Eine perverse Hymne auf die Verbindung von Sex, Gewalt und Technologie

„Vaughan entfaltete seine ganze Obsession für mich, besessen von der mysteriösen Erotik der Wunden: die perverse Logik von im Blut schwimmenden Armaturenbrettern, exkrementverschmierten Sicherheitsgurten, mit Hirnmasse gezierten Sonnenblenden. Bei Vaughan löste jeder Unfallwagen ein Zucken der Erregung aus, die komplexe Geometrie eines eingedrückten Kotflügels, die unerwarteten Varianten eines zerquetschten Kühlergrills, die groteske Position eines verborgenen Armaturenbretts, das über die Genitalien eines Fahrers ragte wie in einem wohlbemessenen Akt maschineller Fellatio. Die Intimität von Zeit und Raum eines einzelnen Menschenwesens war in diesem Gewebe aus verchromten Messern und mattiertem Glas für die Ewigkeit erstarrt.“ (JG Ballard, „Crash“)

Als 1973 „Crash“ erschien, war der Brite James Graham Ballard (1930 – 2009) bereits ein etablierter Schriftsteller. Mit in der Science-Fiction angesiedelten Romanen wie „Karneval der Alligatoren“ oder auch „Welt in Flammen“ schuf er die Vorläufer dessen, was man heute in der Literatur Climate Fiction nennt. Doch ging es ihm nie um die Warnung vor den Folgen eines Klimawandels, der seinerzeit noch lange kein Thema war. Ballards Frühwerke sind „Literatur der psychologischen Erfüllung“. Seine Protagonisten sind darin Einzelgänger, die den Weg ihrer Erfüllung durch impressionistische Extrem-Landschaften suchten.

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„Crash“ stellte jedoch gegenüber all seinen Vorgängern ein radikales Wagnis dar, letztlich sogar ein Risiko für seinen Autoren. Darin findet sich eine seltsame Gruppe zusammen, die eine bizarre Besessenheit verbindet: Die Sucht nach dem Kick, den ein Autofahrer im simultanen Zusammentreffen von sexuellem Höhepunkt und Verkehrsunfall empfindet. Sein Ich-Erzähler, dem er seinen eigenen Namen gab, kommt nach einem schweren Zusammenstoß mit einem anderen Wagen, dessen Fahrer dabei verstirbt, auf den Geschmack. Im Krankenhaus trifft er erstmals auf Vaughan, die „Antichrist-Figur“ des Romans, der ihm zu einer Art Mentor für diese neue Leidenschaft wird. Es wird für Ballard zu „einer langen Strafexpedition in mein eigenes Nervensystem“. Angeleitet von Vaughan ersinnen beide immer bizarrere Formen von Autounfällen mit kopulierenden Insassen: „Die deviante Technologie des Autounfalls bewilligte jeden denkbaren Akt der Perversion.“

Gemeinsam fahren sie durch die Gegend, zwei Voyeure auf der Suche nach Autounfällen. Der Kreis erweitert sich durch Catherine, die Ehefrau des Erzählers, sowie Helen Remington, der Ehefrau des bei dessen Unfall verunglückten Mannes, die auch noch als Beifahrerin mitbeteiligt war. Vaughans größter Traum ist der automobile Zusammenstoß mit der Filmschauspielerin Elisabeth Taylor, bei dem beide ums Leben kommen.

Explizite Beschreibungen von sexuellen Akten während Autofahrten in allen Details ziehen sich durch den Plot, daß man das Gefühl bekommt, man hielte einen Porno in den Händen, aus dessen Seiten Sperma und Vaginalsekret nur so tropfen. Doch „Crash“ läßt auch die Lesart einer radikalen, übersteigerten Zivilisationskritik zu. Es gehört mit Ballards nachfolgenden Romanen „Die Betoninsel“ (1974) und „Der Block“ (1975) zu einem literarischen Triptychon, perfekt eingepasst in den Zukunftspessimismus der 1970er Jahre. Erstmals wurde damals die Frage aufgeworfen, ob die Menschheit den negativen Auswirkungen des technologischen Fortschritts noch gewachsen sei. Das Versprechen der automobilen Gesellschaft hat die Landschaft mit Straßen voller stinkender Fahrzeuge planiert und zergliedert. Das Auto als auch sexuelle Attraktivität ausstrahlendes Statussymbol fordert von seinen Besitzern immer größere finanzielle Opfer und erzwingt geradezu eine Entwicklung zu immer größeren Modellen, an deren Spitze heute die als SUV (Sport Utility Vehicle) bekannten Stadtpanzer stehen. Und unweigerlich kommt einem bei „Crash“ der Gedanke an die illegalen Autorennen mit oftmals tödlichem Ausgang, die ohne die Virilität der testosterongeschwängerten Fahrer nicht zu denken sind. Ballards Idee der Verbindung von Sex und Technologie ist von der Realität gar nicht so weit entfernt.

„Crash“ ist ein extrem harter, provozierender und herausfordernder Stoff. Kaum verwunderlich, daß die Reaktionen darauf nicht gerade euphorisch ausfielen. Der Autor und Scifi-Experte Charles Platt berichtete nach einem Interview mit Ballard:

„[Crash] war ein ausnehmend perverser, verstörender und gestörter Vorstoß in die Bereiche von Sadismus und Tod, und ich weiß noch, wie er glücklich lachte, als er mir erzählte, dass eine Frau, die das Buch für den Verlag gelesen hatte, erklärt hatte, dem Verfasser sei ‚medizinisch nicht mehr zu helfen.‘“

Kurioserweise erlitt Ballard zwei Wochen nach Veröffentlichung von „Crash“ selbst einen schweren Unfall. Im Nachhinein vermutete er, „wäre ich bei dem Unfall uns Leben gekommen, hätte man das wahrscheinlich als Vorsatz interpretiert, jedenfalls auf der unterbewussten Ebene, als Kapitulation vor den dunklen Mächten, die den Roman hervorgebracht haben.“

Die Inspiration für die in „Crash“ vertretene „Hypothese über die unbewusste Verbindung zwischen Sex und Autounfällen“ bezog der Autor in einer von ihm 1970 organisierten Kunstausstellung im New Arts Laboratory in London. Für einen Monat wurden dort drei auf Schrottplätzen gekaufte Unfallwagen ausgestellt. Kameras nahmen die Besucher bei ihrem Rundgang auf, den sie auf Monitoren selbst ansehen konnten. Eine junge Frau sollte die Besucher nackt nach ihren Empfindungen fragen. Nachdem ihr nach anfänglicher Zustimmung Bedenken kamen, trat sie nur oben ohne auf. So wie die Ausstellung bei der Eröffnung zu entgleiten drohte, schien sie Ballards Hypothese akkurat zu bestätigen. Ballard schrieb hierzu in seiner Autobiographie „Wunder des Lebens“:

Ich bestellte eine erhebliche Menge Alkohol und ließ den ersten Abend wie eine Galerieeröffnung ablaufen, zu der ich verschiedene Schriftsteller und Journalisten eingeladen hatte. Ich habe noch nie erlebt, dass sich Besucher einer Kunstgalerie so schnell betrunken haben. Es lag eine ungeheure Spannung in der Luft, als wären alle durch eine innere Alarmglocke aufgeschreckt worden. Hätten sie draußen auf der Straße geparkt, hätte niemand die Automobile bemerkt, aber im grellen Licht der Galerie schienen die verwüsteten Karosserien zu provozieren und zu beunruhigen. Wein wurde auf die Autos geschüttet, Scheiben eingeschlagen, das Oben-ohne-Mädchen um ein Haar auf dem Rücksitz des Pontiac vergewaltigt (behauptete sie jedenfalls; später schrieb sie eine vernichtende Rezension unter dem Titel »Ballard Crashes« in der Undergroundzeitschrift Frendz). Eine Journalistin von New Society begann in dem Durcheinander ein Interview mit mir, wurde aber derart von ihrer Entrüstung (von der die Zeitschrift einen grenzenlosen Vorrat besaß) übermannt, dass man sie festhalten musste, damit sie sich nicht auf mich stürzt.

Es sollte noch fast 25 Jahre dauern, bis „Crash“ verfilmt wurde. Erst in den 1990er Jahren war die Zeit hierfür reif genug. Der Erfolgsregisseur David Cronenberg („Die Fliege“, „Naked Lunch“) nahm sich 1996 des Stoffs an und führte die Hollywoodschauspieler James Spader („Stargate“, „The Blacklist“), die Oscar-Preisträgerin Holly Hunter („Das Piano“), Elias Koteas, Deborah Kara Unger sowie Rosanna Arquette zu einem eindrucksvollen Cast zusammen, das gewährleistete, daß „Crash“ nicht zu einem verunglückten Softporno missriet. Seltsamerweise geriet der Film in Ballards Heimat zu einem ausgewachsenen Skandal, als konservative Politiker zum Sturm gegen ihn bliesen. Die Veröffentlichung des Romans selbst zog seinerzeit bei weitem keine vergleichbaren Reaktionen nach sich. Hingegen feierte der Film in Frankreich, wo man mit „Die Marquise von O.“ bereits auf eine gewisse Erfahrung mit provozierenden Filmen zurückblicken konnte, geradezu euphorische Erfolge.

US-Trailer CRASH

Cronenberg sagte zu seinem Film: „Ich denke, wenn man CRASH gesehen hat, und danach einen intensiven, emotionalen Zustand empfindet, den man aber nicht klar benennen kann, dann hat der Film richtig funktioniert.“ Weder für das Buch noch den Film gibt es eine Garantie, daß dieser Zustand beim Zuschauer bzw. Leser eintritt. „Crash“ ist härtester Stoff, auf den man sich einlassen muß. Und trotzdem werden nicht wenige Leser dem vernichtenden Urteil über den Autor, dem „medizinisch nicht zu helfen“ sei, nicht widersprechen wollen. Ballard hat diese scharfe Kritik humorvoll an sich abperlen lassen. Denn ihm ist mit „Crash“ das gelungen, was sich vermutlich nicht wenige Schriftsteller wünschen: Ein enigmatisches Werk zu schaffen, das seinen Verfasser noch lange überdauert.

James Graham Ballard
Crash
Diaphanes
2019, 240 Seiten, 20,- Euro
CRASH
Regisseur: David Cronenberg
Mit James Spader, Holly Hunter, Elias Koteas, Deborah Kara Unger, Rosanna Arquette
1996
1h:40 Min.

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