Hüte dich vor deinen Träumen – Sie könnten wahr werden

„George Orr stand mit aschfahlem Gesicht schwankend im flackernden Neonlicht des U-Bahnwagens, der durch die Finsternis des Zweistromlandes raste, hielt sich, eingekeilt zwischen tausend anderen Menschen, am schaukelnden Stahlgriff eines Gurtes fest. Er spürte das Gewicht, das auf allem lastete, das ihn fortwährend niederdrückte. Ich lebe in einem Albtraum, dachte er, aus dem ich von Zeit zu Zeit schlafend erwache.“ (Ursula K. Le Guin, „Die Geißel des Himmels“)

In ihrer Frühphase war die Science-Fiction eine reine Männerdomäne. Erst ab den 1960er Jahren trat der Wandel ein, für den vor allem US-amerikanische Autorinnen stehen wie Kate Wilhelm und C.J. Cherryh, aber vor allem Ursula K. Le Guin (1929 – 2018). Letztere verfasste nicht nur den aus mehreren Teilen bestehenden, populären Fantasy-Epos vom „Erdsee“, sondern auch eine Reihe hochpolitischer Scifi-Romane wie „Die linke Hand der Dunkelheit“ oder „Planet der Habenichtse“. Aus der Frühphase ihres Schaffens stammt der Roman „Die Geißel des Himmels“ (1971), der im Dezember 2024 in einer überarbeiteten Neuübersetzung seine deutsche Wiederveröffentlichung erfuhr.

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George Orr wird von schlechten Träumen geplagt. Denn er ist fest davon überzeugt, daß sie die Realität verändern. So verschwindet eine nervtötende Tante rückwirkend einfach so aus dem Familienleben, als ob sie nie existiert hätte, einfach weil Orr sich diese Vorstellung nachts erträumt hatte. Ihm ist es gar nicht recht, die Realität auf diese Weise ohne jede Kontrolle aus seinem Unterbewußtsein zu verändern und so versucht er auf medikamentösem Weg, seine Träume zu unterdrücken. Doch die illegale Beschaffung der Medikamente fliegt auf und die Behörden weisen ihn zur therapeutischen Behandlung dem Psychiater William Haber zu. Der findet schnell heraus, daß hinter Orrs realitätsverändernden Träumen mehr als nur Einbildung steht. Doch anstatt seinem Patienten Hilfe zukommen zu lassen, findet er Gefallen an der Idee, diese Gabe der traumwandelnden Schöpfung unter Kontrolle zu bekommen und sie für eigene Zwecke zu mißbrauchen. Doch was anfangs aus guter Absicht geschah, entwickelt sich zu einem Desaster. Der Wunsch, der Not durch die Überbevölkerung ein Ende zu setzen, läßt Milliarden Menschen einfach so verschwinden. Und aus dem Wunsch, Frieden unter den Nationen der Erde herzustellen, entsteht eine außerirdische Invasion, die die kriegerischen Rivalitäten erst zugunsten einer neuen Geschlossenheit beenden läßt. Der Weg, paradiesische Zustände zu erträumen, öffnet stets das Tor zu einer neuen Hölle. Doch Haber läßt es an Einsicht missen, daß er mit einer Kraft hantiert, die das Gute will und dabei doch das Böse schafft. Stattdessen will er sich Orrs Kräfte aneignen und als gottgleicher Weltenschöpfer selbst zur Tat schreiten.

L. Guin läßt in ihren zwei Protagonisten zwei Prinzipien – Gleichgewicht in Harmonie und schöpferische Zerstörung – gegeneinander antreten. Da ist der zurückhaltende Charakter George Orr, der sich vor seiner geheimnisvollen Gabe fürchtet, nicht nur ihrer Folgen wegen und sie am liebsten loswerden will.
Ihm tritt der Wissenschaftler William Haber entgegen, L. Guins Dr. Faustus, unabhängig und ungebunden, der sich außerhalb des Ganzen sieht und dem nun ein Mittel in die Hände gelangt, mit dem er über die wissenschaftliche Beschreibung der Welt hinaus diese zu ihrem vermeintlich Besten sogar radikal verändern kann, ohne dabei die Beschränktheit seines eigenen Horizonts im Blick zu haben und dabei den eigenen Verstand verlieren wird:

„Wenn sich nichts mehr verändert, dann haben wir es mit dem Endergebnis der Entropie zu tun, dem Wärmetod des Universums. Je mehr Dinge sich bewegen, interagieren, aufeinanderprallen, sich verändern, desto weniger Gleichgewicht gibt es – und desto mehr Leben. Ich bin für das Leben, George. (…) Wir stehen kurz davor, zum Wohle der Menschheit eine ganz neue Kraft zu entdecken und zu beherrschen, ein vollkommen neues Feld der anti-entropischen Energie, der Lebenskraft, des Willens zu handeln, etwas zu tun, etwas zu verändern.“

Ihm hält Orr entgegen:

„Wir stehen in der Welt, nicht im Widerspruch zu ihr. Wir können nicht versuchen, außerhalb der Dinge zu stehen, sie auf diese Weise beeinflussen. Das geht einfach nicht, es läuft dem Leben zuwider. Es gibt einen Weg, aber man muss ihm folgen. Die Welt ist, wie sie ist, ganz gleich, wie sie unserer Meinung nach sein sollte. Sie stehen in ihr. Sie müssen sich auf sie einlassen.“

In Orrs Positionierung wird bereits ein wesentlicher Zug in Ursula K. Le Guins Schaffen deutlich, ihre Nähe zum Taoismus, jener uralten chinesischen Philosophie, die auf Harmonie und Gleichgewicht setzt. In dieser Vorstellung gibt es keine objektive Welt, sondern nur eine von der eigenen Subjektivität eingefärbte Illusion: Die Welt ist nur ein großer Traum.

Ursula K. Le Guin
Die Geißel des Himmels
240 Seite, 2024
Carcosa Verlag
22,- Euro