Der Blick in Russlands Zukunft richtet sich in seine Vergangenheit

„Ich entdeckte den Park wie einen fremden Erdteil. Er hatte seinen eigenen Dschungel, seine Höhlen, seine geheimnisvollen Meere, seine rätselhaften Schlösser, wilde Eingeborene und freundliche Unbekannte. Und die Zukunft sah so aus: ein weißes, luftiges, zerbrechliches Versprechen.“
Juri Trifonow über den Gorki-Park, GEO 10/1979

Mit dem Beginn seines Angriffskrieges gegen die Ukraine ist Russland in eine neue historische Phase eingetreten. Doch statt der von Putin angestrebten Erneuerung des russisch/sowjetischen Imperiums zeigt nun der Weg des Landes mit der größten Landmasse der Welt nur in eine Richtung: Rückwärts in die Vergangenheit.

Symptomatisch hierfür ist der Versuch der russischen Führung, nach dem Rückzug des französischen Autobauers Renault aus dem Land die Fertigungsstätten umzurüsten auf die Wiederbelebung einer Marke, die aus der Sowjet-Ära noch gut bekannt ist, den Moskwitsch. Doch da die vorhandene Technik eine reine Endfertigung ist und Russland aufgrund der Wirtschaftssanktionen von Zulieferungen und Technologietransfers aus dem Westen weitgehend abgeschnitten ist, spricht wenig dafür, daß der „neue Moskwitsch“ auch nur annähernd mit westlichen Modellen mithalten kann, ebenso wenig wie es seine sowjetischen Vorgänger konnten, falls es bei diesem Projekt nicht ohnehin um ein „Potemkinsches Dorf“ handelt.

Russland ist also auf dem besten Weg zurück in eine Zeit, die nur unter dem größten Einsatz von Propaganda strahlend erscheint. Bis an die Zähne atomar bewaffnet, aber mit der Versorgung der eigenen Bevölkerung heillos überfordert, technologisch dem Westen immer weiter hinterherhinkend, jede Eigeninitiative und Freigeist durch ein diktatorisches System erstickend. „Obervolta mit Atomraketen“ höhnte einst Bundeskanzler Helmut Schmidt. Anlaß für Schadenfreude bieten diese trüben Aussichten für Russland keineswegs, denn noch ist nicht ausgemacht, ob die Kollateralschäden der westlichen Russland-Sanktionen aus Deutschland nicht eine gigantische Industrieruine machen.

Die imperiale Sehnsucht vieler Russen ist eine gefährliche Nostalgie, die verkennt, wie sich unter der Stagnation der Zerfall vorbereitete, der am Ende die Sowjetunion kollabieren ließ. In jüngster Zeit hat die in Moskau geborene und nach Deutschland ausgewanderte Schriftstellerin Katerina Poladjan in „Zukunftsmusik“ (2022) einen literarischen Rückblick in die triste Lebenswirklichkeit der russischen Provinz Mitte der 1980er Jahre gegeben. Doch noch interessanter ist der Griff zu Klassikern aus der Zeit des Kalten Krieges, die uns einen ungleich dichteren Bezug liefern. Dem amerikanischen Schriftsteller Martin Cruz Smith (*1942) ist 1981 mit dem Thriller „Gorki Park“ ein Weltbestseller gelungen, dem kurz darauf mit „Gorky Park“ die nicht weniger erfolgreiche Hollywood-Verfilmung folgte.

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In einer typisch kalten Winternacht werden im Moskauer Gorki Park die drei mit Schnee überdeckten Leichen zweier Männer und einer Frau entdeckt. Ihre Gesichtshaut wurde fachmännisch abgezogen, sämtliche Fingerkuppen abgeschnitten, was ihre Identifizierung zur damaligen Zeit unmöglich macht. Der KGB lehnt alle weiteren Ermittlungen ab, die er der Miliz überläßt. Dem Leitenden Ermittler Arkadi Renko ist nicht wohl dabei. Gleichwohl setzt er seine Arbeit fort und stößt durch die Schlittschuhe des weiblichen Opfers auf eine junge Frau, Irina Asanova, die mit den Toten offenbar in näherer Verbindung steht und mit der er bald eine tragische Liebesbeziehung eingeht. Zeitgleich macht Renko die keineswegs zufällige Bekanntschaft mit dem Amerikaner Jack Osborne, einem umtriebigen und habgierigen Geschäftsmann mit dunkler Vergangenheit, der bestens mit dem FBI und dem KGB vernetzt ist. Doch auch Irina und Osborne sind einander nicht unbekannt. Zu spät erkennt Renko, daß er nur Spielball ist in einem mörderischen Komplott um eines der wichtigsten Wirtschaftsgüter, auf das die Sowjetunion noch ein Monopol hat: den lukrativen Handel mit äußerst wertvollen Zobelpelzen.

Buch und Film trafen seinerzeit einen Nerv in der Leserschaft. Der Kalte Krieg erreichte nach der Entspannungspolitik der 1970er Jahre mit dem Präsidentschaftsantritt von Ronald Reagan einen neuen Höhepunkt. Reagan erklärte die Sowjetunion umgehend zum „Reich des Bösen“ und fachte den Rüstungswettlauf an. Die inneren Verhältnisse Sowjet-Russlands harrten unter Leonid Breschnew und seinen greisen Nachfolgern Andropow und Tschernjenko weiterhin in Erstarrung.

Martin Cruz Smith vermittelt in seinem „Gorki Park“ das Bild eines Landes, das von Rückständigkeit geprägt und von Korruption zerfressen ist. Selbst einfache Haushaltsgeräte im Neuzustand funktionieren nicht. Schwarzmarkthändler führen ein parasitäres Leben auf Kosten der Allgemeinheit. Wie ein Krake hält der KGB seine Finger über das Land. Antisemitische Vorurteile sind selbst in den Kreisen der Elite virulent. Die Wirklichkeit wird den Bedürfnissen des Staates angepasst:

„Angenommen ein verdienter Künstler bittet seine Frau eines Nachts, aus dem Auto zu steigen, um Glasscherben von der Straße zu räumen, und überfährt sie dabei. Eine junge Frau, die bald heiraten will, bringt ihre Großeltern ins Bett, schließt das Fenster und dreht das Gas auf, bevor sie abends ausgeht. Ein fleißiger Landwirt, ein angesehener Kolchosbauer, erwürgt ein Flittchen aus Moskau. Das sind Dinge, die offiziell nicht passieren dürfen, aber sie sind die Wahrheit: Ein Mann, der sich eine Geliebte und ein Auto leisten kann; eine junge Frau, die mit ihrem Ehemann im selben Zimmer mit den Großeltern hausen muss; ein Bauerntölpel, der dumpf ahnt, dass er sein Leben lang nicht aus seinem erbärmlichen Nest am Ende der Welt rauskommen wird. Solche Dinge erscheinen nicht in unseren Berichten, aber wir wissen darüber Bescheid. Deshalb müssen wir das Recht haben, die Wahrheit zu verändern.“

Es ist ein System, in dem „wir keinem trauen dürfen“. In diesem Umfeld wirkt der gradlinige Ermittler Renko wie ein trotziger Solitär, dem insgeheim Verachtung ob seines „Moralismus“ entgegengebracht wird. Alles in allem keine Eigenschaften, die ihren Träger zu einer Karriere empfehlen.

Smith kannte die Sowjetunion zwar nur aus der Anschauung einer einmaligen Pauschalreise, recherchierte darüber hinaus aber umfangreich durch Befragungen bei russischen Immigranten. Wie gut seine Recherchen seinen Blick auf Russland geschärft haben, zeigt schon die Wahl des Gorki Park als zentralen Ausgangspunkt seines Plots. Der im 19. Jahrhundert angelegte Park, dessen Benennung übrigens nicht auf den russischen Schriftsteller Maxim Gorki (1868 – 1936) zurückgeht, ist für die Moskauer Kultur von zentraler Bedeutung. Er ist nicht alleine Freizeitpark und Sportstätte. Hier trifft man sich nicht nur zum Spazieren gehen oder zum Schachspiel, versammelten sich die Veteranen des „großen vaterländischen Krieg“. Oder eben wie die drei Mordopfer aus Cruz‘ Roman zum winterlichen Schlittschuhlaufen unter donnernder Musik.

Mit Arkadi Renko begründete Smith eine bis heute erfolgreiche Serie, die parallel zur aktuellen Entwicklung Russlands Schritt hält. Zuletzt erschien 2021 mit „Der Spur des Bären“ die neueste Folge, in der sein altersloser Held wider Willen zum Instrument einer Intrige des Kremls gegen einen politisch zu ehrgeizigen Oligarchen wird.

Die Verfilmung von 1983 bietet noch den zusätzlichen Reiz eines Wiedersehens mit einer alten Garde Hollywoods, die inzwischen fast vollständig abgetreten ist. William Hurt in der Rolle des Arkadi Renko ist erst im März verstorben. Brian Dennehey in der Rolle des amerikanischen Polizisten William Kirwill, dem Bruder eines der drei Mordopfer, starb zwei Jahre zuvor. Für die Hollywood-Legende Lee Marvin als Jack Osborne war es eine seiner letzten Filmrollen († 1986). Ein Wiedererkennen dürfte es für Star-Wars-Enthusiasten in der Rolle des leicht exzentrischen Anthropologen Andreev geben, der mit seinem ausgeklügelten Verfahren aus den Totenschädeln der Mordopfer ihr ursprüngliches Aussehen wiederherstellt; ihn verkörpert der Schotte Ian McDiarmid, besser bekannt als der Imperator Palpatine / Darth Sidious. Das in der Verfilmung dargestellte Rekonstruktionsverfahren hat übrigens einen realen Hintergrund und war für Smith der Auslöser für die Idee des „Gorki Park“.

Nicht unerwähnt bleiben sollte der Einsatz des noch jungen Filmkomponisten James Horner(1953 – 2015), der gerade seinen Durchbruch in Hollywood feierte, und dessen Soundtrack dem „Gorky Park“ den dramatischen Feinschliff verpasste.

Main Titel – Gorky Park OST (James Horner)

Dem Erfolg des „Gorki Park“ im Westen stand wiederum der Verriss in der sowjetischen Literaturkritik gegenüber, die darin ihr Land verunglimpft sah, obwohl sich Cruz manch kritische Seitenhiebe auf seine Heimat nicht verkniff. Doch das letzte, was man Cruz‘ Werk vorwerfen kann, ist daß es das Produkt eines „kalten Kriegers“ ist. Kaum verwunderlich, daß die Verfilmung des Romans nicht an den Originalschauplätzen stattfand, sondern in Finnland. Zu dem damaligen Zeitpunkt hätte es wohl kaum jemand für möglich gehalten, daß der „Wind of Change“ bald für eine vollkommene Umdrehung der Verhältnisse sorgen würde. 1985 leitete Michail Gorbatschow als neuer sowjetischer Generalsekretär mit Glasnost und Perestrojka jene Wende ein, die zum Fall des „Eisernen Vorhangs“ und dem Untergang der Sowjetunion führte. Schon bereits 1989 konnte mit „Das Russland-Haus“ (in den Hauptrollen Sean Connery und Michelle Pfeiffer) der gleichnamige Agententhriller von John Le Carré mit offizieller Genehmigung in Moskau und Leningrad gedreht werden.

War „Gorki Park“ das Abbild der russisch-sowjetischen Misere, so reflektierte „Das Russland-Haus“ alle Hoffnungen auf einen globalen Frieden, die allzu schnell in bitterer Enttäuschung endeten. Wie lange wird es wohl dieses Mal dauern, bis wieder Hoffnung keimen kann?

 Martin Cruz Smith
Gorki Park
Neuauflage 2015
416 Seiten; 9,99 Euro
Gorky Park
Mit William Hurt, Brian Dennehy, Joanna Pacula, Lee Marvin
2 Stunden und 3 Minuten