Der Städte Niedergang ist auch der des Menschen

„Da waren die Städte, Mikrokosmen des menschlichen Gemeinwesens, riesige Wesen von sehr stark individuellem Charakter, die ihre Bewohner durch Gewohnheit, durch Liebe und durch die unsichtbaren Fäden an sich banden, die auch die ersten Menschen aneinandergebunden hatten, denn außerhalb der Wärme des vom Feuer beleuchteten Kreises herrschte Dunkelheit und beobachtete sie das Unbekannte mit wölfischen Augen“ („Die letzten Städte der Erde“, C.J. Cherryh)

Menschliche Zivilisation ist nicht denkbar ohne Urbanisation. Erst mit der Gründung von Städten kulminierten die schöpferischen und sozialen Potentiale des Menschen derart, daß ohne sie kein technologischer Fortschritt, kein Wohlstand denkbar wären. Hier vollzog sich vielfältigster Austausch und Wandel auf engstem Raum und strahlte wiederum aus auf andere Städte. Über die meisten der ersten Stadtgründungen wie Ur und Babylon legt sich schon lange der Staub. Und doch ist einigen von ihnen schon eine lange Lebensdauer beschert und wir blicken inzwischen zurück auf eine lange und rumreiche Vergangenheit.

1981 wagte die amerikanische Science-Fiction-Schriftstellerin C.J. Cherryh einen literarischen Blick in die Zukunft einiger der berühmtesten und bedeutendsten Kapitalen der Menschheit. „Die letzten Städte der Erde“ – 1985 in deutscher Übersetzung im Heyne Verlag erschienen – vereinigt sechs Erzählungen über die Metropolen Paris, London, Moskau, New York, Peking.

Aus dem umfangreichen Opus von Cherryh sticht dieses Buch insofern heraus, daß es sich nicht eindeutig der Science-Fiction zuordnen läßt. Seit sie 1976 mit „Brüder der Erde“ ihren Durchbruch feierte – zu einer Zeit, als dieses Genre fast eine reine Männer-Domäne war -, blieb sie innerhalb des Rahmens der Space Opera bzw. der Hard-Science-Fiction. In „Die letzten Städte der Erde“ sind jedoch mit dem Auftreten von Geistern auch Elemente der Fantasy enthalten. Zudem steht es als Einzelwerk für sich alleine, denn üblicherweise überspannen Cherryhs Romane ganze Zyklen wie den der „Chanur“ oder den „Alliance-Union-Zyklus“.

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Cherryhs „Die letzten Städte der Erde“ liest sich wie ein Trauerlied. Dazu passt schon die Einbettung in eine künftige, sehr weit entfernte Epoche, in der „die Sonne matt geworden war und von Krankheiten befallen, bevor der Mond glühend und riesig am Himmel hing, in den Raumhäfen die Schiffe von den Sternen weniger geworden waren und der Gründe für Ambitionen noch weniger.“ Von Hyper-Technologie ist darin keine Spur, im Gegenteil, atavistische Tendenzen, also Rückschläge in vergangene Muster, haben sich eingestellt.

Die erste Erzählung „Der einzige Tod in der Stadt“ ist Paris gewidmet. Sie wuchs derart in Breite und Höhe, so daß sie nun den Fluß „Sin“, die einstige Seine, umschloß. Das Leben ist gezeichnet in dem Zyklus von Tod und Wiedergeburt. Es ist die Geschichte von Jade Alain und Onyx Ermine, die jeweils verschiedenen bedeutenden Häusern angehören. Alains Liebe zu Ermine erwidert diese mit einer zynischen Wette. Sie wird ihn heiraten, jedoch: „Du wirst nach diesem vierten Jahr den Tod erleiden, und ich werde im nächsten Leben nichts mit dir zu tun haben.“ Aber der Tod wird bei dieser Wette noch ein Wort mitreden…

Die vielleicht beste Erzählung ist „Der Spukturm“, angesiedelt in London. Der am Themseufer stehende Tower scheint die Konstante dieser Stadt sein. Die einst im Mittelalter errichtete Festung findet in dieser weit entfernten Zukunft wieder zurück zu ihrer früheren Bestimmung, als Gefängnis für bedeutende Personen. Dieses Mal trifft es Bettine Maunfry, die Geliebte des Bürgermeisters, die unwissentlich zum Spielball einer Intrige um dessen korrupte Machenschaften gerät und dabei zum Auslöser einer Revolution gegen seine Herrschaft wird. Doch vorher trifft sie in ihrem Verlies auf die Geister von Richard und Edward, jene zwei kleinen Prinzen, die vermutlich an ebendiesem Ort einem durch ihren Onkel, den englischen König Richard III. (1452 – 1485), in Auftrag gegebenen Mord zum Opfer fielen. Ebenso lernt sie den Geist von Marcus Atilius Regulus kennen, ein Legionär, der während der römischen Zeit Britanniens zu Tode kam und sich Bettine als Psycho-Pomp, ihren Seelenführer in das Jenseits, anbietet.

„Eis“ ist der Moskau gewidmete Titel und passt auch hervorragend in das Sujet dieser Stadt, die schon durch ihre geographische Lage besonders den winterlichen Härten ausgesetzt ist. Andreij Gorodin ist der Protagonist dieser Erzählung, der auf seinem Pony reitend, bewaffnet mit einem Bogen, außerhalb der Mauern dieser Stadt sein Jagdglück versucht. Dem eisigen Winter zum Trotz bietet der Anblick der Stadt etwas Erhabenes: „Nur die Schönheit existierte, die über Moskva lag und die die Stadt umgab. Sie würde ihm den Geist rauben oder ihn das Augenlicht kosten.“ Doch er ist nicht allein auf der Suche nach Beute. Auch die Wölfe sind auf seiner Spur.

Rom, auch die „Ewige Stadt“ genannt, wird aus dem Lotuspalast heraus regiert von Elio DCCLII (dem 752.), einem zwölfjährigen Tyrannen, „bockig, verdorben, gefährlich.“ Die Dekadenz, der diese Stadt – wie auch die übrige Erde – verfallen ist, zeichnet sich durch die Sucht nach Vergnügungen und Träumen aus; Träume, denen ein Apparat realistische Nähe verleiht. Der Inhalt dieser Träume ist die Menschenjagd – „Nächtliche Spiele“. Und wehe, wenn der Tyrann kein Vergnügen an seinen Träumen findet…

Einzig die Hommage auf New York – „Der Highliner“ – wirkt futuristisch. Es ist eine Parabel auf die wohl unausrottbare Korruption, unter der die Stadt traditionell leidet. Johnny Tallfeather gehört zur Gruppe der Highliner, die in den oberen Bereichen der gigantischen Wolkenkratzer Wartungs- und Reparaturarbeiten vornehmen. Es ist eine harte und sehr gefährliche Arbeit, der er und seine Schwester Sarah mit entsprechendem Selbstbewußtsein nachgehen. Eine Betreibergesellschaft setzt ihn und seine Mannschaft unter Druck, für ein Schmiergeld im entscheidenden Moment wegzusehen. Widerwillig läßt sich Johnny auf den Deal ein. Doch die Gegenseite spielt falsch, und seine Schwester erleidet einen tödlichen Unfall. Johnny sinnt auf Rache…

In „Der General“ wiederholt Cherryh das historische Muster, daß dem chinesischen Peking in seiner Geschichte oft widerfahren ist, die blutige Eroberung durch Usurpatoren und Invasoren. Wie im Mittelalter ist die Stadt bedroht durch einen Barbarenhäuptling, der seine Karriere mit dieser besonderen Beute krönen will. Die Bewohner der „Stadt des Himmels“ wirken hilflos im Angesicht der Gefahr, die sich aus den Weiten des Westens kommend vor den Mauern der blühenden Verbotenen Stadt aufbaut. Selbst ihre Soldaten haben das Kämpfen verlernt. Peking „liebte ihr Alter. Sie fand das Leben schön. Sie wußte kein großes Ziel mehr für sich, denn ihr letzter Zug nach draußen lag schon lange zurück; sie ruhte am Ende der Tage.“ Doch was treibt Yilan Baba, Vater Schlange, wie der Barbaren-General von seinen Männern genannt wird, wirklich nach Peking? Ist sein Eroberungszug nur eine Inszenierung, hinter der er tatsächlich etwas ganz anderes verbirgt?

Fantasy trifft Science-Fiction trifft Historik – die Geschichten der „Letzten Städte der Erde“ sind Tragödien des Niedergangs, von Cherryh formuliert in einer außerordentlich poetischen Sprache. Das Buch ist dabei aber durchaus auch tagespolitisch zu verstehen durch das darin enthaltene tragende Motiv des zwangsläufigen Niedergangs der Zivilisation durch die Dekadenz ihrer Menschen. Hier bricht deutlich die weitgereiste Altphilologin in ihr durch, die vor ihrer preisgekrönten Karriere als freie Schriftstellerin Alte Geschichte unterrichtete. Letztlich ragt das Buch wie ein Kleinod heraus aus dem Gesamtwerk einer der außergewöhnlichsten Autorinnen der Science-Fiction. Es ist ein Klassiker, den jeder Liebhaber der Scifi gelesen haben sollte.

Am 1. September 1942 in St. Louis / Missouri geboren, feiert C.J. Cherryh (eigtl. Caroline Janice Cherry) heute ihren 81. Geburtstag.

C.J. Cherryh
Die letzten Städte der Erde

236 Seiten
Heyne, 1985
Nur noch antiquarisch erhältlich

Wenn Science-Fiction zur Realität wird

LONDON BEREITET SICH AM JAHRESTAG DES MEDIKATIONSGESETZES AUF MASSENPROTESTE VOR

Zum neunzehnten Jahrestag der Einführung des Medikationsgesetzes wurden in der Hauptstadt die Sicherheitsvorkehrungen verdoppelt. Groß angelegte Demonstrationen zugunsten des Rechts von über Siebzigjährigen auf Antibiotika werden überall im ganzen Land erwartet. Im vergangenen Jahr haben sich mehr als eine Millionen Menschen zu „Die-ins“ vor Krankenhäusern, Verkehrsknotenpunkten und Regierungsgebäuden zusammengefunden, in deren Zuge mehrere Städte lahmgelegt wurden.

Das umstrittene Medikationsgesetz, das als Notverordnung während der Großen Krise verabschiedet worden war, hatte zum Ziel, das exponentielle Wachstum von Antibiotikaresistenzen einzudämmen und die Dauer der Einsatzfähigkeit neuer Medikamente zu verlängern. Es stützte sich auf die Ergebnisse von Reihenuntersuchungen, die darauf hinwiesen, dass ältere Patienten wegen der längeren Verwendung von Antibiotika und ihrer erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten vermehrt zu antimikrobiellen Resistenzen neigen. Aktivisten zweifeln diese Studien an und erklären, sie seien nicht mehr glaubhaft und dienten lediglich als pseudowissenschaftlich untermauerter Vorwand. Sie behaupten, dass die wahren Motive damals finanzieller Natur waren – und es immer noch sind.

„Der Genozid an Senioren muss aufhören“, sagt die achtundsechzigjährige Organisatorin der Demonstration, Tessa Beecham. „Wir alle haben ein Anrecht auf Behandlung, egal, wie alt wir sind. Die Medikamente sind verfügbar, die Regierung will nur nicht für sie bezahlen. Wir werden nicht ruhen, bis sie dieses unmenschliche und unnötige Gesetz aufheben.“

Aus: „Der letzte Weg“; Eve Smith

Gute Science-Fiction vermag gegenwärtige Trends aufzuspüren und ihre Entwicklung in der Zukunft vorauszuschauen. Ein perfektes Beispiel hierfür ist „Das Heerlager der Heiligen“ des Franzosen Jean Raspail, der bereits 1973 geradezu visionär die heutige Massenmigration aus der Dritten Welt nach Europa literarisch vorwegnahm. Doch es kann auch der Fall eintreten, daß ein Science-Fiction-Roman, kaum auf dem Markt, von der Dynamik einer Entwicklung, die er prognostiziert, überrollt wird. Ein derartiger Fall liegt mit „Der letzte Weg“ der Britin Eve Smith vor.

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Wir alle kennen die segensreiche Wirkung von Antibiotika. 1928 entdeckte der britische Bakteriologe Alexander Fleming die bakterizide Wirkung des Schimmelpilzes Penicillin, was eine regelrechte Revolution in der Medizin auslöste. Von da an ging von alltäglichen Infektionen, der so viele Menschen zum Opfer fielen, kein Schrecken mehr aus. Fleming warnte jedoch bereits vor einer Zeit, in der die Antibiotika drastisch an Wirksamkeit verlieren könnten, weil Bakterien im Laufe der Zeit Resistenzen entwickeln würden. Die Gefahr ist mit dem Auftreten multiresistenter Keime bereits real geworden, gleichwohl in der ärztlichen Praxis gerade noch beherrschbar.

Smith jedoch führt in eine gar nicht so ferne Zukunft, in der sämtliche Antibiotika in der „Großen Krise“ wirkungslos geworden sind. Mitverantwortlich hierfür ist die massenhafte Anwendung der Antibiotika, auch in der Mastzucht, aus der sich resistente Keimstämme entwickeln können. Infektionen greifen um sich und führen zu Massensterben. Selbst die kleinste Entzündung, die scheinbar harmloseste Schnittverletzung wird zur tödlichen Gefahr. Erkrankte werden zwecks Eindämmung isoliert. Die Lebenserwartung sinkt rapide. Der überwunden geglaubte Schrecken vergangener Tage ist wieder präsent.

Damit einhergehend erfährt auch die Gesellschaft einen Wandel. Jahrzehnte später errichtet der Staat im Rahmen der Infektionskontrolle ein die individuellen Freiheiten drastisch einschränkendes Kontrollregime. Haustiere sind inzwischen fast ausnahmslos als potentielle Krankheitsüberträger gekeult worden. Für über 70jährige gibt es nur noch eingeschränkte medizinische Hilfe. Die Lebenserwartung ist rapide gesunken. Sterbehilfe in Krankenhäusern ist normale Praxis, gleichwohl von der Bevölkerung nicht uneingeschränkt akzeptiert. Überhaupt regt sich zunehmend Widerstand gegen das Gesundheitsregime. Doch immerhin, ein Gutes hat diese Zeit: Die Viehwirtschaft wurde auf Bioproduktion umgestellt, was Fleisch aber zur raren und teuren Ware macht.

In dieses Szenario bettet Smith die Geschichte von Mary/Lily und Kate ein. Kate ist eine Krankenschwester, die aber weniger in der Pflege als in der Sterbebegleitung eingesetzt wird. Sie ist auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie kurz vor ihrer Geburt zur Adoption freigab. Ihre Mutter Mary wiederum lebt in einem britischen Seniorenheim. Zu ihrem Schutz gab sie sich eine neue Identität als Lily. Denn sie ist verwickelt in politische Aktivitäten während der Zeit des Ausbruchs der „Großen Krise“, als die Regierung ihre Rolle in einem Medizin-Skandal vertuschte. Und genau deswegen sind noch andere als ihre Tochter Kate auf der Suche nach ihr.

Smiths Debütroman erschien 2020 (deutsche Erstausgabe 2022), mitten im Beginn der Corona-Pandemie, die die Welt rund drei Jahre in Atem halten sollte; eine geradezu kuriose Koinzidenz. Allzu vertraut erscheint daher dem Leser der Plot von der „Großen Krise“ und der Atmosphäre jener Zeit, die ihr folgt. Ihr Roman enthält im Grunde genommen fast alles, was wir auch in der Corona-Pandemie kennenlernen durften. Tatsächlich ist in Großbritannien auf dem Höhepunkt der Pandemie selbst die Tötung aller Hauskatzen erwogen worden! Aber ist das dann noch Science-Fiction?

Auf der deskriptiven Ebene leistet Eve Smith solide Arbeit. Die detaillierte Szene zu Beginn, in der sie Marys Assistenz einer Sterbehilfe-Zeremonie schildert, der lebensmüde Patient, die verzweifelten Angehörigen und das formelle Prozedere wirken beklemmend authentisch. Sofort denkt der kundige Leser und Kineast an eine ähnliche Szene aus dem Kultfilm „Soylent Green“ (1973). Dennoch wirkt Smiths Darstellung keineswegs wie eine Kopie.

Daher ist die Lektüre von „der letzte Weg“ eine gewisse Herausforderung, da Smith auf eine lineare Erzählweise verzichtet, und stattdessen auf verschiedenen Zeitebenen, in denen die Protagonisten gleichberechtigt auftreten, munter hin und her springt, bevor am Ende alle Fäden wieder zusammenfinden.

Als inhaltliches Defizit muß der Mangel an Tiefenschärfe genannt werden. Die verpasste Chance, die Implikationen eines Gesundheitsregimes wie in ihrem Buch in Bezug auf dessen Menschenbild, ein politisches Herrschaftsverständnis und ein umfassenderes Bild der Gesellschaft auszuloten, ließ die Autorin leider ungenutzt. Über das Niveau eines mittelmäßig spannenden Thrillers kommt die Geschichte somit leider nicht hinaus.

Eve Smith
Der letzte Weg
Heyne
448 Seiten; 15,- Euro

Der Vater der „Climate Fiction“ und die Apokalypse des Feuers

Es ist ein Sommer der Extreme. Fast nahtlos reiht sich auch 2022 in die Abfolge von Jahren ein, die nicht allein in Europa von extremer Trockenheit und Hitzewellen geprägt sind. Selbst das für sein gemäßigtes Klima bekannte Großbritannien meldete erstmals das Überschreiten der Temperatur von 40 Grad Celsius. Das benachbarte Irland hat mit 33,1 Grad den heißesten Tag seit Beginn der Aufzeichnungen vor 135 Jahren bekannt gegeben.

Die negativen Auswirkungen dieses Extremwetters sind neben den gesundheitlichen Auswirkungen auf den Menschen die Gefahren von Ernteausfällen und Großbränden. „Europa in Flammen“ überschreibt DIE WELT einen traurigen Rekord, „den Europa in diesem Jahr zu verzeichnen hat: Waldbrände haben innerhalb der Europäischen Union seit Jahresbeginn schon mehr vernichtet als im gesamten Jahr zuvor.“

Ob man nun an den menschengemachten Klimawandel „glauben“ will oder nicht, im klimatischen Gefüge unserer Welt zeichnet sich deutlich die Tendenz einer Änderung zum Schlechteren ab. Kaum verwunderlich, daß sich diese Entwicklung auch in der Literatur niederschlägt. Dystopien einer vom Klimawandel verheerten Welt haben Konjunktur. „Climate-Fiction“ ist der neue Name dieses der Literaturgattung der Science-Fiction untergeordneten Genres, in dem sich die Ängste und Gefahren des global warming widerspiegeln.

Aktuell finden sich entsprechende Titel wie „Die Erinnerung an unbekannte Städte“ von Simone Weinmann oder „Milchzähne“ von Helene Bukowski.
Doch so neu ist diese Form der Literatur nicht. In den 1960er Jahren setzte damit der Brite James Graham Ballard (1930 – 2009) den Grundstein für eine Karriere, die ihn zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes und darüber hinaus machte.

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Der Sturm aus dem Nichts“ (Storm-Wind, 1961) bildete den Anfang eines Reigens der Extreme, in denen er die Urgewalten als globale Katastrophen auftreten läßt: Ein wie aus dem Nichts entfesselter Supersturm zerstört die menschliche Zivilisation, die kein Entkommen findet. Ihm folgte „Karneval der Alligatoren“ (The Drowned World, 1962), in Deutschland einer der erfolgreichsten Roman Ballards, über eine in den Fluten einer globalen Schneeschmelze versunkene Welt. Danach erschien „Welt in Flammen“ (The Drought, 1965), in der die Menschheit in einer überhitzten Welt zugrunde geht. Für den Abschluß steht „Kristallwelt“ (The Crystal World, 1966), wo ausgelöst durch eine kosmische Quantenverschränkung vom westafrikanischen Dschungel aus sich alle Materie – egal ob leblos oder belebt – langsam in eine kristalline Struktur transformiert.

Alle vier Romane stehen für die Vier-Elemente-Lehre der griechischen Naturphilosophie, als die Stoffe, aus denen die Welt bestehen sollte: Luft, Wasser, Feuer und Erde.

Der Schweizer Verlag Diaphanes, der bereits seit einigen Jahren das Werk Ballards nach und nach neu aufgelegt hat, hat für Ende Oktober die Neuerscheinung von Ballards „Welt in Flammen“ unter dem Titel „Die Dürre“ angekündigt. Es ist ein Roman zur rechten Zeit.

„Welt in Flammen“ / „Die Dürre“ führt in eine Zukunft, in der durch die Umweltverschmutzung sich ein hauchdünner, aber unzerstörbarer Polymerfilm über die gesamten Wasseroberflächen gelegt hat, der die Verdunstung des Wassers unterbindet. Die Folgen sind desaströs. Der Wasserkreislauf ist unterbrochen; es fällt kein Regen mehr. Die Atmosphäre ist erfüllt von Trockenheit und Hitze:

„Regen! Ransom versuchte sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was dieses Wort einmal bedeutet hatte und sah dabei zum Himmel auf. Die Sonne hing wie eine glühende Kugel über ihm, deren unerträglicher Glanz weder durch Wolken- noch durch Wasserdampfschleier gemildert wurde. Die ausgetrockneten Felder und Wiesen an beiden Ufern des Flusses lagen unter dem gleichen unbarmherzigen Licht wie unter einer riesigen Hitzeglocke, die alles zur Bewegungslosigkeit erstarren ließ.“

Die letzten Überlebenden fliehen zum Meer, wo sie sich Kühlung erhoffen. Auf dem dünnen Streifen zwischen Meer und Land dicht gedrängt richten sie sich mit Anlagen zur Wasserdestillation auf ein kümmerliches Überleben ein. Sand, Staub und Flugasche bedecken währenddessen die verlassenen Relikte der untergegangenen Zivilisation.

Der Plot des Romans begleitet Ballards Protagonisten Charles Ransom auf seinem Weg in dieser dystopischen Welt. Der Mediziner versucht so lange wie möglich in seinem Wohnboot an den Ufern eines verschlammten Flusses auszuharren. Marodeure suchen die Gegend heim. Seine Frau hat sich von ihm getrennt. Auch er macht sich schließlich gemeinsam mit vier weiteren Begleitern auf den langen Weg zur Küste durch eine von der Apokalypse des Feuers verzehrten Welt:

„Eine Stunde später gingen sie nebeneinander das ausgetrocknete Flussbett entlang, über das der Gluthauch der zahlreichen Feuer am Ufer wie ein heißer Wüstenwind hinwegblies. Der gesamte Horizont stand in Flammen, denn in den Außenbezirken der Stadt wüteten unvorstellbare Großfeuer. Larchmont brannte am Fluß, und das Feuer hatte auch die Bootshäuser erfaßt. Hoch über ihren Köpfen segelten Myriaden von glühenden Holzstückchen wie Glühwürmer vorbei und blieben auf den Feldern im Süden liegen, als sei der ausgetrocknete Boden jetzt ebenfalls in Brand geraten.“

Die surrealen Beschreibungen der von Hitze und Feuer verwandelten Landschaften, ihre Ursache in einer vom Menschen verursachten Umweltkatastrophe – all das legt den Schluß nahe, Ballard hätte mit „Welt in Flammen“ eine Warnschrift vor dem ökologischen Kollaps vorlegen wollen. Doch nichts lag ihm ferner, auch wenn in der Zeit der Entstehung des Romans erste Ängste vor den Folgen der Umweltzerstörung aufkamen, und Ballards Romane lassen durchaus eine Lesart zu, in der sich ein stückweit diese Ängste widerspiegeln.

Jedoch ging es ihm weniger um die gefährdete Ökologie unseres Planeten. Ballard war tief beeinflußt von den Surrealisten sowie den Psychoanalytikern Sigmund Freud und C. G. Jung, so daß

„keineswegs die abenteuerliche Bewältigung der diversen Katastrophen im Mittelpunkt [steht], sondern ein besonderes Mensch-Natur-Verhältnis, das vor diesem Hintergrund Ballards spezifische Vorstellungen einer individuellen, gesellschaftlichen und kosmisch-irdischen Devolution beleuchtet. Diese Naturkatastrophen liefern gleichsam das Bühnenbild, vor dem sich das folgende Drama entwickeln kann.“ (Klaus W. Pietrek)

Allen vier Romanen ist gemeinsam, daß es darin keine Rückkehr zu den alten Zuständen gibt. Doch überraschenderweise wehrte sich Ballard stets dagegen, daß seine Romane Geschichten von globalen Katastrophen ohne Happy Ends enthielten:

„Die Helden nehmen die besonderen Wandlungen freudig auf, wofür sie ihre eigenen psychologischen Gründe haben. Das sind Geschichten von ungeheuren psychischen Transformationen (…) und ich verwende diese äußere Transformation der Landschaft, um die innere Wandlung zu reflektieren und sie mit ihr zu verbinden, nämlich die psychologische Wandlung der Charaktere. Das ist das Thema dieser Romane: es sind Geschichten von Verwandlungen anstatt Katastrophengeschichten.“

Als diese vier Romane Ballards erschienen, befand sich die Science-Fiction in einer Krise. Trotz ihres visionären Gehalts konnte auch er ihr damit keine Impulse geben. Ballard blieb ein Solitär in diesem Genre, allerdings ein sehr erfolgreicher, der in den 1970er Jahren mit den als Einheit zu verstehenden, provokativen Romanen „Crash“ (1996 von David Cronenberg verfilmt), „Die Betoninsel“ und „Der Block“ (2015 unter dem Titel „High-Rise“ in den Hauptrollen mit Tom Hiddleston und Jeremy Irons verfilmt) noch mal für Furore sorgte.

Auch fast 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung ist „Welt in Flammen“ ein Roman, der keineswegs an Reiz verloren hat und den die Klimafrage aktueller denn je macht. Vielleicht kann seine Neuauflage in der heutigen Science-Fiction eine Rückbesinnung herbeiführen auf Stoffe, die uns mehr zu erzählen haben, jenseits der modernen Weltraummythen von Star Wars und Star Trek.

J.G. Ballard
Welt in Flammen
Heyne Verlag

175 Seiten, 1978
J.G. Ballard
Die Dürre

Diaphanes
VÖ 27.10.2022, 224 Seiten

18,- Euro