© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021
Heimat ist das, was gesprochen wird
Kulturpreis Deutsche Sprache: Der Jacob-Grimm-Preis ging in diesem Jahr an die Schriftstellerin Herta Müller
Daniel Körtel
Es ist wie ein Zeichen des kulturellen Aufbruchs nach dem langen Corona-Lockdown, daß endlich wieder öffentliche Preisverleihungen stattfinden können. Gerade rechtzeitig für den Kulturpreis Deutsche Sprache, der am vergangenen Samstag vor einem pandemiebedingt kleinen Publikum im Blauen Saal der Stadthalle Kassel verliehen wurde und zu diesem Anlaß sein 20. Jubiläum feiern konnte.
Der vom Verein Deutsche Sprache (VDS) und der Helmut-Schöck-Stiftung getragene Kulturpreis fällt zum einen in den undotierten Institutionenpreis, der dieses Jahr an die Wissenschaftssendung „Wissen macht Ah!“ des Westdeutschen Rundfunks ging. Zum anderen erhielt für ihre Leistungen um die deutsche Sprache den mit 30.000 Euro verbundenen Jacob-Grimm-Preis die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller; es ist der am höchsten dotierte Sprachpreis in Deutschland. Der Initiativpreis über die Verdienste in der Verwendung eines klaren und verständlichen Deutschs, dessen Träger über einen Poetry-Slam „Zauberwort“ ermittelt werden sollte, konnte mangels qualifizierter Bewerber bezeichnenderweise nicht vergeben werden.
Verhöre durch die rumänische Geheimpolizei
In seinem Grußwort erinnerte Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) an den Namensgeber des Hauptpreises, Jacob Grimm (1785–1863), und seinen Beitrag zur Stadtidentität. Gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm – sie verbrachten viele Jahre ihres Lebens in Kassel und sammelten hier ihre ersten Märchen – begann Jacob die Arbeit an dem ersten deutschen Wörterbuch.
Weiterhin warnte Geselle vor Mißbrauch und Beugung der Sprache durch „Haß und Hetze“. Die Verrohung der Sprache, so Geselle in Anspielung auf den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, könne „zu grausamen Taten führen“. Ebenso wies er auf die Großdemonstration von Querdenkern in Kassel im vergangenen März hin. Dagegen sei entschieden Haltung zu zeigen, gegen Haß und Unterdrückung, genauso wie es die Brüder Grimm taten.
In ihrer Laudatio auf den Träger des Institutionenpreises für die Bemühungen um die Verwendung eines klaren und verständlichen Deutschs lobte Jury-Mitglied Anke Sauter die WDR-Sendung „Wissen macht Ah!“, die sich an Kinder ab acht Jahren richtet. In ironisierender Brechung des Begriffes „Klugscheißer“ würden dem jugendlichen Publikum durch eine „klare und klug eingesetzte Sprache“ Redewendungen und die Semantik von Fachbegriffen erklärt. Dabei schrecke das Moderationsteam vor keiner Peinlichkeit zurück, „ein bißchen verrückt, ein bißchen eklig“. Dies sei eine witzige Art der kindgerechten Wissensvermittlung, von der man auch als Erwachsener noch viel lernen könne.
Der Historiker und frühere Berliner Wissenschaftssenator Christoph Stölzl zog in seiner Laudatio auf die Hauptpreisträgerin Herta Müller (68) eine Linie vom Freiheitsverständnis Jacob Grimms, der als Abgeordneter der ersten Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche die gesetzliche Freilassung aller auswärtigen Sklaven auf deutschem Boden forderte, zu Herta Müller, die als Angehörige der Banater Schwaben in Konflikt mit dem rumänischen Ceausescu-Regime geriet. Erst nach ihrer Ausreise in die Bundesrepublik 1987 fielen die Ketten der Sklaverei von ihr ab; ihre geistigen Ketten habe sie bereits vorher abgelegt. Ihre „kompromißlose Literatur“, in der sie unter anderem in ihrem Hauptwerk „Atemschaukel“ (2009) in einer „Autotherapie“ gegen das postkommunistische Vergessen in Osteuropa ankämpfe, lobte Stölzl als „Sprachkunstwerke von solcher Makellosigkeit, daß einem die Augen ausfielen“. Besonders im Jahr des Mauerfalls 1989 sei sie die richtige Stimme zur richtigen Zeit gewesen.
In ihrer Dankesrede reflektierte Müller anhand ihrer Verhöre durch die rumänische Geheimpolizei Securitate über die Ambivalenz des Gesprochenen, in denen ihre Sätze „nie die richtigen, sondern sogar die falschen“ sein konnten. „Wörter haben im Verhör das schwerste Gewicht“, so Müller. Man sei an sie gebunden wie an der Leine an einem Pflock. „Gehörte mir ein Wort, weil sie es umdrehen konnten und weil es die Seiten wechseln kann?“ Die Situation des Verhörs sei für sie, was Sprache betrifft, die undurchschaubarste gewesen. „Beim Verhör glüht das Sprechen im Mund und das Gesprochene gefriert.“ Müller schloß mit einem Zitat des spanischen Schriftstellers Jorge Semprún: „Nicht die Sprache ist Heimat, sondern was gesprochen wird.“
Der Weg vom Blauen Saal des Kongreß Palais zum Ort, an dem die Sprache zum Schlachtfeld ideologischer Kulturkämpfe geworden ist, war auch an diesem Nachmittag nicht sehr weit: Auf dem Vorplatz hatten linke Demonstranten ihren Protest gegen die Preisverleihung mit Kreide auf dem Straßenpflaster ausgedrückt: „Offen für Vielfalt, geschlossen gegen den VDS“, „Genderstern statt Nazikern“ oder auch „Kein Platz für völkische Populist*innen!“ Der Protest weckte Erinnerungen an die Kinderbuchautorin Kerstin Boie, die im vergangenen Jahr die Annahme des Preises ablehnte, weil sie dem VDS-Bundesvorsitzenden Walter Krämer angebliche rechtspopulistische Äußerungen vorwarf.