Der Waldgänger aus der Schweiz

Obwohl ihr Beginn keine fünf Jahre zurückliegt, scheint es, als hätte die Welt die aufreibende Zeit der Corona-Pandemie längst hinter sich gelassen. In ihre akute Phase trat die Pandemie heute vor vier Jahren ein. Am 22. März 2020, als die Bundesregierung dem Vorbild des autoritären China folgend den ersten Lockdown in der Geschichte der Bundesrepublik verhängte, war dies eine tief einschneidende Maßnahme, der noch weitere folgen sollten. Sie griff gravierend in das Leben und die Selbstbestimmungsrechte der Bürger ein. Die ökonomischen Folgen sind bis heute spürbar. Es gab kaum ein Land, das unter Berufung auf den Gesundheitsschutz, einen liberaleren Kurs in der Pandemiebekämpfung verfolgte. Kritiker wurden regelmäßig mithilfe regierungstreuer Medien als „Querdenker“ oder gar Rechtsextreme gebrandmarkt und so ins gesellschaftliche Abseits gestellt.

Eine der kritischen Stimmen, die aus dem medialen Einheitsbrei herausragten, war die des in der Schweiz lebenden Publizisten Milosz Matuschek. Sein in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlichter Kolumnentext „Was, wenn am Ende ‚die Covidioten‘ recht haben??“ (10.08.2022) war eine scharfzügige Abrechnung mit dem staatlichen Umgang mit der Pandemie:

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Im April starben Menschen an Covid-19, es wurden Ausgangssperren, Lockdowns und Schutzmaßnahmen verhängt, um eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden, die zu noch mehr Toten hätte führen können. Die Bedrohungslage bestand aus schweren Krankheitsverläufen, Hospitalisierungen, Todesgefahr. Heute muss man konstatieren: Der Kollaps des Gesundheitssystems ist nicht eingetreten, vielleicht auch dank den Maßnahmen. In Deutschland meldeten Ärzte und Kliniken Kurzarbeit für 400 000 Menschen an. Von der Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems redet inzwischen übrigens niemand mehr.

Kollabiert ist seitdem aber eines: die Kommunikation über das Virus. Das Virus entfaltet eine ungeahnte Nebenwirkung: Es befällt das Denkvermögen. Nun lautet die neue Gefahr: «Die zweite Welle ist im Anmarsch.» Besonders falsch sind da natürlich gerade Massendemonstrationen gegen die Corona-Politik wie letztes Wochenende in Berlin. Die Ansteckungsgefahr sei zu hoch. Erst versuchte man die Demonstration pauschal zu verbieten. Als das nicht klappte, rief man dazu auf, ihr fernzubleiben, es sei ohnehin nur eine Ansammlung von „Covidioten“, Rechtsextremen und Reichsbürgern. Es ist ungeheuerlich: Politiker und einige Journalisten verunglimpfen pauschal Menschen, die gegen die derzeitige Politik demonstrieren. Man ruft erneut nach dem Wolf, aber immer weniger Menschen glauben offenbar, dass er kommt. Gibt es ihn denn, den Wolf?

https://www.freischwebende-intelligenz.org/p/was-wenn-die-covidioten-recht-haben

Die Reichweite des kontroversen Textes durchschlug alle Brandmauern, die das politisch-mediale Establishment um das Thema gezogen hatte. Der NNZ jedoch war der Erfolg nicht geheuer, und sie trennte sich von Matuschek, der fortan auf seinem Blog „freischwebende-intelligenz.org“ publizierte. Von dort aus setzte er seine kritische Beobachtung des weiteren Pandemie-Geschehens fort und bündelte seine Texte in dem 2022 veröffentlichen Buch „Wenn’s keiner sagt, sag ich’s“.

Auch wenn heute in 2024 Corona abgehakt scheint, der Griff zu dem Buch lohnt sich immer noch und sollte alle paar Jahre wiederholt werden. Denn das, was seinerzeit an Maßnahmen durchexerziert wurde, verschwindet mit der Pandemie nicht aus der Welt, sondern bleibt als Möglichkeit staatlichen Handels im Raum und kann auch unter anderen Umständen wiederholt werden:

Der punktuelle Ausnahmezustand droht zum permanenten zu werden. Sicher geglaubte Errungenschaften werden gerade abgewickelt. Mich erschüttert bis heute, wie aufgeklärte Gesellschaften das haben mit sich machen lassen und es immer noch tun. Wir erleben eine Verengung der Welt.

Die Texte werden von der Gegenseite, den „Zeugen Coronas“, kaum als Diskussionsbasis akzeptiert werden. Von Matuschek aufgegriffene Begriffe wie dem von dem Gründer des World Economic Forum propagierten Great Reset – mehr als eine bloße Verschwörungstheorie – können hier nur als Trigger wirken, als gedankenbeendendes Klischee, das jede sinnvolle Debatte im Keim erstickt. Das nur als Feststellung, nicht als Kritik am Autor.

Was sich wie ein roter Faden durch fast alle Texte zieht, ist die Abrechnung mit der Rolle der Mainstreammedien in der Pandemie. So schreibt Matuschek in „Wir brauchen einen Runden Tisch für die Meinungsfreiheit“:

Man muss kein Freund oder Fan der genannten Protagonisten sein, um das Kernproblem zu verstehen: Eine Demokratie hört irgendwann auf, eine zu sein, wenn die Deutungshoheit darüber, was Wissenschaft, Journalismus oder eine faire Debatte ist, von einer Obrigkeit und ihren Helfern bestimmt wird, egal in welchen Mantel diese Obrigkeit auch immer schlüpft. Wenn der Rest der Medien diese Falle auch noch beschweigt, entsteht zudem ein gesamtgesellschaftliches Problem mit langer Zündschnur: Das Zensierte sieht man nicht, weshalb es den wenigsten akut fehlt. In der Verhaltensökonomie kennt man dieses Phänomen der Sichtfeldverengung als „WYSIATI-Effekt“ („What you see is all there is“). Doch was man nicht sieht, spürt man irgendwann: In den Debatten macht sich erst Fadheit breit und später entsteht eine Fallhöhe zwischen veröffentlichter Meinung und der Realität, die für die etablierten Medien selbst ein massives Klumpenrisiko darstellt.

Matuscheks widerständige Haltung zum übergriffigen Staat erklärt sich wohl am besten durch seine Herkunft aus dem kommunistischen Polen, aus dem seine Eltern gemeinsam mit ihm nach Deutschland geflohen sind. Seine Ausbildung als Jurist schärfte seinen Sinn für die juristische Brisanz vieler Maßnahmen der „Verordnungsdiktatur“, von denen eine ganze Reihe von Gerichten wieder einkassiert wurden.

Sein Eintreten für Julian Assange nimmt da nicht wunder. Und es ist für den Kenner der Materie kaum verwunderlich, daß Matuschek den Bogen von hier zu dem Schriftsteller Ernst Jünger zieht, dessen Essay „Der Waldgang“ (1951) ihm zu einer Inspirationsquelle wurde, wie man sich in bedrohlichen Zeiten seine Freiheit bewahrt:

Der Essay Der Waldgang ist ein Schlüsseltext auch für unsere Zeit. Ja, im Grunde jeder Zeit, die sich wie unsere auch gerade einer Zeitenwende oder einem Verfallsdatum nähert. Denn der Waldgänger ist eine Wiederkehrende Erscheinung jeder Verfallszeit. So wie Hegels Eule der Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt, so ist es der Waldgänger, der sich erst nach Einbruch der Dunkelheit manifestiert. Jünger sah in seiner Zeit einen aktiven Nihilismus am Werk, eine bewusste Umformung der Werte. Die Zeit der „neuen Normalität“ wird nach gleichem Muster von oben verkündet, als unausweichliche Notwendigkeit in Form polit-planerischer Weitsicht und Herrschaftswissen. Doch dafür müssen die Planer erst noch an den Waldgängern vorbeikommen.

Große Hoffnungen verbindet Matuschek mit dem weiteren Aufstieg der Kryptowährung Bitcoin, mit der sich Geldwirtschaft und Staat voneinander entkoppeln lassen sollen. Doch das dahinterstehende Konzept bleibt auch nach Matuscheks Ausführungen nebulös und komplex. Auch ihm gelingt es nicht, Bitcoin von dem Verdacht freizusprechen, lediglich ein leeres Versprechen zu sein, ein Instrument wie ein Perpetuum Mobile, daß aus dem Nichts Werte schaffen soll und letztlich nur auf einem Schneeballsystem beruht. Bitcoin, so warnte erst kürzlich der irische Star-Ökonom David McWilliams, sei nichts anderes als ein Computercode, hinter dem im Gegensatz zu Land oder Häusern kein greifbarer Wert stehe: „Wir haben so etwas zuvor gesehen, und jeder mit einem Sinn für Finanzgeschichte kennt die Weise, wie das endet. Und das ist nicht schön.“

Offiziell ist die Corona-Pandemie nie für beendet erklärt worden. Aber dennoch: Die meisten Menschen haben ihren Frieden mit dem Thema gemacht und für eine politisch-gesellschaftliche Aufarbeitung dieser Zeit in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß wird sich wohl kaum eine Mehrheit finden, weder unter den Politikern der Altparteien noch unter der Wählerschaft, erst recht nicht unter der Journaille. Frage: Was soll da noch die Lektüre eines Buches wie Milosz Matuscheks „Wenn’s keiner sagt, sag ich’s“?

Vielleicht weil uns dieses Thema in der Zukunft schneller wieder begegnet, als wir es uns vorstellen möchten…

Milosz Matuschek
Wenn’s keiner sagt, sag ich’s
Verlag fifty-fifty
2022, 256 Seiten
20,00 Euro

Die Echokammer im Gartensaal

Seit „9-11“ sind Verschwörungstheorien geradezu Massenerzählungen geworden. Zwar sind sie bis in das Mittelalter zurückzuführen, als die Mär die Runde machte, die Pest sei auf die Brunnen vergiftenden Juden zurückzuführen, aber erst in unserer Zeit hat die Vielzahl an Krisen eine Fülle von Überlegungen hervorgebracht, ihre verborgenen Ursachen und Nutznießer zu identifizieren. Aber sie betreffen nicht nur echte Krisen; auch die Abgasströme von Flugzeugen sind mit der Chemtrail-Verschwörung Inhalt recht amüsant-bizarrer Erklärungsversuche, die von ihren Vertretern vollkommen ernst gemeint sind. Daneben findet sich „9-11“ als Inszenierung amerikanischer Geheimdienste, zum bis heute ungeklärten Mord an JF Kennedy von 1963 oder dem umstrittenen Engagement sogenannter „Philanthropen“ wie George Soros und Bill Gates, letzterer im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.

Am vergangenen Wochenende vom 15.-17.9.2023 versuchte an der Evangelischen Akademie Hofgeismar ein interaktiver Workshop – NARRATIVE GEHEIMER WELTVERSCHWÖRUNGEN – der Natur der Verschwörungstheorien auf den Grund zu gehen und den Teilnehmern Hilfestellungen mitzugeben für den Umgang mit solchen Erzählungen in ihrem Umfeld. Um es vorweg zu sagen: Das Konzept wies einige inhaltliche Schwächen auf.

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Die von der Sozialpsychologin Jana Schneider (cultures interactive e.V.) geleitete und dem Studienleiter Michael Nann verantwortete Veranstaltung im Gartensaal des Schlösschens Schönburg war als Stuhlkreisrunde mit hoher Selbsteinbringung der Teilnehmer konzipiert. Die inhaltliche Vermittlung erfolgte durch interaktive Spiele mittels Multiple Choice oder auch in Rollenspielen. Die rund 20 Teilnehmer waren von mittlerem bis ins höhere Alter und teilweise nach Eigenaussage durch persönliche Erlebnisse im privaten Umfeld für das Thema sensibilisiert.

Schlösschen Schönburg (Evangelische Akademie Hofgeismar) /
© Daniel Körtel

Die erste Übung am Freitagabend offenbarte auch das erste inhaltliche Defizit der Veranstaltung: Die in Dreiergruppen von jedem vorgestellte, auf sich selbstbezogene einfache Sachaussage wie beispielsweise „Ich habe eine Katze“ sollte dem jeweiligen als Fake oder Fakt identifiziert werden. An dieser Stelle hätte eine Definition und Erörterung der Begrifflichkeiten „Fake und Fakt“, „Wahrheit und Lüge“ stehen müssen! Das wäre natürlich nicht ohne Risiko gewesen. Denn gerade die Corona-Pandemie hat deutlich aufgezeigt, wie schnell scheinbare Gewissheiten, die gegen alle Kritik abgeschirmt und absolut gesetzt wurden, sich eben als Fake entpuppten, sei es die Wirksamkeit der Masken, die angebliche „Tyrannei der Ungeimpften“ oder die selbst von Karl Lauterbach als nebenwirkungsfrei angepriesenen mRNA-Impfstoffe. Jakob Hayner griff hierzu in der WELT 18.3.2023 ein recht treffendes Bonmot der Querdenkerszene auf: „Was ist der Unterschied zwischen einer Verschwörungstheorie und der Wahrheit? Ungefähr zwölf Monate.“

Das Problem läßt sich auch auf andere Bereiche ausweiten: Wie viele Geschlechter gibt es? Ist ein als Frau verkleideter Mann, der sich als Frau identifiziert, tatsächlich eine Frau? Die „falsche“ Antwort kann einem teuer zu stehen kommen und sogar Karrieren ruinieren.

Doch genau diese kritische Art der Auseinandersetzung erfolgte in Hofgeismar nicht und wäre, was im weiteren Verlauf noch deutlicher wird, auch kaum erwünscht gewesen.

Teilweise fragwürdig und holzschnittartig war die Einordnung konkreter Sachverhalte in das Schema der Verschwörungstheorie. Immerhin wies man im Publikum auch auf die fragwürdigen Seiten des Finanzspekulanten George Soros, der mit seinen üblen Spekulationen ganze Währungen ins Wanken brachte, und auf den Microsoft-Begründer Bill Gates, der u.a. dem „Spiegel“ viel Geld spendete, hin. Als klassisch wurden hierzu auch die Verschwörungserzählungen um Corona gezählt, wie auch der gegenwärtige Krieg Russlands gegen die Ukraine, dessen Einordnung als Angriffskrieg durchaus zutreffend ist, aber in der stereotypen und fast schon dogmatischen Verwendung dieses Begriffs zu einer Ausblendung der komplexen Vorgeschichte und der westlichen Einmischung führt.

Mit den letzten beiden Beispielen kann auch aufgezeigt werden, daß Verschwörungserzählungen neben den von der Referentin Schneider aufgeführten zwei Funktionen auch noch eine dritte einnehmen können. Richtig ist, daß Verschwörungserzählungen zum einen der Stabilisierung des Selbstbildes ihres Verfechters dienen. Zum anderen aber auch genutzt werden zur Verfolgung wirtschaftlicher Interessen, indem die „Gurus“ der Szene die Verschwörungsgläubigen abschröpfen. Verschwörungserzählungen haben aber noch eine dritte, weitgehend unbeleuchtete Funktion, nämlich als Kampfbegriff, um sich im Sinne eines gedankenbeendenden Klischees gegen unangenehme Kritik zu immunisieren.

In gemeinsamer Runde wurden den Verschwörungsgläubigen anhand von Studien bestimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben. So seien sie pessimistischer, seien sie durch persönlich schwierige und stressige Umstände empfänglicher für Verschwörungserzählungen und kritischer gegenüber Machtstrukturen und staatliche Einrichtungen. Sie erfahren Armut oder Marginalisierung und suchen die Ursache in Einzelpersonen und nicht im System. Ein besonderer Risikofaktor sei das Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein, ein Merkmal, das allerdings nicht weniger auf die im weit linken und woken Bereich stehenden Social Justice Worriors zutrifft, die allerdings im Gegensatz zu den in der Regel rechts verorteten Verschwörungsgläubigen kaum Problematisierung erfahren.

Doch sehr fragwürdig ist die weitere Etikettierung als „wissenschaftsfeindlich“. Auch wenn Studienleiter Nann das Gegenteil behauptete, so war die Corona-Zeit durchzogen mit einer von oben bestimmten, einseitigen Schein-Debatte, in der auch mit Hilfe einer willfährigen Presse kritische Stimmen regelrecht marginalisiert und ausgegrenzt wurden.

Und noch am Morgen des gleichen Tages konnte der Berichterstatter in der WELT lesen, wie mit einseitigen, apokalyptischen Klimastudien Politik betrieben wird. Es gibt in unserer Zeit nichts dümmeres als die Parole „Folge der Wissenschaft“, besonders wenn man nicht verinnerlicht hat, daß jede wissenschaftliche Erkenntnis generell als vorläufig bis zu ihrer Verifizierung bzw. Falsifizierung anzusehen ist und selbst danach noch durch neue Methoden oder Erkenntnisse verändert werden kann.

Oder um ein polemisches Bild zu verwenden: Vor 500 Jahren war die Ansicht, die Sonne drehe sich um die Erde – und nicht umgekehrt – wissenschaftlicher Konsens, obwohl es damals durchaus Astronomen gab, die es besser wußten und aus Angst schwiegen. Und die katholische Kirche hätte mit den modernen Methoden des „false Balance“ Kopernikus besser erledigen können als mit der Drohung des Scheiterhaufens.

Doch letztlich mache die Mehrheit der Verschwörungsgläubigen bei Kundgebungen wie der Kasseler Corona-Demo vom März 2021 nur aus einem Grund mit: „Hauptsache dagegen!“ Das mag sein, doch haben die Veranstalter hier die Ambiguität übersehen. Denn genauso gut läßt sich kritisch nach der Motivation der Masse derer fragen, die dem gängigen Corona-Diskurs und den Impf-Aufforderungen folgten. Es wäre wohl kaum eine Überraschung, wenn hier die meisten von ihnen Antworten geben würden wie „Ich wollte meine Ruhe haben“ oder gar den Klassiker des autoritätshörigen Mitläufertums: „Die da oben werden es schon wissen.“

Geradezu erstaunlich ging es in der Statistik der Verschwörungsgläubigen zu. Rund jeder zweite Deutsche hat eine Neigung, solchen Erklärungsmodellen anzuhängen. Parteipolitisch fallen Anhänger der AfD dabei besonders auf (52,9 Prozent), während hingegen die Grünen-Anhänger mit nur 6,3 Prozent angeblich am unempfindlichsten sind! Das ist insofern erstaunlich, weil gerade die Grünen bei jedem Gegenwind, der ihnen entgegen bläst, eine rechte Verschwörung wittern und überhaupt die Republik gegen jede Realität kurz vor dem Kippen nach rechts sehen, einer „fossilen Lobby“ die Bekämpfung des Klimaschutzes unterstellen und sogar soweit gehen, den deutschen Sprachkundlern des 19. Jahrhunderts durch die Festlegung auf das generische Maskulinum eine Verschwörung zur Marginalisierung des weiblichen Geschlechtes zuzuschreiben. Aber wahrscheinlich wurde in den entsprechenden Studien nicht nach solchen Verschwörungsnarrativen gefragt.

Zu guter Letzt wurde in einem Rollenspiel der Umgang mit den Verfechtern von Verschwörungserzählungen geübt. Eigene Grenzen setzen, sich empathisch geben, statt das Gegenüber unter Druck zu setzen, nicht mit Fakten auf der inhaltlichen Ebene argumentieren – schnell ist man auch nach dem Eindruck mancher Teilnehmer hier in der als unangenehm empfundenen Rolle des Therapeuten. Die Vorgaben des Rollenspiels trieften geradezu vor Klischees:

„Vor dir sitzen Peter (59), Lastkraftwagenfahrer aus Sachsen, und seine Tochter Annika (26), Kunststudentin in Düsseldorf. Früher haben die beiden in der familiären Werkstatt jeden Sonntag Metallfiguren gebastelt und geschweißt. Seit Annika zum Studium weggezogen ist, haben die beiden sich merklich entfremdet, sowohl in Alltagsfragen als auch in ihren Weltanschauungen. Beide wünschen sich, dass sich ihre Beziehung wieder verbessert und sind belastet durch die aktuelle Situation. (….)“

Und der Abschluss der Veranstaltung machte den Eindruck, womit man es in diesem interaktiven Workshop eigentlich zu tun hatte, endgültig rund: In der Auflistung der Anlaufstellen, wo man sich wegen Verschwörungstheorien hinwenden kann, standen auch die „Faktenchecker“ von Correctiv wie auch die Amadeu-Antonio-Stiftung.

Verschwörungstheorien zur Welterklärung können durchaus einen problematischen Charakter annehmen, vor allem wenn sie vollkommen absurden Inhaltes sind und zum tragenden Element für das eigene Selbstbild werden und den Betreffenden in eine Tunnelperspektive führen, mit durchaus beträchtlichen negativen Auswirkungen für das soziale Leben. Hierfür stehen beispielhaft fundamentalistische Sekten wie die Zeugen Jehovas, für die Verschwörungstheorien konstitutiv sind. Auch schreiben die Verfechter von Verschwörungstheorien den jeweiligen Akteuren eine derart außerordentliche Macht die Dinge zu lenken zu, die der Komplexität des Lebens regelrecht widerspricht. Jedoch sind Verschwörungstheorien oft identisch mit tatsächlichen Verschwörungen, wenn sie sich als wahr erweisen. Die Grenze ist fließend und kann sich bei neuen Erkenntnissen verschieben.

Das beste Beispiel hierfür ist Corona, wo sich Referentin, Tagungsleiter wie Teilnehmer des Workshops offenbar noch in den ausgetretenen Bahnen eines längst überholten Diskurses bewegten. So war eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Verschwörungstheorie und wer solchen Erzählungen aus welchen Motiven anhängt, nicht zu erwarten. Da konnte der Gartensaal des Schlösschens Schönburg zwangsläufig nur zur Echokammer werden.

Gesundbrunnen (Evangelische Akademie Hofgeismar) / © Daniel Körtel

Die Freiheit zurückerobern

„COVID-19 ist ein Anfang. Es ist nicht die erste weltumspannende Epidemie, auch nicht die schlimmste und gewiss nicht die letzte. Dennoch markiert die Krise den Beginn einer neuen Zeit: die Welt ist so eng, die Technologie so wirkmächtig, die Angebote an Wissen, an Möglichem, und an Deutung sind überwältigend geworden und schwanken so, dass unser Denken oft nicht mehr hinterherkommt und unser Handeln seinen Kompass zu verlieren droht. Die bereits bekannten Kollateralschäden sind selbstmordgefährdete Kinder, eine Verrohung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die weitere Verelendung der Elenden in der Welt. Die Krankheit unserer Zellen erweist sich als Erkrankung des Geistes, des Gewissens, der Gesellschaft.“

Ole Döring, „Wie kommen wir vor die Welle?“ (aus: Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“, Hrsg. Sandra Kostner und Tanya Lieske)

Keine andere Krise der vergangenen Jahrzehnte seit Ende des Zweiten Weltkriegs war mit derartigen Freiheitseinschränkungen verbunden wie die Corona-Pandemie. Um das Virus an seiner weiteren Ausbreitung zu hindern und damit die Zahl der tödlichen Krankheitsverläufe zu reduzieren, übernahmen fast alle Staaten der westlichen Welt die Methoden aus dem totalitären China, aus der das Virus stammte. Doch es sollte nicht bei den Lockdowns des öffentlichen Lebens bis hin zum Verbot, auf einer Parkbank sitzend ein Buch zu lesen, bleiben.

Bis dahin sollte keine andere Maßnahme tiefer in das medizinische Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen eingreifen, wie die von zahlreichen Medien durch moralisierende Narrative flankierte Impfpflicht, mit der alle Menschen durch einen bis dahin kaum erprobten Impfstoff gegen das Corona-Virus immunisiert werden sollten.

Letztendlich blieb es nur bei der Absicht und die Impfpflicht wurde nur bestimmten Berufsgruppen auferlegt. Doch die bizarren Wortmeldungen eines Boris Palmer nach Beugehaft und Rentenkürzungen für Impfverweigerer, für die er im Gegensatz zu seiner aktuellen „Neger“-Äußerung keine Konsequenzen tragen mußte, lassen erahnen, wie sehr sich durch Corona in unserer politischen Klasse die totalitäre Versuchung ausgeprägt hat.

Nach dem Abflauen der Pandemie stellt sich nun heraus, die Impfung war keineswegs ein „Game-Changer“ und schon gar nicht nebenwirkungsfrei. Die Zuschreibung der Ungeimpften als unsolidarische Pandemietreiber hatte eine reine Sündenbock-Funktion. Immens waren die durch die teilweise rechtswidrigen Maßnahmen angerichteten sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kollateralschäden. Über die als „Schwurbler“, „Covidioten“ und „Coronaleugner“ verunglimpfte Gruppe der Maßnahmenkritiker hinaus sind sich immer mehr Menschen unsicher geworden: War diese Pandemie diesen Verlust an Freiheit wert?

Freiheit für einen selbst oder Sicherheit für alle anderen? [Netzfund]

Diese Frage stellten sich auch 2022 die Publizistin Tanya Lieske und die Historikerin Sandra Kostner. Noch in der Endphase der Pandemie sammelten sie 15 Essays, die sie in dem Band „Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“ zusammenfassten, der im Herbst desselben Jahres erschien.

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Der Untertitel verspricht eine „interdisziplinäre Essaysammlung“, ein Anspruch, der leider nur eingeschränkt eingehalten wird. Zwar verfügen die Autoren über jeweils beachtliche professionelle Hintergründe aus den Geisteswissenschaften. Doch einen Fachmann mit medizinisch-naturwissenschaftlichem Background, vielleicht sogar aus der Epidemiologie oder Virologie sucht man darunter leider vergebens. Doch das schmälert den Wert der Beiträge keineswegs. Auf allgemeinverständliche Art wird die staatliche Pandemiebekämpfung unter den Aspekten der Freiheit und den Möglichkeiten einer Versöhnung der durch die Pandemie gespaltenen Gesellschaft beurteilt. Ein auffallendes und auch gravierendes Defizit ist das Fehlen eines Beitrags, der sich explizit mit dem politisch-medialen Komplex beschäftigt, der die entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der Coronamaßnahmen wie auch bei der Vermittlung des Krisenbildes hatte, in der Regel ohne diese kritisch zu hinterfragen.

Die Wissenschaft galt vorgeblich immer als Richtschnur in der Pandemiebekämpfung und überschritt dabei immer wieder ihre Grenzen, z.B. wenn sie „sich anmaßt, über den Grundrechten zu stehen und darüber zu entscheiden, wem diese zukommen und wem nicht“. Der Philosoph Michael Esfeld konstatiert daraus in seinem Essay „Freiheit und Wissenschaft“ die „Selbstzerstörung von Wissenschaft“, verbunden mit der fatalen Gefahr einer Abkehr der Menschen von derselben. Esfeld rät zur Rückkehr zum Respekt für der Vorrang der Selbstbestimmung und der Grundrechte der Menschen. Das Interesse der Wissenschaft, nach Esfeld, ist „Erkenntnisse zu gewinnen und Wahrheit über Tatsachen zu gewinnen“.

Bereits der lange Titel des von dem Psychologen Boris Kotchoubey eingereichten Essays – „Von ‚Wissenschaft und Religion‘ und ‚Wissenschaft gegen Religion‘ zu ‚Wissenschaft als Religion‘“ – läßt keine Fragen über sein Thema offen. Kotchoubey zeigt auf, wie schmal in unserer Zeit der Grat zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft geworden und selbst Wissenschaftler die Grenzen wie auch die Begrenztheit ihrer Aussagen oftmals nicht mehr zu erkennen vermögen:

Wer nicht mehr den Unterschied zwischen Glauben und Wissen begreift, nimmt seine Annahmen nicht mehr als Annahmen, d.h. als etwas nur Geglaubtes. „Wer nicht weiß, dass er glaubt, der glaubt, dass er weiß.“ Damit wird die wichtigste Eigenschaft eingebüßt, die einen Experten von einem Laien unterscheidet, nämlich das klare Bewusstsein für die Grenzen seiner Expertise. Daher kommt das typische Phänomen der letzten Jahre: der fanatische Glaube der Wissenschaftler an ihre Modelle. Das säkularisierte Hirn ist unfähig einzusehen, dass ein mathematisches oder physikalisches Modell immer auf Annahmen beruht, und dass, wenn nur eine dieser zugrunde liegenden Annahmen falsch ist, das Modell keinen Pfennig mehr wert ist, egal wie gut es berechnet wurde: „garbage in, garbage out.“

Den Mißbrauch des Begriffes „Solidarität“, mit dem Regierungsvertreter für die Akzeptanz der Freiheitseinschränkungen warben, prangert die Islamwissenschaftlerin Agnes Imhof an („Solidarität und Menschenwürde. Autoritarismus entlarvt durch sein Menschenbild“). Diese Solidarität wurde nicht freiwillig erbeten, sondern – was Imhof problematisiert – „mittels Sanktionen eingefordert“ und warnt: „Wo das Gemeinwohl dem Einzelnen übergeordnet wird, läßt sich prinzipiell jede Grausamkeit rechtfertigen.“ Ihr Fazit des die Grundrechte des Individuums und damit seine Menschenwürde negierenden Staates fällt drastisch aus:

„Wer Solidarität also gegen Menschenwürde ausspielt, verlässt das Territorium freiheitlich-demokratischer Anthropologie. Denn Solidarität ist nur unter freien Individuen möglich. Alles andere nennt man nicht Solidarität. Sondern Sklaverei.“

Herausgeberin Sandra Kostner dürfte unter allen Beiträgern am bekanntesten sein. Zu ihrer Vita zählen die Zusammenarbeit mit dem Migrationsforscher Stefan Luft, der dem Konsens seines Faches einer „Bereicherung durch Migration“ teilweise kritisch gegenübersteht, sowie ihrer Mitgliedschaft in dem von ihr gegründeten „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, das gegen die Instrumentalisierung und Vereinnahmung durch ideologische Interessen streitet. Auch vor einem Auftritt in der vom Mainstream argwöhnisch und mit gewissem Neid beäugten Sendung „Talk im Hangar-7“ des Senders Servus-TV schreckt sie nicht zurück. All das ist mehr als ausreichend, sie in den Augen des Mainstreams „höchst verdächtig“ zu machen, eine Vorstufe vor dem Label „umstritten“.

Sandra Kostner in „Talk im Hangar-7“

In „Droht ein gesellschaftliches Long Covid?“ fragt die Historikerin nach den langfristigen gesellschaftlichen Folgen über die Pandemiezeit hinaus durch eine Sündenbock-Politik, die Ungeimpften in einer teils drastischen und affektgeladenen Rhetorik („Tyrannei der Ungeimpften“) ihre Rechte absprach:

Zwei Jahre, in denen Politiker, unterstützt von Medien, Institutionenvertretern und Wissenschaftlern, leichtfertig die Geister „Ausgrenzung und Verunglimpfung Andersdenkender“ und „Allgemeinwohlideen schlagen individuelle Freiheitsrechte“ aus der Flasche ließen, haben zu beträchtlichen sozialen Verwerfungen geführt. Mit anderen Worten: Es wurde der Boden für ein gesellschaftliches Long Covid bereitet.

Der Geist ist aus der Flasche, wie bekommen wir ihn wieder hinein, wie sind die gesellschaftlichen Gräben zu überwinden? Hier spielt der Begriff der Versöhnung hinein, mit dem sich der Philosoph Henning Nörenberg beschäftigt („Die Spaltung der Gesellschaft in Zeiten von COVID-19. Worin sie besteht und wo Ansätze zu ihrer Überwindung liegen“). Er empfiehlt die Suche nach Gemeinsamkeiten – z.B. die Ohnmachtserfahrungen in dieser Zeit – zwischen zwei Lagern, die keineswegs so homogen und damit voneinander verschieden sind, wie es auf dem ersten Blick erscheint. Doch bis jetzt sieht es eher danach aus, als ob die Zeit der Pandemie unter den Tisch gekehrt werden soll, Nörenbergs Wunsch nach Versöhnung nur ein frommer Wunsch bleibt, denn vor allem die politisch verantwortlichen Akteure zeigen wenig Interesse daran, daß das Thema weiterhin im öffentlichen Bewußtsein bleibt. Eindeutigstes Indiz dafür ist die Ablehnung eines AfD-Antrags auf Einrichtung eines Corona-Untersuchungsausschusses im Bundestag im vergangenen April.

Geradezu verblüffende historische Analogien zeigt der Osteuropa-Historiker Klaus Buchenau auf. Die Einführung neuer Formen in der Liturgie führte in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu einer Abspaltung der Altgläubigen von der Russisch-Orthodoxen Kirche. Verlauf und Entwicklung dieser Bewegung sowie ihr Verhältnis zum religiösen Mainstream weisen interessante Ähnlichkeiten zu der zeitlich wesentlich geraffteren Pandemie auf („Roskol – Spaltung auf Russisch. Corona im Spiegel eines historischen Beispiels“).

Mit dem weiteren Abklingen der Corona-Pandemie verlieren die Beiträge aus „Pandemiepolitik“ keineswegs an Wert – im Gegenteil: Auch für die Abwehr künftiger „Zumutungen“ (Robert Habeck) bieten die Beiträge in „Pandemiepolitik“ einen gewaltigen Fundus an Argumenten, so auch in der Betrachtung von Worst-Case-Szenarien, dem Wert der Bildungspolitik und der Monofokalität, also der Verengung des Blickwinkels.

Die Übergriffigkeiten staatlicher wie nichts-staatlicher Akteure haben Pflöcke eingeschlagen, die für die Zukunft nichts Gutes erwarten lassen. Schon während der Pandemie wurde deutlich kommuniziert, daß die sogenannte, medial gehypte „Klimakrise“ sich als weiteres Betätigungsfeld zur Zwangsbeglückung der Bürger und damit einem weiteren Freiheitsentzug anbietet. Die irrationale Energiewende der Ampel-Regierung und damit verbunden vor allem die teuren Gesetzesvorschläge aus dem Hause des Wirtschaftsministers Habeck zum verpflichtenden Heizungsaustausch sind das erste drohende Wetterleuchten dieser unangenehmen Wahrheit.

Sandra Kostner, Tanya Lieske (Hrsg.]
Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?:
Eine interdisziplinäre Essaysammlung
(Klartext. Schriften zu Politik und Gesellschaft)
ibidem
Oktober 2022
210 Seiten; 24,- Euro

 

 

Wenn Science-Fiction zur Realität wird

LONDON BEREITET SICH AM JAHRESTAG DES MEDIKATIONSGESETZES AUF MASSENPROTESTE VOR

Zum neunzehnten Jahrestag der Einführung des Medikationsgesetzes wurden in der Hauptstadt die Sicherheitsvorkehrungen verdoppelt. Groß angelegte Demonstrationen zugunsten des Rechts von über Siebzigjährigen auf Antibiotika werden überall im ganzen Land erwartet. Im vergangenen Jahr haben sich mehr als eine Millionen Menschen zu „Die-ins“ vor Krankenhäusern, Verkehrsknotenpunkten und Regierungsgebäuden zusammengefunden, in deren Zuge mehrere Städte lahmgelegt wurden.

Das umstrittene Medikationsgesetz, das als Notverordnung während der Großen Krise verabschiedet worden war, hatte zum Ziel, das exponentielle Wachstum von Antibiotikaresistenzen einzudämmen und die Dauer der Einsatzfähigkeit neuer Medikamente zu verlängern. Es stützte sich auf die Ergebnisse von Reihenuntersuchungen, die darauf hinwiesen, dass ältere Patienten wegen der längeren Verwendung von Antibiotika und ihrer erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten vermehrt zu antimikrobiellen Resistenzen neigen. Aktivisten zweifeln diese Studien an und erklären, sie seien nicht mehr glaubhaft und dienten lediglich als pseudowissenschaftlich untermauerter Vorwand. Sie behaupten, dass die wahren Motive damals finanzieller Natur waren – und es immer noch sind.

„Der Genozid an Senioren muss aufhören“, sagt die achtundsechzigjährige Organisatorin der Demonstration, Tessa Beecham. „Wir alle haben ein Anrecht auf Behandlung, egal, wie alt wir sind. Die Medikamente sind verfügbar, die Regierung will nur nicht für sie bezahlen. Wir werden nicht ruhen, bis sie dieses unmenschliche und unnötige Gesetz aufheben.“

Aus: „Der letzte Weg“; Eve Smith

Gute Science-Fiction vermag gegenwärtige Trends aufzuspüren und ihre Entwicklung in der Zukunft vorauszuschauen. Ein perfektes Beispiel hierfür ist „Das Heerlager der Heiligen“ des Franzosen Jean Raspail, der bereits 1973 geradezu visionär die heutige Massenmigration aus der Dritten Welt nach Europa literarisch vorwegnahm. Doch es kann auch der Fall eintreten, daß ein Science-Fiction-Roman, kaum auf dem Markt, von der Dynamik einer Entwicklung, die er prognostiziert, überrollt wird. Ein derartiger Fall liegt mit „Der letzte Weg“ der Britin Eve Smith vor.

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Wir alle kennen die segensreiche Wirkung von Antibiotika. 1928 entdeckte der britische Bakteriologe Alexander Fleming die bakterizide Wirkung des Schimmelpilzes Penicillin, was eine regelrechte Revolution in der Medizin auslöste. Von da an ging von alltäglichen Infektionen, der so viele Menschen zum Opfer fielen, kein Schrecken mehr aus. Fleming warnte jedoch bereits vor einer Zeit, in der die Antibiotika drastisch an Wirksamkeit verlieren könnten, weil Bakterien im Laufe der Zeit Resistenzen entwickeln würden. Die Gefahr ist mit dem Auftreten multiresistenter Keime bereits real geworden, gleichwohl in der ärztlichen Praxis gerade noch beherrschbar.

Smith jedoch führt in eine gar nicht so ferne Zukunft, in der sämtliche Antibiotika in der „Großen Krise“ wirkungslos geworden sind. Mitverantwortlich hierfür ist die massenhafte Anwendung der Antibiotika, auch in der Mastzucht, aus der sich resistente Keimstämme entwickeln können. Infektionen greifen um sich und führen zu Massensterben. Selbst die kleinste Entzündung, die scheinbar harmloseste Schnittverletzung wird zur tödlichen Gefahr. Erkrankte werden zwecks Eindämmung isoliert. Die Lebenserwartung sinkt rapide. Der überwunden geglaubte Schrecken vergangener Tage ist wieder präsent.

Damit einhergehend erfährt auch die Gesellschaft einen Wandel. Jahrzehnte später errichtet der Staat im Rahmen der Infektionskontrolle ein die individuellen Freiheiten drastisch einschränkendes Kontrollregime. Haustiere sind inzwischen fast ausnahmslos als potentielle Krankheitsüberträger gekeult worden. Für über 70jährige gibt es nur noch eingeschränkte medizinische Hilfe. Die Lebenserwartung ist rapide gesunken. Sterbehilfe in Krankenhäusern ist normale Praxis, gleichwohl von der Bevölkerung nicht uneingeschränkt akzeptiert. Überhaupt regt sich zunehmend Widerstand gegen das Gesundheitsregime. Doch immerhin, ein Gutes hat diese Zeit: Die Viehwirtschaft wurde auf Bioproduktion umgestellt, was Fleisch aber zur raren und teuren Ware macht.

In dieses Szenario bettet Smith die Geschichte von Mary/Lily und Kate ein. Kate ist eine Krankenschwester, die aber weniger in der Pflege als in der Sterbebegleitung eingesetzt wird. Sie ist auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie kurz vor ihrer Geburt zur Adoption freigab. Ihre Mutter Mary wiederum lebt in einem britischen Seniorenheim. Zu ihrem Schutz gab sie sich eine neue Identität als Lily. Denn sie ist verwickelt in politische Aktivitäten während der Zeit des Ausbruchs der „Großen Krise“, als die Regierung ihre Rolle in einem Medizin-Skandal vertuschte. Und genau deswegen sind noch andere als ihre Tochter Kate auf der Suche nach ihr.

Smiths Debütroman erschien 2020 (deutsche Erstausgabe 2022), mitten im Beginn der Corona-Pandemie, die die Welt rund drei Jahre in Atem halten sollte; eine geradezu kuriose Koinzidenz. Allzu vertraut erscheint daher dem Leser der Plot von der „Großen Krise“ und der Atmosphäre jener Zeit, die ihr folgt. Ihr Roman enthält im Grunde genommen fast alles, was wir auch in der Corona-Pandemie kennenlernen durften. Tatsächlich ist in Großbritannien auf dem Höhepunkt der Pandemie selbst die Tötung aller Hauskatzen erwogen worden! Aber ist das dann noch Science-Fiction?

Auf der deskriptiven Ebene leistet Eve Smith solide Arbeit. Die detaillierte Szene zu Beginn, in der sie Marys Assistenz einer Sterbehilfe-Zeremonie schildert, der lebensmüde Patient, die verzweifelten Angehörigen und das formelle Prozedere wirken beklemmend authentisch. Sofort denkt der kundige Leser und Kineast an eine ähnliche Szene aus dem Kultfilm „Soylent Green“ (1973). Dennoch wirkt Smiths Darstellung keineswegs wie eine Kopie.

Daher ist die Lektüre von „der letzte Weg“ eine gewisse Herausforderung, da Smith auf eine lineare Erzählweise verzichtet, und stattdessen auf verschiedenen Zeitebenen, in denen die Protagonisten gleichberechtigt auftreten, munter hin und her springt, bevor am Ende alle Fäden wieder zusammenfinden.

Als inhaltliches Defizit muß der Mangel an Tiefenschärfe genannt werden. Die verpasste Chance, die Implikationen eines Gesundheitsregimes wie in ihrem Buch in Bezug auf dessen Menschenbild, ein politisches Herrschaftsverständnis und ein umfassenderes Bild der Gesellschaft auszuloten, ließ die Autorin leider ungenutzt. Über das Niveau eines mittelmäßig spannenden Thrillers kommt die Geschichte somit leider nicht hinaus.

Eve Smith
Der letzte Weg
Heyne
448 Seiten; 15,- Euro