Als England von den Russen besetzt war

Hat Romeo sich selbst ermordet? Sag du nur „ja“
Und dieses bloße Wörtchen „ja“ soll mehr vergiften
Als des Basilisken todverheißend Auge.
Ich bin nicht ich, wenn’s geben sollt ein solches „ja“
Und schlafend jene Augen, die dir das „ja“ entreißen!

Aus: „Romeo und Julia“, William Shakespeare

Der zweite Jahrestag des Beginns des russischen Krieges gegen die Ukraine brachte in den Medien manch merkwürdige Bewertung des militärischen Potentials Russland. Sollten die Russen diesen Krieg gewinnen, so würden dadurch russische Expansionsgelüste nach Westeuropa hinein geweckt; so sah ein Kommentator sogar den weiteren Vormarsch bis in die Schweiz kommen. Warum die Russen in die Schweiz marschieren sollten, blieb allerdings ungeklärt.

Wer alt genug ist, den bis 1990 andauernden Kalten Krieg miterlebt zu haben, dem kommt der Sound dieser Überlegungen merkwürdig vertraut vor. Auch damals machte man sich im Westen viele Gedanken darüber, was kommen könnte, gelänge den Russen der Sieg über den „freien Westen“. Der griffigste Slogan daraus war wohl der aus dem linken Spektrum kursierende Spruch: „Lieber rot als tot.“

Einer der sich damals darüber Gedanken machte, war der Schriftsteller Kingsley Amis (1922 – 1995). Amis gehörte zu den bedeutendsten britischen Schriftstellern seiner Zeit. Zu seinen bekanntesten Werken in Deutschland gehört der 1980 veröffentlichte und 1984 in der Science-Fiction-Reihe des Heyne Verlags erschienene Roman „Das Auge des Basilisken“.

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In dieser dystopischen Satire zeichnet Amis das Bild eines von den Sowjets besetzten Englands. Der Plot spielt sich 50 Jahre nach einem als „Pazifikation“ bezeichneten Krieges ab, der um die Wende zum 21. Jahrhundert stattfand. „Pazifikation“ – ein recht verharmlosender Begriff für eine militärische Auseinandersetzung, die uns heute daran erinnert, daß die Russen ihren Krieg in der Ukraine ebenso wenig beim Namen nennen, sondern zum „militärischen Sondereinsatz“ relativieren. Die Eroberung nahm nur drei Tage in Anspruch, abgesehen vom vergeblichen Widerstand einiger weniger.

50 Jahre danach ist das Land fast auf ein präindustrielles Niveau zurückgeworfen, statt den Weg in ein sozialistisches Paradies zu gehen. Die Analphabetenrate liegt bei 69 Prozent. Statt Autos fahren die Menschen mit Pferdekutschen und bestenfalls mit Fährrädern mit Hilfsmotor. Selbst Moskau steht kurz vor dem totalen Erliegen des motorisierten Verkehrs. Das von den Russen initiierte Entnationalisierungsprogramm hat die Engländer restlos von ihrem kulturellen Erbe entfremdet, selbst von ihrer anglikanischen Religion. Und offenbar haben die Besatzer nur einer ohnehin im Verfall begriffenen Gesellschaft den Todesstoß gegeben:

„Sie, die Anglikaner, sind seit langem von den Kräften der Aufklärung bedrängt, von innen wie von außen. Bekanntlich waren sie schon zur Zeit unserer Großeltern im Niedergang begriffen, sowohl was die Zahl der Gläubigen als auch was den Inhalt ihrer abergläubischen Vorstellungen betrifft: die meisten von ihnen lebten zugleich in einer laizistischen, wissenschaftlichen oder halbwissenschaftlichen Vorstellungswelt, selbst der Klerus und nicht zuletzt der höhere Klerus, und der Rest der Gläubigen war zu demoralisiert, um sie nicht zu dulden. Die Unterdrückung beschleunigte nur das unausweichliche.“

Hingegen haben es sich die russischen Besatzer komfortabel auf der Insel eingerichtet. Sie haben sich an die Stelle des englischen Adels gesetzt und leben dementsprechend in deren früheren Landhäusern. Jedoch stellen sie nur einen billigen Abklatsch dessen dar, was einmal eine ruhmvolle Vergangenheit repräsentierte. Amis beschreibt die Szenerie einer Scheingesellschaft:

„Und alles sah aus hinreichender Entfernung stilvoll und richtig aus; auch den Anwesenden erschien alles richtig. Niemand dachte, niemand sah, daß die Kleider der Festgäste aus minderwertigen Stoffen schlecht geschnitten waren, schlecht verarbeitet, schlecht sitzend, daß die Frisuren der Damen unordentlich und die Fingernägel der Männer schmutzig waren, daß die Oberflächen der Tennisplätze uneben und unzureichend geharkt waren, daß die weißen Jacken der Diener nicht sehr weiß waren, daß die Gläser und Teller, die sie trugen, nicht ordentlich gespült waren, oder daß das Pflaster, wo die Paare tanzten, hätte gefegt werden müssen. Niemand dachte, niemand nahm mit anderen Sinnen wahr, daß der Wein dünn war, die alkoholfreien Getränke voller Konservierungsstoffe und die Gebäcksorten fade, oder daß die Musik des Orchesters holperig und leblos war. Niemand dachte sich etwas bei alledem, weil niemand jemals etwas anderes gekannt hatte.“

Alexander Petrowsky, ein junger Gardeoffizier eines Kavallerie-Regiments und Sohn eines Besatzungsbeamten lebt schon lange in England. Die Stimmung in der Truppe ist von Langeweile geprägt, so daß sich die Soldaten mit lebensgefährlichen Spielchen unterhalten. Alexander wiederum vertreibt sich die Zeit mit sexuellen Eskapaden, sowohl mit den reifen Frauen russischer Funktionäre wie auch den jungen Mädchen der Unterworfenen.

„Daher erfüllte es ihn mit Erbitterung, daß seine jüngere Tochter derart offen und regelmäßig von einem russischen Offizier bestiegen wurde, noch dazu von einem, den er verabscheute und gegen den er eine persönliche Abneigung verspürte. Diese Gefühle behielt er jedoch so gut als möglich für sich; das Mädchen schien keine Einwände gegen den Stand der Dinge zu haben, und die damit verbundenen Vorteile in Gestalt einer gelegentlichen Flasche Cognac oder einigen Kilo Brennstoff waren sicherlich willkommen, vor allem aber war es (oder konnte sich jeden Tag so erweisen) wichtig, sich das Wohlwollen und die Protektion eines der Scheißer zu sichern – ein Begriff, der selbst unter den vielen gebräuchlich war, die keine ernsten Einwände gegen die Anwesenheit ihrer Herren hatten. Schließlich konnte auch das geringste Verständnis die wahrscheinlichen Resultate des Versuches ermessen, einem – und insbesondere diesem – russischen Offizier entgegenzutreten. Nach allen Erwägungen kam er immer wieder zu dem unausweichlichen Schluß, daß da nichts dagegen zu machen sei.“

Da tritt der Kulturfunktionär Theodor Markow an Petrovsky heran und weiht ihn in den Plan einer Verschwörung der sogenannten Gruppe 31 ein, einer weit fortgeschrittenen Verschwörung, die in einem revolutionären Akt England – und auch Russland – die Freiheit wiederbringen soll. Alexander ist von dem Plan ganz eingenommen und wird an führender Stelle eingesetzt. Doch zu spät erkennen die Beteiligten, daß sie nur Marionetten sind in einer großen Intrige, die auf sie selbst abzielt.

Warum brach der englische Widerstand gegen die sowjetrussische Invasion nach nur drei Tagen zusammen? Offenbar befand sich die Moral der Angegriffenen schon vor dem ersten Schuß im Zustand der fortgeschrittenen Zersetzung. Umso leichter gelang es den Besatzern nach ihrem Sieg, den Unterworfenen auch noch den letzten Rest nationaler Würde zu nehmen, und zwar so nachhaltig, daß selbst die nach Jahrzehnten gewagte Aufführung des Shakespeare-Stücks „Romeo und Julia“ in einem Desaster endet und die Abhaltung eines Gottesdienstes auf Gleichgültigkeit stieß.

Doch die Russen stehen keineswegs als überlegene Sieger da, eher wie nackte, da sie nichts an positiven Werten zu bieten haben, weder den Engländern noch sich selbst. Sogar mit der Erlösungsideologie des Marxismus sind sie am Ende:

„Was ihn ersetzt hat, ist nichts, ein Vakuum. Keine Theorie sozialistischer Demokratie, kein Liberalismus oder dergleichen, nicht einmal ein unpolitischer Kodex des Anstands oder Mitleids. Hinter der ausgehöhlten alten Fassade hatten sich keine neuen Ideen gebildet. Und mit den ökologischen Folgen der ungehemmten industriellen Entwicklung brach der Fortschrittsglaube ebenso zusammen, wie die Hoffnung auf eine allgemeine Aufwärtsentwicklung. Das Christentum war längst abgetan, und keine der neuen Sektenreligionen konnte Fuß fassen. Wie stellte sich der Russe dazu? Kein Glaube, kein Zukunftsoptimismus, kein Vorbild. Unsere in einer anderen Zeit für andere Verhältnisse geschriebenen Bücher sagen uns nichts mehr. Wovon leben wir also? Die Befriedigung des Eigennutzes ist den meisten Menschen nicht genug, es gibt zu viele Gebiete, auf denen er keine Entfaltung findet. Sinnliche Genüsse – ein noch begrenzteres Feld. Also schauspielern wir; wir wählen eine Rolle, die mit unserem Alter und unserer Position nicht allzu unvereinbar ist, und spielen sie nach bestem Können. Freilich können wir sie nicht die ganze Zeit aufrechterhalten, aber sie ist da, wenn wir sie brauchen, und Russe zu sein, ist eine große Hilfe.“

Im Original lautete der Titel von Amis Roman „Russian Hide and Seek – Russisches Verstecken und Suchen“, benannt nach dem morbiden und gefährlichen Zeitvertreib der russischen Besatzungssoldaten, mit der Waffe auf im Dunkeln versteckte Kameraden zu schießen. Der Heyne Verlag entschied sich seinerzeit für den Titel „Das Auge des Basilisken“, nach der darin zitierten Sentenz aus dem Shakespeare-Stück „Romeo und Julia“. Der Basilisk ist ein mythologisches Mischwesen aus dem Kopf eines Hahns mit einer Krone auf dem Kopf und dem Körper einer Schlange, der mit seinem Auge tödliche Strahlen aussenden kann. Der Basilisk als mittelalterliches Sammelwort für alles Böse. Das Auge, weil es der Ausgangspunkt einer tödlichen Bedrohung ist. Also eine treffende metaphorische Beschreibung der Russenbedrohung.

Amis schrieb seinen Roman nicht allein unter dem Eindruck des Kalten Krieges, sondern auch in einer Zeit, in der England beziehungsweise Großbritannien, als „kranker Mann von Europa“ wahrgenommen wurde. Seine Infrastruktur im Verfall, von fortwährenden Arbeitskämpfen geschüttelt, seine einst führende Industrie am Rande des Ruins. Erst 1979, ein Jahr vor der Veröffentlichung des Romans, nahm die konservative Margret Thatcher von den Tories, denen sich der Ex-Kommunist Amis verbunden fühlte, der linken Labour Party die Regierung aus der Hand, der von weiten Teilen des Elektorats die Verantwortung für den Niedergang zugeschrieben wurde.

Für die folgenden zehn Jahre führte Thatcher eine Regierung, in der sie dem Land einen tiefgreifenden, aber auch heftig umstrittenen Wandel unterzog, und der sie bis heute für viele Briten zur Haßfigur macht. Und doch bleibt es ihr Verdienst, daß sie damit einem Leichnam nochmal etwas Leben einhauchte.

Kingsley Amis
Das Auge des Basilisken
303 Seiten
Heyne Verlag, 1984
Nur noch antiquarisch erhältlich

Der notwendige Verrat am eigenen Land

Ideen, die man im Suff entwickelt, können ungeahnte und unliebsame Folgen nach sich ziehen. Obwohl durchaus trinkerfahren wird Bartholomew Scott Blair, kurz „Barley“, Inhaber eines notleidenden britischen Verlagshauses, auf unsanfte Weise an diesen Allgemeinplatz erinnert. Es ist Ende der 1980er Jahre, Blair feiert mit einer Gruppe russischer Literaten in einer Datscha in Peredelkino, einer Siedlung unweit von Moskau, wo auch die vom sowjetischen Staat anerkannten Künstler einen Wohnsitz erhalten. Blairs vom Alkohol gelöste Zunge läßt nicht locker:

„Es gibt nur eine Hoffnung: Wir müssen Verrat an unserem Land begehen. Nur so können wir uns gegenseitig retten.“

Doch ein stiller Gast, der nur als Dante bekannt ist, hört Barley sehr aufmerksam zu. Und er wird ihm beim Wort nehmen.

So ist der Einstieg in „Das Rußland-Haus“, die Verfilmung des gleichnamigen Romans des Briten John le Carré (1931 – 2020) aus dem Jahre 1989. Le Carré war seit „Der Spion, der aus der Kälte kam“ (1963) berühmt für seine Agentenromane. Mit dem Plot des „Rußland-Hauses“ bewies er wieder einmal den richtigen Riecher für einen Erfolgsroman, der die damalige Aufbruchstimmung durch die vor allem durch den russischen Staatsführer Michail Gorbatschow verkörperte Entspannungspolitik aufnahm. Bereits im Folgejahr kam die Verfilmung in die Kinos, in den Hauptrollen Sean Connery als Barley und Michelle Pfeiffer als Katya Orlova.

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Über Katya als Mittelsfrau will Dante (gespielt von Klaus Maria Brandauer) Barley ein Manuskript zur Veröffentlichung im Westen zukommen lassen. Sein Inhalt seiner Notizbücher bedeutet nicht allein Sprengstoff für den Ost-West-Konflikt, sondern auch für die Profiteure des Rüstungswettlaufs. Denn wenn Dantes Informationen stimmen, dann hat die atomare Rüstung der Sowjetunion nur noch Schrottwert und stellt damit keine Bedrohung für den Westen mehr dar: „Wie wollen Sie was am Wettrüsten verdienen, wenn der einzige Arsch, mit dem Sie um die Wette rüsten, ihr eigener ist…?“

Doch durch widrige Umstände gelangt das Manuskript ausgerechnet in die Hände des britischen Nachrichtendienstes. Der möchte mit seinen amerikanischen Partnern vom CIA zu gerne die Quelle des Manuskriptes für seine Zwecke vereinnahmen. Aber dafür benötigen sie ausgerechnet die Hilfe des ihnen unberechenbar erscheinenden Spionage-Laien Barley. Doch als Gefahr für Katya droht, geht Barley für die Frau, in die er sich inzwischen verliebt hat, mutig seinen eigenen Weg und begeht für seine große Liebe Katya Verrat an seinem Land: „Du bist jetzt mein einziges Land.“

Katya Orlowa (Michelle Pfeiffer) und Bartholomew Scott Blair (Sean Connery)

Dem australischen Regisseur Fred Schepisi ist mit dem „Rußland-Haus“ damals einer der Erfolgsfilme des Jahres gelungen. Das Drehbuch hielt sich eng an die Romanvorlage. Außergewöhnlich ist seine Atmosphäre, die ohne jede Action allein von der Spannung des Plots getragen wird, ohne durch das Verhältnis von Barley und Katya in eine Schmonzette abzugleiten. Es fließt kein Blut, er kommt ohne jeden spektakulären Effekt aus. Für den Cast wurden auch in den Nebenrollen namhafte Schauspieler verpflichtet wie Roy Scheider („Der weiße Hai“), James Fox („Reise nach Indien“) sowie J.T. Walsh („Good Morning, Vietnam“). Und Jerry Goldsmith hat als Komponist des mit Jazz-Elementen durchsetzten Soundtrack dem Film eine zusätzliche meisterliche Note verliehen.

Inhaltlich läßt sich „Das Rußland-Haus“ auch als kritische Abrechnung mit den Geheimdiensten, deren Arbeit le Carré aus eigener Anschauung kannte, verstehen. Die Mentalität der Protagonisten aus diesem Milieu ist gekennzeichnet von Zynismus und Zweckrationalität. Das Mißtrauen gegenüber anderen ist in ihre eigene Natur übergegangen, so daß ihnen selbst nicht zu trauen ist; die Lüge wird zu ihrer eigentlichen Natur. Dante warnt Barley eindringlich:

„Sie tragen heute grau, Barley. Mein Vater wurde von grauen Männern ins Gefängnis geschickt. Erschossen wurde er von einem grauen Mann in Uniform. Und es waren graue Männer, die meinen Beruf zerstört haben. Seien Sie vorsichtig, sonst werden sie auch Ihren zerstören.“

Dante (Klaus Maria Brandauer) und Bartholomew Scott Blair (Sean Connery)

Wie ein roter Faden zieht sich beißender Sarkasmus durch den Film. CIA-Mann Clives bissige Bemerkungen über die Experten-Auswertung von Dantes Manuskript liest sich wie ein zeitloses Bonmot auf die heute so viel beschworenen Parole „Folgt der Wissenschaft“:

„Unsere Experten haben festgestellt, daß dieses Notizbuch sehr schnell geschrieben wurde oder sehr langsam, von einem Mann oder einer Frau, im Ernst oder im Scherz, der Schreiber war Rechtshänder oder Linkshänder, er war Wissenschaftler und doch kein Wissenschaftler. Und meine Meinung ist: Für Experten ist keine Toilette tief genug.“

Doch den Film zeichnet noch eine Besonderheit aus. Aus der Rückschau – aus der heutigen Zeit des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine – läßt sich kaum glauben, daß es damals für die in Russland spielenden Szenen eine offizielle Drehgenehmigung an den Originalschauplätzen gab. Noch fast zehn Jahre zuvor mußte für den Film „Gorky Park“ Finnland als Ersatz herhalten. Ein keineswegs unwesentliches Detail als Beweis für den Fortschritt des von niemanden so erwarteten politischen Tauwetters.

Wies US-Präsident Reagan der Sowjetunion noch wenige Jahre zuvor die Rolle des „Reiches des Bösen“ zu, so gab le Carré durch seinen unwahrscheinlichen Helden Barley eine Sympathieerklärung an das russische Volk ab:

„Ich liebe das Land nun mal. Ich fühle mich davon angezogen. Es ist alles so schäbig dort. Sie sind so rückständig dort, dabei geben sie sich so viel Mühe. Die armen Schweine, sie würden gerne so leben wie wir. Sie haben alle so viel Herz, so viel Naivität. Und sie halten übrigens immer ihr Wort.“

Der Fall des Eisernen Vorhangs und der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa 1989/90 sollte „Das Rußland-Haus“ noch während seiner Aufführung inhaltlich regelrecht überrollen. Erstaunlicherweise kam der Film bei der Oscar-Verleihung nicht einmal in die Nominierung, trotz der Höchstleistung von Connery und Pfeiffer. Doch das sollte seinen Wert nicht schmälern. Mehr als 30 Jahre später ist „Das Rußland-Haus“ ein Klassiker, eine wehmütige Reminiszenz daran, was einmal möglich schien.

So hob das Ende des Kalten Kriegs die Hoffnungen auf eine globale Friedensepoche auf bis dahin ungekannte Höhen, gar das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) in Form eines Siegeszugs des liberal-kapitalistischen Demokratiemodells schien in greifbare Nähe. Doch in der Dresdner Kommandantur des KGB schwor sich ein „grauer Mann“ Rache für den als demütigende Niederlage empfundenen Untergang der Sowjetunion. Sein Name: Wladimir Putin. Er sollte seine Chance bekommen…

Das Russland-Haus
Mit Sean Connery, Michelle Pfeiffer

und Klaus Maria Brandauer
1990, 1:58 h
John le Carré
Das Russland-Haus
2001, 431 Seiten
List Verlag

Der Blick in Russlands Zukunft richtet sich in seine Vergangenheit

„Ich entdeckte den Park wie einen fremden Erdteil. Er hatte seinen eigenen Dschungel, seine Höhlen, seine geheimnisvollen Meere, seine rätselhaften Schlösser, wilde Eingeborene und freundliche Unbekannte. Und die Zukunft sah so aus: ein weißes, luftiges, zerbrechliches Versprechen.“
Juri Trifonow über den Gorki-Park, GEO 10/1979

Mit dem Beginn seines Angriffskrieges gegen die Ukraine ist Russland in eine neue historische Phase eingetreten. Doch statt der von Putin angestrebten Erneuerung des russisch/sowjetischen Imperiums zeigt nun der Weg des Landes mit der größten Landmasse der Welt nur in eine Richtung: Rückwärts in die Vergangenheit.

Symptomatisch hierfür ist der Versuch der russischen Führung, nach dem Rückzug des französischen Autobauers Renault aus dem Land die Fertigungsstätten umzurüsten auf die Wiederbelebung einer Marke, die aus der Sowjet-Ära noch gut bekannt ist, den Moskwitsch. Doch da die vorhandene Technik eine reine Endfertigung ist und Russland aufgrund der Wirtschaftssanktionen von Zulieferungen und Technologietransfers aus dem Westen weitgehend abgeschnitten ist, spricht wenig dafür, daß der „neue Moskwitsch“ auch nur annähernd mit westlichen Modellen mithalten kann, ebenso wenig wie es seine sowjetischen Vorgänger konnten, falls es bei diesem Projekt nicht ohnehin um ein „Potemkinsches Dorf“ handelt.

Russland ist also auf dem besten Weg zurück in eine Zeit, die nur unter dem größten Einsatz von Propaganda strahlend erscheint. Bis an die Zähne atomar bewaffnet, aber mit der Versorgung der eigenen Bevölkerung heillos überfordert, technologisch dem Westen immer weiter hinterherhinkend, jede Eigeninitiative und Freigeist durch ein diktatorisches System erstickend. „Obervolta mit Atomraketen“ höhnte einst Bundeskanzler Helmut Schmidt. Anlaß für Schadenfreude bieten diese trüben Aussichten für Russland keineswegs, denn noch ist nicht ausgemacht, ob die Kollateralschäden der westlichen Russland-Sanktionen aus Deutschland nicht eine gigantische Industrieruine machen.

Die imperiale Sehnsucht vieler Russen ist eine gefährliche Nostalgie, die verkennt, wie sich unter der Stagnation der Zerfall vorbereitete, der am Ende die Sowjetunion kollabieren ließ. In jüngster Zeit hat die in Moskau geborene und nach Deutschland ausgewanderte Schriftstellerin Katerina Poladjan in „Zukunftsmusik“ (2022) einen literarischen Rückblick in die triste Lebenswirklichkeit der russischen Provinz Mitte der 1980er Jahre gegeben. Doch noch interessanter ist der Griff zu Klassikern aus der Zeit des Kalten Krieges, die uns einen ungleich dichteren Bezug liefern. Dem amerikanischen Schriftsteller Martin Cruz Smith (*1942) ist 1981 mit dem Thriller „Gorki Park“ ein Weltbestseller gelungen, dem kurz darauf mit „Gorky Park“ die nicht weniger erfolgreiche Hollywood-Verfilmung folgte.

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In einer typisch kalten Winternacht werden im Moskauer Gorki Park die drei mit Schnee überdeckten Leichen zweier Männer und einer Frau entdeckt. Ihre Gesichtshaut wurde fachmännisch abgezogen, sämtliche Fingerkuppen abgeschnitten, was ihre Identifizierung zur damaligen Zeit unmöglich macht. Der KGB lehnt alle weiteren Ermittlungen ab, die er der Miliz überläßt. Dem Leitenden Ermittler Arkadi Renko ist nicht wohl dabei. Gleichwohl setzt er seine Arbeit fort und stößt durch die Schlittschuhe des weiblichen Opfers auf eine junge Frau, Irina Asanova, die mit den Toten offenbar in näherer Verbindung steht und mit der er bald eine tragische Liebesbeziehung eingeht. Zeitgleich macht Renko die keineswegs zufällige Bekanntschaft mit dem Amerikaner Jack Osborne, einem umtriebigen und habgierigen Geschäftsmann mit dunkler Vergangenheit, der bestens mit dem FBI und dem KGB vernetzt ist. Doch auch Irina und Osborne sind einander nicht unbekannt. Zu spät erkennt Renko, daß er nur Spielball ist in einem mörderischen Komplott um eines der wichtigsten Wirtschaftsgüter, auf das die Sowjetunion noch ein Monopol hat: den lukrativen Handel mit äußerst wertvollen Zobelpelzen.

Buch und Film trafen seinerzeit einen Nerv in der Leserschaft. Der Kalte Krieg erreichte nach der Entspannungspolitik der 1970er Jahre mit dem Präsidentschaftsantritt von Ronald Reagan einen neuen Höhepunkt. Reagan erklärte die Sowjetunion umgehend zum „Reich des Bösen“ und fachte den Rüstungswettlauf an. Die inneren Verhältnisse Sowjet-Russlands harrten unter Leonid Breschnew und seinen greisen Nachfolgern Andropow und Tschernjenko weiterhin in Erstarrung.

Martin Cruz Smith vermittelt in seinem „Gorki Park“ das Bild eines Landes, das von Rückständigkeit geprägt und von Korruption zerfressen ist. Selbst einfache Haushaltsgeräte im Neuzustand funktionieren nicht. Schwarzmarkthändler führen ein parasitäres Leben auf Kosten der Allgemeinheit. Wie ein Krake hält der KGB seine Finger über das Land. Antisemitische Vorurteile sind selbst in den Kreisen der Elite virulent. Die Wirklichkeit wird den Bedürfnissen des Staates angepasst:

„Angenommen ein verdienter Künstler bittet seine Frau eines Nachts, aus dem Auto zu steigen, um Glasscherben von der Straße zu räumen, und überfährt sie dabei. Eine junge Frau, die bald heiraten will, bringt ihre Großeltern ins Bett, schließt das Fenster und dreht das Gas auf, bevor sie abends ausgeht. Ein fleißiger Landwirt, ein angesehener Kolchosbauer, erwürgt ein Flittchen aus Moskau. Das sind Dinge, die offiziell nicht passieren dürfen, aber sie sind die Wahrheit: Ein Mann, der sich eine Geliebte und ein Auto leisten kann; eine junge Frau, die mit ihrem Ehemann im selben Zimmer mit den Großeltern hausen muss; ein Bauerntölpel, der dumpf ahnt, dass er sein Leben lang nicht aus seinem erbärmlichen Nest am Ende der Welt rauskommen wird. Solche Dinge erscheinen nicht in unseren Berichten, aber wir wissen darüber Bescheid. Deshalb müssen wir das Recht haben, die Wahrheit zu verändern.“

Es ist ein System, in dem „wir keinem trauen dürfen“. In diesem Umfeld wirkt der gradlinige Ermittler Renko wie ein trotziger Solitär, dem insgeheim Verachtung ob seines „Moralismus“ entgegengebracht wird. Alles in allem keine Eigenschaften, die ihren Träger zu einer Karriere empfehlen.

Smith kannte die Sowjetunion zwar nur aus der Anschauung einer einmaligen Pauschalreise, recherchierte darüber hinaus aber umfangreich durch Befragungen bei russischen Immigranten. Wie gut seine Recherchen seinen Blick auf Russland geschärft haben, zeigt schon die Wahl des Gorki Park als zentralen Ausgangspunkt seines Plots. Der im 19. Jahrhundert angelegte Park, dessen Benennung übrigens nicht auf den russischen Schriftsteller Maxim Gorki (1868 – 1936) zurückgeht, ist für die Moskauer Kultur von zentraler Bedeutung. Er ist nicht alleine Freizeitpark und Sportstätte. Hier trifft man sich nicht nur zum Spazieren gehen oder zum Schachspiel, versammelten sich die Veteranen des „großen vaterländischen Krieg“. Oder eben wie die drei Mordopfer aus Cruz‘ Roman zum winterlichen Schlittschuhlaufen unter donnernder Musik.

Mit Arkadi Renko begründete Smith eine bis heute erfolgreiche Serie, die parallel zur aktuellen Entwicklung Russlands Schritt hält. Zuletzt erschien 2021 mit „Der Spur des Bären“ die neueste Folge, in der sein altersloser Held wider Willen zum Instrument einer Intrige des Kremls gegen einen politisch zu ehrgeizigen Oligarchen wird.

Die Verfilmung von 1983 bietet noch den zusätzlichen Reiz eines Wiedersehens mit einer alten Garde Hollywoods, die inzwischen fast vollständig abgetreten ist. William Hurt in der Rolle des Arkadi Renko ist erst im März verstorben. Brian Dennehey in der Rolle des amerikanischen Polizisten William Kirwill, dem Bruder eines der drei Mordopfer, starb zwei Jahre zuvor. Für die Hollywood-Legende Lee Marvin als Jack Osborne war es eine seiner letzten Filmrollen († 1986). Ein Wiedererkennen dürfte es für Star-Wars-Enthusiasten in der Rolle des leicht exzentrischen Anthropologen Andreev geben, der mit seinem ausgeklügelten Verfahren aus den Totenschädeln der Mordopfer ihr ursprüngliches Aussehen wiederherstellt; ihn verkörpert der Schotte Ian McDiarmid, besser bekannt als der Imperator Palpatine / Darth Sidious. Das in der Verfilmung dargestellte Rekonstruktionsverfahren hat übrigens einen realen Hintergrund und war für Smith der Auslöser für die Idee des „Gorki Park“.

Nicht unerwähnt bleiben sollte der Einsatz des noch jungen Filmkomponisten James Horner(1953 – 2015), der gerade seinen Durchbruch in Hollywood feierte, und dessen Soundtrack dem „Gorky Park“ den dramatischen Feinschliff verpasste.

Main Titel – Gorky Park OST (James Horner)

Dem Erfolg des „Gorki Park“ im Westen stand wiederum der Verriss in der sowjetischen Literaturkritik gegenüber, die darin ihr Land verunglimpft sah, obwohl sich Cruz manch kritische Seitenhiebe auf seine Heimat nicht verkniff. Doch das letzte, was man Cruz‘ Werk vorwerfen kann, ist daß es das Produkt eines „kalten Kriegers“ ist. Kaum verwunderlich, daß die Verfilmung des Romans nicht an den Originalschauplätzen stattfand, sondern in Finnland. Zu dem damaligen Zeitpunkt hätte es wohl kaum jemand für möglich gehalten, daß der „Wind of Change“ bald für eine vollkommene Umdrehung der Verhältnisse sorgen würde. 1985 leitete Michail Gorbatschow als neuer sowjetischer Generalsekretär mit Glasnost und Perestrojka jene Wende ein, die zum Fall des „Eisernen Vorhangs“ und dem Untergang der Sowjetunion führte. Schon bereits 1989 konnte mit „Das Russland-Haus“ (in den Hauptrollen Sean Connery und Michelle Pfeiffer) der gleichnamige Agententhriller von John Le Carré mit offizieller Genehmigung in Moskau und Leningrad gedreht werden.

War „Gorki Park“ das Abbild der russisch-sowjetischen Misere, so reflektierte „Das Russland-Haus“ alle Hoffnungen auf einen globalen Frieden, die allzu schnell in bitterer Enttäuschung endeten. Wie lange wird es wohl dieses Mal dauern, bis wieder Hoffnung keimen kann?

 Martin Cruz Smith
Gorki Park
Neuauflage 2015
416 Seiten; 9,99 Euro
Gorky Park
Mit William Hurt, Brian Dennehy, Joanna Pacula, Lee Marvin
2 Stunden und 3 Minuten