Putins Werk und Amerikas Beitrag

Der Krieg ist nicht nur der „Vater aller Dinge“ (Heraklit), sein Ausbruch selbst hat zumeist viele Väter. Mit anderen Worten, die Ursachen eines gewaltsamen Konfliktes zwischen Staaten und Nationen lassen sich in den seltensten Fällen monokausal erklären. Die Wurzeln seiner Genese lassen sich oft weit in die Vergangenheit zurückverfolgen, teilweise mit komplexen Verästelungen, in denen sich Ursache und Wirkung nur noch schwer voneinander unterscheiden lassen. Das gilt auch für den gegenwärtigen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Zwar ist Russland aufgrund seines im Februar erfolgten Angriffs nach wiederholter Lüge, es würde an seiner Grenze zur Ukraine lediglich Manöver abhalten, unzweifelhaft in der Rolle des Aggressors. Doch auch dieser Konflikt hat eine Vorgeschichte, die viel mit dem Verhalten des Westens gegenüber Russland tun hat.

Der amerikanische Journalist Tim Weiner ist in der Geheimdienst-Szene bestens vernetzt. International bekannt wurde er als Verfasser einer umfassenden Monographie über die Geschichte des US-Geheimdienstes CIA („CIA: Die ganze Geschichte“; 2007). In seinem letzten, 2021 auf Deutsch erschienenen Werk, – also noch vor Ausbruch des Ukraine-Krieges – beleuchtet er das 75jährige Ringen der USA und der Sowjetunion bzw. Russlands um die Weltherrschaft: „Macht und Wahn. Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945“.

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Weiner beginnt seine Darstellung mit dem berühmten „Langen Telegramm“ des amerikanischen Diplomaten George F. Kennan (1904 – 2005) von 1946, in dem er seiner Regierung im aufziehenden Kalten Krieg eine neue Strategie zur Eindämmung des Sowjetkommunismus unterbreitete. Dies war die Geburtsstunde des politischen Kampfes zwischen den beiden Weltmächten, der mit nichtmilitärischen Mitteln ausgetragen wurde. Seine Instrumente waren verdeckte Operationen, Fake News und Propaganda. Die Schauplätze waren die Länder der Dritten Welt und die osteuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion; ihre Akteure vor allem die Geheimdienste CIA und KGB.

Dabei war Amerika in der Wahl seiner Methoden keineswegs zimperlich. Wo es die US-Administration als notwendig für ihre Interessen erachtete, wurden wie im Iran oder Kongo mißliebige Regierungschefs weggeputscht oder gar liquidiert und die schlimmsten Potentaten hofiert: „Menschenrechte [spielten] in der amerikanischen Außenpolitik nur selten eine Rolle.“

Zu den größten amerikanischen Erfolgen im Informationskrieg im Kalten Krieg dürfte die Herbeischaffung und globale Verbreitung der Geheimrede von Chruschtschow vom 1956 sein, in der er mit seinem Vorgänger Stalin abrechnete.

Die sowjetische Seite wiederum konnte sich mit der Erfindung der Verschwörungstheorie „revanchieren“, wonach AIDS eine in amerikanischen Militärlabors gezüchtete Krankheit sei. Diese Mär hat über den Kalten Krieg hinaus bis heute in Millionen Köpfen überlebt.

Von besonderem Interesse ist die zweite Hälfte des Buches, in welchem Weiner die weitere Entwicklung nach dem Triumph der USA im Kalten Krieg beschreibt, und hier vor allem der Weg, den die USA mit der NATO-Osterweiterung eingeschlagen haben.

In den vergangenen Wochen und Monaten wurde in den deutschen Medien vielfach verbreitet, es sei ein Mythos gewesen, „dass sich die Nato mit der Osterweiterung schuldig gemacht habe, weil diese gegen Versprechen von Anfang der 90er verstoßen habe. (…) Dieses Narrativ sollte sich erledigt haben. (…) Die Regierung Jelzin aber akzeptierte das Selbstbestimmungsrecht der Warschauer-Pakt-Staaten und ehemaliger Sowjetrepubliken: Im Budapester Memorandum bestätigte Russland deren Souveränität – für den Verzicht auf Nuklearwaffen.“ (pars pro toto Mark-Christian von Busse in der HNA vom 15. März 2022). Jedoch, ganz so einfach stellt sich die Historie der NATO-Osterweiterung nicht dar.

Bereits US-Außenminister George Baker gab 1990 dem sowjetischen Staatschef Gorbatschow die „kategorische Zusicherung“: „Nicht einen Zoll weiter nach Osten.“ Vor einer Abkehr dieser Linie warnten auch hochrangige Militärs und Diplomaten, wonach „die Russen die Erweiterung der NATO als existenzielle Bedrohung betrachten würden“.

Gorbatschows Nachfolger Jelzin, den Weiner in entscheidenden Momenten als alkoholisiert beschreibt, ließ sich auf das „doppelzüngige Spiel“ des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton ein, der einerseits Jelzin unterstützte, andererseits das Projekt der NATO-Osterweiterung betrieb. Die Clinton-Administration hatte selbst nach Einschätzung ihrer eigenen Diplomaten die Russen in dieser Frage eindeutig hintergangen. Vize-Außenminister Strobe Talbott bekannte intern: „Die NATO-Erweiterung wird, wenn sie stattfindet, per definitionem Bestrafung oder ‚Neo-Containment‘ des bösen Bären sein“.

Talbott machte unumwunden deutlich, daß es zwischen den USA und Russland nicht um eine Begegnung auf Augenhöhe gehen könnte. Amerika wollte der Sieger des Kalten Kriegs sein. Es wollte seine Macht und seinen Einfluß weltweit ausdehnen und wiederholte damit den Fehler, der nach dem Zweiten Weltkrieg begangen wurde, als man es sträflich unterließ, den früheren Feind in eine seine Interessen berücksichtigende Friedensordnung einzubinden.

Das mit dem Budapester Memorandum verbundene Beitrittsangebot der NATO an Polen, Ungarn und die Tschechische Republik fasst Weiner in seiner Wirkung auf die russische Seite drastisch zusammen: „Dies verstärkte Russlands Gefühl, dass die Amerikaner den Bären nicht nur in einen Käfig sperren, sondern ihm auch noch die Augen ausstechen wollten.“

Das „große Spiel“ erfuhr 2000 eine bedeutende Wende, als Wladimir Putin von Jelzin das Amt des Russischen Staatspräsidenten erbte. Der frühere KGB-Agent Putin – „ein Tschekist bis ins Mark“ – , getrieben von seiner traumatischen, hautnahen Erfahrung des Untergangs der Sowjetunion, hatte zwei Ziele: Rache an Amerika und die Wiederherstellung der alten Größe Russlands. Umgehend wurde der Staatsapparat mit Geheimdienstagenten durchsetzt und so aus den Trümmern der Sowjetunion ein neuer Geheimdienststaat geschaffen, der den früheren politischen Krieg wiederaufnahm.

Der Informationskrieg wurde zu Putins stärkster Waffe, seine Instrumente Cyberangriffe, Medienmanipulation und psychologische Operationen, „die effizienteste politische Kriegsführung des 21. Jahrhunderts“. Die Cyberattacken auf Estland 2007 und der Hack in die IT-Wahlmaschinerie der Ukraine waren erste Kostproben der neosowjetischen Strategie Putins.

Besonderes Aufsehen erregte 2014 die Veröffentlichung eines von russischen Geheimagenten mitgeschnittenen Telefonats zwischen der hochrangigen US-Diplomatin Victoria Nuland und dem amerikanischen Botschafter in der Ukraine, das die tiefe amerikanischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes dokumentierte. Berühmt wurde dieses Telefonat wegen des darin enthaltenen Kraftausdrucks von Nuland, man könne „auf die EU scheißen“.

Doch das waren nur Gesellenstücke auf dem Weg zum großen Ziel: Die heimliche Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahl von 2016, dem großen Zweikampf der Kandidaten Hillary Clinton und Donald Trump.

Weiner legt ausführlich dar, wie Russland mithilfe seiner in Sankt Petersburg ansässigen Troll-Fabrik in den Wahlkampf eingriff, zugunsten des Kreml-Wunschkandidaten Trump. Kompromittierendes Material gegen Clinton wurde von den Servern der Demokratischen Partei gestohlen und WikiLeaks zugespielt, das Internet mit Fake News geflutet und aufgeheizt, während das amerikanische Programm von Russia Today eine massive Kampagne fuhr, um durch die Unterstützung einer linken Außenseiter-Kandidatin Clinton entscheidende Stimmen zu entziehen und die Wählerschaft der Demokraten zu spalten. Der Angriff traf die USA vollkommen unvorbereitet. Ebenso gab es zahlreiche vom FBI dokumentierte Kontakte der Teams von Trump und Putin.

Das Ende der Geschichte ist bekannt: Mit Trump wurde ein Kandidat zum Präsidenten gewählt, der den Interessen des Kremls am dienlichsten war, der die NATO für „obsolet“ hielt, das außenpolitische Engagement der USA zurückfahren wollte und darüber hinaus Putin mit viel Lob bedachte.

Weiner läßt offen, ob er den heimlichen Angriff des Kremls als den entscheidenden Ausschlag für Trumps Wahl ansieht. Ebenso legt er sich nicht explizit fest, ob er Trump für einen russischen Einflußagenten hält.
Dennoch, Trump belastendes Material gibt es zuhauf. Doch sollte nicht außer Acht gelassen werden, daß Putins Trolle die politisch aufgeheizte Stimmung und die ihr zugrunde liegende jahrzehntelange Entwicklung gesellschaftlicher Spaltungen lediglich für ihre Zwecke instrumentalisieren, aber keineswegs lenken oder gar herbeiführen konnten. Es bleiben auch Zweifel an Trumps Nutzen für Russland, denn immerhin hat er sich gegen eines der wichtigsten Kreml-Projekte, die Erdgasverbindung Nord Stream 2, ausgesprochen. Dennoch, auch ohne den letzten Beweis muß unter der Last der Fakten Trumps Wahlsieg mindestens als kompromittiert angesehen werden.

Wäre Weiners Buch ein Politthriller, er wäre höchst unterhaltsam. Aber tatsächlich ist es ein beklemmendes Dokument, das auf eine für die westlichen Demokratien trübe Zukunft einstimmt, eine Zeit, in der es den Wählern immer schwerer fallen wird, die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden und dabei jede Sicherheit zu verlieren gehen droht, in ihren politischen Entscheidungen nicht Opfer einer perfiden Manipulation zu sein. Und die schlimmste Vorstellung daran: Die Marionettenspieler müssen noch nicht einmal im feindlichen Ausland sitzen – sie könnten auch aus dem eigenen Land kommen.

Tim Weiner
Macht und Wahn
Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945
2021; 352 Seiten; 26,- Euro

Your own personal Sophie Scholl

„Und das schöne Wort der Freiheit
Wird gelispelt und gestammelt,
Freiheit! Freiheit! Freiheit!“

Nach Goethe, aus dem ersten Flugblatt der „Weißen Rose“, 1942

Der mediale Aufschrei war gewaltig. Als im vergangenen November auf einer Querdenker-Demo gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der sog. Corona-Pandemie eine als „Jana aus Kassel“ bekannt gewordene Rednerin sich in der Nachfolge der im Widerstand gegen das NS-Regime umgekommenen Sophie Scholl sah, rauschte eine Welle des Entsetzens und Abscheus durch die Mainstreammedien ob dieses Sakrilegs an einer der bedeutendsten Ikonen, auf die sich die heutige Bundesrepublik in ihrem Geschichtsverständnis beruft. Die Stellungnahmen und Kommentare fielen dabei einseitig und gleichlautend bis zur Austauschbarkeit aus. Wer eine dieser Reaktionen gelesen hat, der hat alle gelesen. Um die inhaltliche und austauschbare Engführung der hyperventilierenden Berichterstattung dazu zu illustrieren, sei stellvertretend die Redakteurin unserer regionalen Monopolzeitung HNA (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine), Frau Nicole Schippers, in ihrem „Standpunkt“ vom 23. November 2020 zitiert, die in der „kruden Szene“ eine „Beleidigung für alle, die jemals unter einer Diktatur gelitten haben“ sieht und die der Rednerin schließlich Geschichtsblindheit attestiert.

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Gewiß, Janas Auftritt war zum Fremdschämen. Und doch ist ein solches Verhalten kaum verwunderlich. Es gehört ja nun zum medialen und politischen Geschäft, alles auf einen möglichen Bezug zum Dritten Reich hin zu untersuchen. Nazi- und Faschismus-Vorwürfe sind inflationär und die Rassismus-Keule so oft eingesetzt, dass sie eigentlich schon stumpf sein müsste. Was liegt da für eine 22jährige, die ohnehin durch die „Gnade der späten Geburt“ jegliches Einfühlungsvermögen für die Zeit des Dritten Reiches abgehen dürfte, näher als sich der Instrumente innerhalb dieses Bezugsrahmens zu bedienen, zumal ihr vermutlich kein anderer vermittelt wurde? Daß Jana allerdings keinen klugen Gebrauch daraus gemacht hat – geschenkt…

Es hat auch einen schalen Beigeschmack, wenn Medien wie die HNA über dieser jungen Frau ob ihrer Unreife und Bildungsdefizite herfallen. Denn auf der anderen Seite hat die Journaille seit geraumer Zeit jedes dumme Wort, jeden nervtötenden Auftritt einer gewissen Heranwachsenden aus Schweden zum Thema Klimawandel andächtig notiert, so als könnte man in den Redaktionen eine 16jährige Autistin nicht von einem gesunden, erwachsenen Menschen unterscheiden. Da können diese sich Ihre Empörung über Jana getrost sparen.

Dabei ist „Jana aus Kassel“ nicht die einzige, die sich in ihrem Handeln auf Sophie Scholl beruft. Kurze Zeit später twitterte Carola Rackete, Migranten-Schlepperin aus Seenot: „If #SophieScholl was alive today I am pretty sure she would be part of local #Antifa organising.“ – Ein #Aufschrei blieb hierbei aus.

Der Auftritt der „Jana aus Kassel“ hallt noch Monate später nach, als am vergangenen 9. Mai 2021 dem 100. Geburtstag der Sophie Scholl gedacht wurde. Hierzu hat sich unsere für intellektuelle Höchstleistungen bekannte Lokalzeitung etwas Besonderes ausgedacht. Den von der Initiative „Offen für Vielfalt“ mit der „Weiße Rose Stiftung“ initiierte Wettbewerb für Schüler aufgreifend, veröffentlichte sie eine Auswahl von Briefen an oder über Sophie Scholl auf ihrer Webseite und gab einem ihrer Verfasser, einem 16jährigen Schüler des Kasseler Engelsburg-Gymnasiums ein ganzseitiges Interview.

Allen diesen Briefen gemeinsam ist die fast schon Verachtung ausstrahlende Distanzierung von „Jana aus Kassel“, zu der eine Briefschreiberin sich auf einen einschlägigen Tweet des Außenministers Maas berufet: „… nichts verbindet meiner Ansicht nach Corona-Protestler mit Widerstandskämpferinnen wie Dir“. Die staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung finden Unterstützung, das Bekenntnis zum politischen System der Bundesrepublik wird teils bis zur Selbstgefälligkeit vorgetragen. Mitunter wird es darin derart schwülstig, daß man nur hoffen kann, daß sich ihr Urheber später nicht für seine Worte schämt. Fazit: Diese Briefe sind eine Ansammlung konformistischer Allgemeinplätze und Platituden, das „sozial erwünschte“ so wiedergebend, wie es im Gemeinschaftskundeunterricht, der offenbar ganze Arbeit geleistet hat, vermittelt wurde. Aber ein echt kritischer origineller Gedanke findet sich darin nicht. Und ein Brief, der diese Qualitäten geboten hätte, wäre vermutlich auch kaum für den Wettbewerb zugelassen worden.

Von rechts bis links, von Querdenker bis „Zeuge Corona“, sieht sich jeder zur Berufung auf Sophie Scholl berechtigt, vereinnahmt sie für seine eigenen Zwecke, frei nach dem Motto: „Ich bin wie Sophie Scholl – Würde Sophie Scholl heute leben, setzte sie sich für die gleichen Ziele ein wie ich.“
Dabei ist es eine sehr zweifelhafte Methode Persönlichkeiten und ihre Charaktere aus ihrem jeweiligen historischen Kontext auf unsere Zeit zu übertragen. Niemand kann voraussagen, wie sich eine bestimmte Person in unserer Zeit entwickelt hätte. Und ebenso sollte sich umgekehrt jeder vor der Behauptung hüten, er wäre in der Zeit Sophie Scholls ebenso im Widerstand gewesen wie sie selbst.

In all dem Dickicht aus widersprechenden Vereinnahmungen, politischen Instrumentalisierungen und Mythenbildungen ist es angeraten, tiefer in die Materie einzusteigen. Zwei Biographien seien hierzu vorgestellt, die uns heute das kurze Leben der Sophie Scholl nahebringen. Da ist zum einen die als Referenz geadelte Scholl-Biographie der Historikerin Barbara Beuys, veröffentlicht 2010. Beuys setzt darin weit vor Sophies Geburt an, bei der Herkunft ihrer Eltern, um die familiären Wurzeln deutlich hervorzuheben. Sophies Charakterbildung ist nicht zu erklären ohne den prägenden Einfluß der Familie. Ihre tiefe Religiosität wurde ihr von der Mutter Lina, einer ehemaligen Diakonisse, in die Wiege gelegt, während der Vater Robert in seinem Aufstieg zum Wirtschaftsprüfer bürgerlichen Leistungsethos vorlebte. Beuys stellt ihn als liberal und demokratisch gesinnten Mann vor, der bereits vor der „Machtergreifung“ auf Distanz zu den Nazis ging, was aber keineswegs die Freundschaft zu Einzelnen ihrer Vertreter ausschloß.

Sophie entwickelte sich als viertes von sechs Kindern zu einem intelligenten Mädchen mit vielseitigen Interessen für Musik und Literatur und einem besonderen Talent für Kunst. Dennoch folgte sie mit Begeisterung ihren älteren Geschwistern Hans und Inge in die Hitlerjugend, dem der kritische Vater allerdings nichts entgegenzusetzen vermochte. Als Jungmädel zeigte sie Führungsqualitäten, die sie in der Hierarchie aufsteigen ließen. Das „neue Deutschland“ Adolf Hitlers hatte die Scholl-Kinder scheinbar für ihre Vorstellungen und Ziele einer „Volksgemeinschaft“ eingenommen. Beuys zeigt uns somit eine Sophie Scholl, die als Jungmädel dem nationalsozialistischen Ideal der „Jugend führt Jugend“ voll entsprach.

Als ein wesentlicher Bruch zum Nationalsozialismus läßt sich der Beginn des Zweiten Weltkriegs ausmachen, den Sophie kategorisch ablehnt. In ihren Aufzeichnungen werden gar die Franzosen heftig gescholten, daß sie Paris lieber zur offenen Stadt erklärten, als es bis zum Ende zu verteidigen. „Wenn eine Politik böse ist, muss man die Niederlage des eigenen Volkes wünschen, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.“ – diese kompromisslose Haltung, die sie auch nicht vor ihrem Verlobten Fritz Hartnagel – einem Offizier der Wehrmacht– verbarg, war selbst für manchen Nazigegner schwer erträglich. Und es sollte Claus Schenk Graf von Stauffenberg mit seinem letztlich gescheiterten Staatsstreich vom 4. Juli 1944 sein, der damit versuchte, aus diesem für die heutige Generation kaum verständlichen Dilemma zwischen militärischer Niederlage einerseits und dem Erhalt eines verbrecherischen Regimes andererseits einen Ausweg zu finden.

Mit der inneren Abkehr vom Nationalsozialismus entwickelte sich gleichzeitig ihre Religiosität weiter, vor allem unter dem Einfluß des jungen Familienfreundes Otl Aichers, der sie in die Richtung des Katholizismus zog. Ihr inneres Ringen mit dem Glauben erinnert stark an Luther und mündete in ein Gottvertrauen, das noch heute solchen Kirchenfürsten als Vorbild dienen sollte, die in Verleugnung ihres HErrn ihr Kreuz ablegen.

Erst ab 1942 bildete sich allmählich jenes als „Weiße Rose“ bekannte Netzwerk um ihren Bruder Hans heraus, welches über anonym versendete Flugblätter und regimekritische Graffitis den Boden für den Aufstand bereiten wollte. Der Rest, die Verhaftung der Geschwister Hans und Sophie zusammen mit dem Freund Christoph Probst am 18. Februar 1943 nach einer aufgeflogenen Aktion in der Münchener Universität und der bereits vier Tage später folgende Prozeß vor dem Volksgerichtshof unter dem Vorsitz des berüchtigten Blutrichters Roland Freisler mit Vollstreckung des Todesurteils noch am selben Tag – nichts anderes als ein Justizmord – ist hinlänglich bekannt. Viel ist in der Vergangenheit spekuliert worden, ob Sophie Scholl bewußt auf dieses Ende hingearbeitet hätte. Doch ist diese Mutmaßung inzwischen verworfen worden.

Auffallend ist, daß Beuys vielgelobte Scholl-Biographie an keiner Stelle das Symbol der „Weißen Rose“ entschlüsselt. Hans Scholl führte es auf den geflohenen Adel Frankreichs zurück, der vom Ausland aus die Französische Revolution bekämpfte. Es dürfte für heutige Geschichtspolitiker eine harte Nuß zu knacken sein, daß sich hierbei die „Weiße Rose“ ihre Symbolik ausgerechnet aus einer konterrevolutionären Bewegung ableitet, die mit der Französischen Revolution ein heute als Durchbruch der Moderne verstandenes Ereignis bekämpfte.

Noch rechtzeitig vor dem 100. Geburtstagsjubiläum der Sophie Scholl erschien mit „Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen“ eine aktuelle Biographie aus der Feder des evangelischen Theologen Robert M. Zoske. Hierin hebt er insbesondere die religiöse Motivation und Frömmigkeit Sophies hervor, die schon durch ihre Konfirmation einen wichtigen Impuls bekam. Ohne ihren christlichen Glauben kann Sophies Widerstand gegen Hitler und den Nationalsozialismus nicht erklärt werden.

Zoskes Sophie ist eine junge Frau, die aus dem traditionellen Frauenbild ihrer Zeit deutlich herausstach. Ihre Entwicklung zur Regimegegnerin erfolgte nicht über Nacht, sondern wie in einem Reifeprozeß, in dem sich ihr Freiheitsdrang langsam, aber radikal Bahn brach gegenüber der nationalsozialistischen Vermassung, die die ihr von den Nazis vermittelten Werte der Todesbereitschaft und der Unbedingtheit letztlich absichtsvoll gegen ihre Urheber wandte.

Doch interessanterweise beschreibt Zoske im Gegensatz zu Babara Beuys den Vater nicht als Demokraten, sondern als kaisertreuen Monarchisten, der – durchaus nachvollziehbar – der Massendemokratie die Schuld für den Aufstieg des Nationalsozialismus gab und dieser auch in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik kritisch gegenüberstand. Ein elterlicher Einfluß für eine demokratische Gesinnung scheidet somit aus. Und das ist insofern bemerkenswert, da bei allen schwammigen Vorstellungen des Kreises um die „Weiße Rose“ über die politische Nachkriegsordnung immerhin eines deutlich war: Deutschland sollte christlich sein.

Beide Biographen konnten aus einem umfangreichen Fundus aus Briefen, Tagebüchern und Akten schöpfen, um uns heute ein möglichst authentisches Bild Sophie Scholls zu vermitteln, fern von der Mythenbildung, die die überlebenden Geschwister unmittelbar nach dem Krieg betrieben haben.

Doch nicht allein Sophie Scholl wird uns näher gebracht, auch die Zeit des Dritten Reichs und wie schwer und fast unmöglich es für einen Einzelnen war, in diesem totalitären System in den Widerstand zu treten, sei es wegen der umfassenden Kontrolle durch die Machthaber, sei es dadurch, daß es das Regime vermochte, weite Teile des Volkes durch seine Politik zu vereinnahmen und zu blenden.

Was besondere Beklemmung beim Lesen beider Biographien auslöst, weil es unwillkürlich den Analogieschluß zur Gegenwart evoziert, sind die Schilderungen der Denunziationen, denen die damaligen Akteure ausgesetzt waren. Die „Meldehelden“ – um einen keineswegs ironisch gemeinten Euphemismus aus dem staatlichen Denunziationsportal des Landes Hessen zur angeblichen „Bekämpfung von Hass und Hetze im Netz“ aufzugreifen – der Nazi-Zeit zeigten Robert Scholl wegen abfälliger Äußerungen über Hitler bei der Staatsmacht an, ein mit Sophie Scholl ein Hotelzimmer teilender Gast wollte sie wegen des Besitzes und der Lektüre des Buches „Peter Pan“ anschwärzen – und letztlich war es der Hausmeister der Universität München, der aus vollkommen ernstgemeintem Pflichtgefühl Hans und Sophie Scholl an die Behörden verriet. Hier treten Grundtendenzen im Nationalcharakter der Deutschen zutage, die einfach nur beängstigend wirken.

Sophie fiel nicht nur in ihrer Zeit „aus der Rolle“. Ihre Belesenheit, ihre Bildung, ihre Reflektiertheit, ihr zum heutigen postmodernen Relativismus inkompatibler Glaubenseifer heben sie auch gegenüber unserer Zeit heraus, wo man kaum noch erwarten kann, daß ein junger Mensch Augustinus` „Bekenntnisse“ liest. Vergleicht man das Niveau ihrer Briefe mit denen, die im besagten Wettbewerb an sie gerichtet sind, so liegen dazwischen Welten, und damit sind nicht die unterschiedlichen Zeiten gemeint.

Sophie Scholl gab ihr Leben nicht für eine „bunte Republik“ und auch nicht für eine bestimmte medizinische Therapie zur Behandlung einer pandemischen Krankheit – sie gab es als Märtyrerin für ein freies Deutschland und ihr Volk. Es ist schwer zu beurteilen, auf wessen Seite Sophie Scholl heute stehen würde. Aber eines kann mit Sicherheit gesagt werden: Mit ihrer Reife, ihrer Bildung, ihrer Distanz gegenüber der Masse würde sie als Elite über allen stehen.

So sollte jedem einsichtig werden, der sich tiefer mit der komplexen Person der Sophie Scholl und der „Weißen Rose“ befasst, wie wenig beide mit heutigen linksliberalen, bundesrepublikanischen Denkmustern gemein haben. Hätte sich „Jana aus Kassel“ allein auf das Zitat von Theodor Körner – einem 1813 im Kampf gegen Napoleon gefallenen Freiheitskämpfer – aus dem letzten Flugblatt der „Weißen Rose“ bezogen – „Frisch auf mein Volk, die Flammenzeichen rauchen“ -, ohne dabei den Namen Sophie Scholl in den Mund zu nehmen, wäre sie vermutlich auch einem Verdikt verfallen – und zwar durch die gleiche Journaille, die sich anmaßt, Sophie Scholl vor falscher Vereinnahmung zu schützen.

Man muß „Jana aus Kassel“ nicht mögen, schon gar nicht für das, wofür sie steht und eintritt. Aber wenn sie in einem Sophie Scholl nahekommt, dann indem sie für sich den Begriff der Zivilcourage im eigentlichen Sinne des Wortes lebt: Auch mit einem kleinen Häufchen gegen eine tausendfache Übermacht aufzustehen.

Briefe an Sophie Scholl: Schüler erklären, was ihnen die NS-Widerstandskämpferin bedeutet | Kassel (hna.de)

Barbara Beuys
Sophie Scholl
Insel Verlag; 3. Edition (21. August 2011)
493 Seiten, Taschenbuch
14,00 Euro
Dr. Robert M. Zoske
Sophie Scholl: Es reut mich nichts

Porträt einer Widerständigen
Propyläen Verlag; 2. Edition (30. November 2020)
448 Seiten, geb. Ausgabe
24,00 Euro