Als die Organisatoren des „Literarischen Frühlings“ Anfang dieses Jahres ihr aktuelles Programm für 2022 herausgaben, konnten sie noch nicht wissen, wie die Entwicklungen in der Ukraine ihrer Top-Veranstaltung, dem Lesedinner mit der Schriftstellerin Katerina Poladjan, zu besonderer Aktualität verhelfen würden. Poladjan (51) ist gebürtige Russin und siedelte 1977 in die Bundesrepublik über. Ihre Romane erhielten zahlreiche Preise – zuletzt den mit 15.000 Euro dotierten Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund – und wurden vielfach in andere Sprachen übersetzt. Ihr aktueller Roman „Zukunftsmusik“, den Moderator Klaus Brill als ihren Durchbruch bezeichnete, stand im Mittelpunkt des vergangenen Freitagabends in Ellershausen nahe Frankenberg/Eder.
Poladjan ist für die Institution des Literarischen Frühlings keine Unbekannte. Sie trat schön des Öfteren dort auf als Schreib-Dozentin, Vorleserin von Klassikern oder als Interpretin ihrer eigenen Werke. Ungewöhnlich der Standort, der die Karriere vom Kuhstall zum Kulturstall machte: „Zukunftsmusik“ stellte sie vor im „Metzen Alter Kuhstall“, der zwar überwiegend Landmaschinen beherbergt, aber auch so gebaut und umgestaltet wurde, daß er innerhalb kürzester Zeit für eine gehobene Dinner-Veranstaltung umfunktioniert werden kann.
Das Dinner selbst bestand dem Thema des Abends entsprechend aus einem Vier-Gänge-Menü osteuropäischer Spezialitäten wie Sibirische Teigtaschen und dem klassischen Borschtsch, einer Suppe aus Roter Bete. Die Organisation übernahm das Romantik Hotel Landhaus Bärenmühle.
„Zukunftsmusik“ ist ein Roman, der mit eine Antwort zu geben versucht, wie Russland wurde, was es heute ist. An diesem Abend trafen sich die Vergangenheit mit der Gegenwart, um einen Ausblick in die Zukunft zu versuchen. Die Handlung des Romans beginnt am 11. März 1985, einem historischen und schicksalsträchtigen Datum in der Sowjetunion. Der greise Generalsekretär Tschernenko war nach nur wenigen Monaten an der Macht am Vortag verstorben. Ihm folgte bereits einen Tag später Michail Gorbatschow ins Amt, der Mann, der sich an Reform und Rettung der Sowjetunion versuchte und in dieser – letztlich kläglich gescheiterten – Mission die Wiedervereinigung Deutschland ermöglichte.
Der Schauplatz des Romans ist eine Kommunalka im tiefsten Sibirien. Die Kommunalka war in der Sowjetunion eine Wohnform, die der chronischen Wohnungsnot entgegenwirken sollte. Oftmals ehemalige Häuser des Adels und des Großbürgertums wurden von sechs bis sieben Mietparteien aus 40 – 50 Menschen bewohnt, Küche und Bad gemeinsam genutzt. Der zur Verfügung stehende Platz wurde so optimiert, daß man durch größere Zimmer einfach neue Wände zog. In der Regel stand jeder Mietpartei nur ein Zimmer zur Verfügung – die Kommunalka als ein Sinnbild für die Sowjetunion mit ihren vielen Nationalitäten.
So auch der Familie von Janka, vier Frauen aus vier Generationen. Janka, mit Anfang 20 im besten Jugendalter, gehört dennoch einer verlorenen und vergessenen Generation an. Die weitgehende Abwesenheit der Männer in dem Plot ist dem Umstand geschuldet, daß diese in jener Epoche oft ein kurzes Leben führten. Der grassierende Wodka-Alkoholismus, der Tod an der Front im Zweiten Weltkrieg oder in Afghanistan ließ ihre Lebenserwartung drastisch sinken. Oder sie saßen einfach im Gefängnis oder Straflager.
Ein solches Milieu eröffnet eine besondere Psychodynamik, die durch den ganzen Roman trägt. Die Kommunalka kennt keine Privatsphäre und bringt komplexe Beziehungsgeflechte hervor. Trotz der „heiteren Melancholie“ des Romans, ist es ein ideologisch geprägtes System, in dem sich Kollektiv und Individuum konträr gegenüberstehen.
Poladjan knüpft in ihrer Geschichte an verschiedene Stränge der russischen Literaturtradition an, so zum Beispiel an „Oblomow“, den Roman Iwan Gontscharow über einen in seiner Lethargie gefangenen Adligen. Auch in „Zukunftsmusik“ sind die Protagonisten in der Spätphase der Sowjetunion gleichermaßen in einer ausweglosen Trägheit gefangen: „Sehen Sie, man kann nichts tun.“
Wo „Zukunftsmusik“ die Frage nach der Freiheit im damaligen Sowjet-Russland stellt, so ist die Antwort nach Poladjan, daß man in Freiheit sozialisiert werden muß, um Freiheit leben zu können. Unter den Bedingungen der Kommunalka ist das kaum möglich. Und wer in einem „System der Lüge“ lebt, fängt schließlich an, sich selbst zu mißtrauen.
Auf die Frage nach ihrer Identität bekennt Poladjan offen, daß ihr jeder Sinn für eine nationale Identität fehle, etwas was ihr in ihrem Elternhaus auch nicht vermittelt wurde. Sprache sei für sie „nicht Heimat, sondern das, was gesagt wird“. Zuletzt sei sie durch „Hier sind Löwen“, einem Roman über den türkischen Genozid an den Armeniern, als armenisch stämmige Immigratin eingeordnet worden. Sie jedoch sei eine deutsche Schriftstellerin, die in Russland geboren wurde.
Doch als was immer Katerina Poladjan ihre Identität sieht, die deutschsprachige Literatur kann sich glücklich schätzen, eine derart talentierte Schriftstellerin vorweisen zu können.
Katerina Poladjan Zukunftsmusik 2022; 192 Seiten, 22,- Euro |