Russlands Tragödie: Gefangen in imperialen Träumen

„Das Unwissen über die Stalin-Zeit ist in Russland allgegenwärtig, es gibt keine Aufklärung über die Diktatur, wie wir sie kennen. Die Stalin-Zeit ist keine historische, sondern eine mythische Zeit. Man erinnert sich nicht an den Terror und den Horror, sondern an die Grösse und den Glanz eines untergegangenen Imperiums, an den Sieg im Grossen Vaterländischen Krieg, dessen Symbol Stalin ist. Nicht der Despot, der Terrorist und Gewalttäter wird besungen, sondern der Schöpfer und Bewahrer eines mächtigen Reiches. Vom Kommunismus ist am Ende nichts geblieben als die Erinnerung an das verlorengegangene Imperium.“ (Prof. Jörg Baberowski in der NZZ vom 04.04.2022)

Die Organisatoren des Literarischen Frühlings haben nach Eröffnung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine eine erfreuliche Flexibilität gezeigt, und ihr aktuelles Programm kurz vor dem Start noch einmal erweitert. Zusätzliche, den aktuellen Vorgängen verbundene Veranstaltungen wurden aufgezogen mit der georgischstämmigen Autorin Nino Haratischwili („Das mangelnde Licht“) und dem Stalin-Experten und Osteuropahistoriker Prof. Jörg Baberowski („Der tote Terror“, „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“).

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Am gestrigen Sonntagnachmittag trat Baberowski im Metzen Alter Kuhstall in Ellershausen vor das Publikum, unter der Moderation von Klaus Brill, der als thematischen Einstieg den von Wladimir Putin am Vorabend des Angriffs beschworenen Gründungsmythos der mittelalterlichen Kiewer Rus wählte. Die Taufe des Großfürsten Wladimir zum christlich-orthodoxen Glauben im Jahr 988 gilt als das Ursprungsdatum dieses Mythos, die Ukraine den Russen somit als russisches Kernland.

Links: Klaus Brill; rechts: Prof. Jörg Baberowski

Baberowski erklärte, daß er als Historiker nicht viel mit solchen Mythen anfangen könne, denn seine Aufgabe bestehe gerade in der Dekonstruktion solcher Mythen. Die in Stände hineingeborenen Menschen des Mittelalters konnten mit einer auf der Gleichheit Aller beruhenden Nationalidentität nichts anfangen. Die Nation sei ein emanzipatorisches Projekt der Moderne. Baberowski sieht die „Illusion“ der Nation unter Berufung auf Ernest Renan als „tägliches Plebiszit“, ihre Vergegenwärtigung finde in der Begegnung mit dem Anderen statt. Putin hingegen benutze Geschichte zur Rechtfertigung der Gegenwart.

Natürlich seien Nationen nicht vollkommen willkürlich konstruierbar. Der Überlieferungszusammenhang der Russen sei das Orthodoxe Christentum und die slawische Sprache. Wie wenig die russische Geschichte zur Begründung eines Nationalbewußtseins taugt, machte Baberowski deutlich an der Einführung der Leibeigenschaft der Bauern 1649, die dem Gleichheitsanspruch der Nation widerspreche. Die lokalen Eliten waren zur Hälfte Deutschbalten, während die Eliten noch bis in das 18. Jahrhundert überwiegend Französisch sprachen und die Zarin Katharina die Große war eine gebürtige Deutsche. Nationen, so Baberowski, seien gut begründete Lügen: „Man beschwört eine Zeit, die es eigentlich nicht gegeben hat.“

Angesprochen auf die Annektierung der Krim durch die Zarin Katharina im im Jahr 1783, was als Begründung russischer Gebietsansprüche herangezogen wird, fragte Baberowski, wie weit man zurückgehen solle: „Da läßt man die Geschichte besser aus dem Spiel.“

Erst im 18./19. Jahrhundert kam eine Nationalbewegung auf, allerdings als Elitenprojekt, das nicht das Interesse der Dörfler mit ihrem begrenzten Horizont fand. Interessanterweise stand die russische Regierung dem Projekt skeptisch gegenüber; ein Vielvölkerimperium wie Russland könne sich nicht auf der Idee der Nation gründen. Doch das, so Baberowski, „wollen Leute wie Putin nicht hören.“

Paradoxerweise seien die Kommunisten die eigentlichen Nationalgründer gewesen. Um ab 1922 „den Sozialismus ins Dorf zu bringen“, habe man wie am Reißbrett die Sowjetunion in Nationen überführt, die Bauern in ihren jeweiligen Nationalsprachen unterrichtet. Eine russische Nation wurde jedoch nicht gegründet; die Russen sollten sich mit dem Imperium der Sowjetunion identifizieren.

Als Folge der bolschewistischen Politik sei die Ukraine und ihre erste Staatlichkeit eine sowjetische Schöpfung. Dennoch sei diese nicht einfach ein künstliches Gebilde, denn in allen Sowjetrepubliken habe es nationale Erweckungsbewegungen gegeben.

Der ab 1928 einsetzende Terror Stalins habe die Ukraine mit dem „Holodomor“ am härtesten getroffen. Zu seiner Bewertung als „Genozid“ meinte Baberowski zurückhaltend, daß die Hungersnot Folge des Krieges der sowjetischen Regierung gegen das eigene Volk gewesen sei, der jeden traf. Er wies weiter auf die ebenfalls in einer Hungersnot umgekommenen zwei Millionen Kasachen hin, über die niemand spreche, „vielleicht weil es Muslime sind?“. Jedenfalls stehe es in der kasachischen Kultur nicht gut an, sich zum Opfer zu machen.

In Bezug auf Putin wollte Baberowski dem Publikum keine Hoffnung auf einen Wechsel mitgeben: „In der Krise sind alle Despoten im Vorteil, weil sich alles um sie schart. Fällt Putin, fallen sie alle.“ Wie Stalin habe er seine Gefolgschaft in seine Verbrechen involviert. Ebenso dämpfte er die Erwartung auf eine liberale Phase nach Putin. Die stärksten Parteien seien Kommunisten und Nationalisten; liberale Kräfte waren zuletzt auf den hintersten Plätzen.

Weiterhin warnte er vor einem Zusammenbruch Russlands, was Konsequenzen für die ganze asiatische Region habe. Baberowski mahnte zu einer verantwortungsethischen Politik, die das im Blick haben müsse: „Wie kann man mit Russland operieren, ohne in Feindschaft mit ihm zu geraten?“

Die Aufarbeitung des Stalinismus beschrieb Baberowski als komplexes Projekt. Es sei nicht leicht in einer solchen Aufarbeitung Täter und Opfer zu benennen. Die meisten Täter seien zudem selbst hingerichtet worden. In der Sowjetunion habe man den Terror wie eine Naturkatastrophe hingenommen. Zudem wirke bis heute der Große Vaterländische Krieg als tröstendes Narrativ, das die meisten dankbar angenommen hätten, um endlich als Sieger dazustehen. Für die anderen Völker gäbe es keine Empathie. Sie spielten keine Rolle im russischen Gedächtnis. Die große Tragödie sei, so Baberowski am Ende seines erkenntnisreichen, aber auch ernüchternden Vortrags: „Solange Russland keinen Weg findet aus der imperialen Vergangenheit, wird es gefangen bleiben in imperialen Träumen, statt auf die anderen Völker zuzugehen.“

Prof. Jörg Baberowski
Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt
2012; 606 Seiten; 29,95 Euro

Stalins Weißwäscher in der HNA

Es vergeht keine Woche, in der die HNA nicht wenigstens an einem Tag die Gelegenheit ergreift, einem mit ihrer Machart und tendenziösen Schlagseite den morgendlichen Kaffee bei ihrer Lektüre wieder hochzutreiben. Gestern war es im Leserforum der Leserbrief eines gewissen Klaus Bremer aus Kassel, der einem auf den Magen schlagen konnte.

Herr Bremer ereiferte sich darin über die auf Putin gemünzte Formulierung vom „Wiedergänger Stalins“ eines anderen Lesers. Stalin, so Bremer, genoß „trotz verschiedener Fehler international hohes Ansehen“. Sogar das Time Magazin kürte ihn 1943 zum „Man of the Year“. Erst die „kalten Krieger“ hätten Stalin nach Ende des WK II „systematisch in den Dreck“ gezogen: „Ein Vergleich mit Putin, der das Recht der Völker mit Füßen tritt und von einem reaktionären, großrussischen Reich träumt, verbietet sich also von selbst.“

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HNA vom 11. März 2022

Nun, da muß ich Herrn Bremer recht geben. Putin kann man vieles vorwerfen, aber keinen millionenfachen Massenmord, etwa durch staatlichen Terror (u.a. an Tausenden polnischen Kriegsgefangenen im Massaker von Katyn), GULAGs oder auch gezielt herbeigeführten Hungerkatastrophen. Ansonsten hat auch Stalin das Völkerrecht getreten und Angriffskriege angezettelt. Die Erinnerung an den Winterkrieg 1939 ist den Finnen tief in ihrer Erinnerungskultur verankert und auch der Hitler-Stalin-Pakt sollte hier nicht vergessen werden, der das gesamte Baltikum Stalins „progressiven“ Sowjetimperium überschrieb.

Die kruden Ansichten des Geschichtsschwurblers Bremer werden verständlicher, wenn man folgendes über ihn erfährt: Er ist seit Jahrzehnten aktives Mitglied der MLPD (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands), einer vom Verfassungsschutz beobachteten, linksextremen Polit-Sekte, für die er sich schon mehrfach als Bundestagskandidat zur Verfügung stellte (zuletzt 2021). Ein herausragendes Merkmal der MLPD ist ihre ausgeprägte Sympathie für Massenmörder wie Mao Zedong oder eben Stalin. Stalins Nachfolger Chruschtschow, der den Prozeß der Entstalinisierung einleitete, gilt ihnen selbstverständlich als Verräter.

Aber wenn wir eine Verbindung zwischen Stalin und Putin suchen, so ist der Weg der beiden zueinander bemerkenswert kurz. In den vergangenen Jahren erlebte Russland eine unheimliche Renaissance des Stalin-Gedenkens, in dessen Tradition sich der gegenwärtige Kreml-Herrscher zumindest in der Geschichtsdarstellung und beim Militär offenbar implizit stellt.

Gar so weit geht die MLPD allerdings nicht. Aber immerhin stellte sie vor zwei Jahren eine Statue des Stalin-Vorgängers Lenin vor ihrer Zentrale in Gelsenkirchen aus, wo sie bis heute ungestört steht. Und für all diejenigen, die an dieser Stelle den „guten Lenin“ gegen den „bösen Despoten Stalin“ in Stellung bringen, möchte ich ein Zitat des russisch-sowjetischen Reformpolitikers Alexander Jakowlew (1923-2005) anführen:

„In der Geschichte hat es keinen Menschen gegeben, der Rußland mehr haßte, als Uljanow-Lenin. Was immer er anfaßte, verwandelte sich in einen Totenacker, in ein Riesenfeld mit menschlichen, sozialen und ökonomischen Gräben. Alle wurden ausgeraubt – die Lebenden wie die Toten.“

Es ist mühselig, darüber zu spekulieren, wie jemand wie der Stalin-Apologet Bremer allen Fakten zum Trotz an seinem Weltbild festhalten kann. Leute wie er leben in ihrer eigenen Realität, in der sie nur schwer zu erreichen sind, eher gar nicht. Diskussionswürdiger ist aber vielmehr die Frage, wie eine sich seriös gebende Zeitung wie die HNA dazu kommt, einem wie Bremer ein Forum für seine Geschichtsklitterungen zu eröffnen, während hingegen die Moderation auf HNA-Online schon einen Glückwunsch für den Freispruch von Prof. Kutschera in seinem Gerichtsverfahren wegen Volksverhetzung mit einem Bann unterlegt.

Dabei ist Bremer in der Redaktion kein Unbekannter. In der HNA-Ausgabe vom 25.11.2000 erhielt er als Mitbegründer der „AUF Kassel“, ein angeblich bürgernahes Wahlbündnis, das in Wahrheit eine Tarnorganisation der MLPD ist und inhaltlich auch ihre Handschrift trägt, eine ausführliche Möglichkeit der Selbstdarstellung. An Bremers dabei offen vorgetragenen MLPD-Hintergrund hatte sich schon damals niemand in der HNA-Redaktion gestört.

HNA vom 25.11.2021

Also: Wie kommt es, daß der HNA hier jegliches Problembewußtsein abgeht? Man sollte sich über das Bildungsniveau heutiger Mainstreamjournalisten nicht allzu viele Hoffnungen machen. Hauptsache man weiß, wie korrekt gegendert wird, auch wenn einem der „Holodomor“ ein Fremdwort ist. Gerade beim Nachwuchs läuft alles auf die 3G-Regel des Haltungsjournalismus hinaus: „Gender, Greenpeace und Gerechtigkeit“. So kann es kaum verwundern, wenn schließlich ein Leserbrief wie der von Bremer unkommentiert den Weg in die Zeitung findet.

Solche Entgleisungen sind aber nur ein Symptom, das ein bezeichnendes Licht auf die mentalen Verhältnisse in der HNA wirft, wo die Indifferenz nach Links Trumpf ist und selbst die mutmaßliche Anführerin eines Antifa-Rollkommandos zur „Antifaschistin der Herzen“ geadelt wird. Schärfer ist man hingegen zur anderen Seite, wo jeder Kritiker der Corona-Maßnahmen als „Querdenker“ diffamiert und jeder Impf-Skeptiker zum „Schwurbler“ degradiert wird.

Übrigens konnte sich die MLPD-Tarnliste „AUF Kassel“ immerhin fest im Kasseler Stadtteil Rothenditmold etablieren und stellt dort – auch dank der Unterstützung durch die Vertreter der Altparteien – mit dem MLPD-Mitglied Hans Roth sogar den Ortsvorsteher. Aber wäre an Roths Stelle jemand mit irgendwelchen rechten Verbindungen in dieses Amt gewählt worden, das mediale Trommelfeuer der HNA wäre nicht eher verstummt, als bis diese Wahl rückgängig gemacht worden wäre.

Stéphane Courtois (Autor), Nicolas Werth (Autor), Jean L. Panné (Autor), Andrzej Paczkowski (Autor), & 8 mehr
Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror
987 Seiten; 1998