Sozi alter Schule

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/23 / 10. März 2023

Christian Geselle. Der Kasseler OB hat von seiner SPD die Nase voll und tritt gegen die eigene Partei zur Wahl an.
Sozi alter Schule
Daniel Körtel

Jetzt hat auch die SPD ihren Boris Palmer. Christian Geselle tritt am 12. März als Amtsinhaber zur Oberbürgermeisterwahl in Kassel nicht für die SPD an, sondern als unabhängiger Kandidat. Dem vorausgegangen ist der Bruch der rot-grünen Rathaus-Koalition und nachfolgend ein Zerwürfnis des OB mit der vom linken Flügel dominierten Führung der Kasseler Sozialdemokraten.

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In den Vorgängen zeigt sich ein strategisches Problem der SPD in Westdeutschland: Der Höhenflug der Grünen hat diese auch auf kommunaler Ebene auf Augenhöhe zur SPD gebracht. Vielfach lassen sie nun ihre Muskeln spielen und testen bis zur Übergriffigkeit, was ihnen möglich ist. Doch treffen sie auf ein selbstbewußtes Gegenüber wie Geselle, kommt es zum Knall. In Kassel hat den ein Streit um die Verkehrspolitik ausgelöst. Allerdings war Geselle ohnehin nie ein Freund der Grünen. Nach eigenem Bekunden sieht sich der 46jährige Ex-Polizist als Sozialdemokrat alter Schule, in der Tradition des früheren hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner, der sich 1982 ja gewünscht hatte, die Grünen „wie auf dem Bau … mit der Dachlatte“ zu bearbeiten.

Geselle und Palmer wären damit Repräsentanten eines der ungewöhnlichsten Politik-Modelle Deutschlands.

Geselle ist sich jedoch bewußt, daß er mit seinem Selbstverständnis einer, obendrein schwindenden, Minderheit in der SPD angehört. Auch in seiner Vaterstadt, mit 200.000 Einwohnern die drittgrößte des Landes, bildet sich die chronische Spaltung der hessischen SPD ab: in einen „rechten“, sich pragmatisch nennenden Flügel, der sich vor allem durch seine Wirtschaftsnähe auszeichnet, und einen immer stärkeren linken Flügel, der nach dem Bruch mit den Grünen erfolgreich eine von Geselle angestrebte Koalition mit der CDU hintertrieb. Damit war allen Vermittlungsbemühungen zum Trotz das rote Tischtuch zwischen OB und der Parteiführung zerschnitten, und im Herbst erklärte Geselle, bei der Wahl im Frühjahr als unabhängiger Kandidat anzutreten. Komplettiert wurde das Desaster für die SPD durch die Bildung einer Jamaika-Koalition, die der Partei in ihrer einstigen Hochburg auf lange Zeit die Chance auf eine Machtoption zu verbauen droht.

Gegen Geselle treten fünf Mitbewerber an, darunter auch die Kandidatin der SPD, die vom früheren Landesvater und Bundesfinanzminister Hans Eichel unterstützt wird. Zwar sind alle weit weniger qualifiziert als der erfahrene Verwaltungsjurist, der seit 2017 im Rathaus residiert, doch der hat auch die Lokalmedien gegen sich, und zudem läuft inzwischen ein Parteiausschlußverfahren gegen ihn.

Doch angesichts seiner Popularität sind die Chancen hoch, den Erfolg Boris Palmers in Tübingen bereits im ersten Wahlgang zu wiederholen. Sollte das gelingen, wäre es ein weiterer Beleg dafür, daß die These, urbane Milieus gingen vor allem mit linken Werten einher, auf deutlich schwächeren Füßen steht, als meist behauptet. Vielleicht ticken ja auch Städter konservativer als gedacht.

Geselle und Palmer wären dann Repräsentanten eines der ungewöhnlichsten Politik-Modelle in der postmodernen Unübersichtlichkeit der Bundesrepublik: ein direkt gewähltes Stadtoberhaupt, das einer großen Ratsmehrheit einschließlich ihrer eigenen Partei gegenübersteht, deren gemeinsamer Nenner wiederum die tiefe Abneigung gegen den Mann an der Spitze ist.

Cancel Culture in Nordhessen

Es hat etwas Beklemmendes, einem wachen jungen Mann dabei zuzusehen, wie er sich gerade seine öffentlich-rechtliche Karriere verbaut. Aber es ist doch bewundernswert, wie leidenschaftlich er seinen „ganz krassen Freiheitsdrang“ lebt. (Die „Junge Freiheit“ über Nikolai Binner, Ausgabe 41-2021)

Nichts liegt dem notorischen HNA-Linksaußen Matthias Lohr mehr am Herzen als die Bekämpfung der Corona-Pandemie durch das Impfen. „Wir [können] nur durch das Impfen wieder als Gesellschaft zusammenkommen“, so Lohr in einem Beitrag auf seiner Facebookseite vom 30. Oktober 2021. Wer ein solch hohes Ziel setzt, dem kann der Abweichler nur ein Gräuel sein. Ein solcher Abweichler ist der junge Comedian Nikola Binner. Der hätte eigentlich mit seinem Programm „Grenzgang“ im Kasseler Theaterstübchen auftreten sollen.

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Doch daraus wird nichts. Einer jener unerträglichen Denunzianten hat via Twitter dafür gesorgt, daß der Betreiber dieser ehrwürdigen Kulturinstitution Markus Knierim den Auftritt kurzerhand absagte. Denn daß das Theaterstübchen „rechtsoffen“ sei, das wollte Knierim sich auf keinen Fall nachsagen lassen, wie Lohr in seinem Artikel „Der ‚Querleugner‘“ (HNA vom 26. Juli 2022) berichtet.

Der Ablauf ist wohlbekannt. Er funktionierte erst kürzlich bei der „Achse des Guten“, wo Werbepartner auf die gleiche Weise zum Absprung gedrängt wurden. Und er funktioniert auch, wie wir sehen, auf der Ebene der Provinz. Twitter vereint sie alle.

Bislang war Binner nur einer jener vielen Comedians, die sich nicht unbedingt durch Originalität vom Mainstream abhoben. Doch die vergangenen zwei Jahre der Corona-Pandemie müssen einiges in ihm zum Rutschen gebracht haben. Sein durchaus grenzüberschreitender Slogan „Impfen macht frei“ für Impfzentren in Anlehnung an die NS-Terminologie brachte Lohr besonders auf die Palme, weil sich dieser „gefährliche Schwachsinn“ gegen eine Maßnahme richte, „die unzählige Leben gerettet hat“.

Doch seine kritische Haltung gegenüber den Corona-Maßnahmen ist es nicht alleine, die ihn in das Visier spaßbefreiter Gesinnungswächter der political correctness stellt. Wer es schafft, in einem solchen Satz Annalena Baerbock, einen der grünen Lieblinge der Mainstreammedien, gemeinsam mit der Institution der Tagesschau zu verreißen, dem wird nie eine erfolgreiche Existenz außerhalb einer kleinen Nische zugestanden werden, dem wird niemals eine Einladung in die „heute-show“ zuteil: „Es kam heraus, daß man beim Lesen ihres Lebenslaufs öfter angelogen wird als bei zwei Minuten Tagesschau.“

Wer in diesem Vorgang einen Fall von Cancel Culture sieht, dem entgegnet HNA-Redakteur Lohr in seinem Kommentar, in welchem er die Absage des Theaterstübchens an Binner verteidigt: „Dabei ist das Canceln oft nur Widerspruch, mit dem jeder leben muss, der seine Meinung sagt.“ Das ist durchaus korrekt. Doch der Unterschied von Widerspruch und Cancel Culture liegt darin, daß letztes in ihrer aggressiven Nicht-Akzeptanz anderer Meinungen und Sichtweisen und den von ihnen auf anderen ausgeübten Druck eine existenzbedrohende Dimension annehmen kann. Das ist nichts anderes als das Brandmarken anderer Meinungen, für das es keinen besseren Begriff gibt als den der Denunziation. Es geht um nichts anderes als den Andersdenkenden auszugrenzen und ihn in seiner sozialen Existenz zu vernichten.

Binner scheint in diesem Fall noch Glück zu haben. Als Ersatz bot sich für diesen Freitagabend das „Savoy-nouvel“ in Schauenburg-Elgershausen an. Dessen Betreiber Dieter Jungermann wolle sich mit dem Auftritt ein eigenes Bild von Binner machen. Es kann gut sein, daß es gar nicht soweit kommt – weil die Antifa Lohrs Berichterstattung als Einladung auffassen könnte, hierbei ebenfalls die Gelegenheit für einen Auftritt in Elgershausen wahrzunehmen. Es würde uns nicht wundern, wenn Jungermann noch rechtzeitig umkippt.

Nikolai Binner Comedian & Autor – nikolaibinner.de