter Graham zögert nicht, den Soldaten zu erschießen. Es ist nicht nur der Beginn der nachhaltigen Verstörung seines 16jährigen Wachkameraden und Freundes Philip, Worthys Sohn. Die Quarantäne setzt eine Ereigniskette in Bewegung, an deren Ende die Stadt wie in einer Tragödie zu zerbrechen droht.

Handelte er richtig oder falsch, als Philip später einem weiteren Soldaten heimlich Unterschlupf in der unmittelbaren Nähe der Stadt gab? Hätte er wie sein Freund Graham besser den Abzug betätigen sollen, um die Stadt vor einem möglichen Überträger der Grippe zu schützen? Doch nun befindet sich Philip gemeinsam mit dem Soldaten in Quarantäne. Und schlimmer noch: Es kommt der Verdacht auf, bei dem Soldaten handelt es sich um einen deutschen Agenten. Philip versucht die Wahrheit herauszufinden. Und tatsächlich, der Soldat verbirgt ein schreckliches Geheimnis.

Philip gerät zunehmend unter Druck. Obwohl er und der Soldat die Quarantäne ohne Symptome durchlaufen haben, findet die Grippe Eingang in die Stadt und fordert ihren tödlichen Tribut. War es das vermeintlich verantwortungslose Verhalten Philips, das der Krankheit Zugang zur Stadt verschaffte?

Die eingangs befürchtete Bürde bekommt nun niemand schwerer zu spüren als Worthy:

„Charles versuchte vergeblich, sich durch seine Arbeit abzulenken. Er dachte daran, wie oft er in den letzten Monaten beim Gottesdienst gefehlt hatte, und bedauerte dies nun umso mehr, als dem zwischen seinen Gemeinden pendelnden Geistlichen wegen der Quarantäne der Zutritt zur Stadt untersagt war. Charles hatte seinen Willen dem der Stadt – seinem Traum – untergeordnet, doch empfand er nun plötzlich das beinahe wehmütige Bedürfnis, sich selbst samt seinen Ängsten etwas Höherem unterzuordnen, sofern es so etwas gab.“

Die Quarantäne allein hatte das Klima unter den Bewohnern Commonwealths bereits spürbar verändert. Trotz der jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Keimtheorie, die die Ursache von Infektionskrankheiten auf Bakterien und Viren zurückführt, spuken in den Köpfen noch die Vorstellungen eines Miasmas, einer sich auf geistigen Wegen verbreitenden Krankheit herum. Der befürchtete Ausbruch der Grippe läßt dann das Band zwischen ihnen endgültig reißen:

„Seit in Commonwealth die Grippe wütete, breiteten sich Angst und Mißtrauen unter den Einwohnern aus – Opfer zum Wohl der Allgemeinheit wollte niemand mehr bringen.“

Doch es ist nicht die Grippe allein, die sich drohend über Commonwealth erhebt. Auch die Außenwelt in ihrem Neid, ihrem Mißtrauen und ihrer Mißgunst gegenüber Commonwealth macht sich auf, den Riegel um die Stadt zu brechen. Gegen den Erfolg von Commonwealth. Gegen die als „Anarchisten“ verunglimpften Arbeitskämpfer, die sich hierher zurückzogen. Und gegen die nicht wenigen Männer, die sich der Wehrpflicht und damit dem Einsatz auf den europäischen Schlachtfeldern zu entziehen versuchen.

Mullen veröffentlichte sein Debütroman „Die Stadt am Ende der Welt“ 2006. Er selbst hatte erst in den späten 1990er Jahren von der globalen Epidemie der Spanischen Grippe erfahren und sich davon inspirieren lassen. Es war, als hätte sich bereits unmittelbar danach der Schleier des Schweigens und des Vergessens darübergelegt. Mullen fasst seine Motivation zu seinem Roman so zusammen:

„Mein großes Interesse galt den Themen, die darin mitschwingen, die konstante Spannung zwischen Individualismus und dem Gemeinwohl sowie moralischen Fragen wie die, die der sich die beiden Wachen am Anfang der Geschichte stellen müssen. Aber zu einem großen Teil lag mein Interesse darin begründet, dass dieses sehr wichtige historische Ereignis irgendwie vergessen wurde.“

Kaum verwunderlich, erlebte Mullens fesselnder Roman in 2020 eine Wiederauflage, als mit Corona eine weitere Pandemie die Welt in Atem hielt. Wer darin allerdings nach Antworten sucht, ob die Corona-Pandemie besser gehändelt wurde als die Spanische Grippe, wird enttäuscht werden, zu unterschiedlich sind vor dem jeweiligen zeitgeschichtlichen Hintergrund beide Ereignisse, zumal bei Corona noch zu viele Fragen offen sind. Doch eines wird dank Mullen deutlich: Mit der Spanischen Grippe ist damals über die Menschheit ein tödlicher Orkan hinweggefegt, der seitdem bis heute seinesgleichen sucht.

Thomas Mullen
Die Stadt am Ende der Welt
2020, 481 Seiten

DuMont Buchverlag GmbH
13,00 EUR