Der Waldgänger aus der Schweiz

Obwohl ihr Beginn keine fünf Jahre zurückliegt, scheint es, als hätte die Welt die aufreibende Zeit der Corona-Pandemie längst hinter sich gelassen. In ihre akute Phase trat die Pandemie heute vor vier Jahren ein. Am 22. März 2020, als die Bundesregierung dem Vorbild des autoritären China folgend den ersten Lockdown in der Geschichte der Bundesrepublik verhängte, war dies eine tief einschneidende Maßnahme, der noch weitere folgen sollten. Sie griff gravierend in das Leben und die Selbstbestimmungsrechte der Bürger ein. Die ökonomischen Folgen sind bis heute spürbar. Es gab kaum ein Land, das unter Berufung auf den Gesundheitsschutz, einen liberaleren Kurs in der Pandemiebekämpfung verfolgte. Kritiker wurden regelmäßig mithilfe regierungstreuer Medien als „Querdenker“ oder gar Rechtsextreme gebrandmarkt und so ins gesellschaftliche Abseits gestellt.

Eine der kritischen Stimmen, die aus dem medialen Einheitsbrei herausragten, war die des in der Schweiz lebenden Publizisten Milosz Matuschek. Sein in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlichter Kolumnentext „Was, wenn am Ende ‚die Covidioten‘ recht haben??“ (10.08.2022) war eine scharfzügige Abrechnung mit dem staatlichen Umgang mit der Pandemie:

Weiterlesen

Im April starben Menschen an Covid-19, es wurden Ausgangssperren, Lockdowns und Schutzmaßnahmen verhängt, um eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden, die zu noch mehr Toten hätte führen können. Die Bedrohungslage bestand aus schweren Krankheitsverläufen, Hospitalisierungen, Todesgefahr. Heute muss man konstatieren: Der Kollaps des Gesundheitssystems ist nicht eingetreten, vielleicht auch dank den Maßnahmen. In Deutschland meldeten Ärzte und Kliniken Kurzarbeit für 400 000 Menschen an. Von der Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems redet inzwischen übrigens niemand mehr.

Kollabiert ist seitdem aber eines: die Kommunikation über das Virus. Das Virus entfaltet eine ungeahnte Nebenwirkung: Es befällt das Denkvermögen. Nun lautet die neue Gefahr: «Die zweite Welle ist im Anmarsch.» Besonders falsch sind da natürlich gerade Massendemonstrationen gegen die Corona-Politik wie letztes Wochenende in Berlin. Die Ansteckungsgefahr sei zu hoch. Erst versuchte man die Demonstration pauschal zu verbieten. Als das nicht klappte, rief man dazu auf, ihr fernzubleiben, es sei ohnehin nur eine Ansammlung von „Covidioten“, Rechtsextremen und Reichsbürgern. Es ist ungeheuerlich: Politiker und einige Journalisten verunglimpfen pauschal Menschen, die gegen die derzeitige Politik demonstrieren. Man ruft erneut nach dem Wolf, aber immer weniger Menschen glauben offenbar, dass er kommt. Gibt es ihn denn, den Wolf?

https://www.freischwebende-intelligenz.org/p/was-wenn-die-covidioten-recht-haben

Die Reichweite des kontroversen Textes durchschlug alle Brandmauern, die das politisch-mediale Establishment um das Thema gezogen hatte. Der NNZ jedoch war der Erfolg nicht geheuer, und sie trennte sich von Matuschek, der fortan auf seinem Blog „freischwebende-intelligenz.org“ publizierte. Von dort aus setzte er seine kritische Beobachtung des weiteren Pandemie-Geschehens fort und bündelte seine Texte in dem 2022 veröffentlichen Buch „Wenn’s keiner sagt, sag ich’s“.

Auch wenn heute in 2024 Corona abgehakt scheint, der Griff zu dem Buch lohnt sich immer noch und sollte alle paar Jahre wiederholt werden. Denn das, was seinerzeit an Maßnahmen durchexerziert wurde, verschwindet mit der Pandemie nicht aus der Welt, sondern bleibt als Möglichkeit staatlichen Handels im Raum und kann auch unter anderen Umständen wiederholt werden:

Der punktuelle Ausnahmezustand droht zum permanenten zu werden. Sicher geglaubte Errungenschaften werden gerade abgewickelt. Mich erschüttert bis heute, wie aufgeklärte Gesellschaften das haben mit sich machen lassen und es immer noch tun. Wir erleben eine Verengung der Welt.

Die Texte werden von der Gegenseite, den „Zeugen Coronas“, kaum als Diskussionsbasis akzeptiert werden. Von Matuschek aufgegriffene Begriffe wie dem von dem Gründer des World Economic Forum propagierten Great Reset – mehr als eine bloße Verschwörungstheorie – können hier nur als Trigger wirken, als gedankenbeendendes Klischee, das jede sinnvolle Debatte im Keim erstickt. Das nur als Feststellung, nicht als Kritik am Autor.

Was sich wie ein roter Faden durch fast alle Texte zieht, ist die Abrechnung mit der Rolle der Mainstreammedien in der Pandemie. So schreibt Matuschek in „Wir brauchen einen Runden Tisch für die Meinungsfreiheit“:

Man muss kein Freund oder Fan der genannten Protagonisten sein, um das Kernproblem zu verstehen: Eine Demokratie hört irgendwann auf, eine zu sein, wenn die Deutungshoheit darüber, was Wissenschaft, Journalismus oder eine faire Debatte ist, von einer Obrigkeit und ihren Helfern bestimmt wird, egal in welchen Mantel diese Obrigkeit auch immer schlüpft. Wenn der Rest der Medien diese Falle auch noch beschweigt, entsteht zudem ein gesamtgesellschaftliches Problem mit langer Zündschnur: Das Zensierte sieht man nicht, weshalb es den wenigsten akut fehlt. In der Verhaltensökonomie kennt man dieses Phänomen der Sichtfeldverengung als „WYSIATI-Effekt“ („What you see is all there is“). Doch was man nicht sieht, spürt man irgendwann: In den Debatten macht sich erst Fadheit breit und später entsteht eine Fallhöhe zwischen veröffentlichter Meinung und der Realität, die für die etablierten Medien selbst ein massives Klumpenrisiko darstellt.

Matuscheks widerständige Haltung zum übergriffigen Staat erklärt sich wohl am besten durch seine Herkunft aus dem kommunistischen Polen, aus dem seine Eltern gemeinsam mit ihm nach Deutschland geflohen sind. Seine Ausbildung als Jurist schärfte seinen Sinn für die juristische Brisanz vieler Maßnahmen der „Verordnungsdiktatur“, von denen eine ganze Reihe von Gerichten wieder einkassiert wurden.

Sein Eintreten für Julian Assange nimmt da nicht wunder. Und es ist für den Kenner der Materie kaum verwunderlich, daß Matuschek den Bogen von hier zu dem Schriftsteller Ernst Jünger zieht, dessen Essay „Der Waldgang“ (1951) ihm zu einer Inspirationsquelle wurde, wie man sich in bedrohlichen Zeiten seine Freiheit bewahrt:

Der Essay Der Waldgang ist ein Schlüsseltext auch für unsere Zeit. Ja, im Grunde jeder Zeit, die sich wie unsere auch gerade einer Zeitenwende oder einem Verfallsdatum nähert. Denn der Waldgänger ist eine Wiederkehrende Erscheinung jeder Verfallszeit. So wie Hegels Eule der Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt, so ist es der Waldgänger, der sich erst nach Einbruch der Dunkelheit manifestiert. Jünger sah in seiner Zeit einen aktiven Nihilismus am Werk, eine bewusste Umformung der Werte. Die Zeit der „neuen Normalität“ wird nach gleichem Muster von oben verkündet, als unausweichliche Notwendigkeit in Form polit-planerischer Weitsicht und Herrschaftswissen. Doch dafür müssen die Planer erst noch an den Waldgängern vorbeikommen.

Große Hoffnungen verbindet Matuschek mit dem weiteren Aufstieg der Kryptowährung Bitcoin, mit der sich Geldwirtschaft und Staat voneinander entkoppeln lassen sollen. Doch das dahinterstehende Konzept bleibt auch nach Matuscheks Ausführungen nebulös und komplex. Auch ihm gelingt es nicht, Bitcoin von dem Verdacht freizusprechen, lediglich ein leeres Versprechen zu sein, ein Instrument wie ein Perpetuum Mobile, daß aus dem Nichts Werte schaffen soll und letztlich nur auf einem Schneeballsystem beruht. Bitcoin, so warnte erst kürzlich der irische Star-Ökonom David McWilliams, sei nichts anderes als ein Computercode, hinter dem im Gegensatz zu Land oder Häusern kein greifbarer Wert stehe: „Wir haben so etwas zuvor gesehen, und jeder mit einem Sinn für Finanzgeschichte kennt die Weise, wie das endet. Und das ist nicht schön.“

Offiziell ist die Corona-Pandemie nie für beendet erklärt worden. Aber dennoch: Die meisten Menschen haben ihren Frieden mit dem Thema gemacht und für eine politisch-gesellschaftliche Aufarbeitung dieser Zeit in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß wird sich wohl kaum eine Mehrheit finden, weder unter den Politikern der Altparteien noch unter der Wählerschaft, erst recht nicht unter der Journaille. Frage: Was soll da noch die Lektüre eines Buches wie Milosz Matuscheks „Wenn’s keiner sagt, sag ich’s“?

Vielleicht weil uns dieses Thema in der Zukunft schneller wieder begegnet, als wir es uns vorstellen möchten…

Milosz Matuschek
Wenn’s keiner sagt, sag ich’s
Verlag fifty-fifty
2022, 256 Seiten
20,00 Euro

Die Freiheit zurückerobern

„COVID-19 ist ein Anfang. Es ist nicht die erste weltumspannende Epidemie, auch nicht die schlimmste und gewiss nicht die letzte. Dennoch markiert die Krise den Beginn einer neuen Zeit: die Welt ist so eng, die Technologie so wirkmächtig, die Angebote an Wissen, an Möglichem, und an Deutung sind überwältigend geworden und schwanken so, dass unser Denken oft nicht mehr hinterherkommt und unser Handeln seinen Kompass zu verlieren droht. Die bereits bekannten Kollateralschäden sind selbstmordgefährdete Kinder, eine Verrohung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die weitere Verelendung der Elenden in der Welt. Die Krankheit unserer Zellen erweist sich als Erkrankung des Geistes, des Gewissens, der Gesellschaft.“

Ole Döring, „Wie kommen wir vor die Welle?“ (aus: Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“, Hrsg. Sandra Kostner und Tanya Lieske)

Keine andere Krise der vergangenen Jahrzehnte seit Ende des Zweiten Weltkriegs war mit derartigen Freiheitseinschränkungen verbunden wie die Corona-Pandemie. Um das Virus an seiner weiteren Ausbreitung zu hindern und damit die Zahl der tödlichen Krankheitsverläufe zu reduzieren, übernahmen fast alle Staaten der westlichen Welt die Methoden aus dem totalitären China, aus der das Virus stammte. Doch es sollte nicht bei den Lockdowns des öffentlichen Lebens bis hin zum Verbot, auf einer Parkbank sitzend ein Buch zu lesen, bleiben.

Bis dahin sollte keine andere Maßnahme tiefer in das medizinische Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen eingreifen, wie die von zahlreichen Medien durch moralisierende Narrative flankierte Impfpflicht, mit der alle Menschen durch einen bis dahin kaum erprobten Impfstoff gegen das Corona-Virus immunisiert werden sollten.

Letztendlich blieb es nur bei der Absicht und die Impfpflicht wurde nur bestimmten Berufsgruppen auferlegt. Doch die bizarren Wortmeldungen eines Boris Palmer nach Beugehaft und Rentenkürzungen für Impfverweigerer, für die er im Gegensatz zu seiner aktuellen „Neger“-Äußerung keine Konsequenzen tragen mußte, lassen erahnen, wie sehr sich durch Corona in unserer politischen Klasse die totalitäre Versuchung ausgeprägt hat.

Nach dem Abflauen der Pandemie stellt sich nun heraus, die Impfung war keineswegs ein „Game-Changer“ und schon gar nicht nebenwirkungsfrei. Die Zuschreibung der Ungeimpften als unsolidarische Pandemietreiber hatte eine reine Sündenbock-Funktion. Immens waren die durch die teilweise rechtswidrigen Maßnahmen angerichteten sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kollateralschäden. Über die als „Schwurbler“, „Covidioten“ und „Coronaleugner“ verunglimpfte Gruppe der Maßnahmenkritiker hinaus sind sich immer mehr Menschen unsicher geworden: War diese Pandemie diesen Verlust an Freiheit wert?

Freiheit für einen selbst oder Sicherheit für alle anderen? [Netzfund]

Diese Frage stellten sich auch 2022 die Publizistin Tanya Lieske und die Historikerin Sandra Kostner. Noch in der Endphase der Pandemie sammelten sie 15 Essays, die sie in dem Band „Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“ zusammenfassten, der im Herbst desselben Jahres erschien.

Weiterlesen

Der Untertitel verspricht eine „interdisziplinäre Essaysammlung“, ein Anspruch, der leider nur eingeschränkt eingehalten wird. Zwar verfügen die Autoren über jeweils beachtliche professionelle Hintergründe aus den Geisteswissenschaften. Doch einen Fachmann mit medizinisch-naturwissenschaftlichem Background, vielleicht sogar aus der Epidemiologie oder Virologie sucht man darunter leider vergebens. Doch das schmälert den Wert der Beiträge keineswegs. Auf allgemeinverständliche Art wird die staatliche Pandemiebekämpfung unter den Aspekten der Freiheit und den Möglichkeiten einer Versöhnung der durch die Pandemie gespaltenen Gesellschaft beurteilt. Ein auffallendes und auch gravierendes Defizit ist das Fehlen eines Beitrags, der sich explizit mit dem politisch-medialen Komplex beschäftigt, der die entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der Coronamaßnahmen wie auch bei der Vermittlung des Krisenbildes hatte, in der Regel ohne diese kritisch zu hinterfragen.

Die Wissenschaft galt vorgeblich immer als Richtschnur in der Pandemiebekämpfung und überschritt dabei immer wieder ihre Grenzen, z.B. wenn sie „sich anmaßt, über den Grundrechten zu stehen und darüber zu entscheiden, wem diese zukommen und wem nicht“. Der Philosoph Michael Esfeld konstatiert daraus in seinem Essay „Freiheit und Wissenschaft“ die „Selbstzerstörung von Wissenschaft“, verbunden mit der fatalen Gefahr einer Abkehr der Menschen von derselben. Esfeld rät zur Rückkehr zum Respekt für der Vorrang der Selbstbestimmung und der Grundrechte der Menschen. Das Interesse der Wissenschaft, nach Esfeld, ist „Erkenntnisse zu gewinnen und Wahrheit über Tatsachen zu gewinnen“.

Bereits der lange Titel des von dem Psychologen Boris Kotchoubey eingereichten Essays – „Von ‚Wissenschaft und Religion‘ und ‚Wissenschaft gegen Religion‘ zu ‚Wissenschaft als Religion‘“ – läßt keine Fragen über sein Thema offen. Kotchoubey zeigt auf, wie schmal in unserer Zeit der Grat zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft geworden und selbst Wissenschaftler die Grenzen wie auch die Begrenztheit ihrer Aussagen oftmals nicht mehr zu erkennen vermögen:

Wer nicht mehr den Unterschied zwischen Glauben und Wissen begreift, nimmt seine Annahmen nicht mehr als Annahmen, d.h. als etwas nur Geglaubtes. „Wer nicht weiß, dass er glaubt, der glaubt, dass er weiß.“ Damit wird die wichtigste Eigenschaft eingebüßt, die einen Experten von einem Laien unterscheidet, nämlich das klare Bewusstsein für die Grenzen seiner Expertise. Daher kommt das typische Phänomen der letzten Jahre: der fanatische Glaube der Wissenschaftler an ihre Modelle. Das säkularisierte Hirn ist unfähig einzusehen, dass ein mathematisches oder physikalisches Modell immer auf Annahmen beruht, und dass, wenn nur eine dieser zugrunde liegenden Annahmen falsch ist, das Modell keinen Pfennig mehr wert ist, egal wie gut es berechnet wurde: „garbage in, garbage out.“

Den Mißbrauch des Begriffes „Solidarität“, mit dem Regierungsvertreter für die Akzeptanz der Freiheitseinschränkungen warben, prangert die Islamwissenschaftlerin Agnes Imhof an („Solidarität und Menschenwürde. Autoritarismus entlarvt durch sein Menschenbild“). Diese Solidarität wurde nicht freiwillig erbeten, sondern – was Imhof problematisiert – „mittels Sanktionen eingefordert“ und warnt: „Wo das Gemeinwohl dem Einzelnen übergeordnet wird, läßt sich prinzipiell jede Grausamkeit rechtfertigen.“ Ihr Fazit des die Grundrechte des Individuums und damit seine Menschenwürde negierenden Staates fällt drastisch aus:

„Wer Solidarität also gegen Menschenwürde ausspielt, verlässt das Territorium freiheitlich-demokratischer Anthropologie. Denn Solidarität ist nur unter freien Individuen möglich. Alles andere nennt man nicht Solidarität. Sondern Sklaverei.“

Herausgeberin Sandra Kostner dürfte unter allen Beiträgern am bekanntesten sein. Zu ihrer Vita zählen die Zusammenarbeit mit dem Migrationsforscher Stefan Luft, der dem Konsens seines Faches einer „Bereicherung durch Migration“ teilweise kritisch gegenübersteht, sowie ihrer Mitgliedschaft in dem von ihr gegründeten „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, das gegen die Instrumentalisierung und Vereinnahmung durch ideologische Interessen streitet. Auch vor einem Auftritt in der vom Mainstream argwöhnisch und mit gewissem Neid beäugten Sendung „Talk im Hangar-7“ des Senders Servus-TV schreckt sie nicht zurück. All das ist mehr als ausreichend, sie in den Augen des Mainstreams „höchst verdächtig“ zu machen, eine Vorstufe vor dem Label „umstritten“.

Sandra Kostner in „Talk im Hangar-7“

In „Droht ein gesellschaftliches Long Covid?“ fragt die Historikerin nach den langfristigen gesellschaftlichen Folgen über die Pandemiezeit hinaus durch eine Sündenbock-Politik, die Ungeimpften in einer teils drastischen und affektgeladenen Rhetorik („Tyrannei der Ungeimpften“) ihre Rechte absprach:

Zwei Jahre, in denen Politiker, unterstützt von Medien, Institutionenvertretern und Wissenschaftlern, leichtfertig die Geister „Ausgrenzung und Verunglimpfung Andersdenkender“ und „Allgemeinwohlideen schlagen individuelle Freiheitsrechte“ aus der Flasche ließen, haben zu beträchtlichen sozialen Verwerfungen geführt. Mit anderen Worten: Es wurde der Boden für ein gesellschaftliches Long Covid bereitet.

Der Geist ist aus der Flasche, wie bekommen wir ihn wieder hinein, wie sind die gesellschaftlichen Gräben zu überwinden? Hier spielt der Begriff der Versöhnung hinein, mit dem sich der Philosoph Henning Nörenberg beschäftigt („Die Spaltung der Gesellschaft in Zeiten von COVID-19. Worin sie besteht und wo Ansätze zu ihrer Überwindung liegen“). Er empfiehlt die Suche nach Gemeinsamkeiten – z.B. die Ohnmachtserfahrungen in dieser Zeit – zwischen zwei Lagern, die keineswegs so homogen und damit voneinander verschieden sind, wie es auf dem ersten Blick erscheint. Doch bis jetzt sieht es eher danach aus, als ob die Zeit der Pandemie unter den Tisch gekehrt werden soll, Nörenbergs Wunsch nach Versöhnung nur ein frommer Wunsch bleibt, denn vor allem die politisch verantwortlichen Akteure zeigen wenig Interesse daran, daß das Thema weiterhin im öffentlichen Bewußtsein bleibt. Eindeutigstes Indiz dafür ist die Ablehnung eines AfD-Antrags auf Einrichtung eines Corona-Untersuchungsausschusses im Bundestag im vergangenen April.

Geradezu verblüffende historische Analogien zeigt der Osteuropa-Historiker Klaus Buchenau auf. Die Einführung neuer Formen in der Liturgie führte in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu einer Abspaltung der Altgläubigen von der Russisch-Orthodoxen Kirche. Verlauf und Entwicklung dieser Bewegung sowie ihr Verhältnis zum religiösen Mainstream weisen interessante Ähnlichkeiten zu der zeitlich wesentlich geraffteren Pandemie auf („Roskol – Spaltung auf Russisch. Corona im Spiegel eines historischen Beispiels“).

Mit dem weiteren Abklingen der Corona-Pandemie verlieren die Beiträge aus „Pandemiepolitik“ keineswegs an Wert – im Gegenteil: Auch für die Abwehr künftiger „Zumutungen“ (Robert Habeck) bieten die Beiträge in „Pandemiepolitik“ einen gewaltigen Fundus an Argumenten, so auch in der Betrachtung von Worst-Case-Szenarien, dem Wert der Bildungspolitik und der Monofokalität, also der Verengung des Blickwinkels.

Die Übergriffigkeiten staatlicher wie nichts-staatlicher Akteure haben Pflöcke eingeschlagen, die für die Zukunft nichts Gutes erwarten lassen. Schon während der Pandemie wurde deutlich kommuniziert, daß die sogenannte, medial gehypte „Klimakrise“ sich als weiteres Betätigungsfeld zur Zwangsbeglückung der Bürger und damit einem weiteren Freiheitsentzug anbietet. Die irrationale Energiewende der Ampel-Regierung und damit verbunden vor allem die teuren Gesetzesvorschläge aus dem Hause des Wirtschaftsministers Habeck zum verpflichtenden Heizungsaustausch sind das erste drohende Wetterleuchten dieser unangenehmen Wahrheit.

Sandra Kostner, Tanya Lieske (Hrsg.]
Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?:
Eine interdisziplinäre Essaysammlung
(Klartext. Schriften zu Politik und Gesellschaft)
ibidem
Oktober 2022
210 Seiten; 24,- Euro