Der endgültige Sieg des Gekreuzigten

Das historische Porträt: Konstantin der Große (zwischen 270 / 288 – 337 n. Chr.)

Bis heute bleibt es ein Rätsel, welche Gründe Maxentius veranlaßt haben, am Morgen des 28. Oktober 312 n. Chr. mit seinen Truppen das von seinem Rivalen Konstantin belagerte Rom zu verlassen, um die Entscheidungsschlacht zu suchen. Innerhalb der sicheren Mauern Roms und durch volle Vorratslager bestens versorgt, hätte er die Belagerung lange aussitzen können, bis der Feind spätestens im Winter zum Rückzug gezwungen gewesen wäre. Doch offenbar geriet ihm der Boden in Rom zu heiß, wurden ihm die Vorhaltungen ob seiner Passivität zu viel und verlor dadurch vielleicht die Nerven.

Er konnte Konstantin keinen größeren Gefallen tun. Zwar war Maxentius, der mit Konstantin sogar verwägert war, mit seinen Truppen denen des Feindes weit überlegen, doch machte Konstantin das mit seinen bereits in jungen Jahren erworbenen militärischen Erfahrungen und soldatischem Eifer mehr als wett. Doch auf seine in vielen Feldzügen gegen die „Barbaren“ erworbenen Fähigkeiten allein wollte sich Konstantin nicht verlassen. Denn der Legende nach war es göttlicher Beistand, den Konstantin letztlich für sich verbuchen konnte. Durch einen Traum vor der Schlacht eingegeben, befahl er seinen Soldaten auf ihren Schildern das Christusmonogramm Chi-Rho – das von einem X durchkreuzte P – als „magisches Symbol“ auf ihre Schilde aufzutragen. Damals wie heute sind es vor allem Symbole, die Menschen und Armeen in Bewegung setzten.

Die zahlenmäßige Überlegenheit konnte von Maxentius in dem ungünstigen Gelände nicht entfaltet werden. Konstantin nutzte die Gelegenheit und brach an der Spitze seiner Reiterei in die gegnerische Flanke ein. Mit dem Rücken zum angeschwollenen Tiber geriet die Front der Truppen Maxentius ins Schwanken. Mit der ausbrechenden Panik begann ihre Auflösung. Der nahe der abgebrochenen steinernen Milvischen Brücke errichtete Behelfsübergang konnte die zurückweichenden Soldaten nicht mehr tragen und brach ein. Mit ihnen begrub er auch Maxentius, der ertrank.

Die Schlacht an der Milvischen Brücke war ein historischer Sieg. Sie stellte nicht allein die wichtigste Etappe dar auf Konstantins Weg zur Alleinherrschaft im Römischen Reich. Sie zerschlug endgültig das von dem früheren Kaiser Diokletian (zwischen 236 und 245 – ca. 312 n. Chr.) errichtete System der Tetrarchie, mit dem der durch Verteilung der Macht auf vier Amtsträger der endlosen Abfolge von Usurpationen und Bürgerkriegen ein Ende bereiten wollte. Mit Konstantins Herrschaft, die ihm den Beinamen „der Große“ einbringen sollte, sind zwei einschneidende welthistorische Weichenstellungen verbunden.

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Da ist zum einen Konstantins Entscheidung, das am Bosporus gelegene Byzantion zu seiner neuen Kaiserresidenz auszubauen. Dieses „Nova Roma“, das neue Rom, sollte unter dem Namen Konstantinopel bis zu seiner Eroberung durch die Osmanen im Jahr 1453 Hauptstadt des über lange Zeit mächtigen Oströmischen Reiches sein und damit das Zentrum des griechisch-orthodoxen Christentums. Doch am bedeutendsten ist die durch ihn eingeleitete „Konstantinische Wende“, mit der erst das Christentum die traditionellen Kulte der Antike verdrängen und so in den Rang einer Weltreligion aufsteigen konnte.

In den 300 Jahren nach der Kreuzigung des Jesus Christus war das aus ihm und seinen Nachfolgern hervorgegangene Christentum eine im Römischen Reich mehr geduldete als akzeptierte Religion gewesen. Phasen teilweise brutaler Verfolgung konnten ihr nichts anhaben, im Gegenteil. Das Beispiel ihrer selbst im Angesicht des Todes furchtlosen als Märtyrer bekannten Blutzeugen führte ihr nur noch mehr Anhänger zu, während die Verfolger sich selbst dadurch nur moralisch korrumpierten. Diokletian versuchte als letzter Kaiser in einem neuen Höhepunkt der Verfolgung der Kirche ein Ende zu bereiten, letztlich ohne Erfolg.

Das genaue Geburtsdatum Konstantins ist unbekannt und dürfte zwischen den Jahren 270 und 288 n. Chr. liegen. Sein Vater war der Militär Constantin Chlorus, einer der Tetrarchen, der als Unterkaiser über den westlichen Reichsteil eingesetzt war. Ihre Herkunft aus dem Illyricum im heutigen westlichen Balkan belegt die Integrationskraft des Römischen Imperiums. Aufgewachsen in einem soldatischen Umfeld und als Geisel am Hofe Diokletians aufgewachsen wurde er bestens vertraut mit der politischen Macht, die das Römische Reich ausmachte. Seine Ambitionen und sein Ehrgeiz wurden offenbar, als er in Mißachtung des Systems der Tetrarchie allein seinem eigenen Willen heraus die Nachfolge seines verstorbenen Vaters antrat – eine klare Usurpation, die von der Gegenseite zähneknirschend hingenommen wurde. Aus den nach dem Zerfall der Tetrarchie ausgebrochenen Machtkämpfen ging er schließlich 324 n. Chr. als Alleinherrscher hervor.

Seine Hinwendung zum Christentum war ein lebenslanger, stetiger Prozeß, der erst auf dem Sterbebett mit der Taufe endete (337 n. Chr.). Das war damals keineswegs ungewöhnlich, wollte man doch bewußt die Lebensspanne kurz halten, nachdem das Taufritual alle vorherigen Sünden wegwusch. Zuerst war Konstantin dem Sol Invictus, dem unbesiegbaren römischen Sonnengott, verpflichtet. Da dieser bereits monotheistische Züge hatte, war der Weg zum Christengott fast schon vorgezeichnet. Obgleich das Christentum reichsweit noch eine Minderheitenreligion war, sah er in ihr das Potential eines einigenden Bandes für das Reich. Möglicherwiese dürfte ihn auch die Todesverachtung der Christen besonders beeindruckt haben. Aber vielleicht war einfach die Zeit reif für eine universalistische Religion für ein universalistisches Reich.

Nur wenige Monate nach seinem Sieg an der Milvischen Brücke eröffnete Konstantin zusammen mit dem Ostkaiser Licinius dem Christentum eine vollkommen neue Perspektive. Mit dem Toleranzedikt von Mailand (313 n. Chr.) gewährten beide Kaiser dem Christentum volle Religionsfreiheit und restituierten alle Schäden, die die Kirche und ihre Anhänger in der Verfolgung erlitten hatten. Konstantin privilegierte die neue Religion, wo er nur konnte. Die Erziehung seiner drei Söhne mit seiner Frau Fausta im christlichen Glauben markierte deutlich die weitere Richtung.

Von hier ab sollte es nur noch wenige Jahrzehnte dauern, bis Kaiser Theodosius I. das Christentum 392 n. Chr. zur Staatsreligion im Römischen Reich erhob. Es war der Beginn der zuweilen unheilvollen und unheiligen Allianz zwischen Kirche und Staat, Thron und Altar, welche die europäische Geschichte fortan für sehr lange Zeit prägen sollte, und die im Guten wie im Schlechten grundlegend für die Herausbildung des Abendlandes war:

„Die Schaffung einer reichen, machtvollen und intoleranten Kirche war das primäre Erbe der Bekehrung Konstantins. Noch besser, daß er ein Heide geblieben war, der religiöser Verfolgung begegnete, während er der christlichen Vielfalt erlaubte zu florieren.“ (Rodney Stark)

Jenseits aller theologischen Überlegungen vom Kreuzestod Christi und seiner Rolle als Erlöser und Überwinder des Todes kann ohne Zweifel festgestellt werden, daß mit der Konstantinischen Wende 300 Jahre nach seiner Hinrichtung Jesus Christus endgültig den Sieg über seine Henker und Häscher davongetragen hat.

Konstantins Hoffnung auf ein stabilisierendes Wirken der Kirche auf Staat und Gesellschaft sollte jedenfalls rasch enttäuscht werden. Einmal vom äußeren Druck befreit, versanken ihre unterschiedlichen Gruppen gegeneinander in teilweise hasserfüllte, gewalttätige Auseinandersetzungen über doktrinäre Grundlagen. Gemäß seinem Amtsverständnis griff der Kaiser ein und versuchte mit dem Konzil von Nicäa (325 n. Chr.), dem ersten seiner Art, die Spaltungstendenzen unter seinem Vorsitz zu überwinden und ein verbindliches Glaubensbekenntnis zu formulieren.

Das in der kirchlichen Hagiographie verklärte Bild des Kaisers als gottgefälliger Herrscher weist durchaus viele dunkle Flecken auf. In seiner persönlichen Lebensführung konnte die christliche Ethik der Mäßigung offenbar keine Wurzeln schlagen. Seine Ehefrau Fausta und seinen ältesten Sohn Crispus – ihren Stiefsohn – ließ er kurz hintereinander grausam töten. Über die Gründe hierfür hüllen sich die Quellen weitgehend im Schweigen, doch legt zumindest eine den beiden den gemeinsamen Ehebruch zur Last.

Das Vorbild dieser brutalen Rücksichtslosigkeit sollte auch unmittelbar nach dem Ableben des Kaisers zum Tragen kommen. Um die Nachfolge der drei Konstantin-Söhne vor jeglicher Konkurrenz zu schützen, kam es zu einer Säuberungsaktion im familiären Umfeld des Kaisers, der zahlreiche männliche Verwandte und auch einige Zivilbeamte zum Opfer fielen. Ironie der Geschichte: der durch sein jugendliches Alter geschützte Konstantin-Neffe Julian (331/332 – 363 n. Chr.) versuchte rund 25 Jahre später als Kaiser Julian „Apostata“ („der Abtrünnige“), der über seinen Onkel ein schroffes Urteil fällte, wie in einem Akt der Rache eine schließlich gescheiterte Wiederbelebung der heidnischen Kulte.

Klaus Rosen
Konstantin der Große: Kaiser zwischen Machtpolitik und Religion
2013; 495 Seiten; 30,- Euro

Er formte in einem blutigen Bürgerkrieg aus einem Bundesstaat eine Nation

Das historische Porträt: Abraham Lincoln

„Könnte ich die Union retten, ohne auch nur einen Sklaven zu befreien, so würde ich es tun; könnte ich sie retten, indem ich alle Sklaven befreite, so würde ich es tun; und könnte ich die Union retten, indem ich einige Sklaven befreite und andere nicht, so würde ich auch das tun.“
Abraham Lincoln (1862)

Es war eine bemerkenswerte Szene: Im Gerichtsgebäude von Appomattox Court House in Virginia traf am Vormittag des 9. April 1865 der Konföderierten-General Robert E. Lee in tadelloser Uniform auf seinen Gegenspieler Ulysses S. Grant, um ihm die bedingungslose Kapitulation seiner ihm unterstellten und völlig entkräfteten Truppen zu unterbreiten. Richmond, die Hauptstadt der abtrünnigen Südstaaten, war erst wenige Tage zuvor gefallen. Es entspannte sich ein freundliches Gespräch zwischen zwei Gegnern, die sich vier Jahre lang einen äußerst zähen und blutigen Krieg geliefert hatten. Am Ende entließ der Sieger Grant in einer ehrenvollen Parade den unterlegenen Lee und seine Soldaten nach Hause gegen das Versprechen, die Waffen niederzulegen und die Kämpfe nicht wiederaufzunehmen. Entgegen den üblichen Konventionen durften sie sogar ihre Pferde behalten; diese würden für den Wiederaufbau ihrer Heimat gebraucht.

Der eigentliche Triumphator aus dem Sezessionskrieg saß jedoch rund 300 Kilometer nördlich, im Weißen Haus, dem Amtssitz des amerikanischen Präsidenten in Washington: Abraham Lincoln, dessen Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten 1860 als Auslöser der Abspaltung der Südstaaten und damit des 1861 beginnenden Sezessionskrieges gilt.

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Abraham Lincoln (1809-1865)

Lincoln hatte auf seinem Weg in das höchste Amt der USA einen bemerkenswerten Weg zurückgelegt, der an den berühmten amerikanischen Traum „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ erinnert. Am 12. Februar 1809 in einer Blockhütte in Kentucky geboren, wuchs er in den Frontiers des mittleren Westens heran. Seine Kindheit und Jugend waren geprägt von harter körperlicher Arbeit, in der ihm die Möglichkeiten höherer Bildung versagt blieben.

Erst als junger Mann erarbeitete sich Lincoln im Selbststudium das nötige Wissen, um ab 1838 als Anwalt praktizieren zu können. Gleichzeitig nahm er seine politische Karriere in Angriff, deren erste Station ihn in das Parlament des Bundesstaates Illinois führte, erst noch für die national-liberalen Whigs, die später in die neugegründeten Republikaner aufgingen. Neben seiner auffallenden hochgewachsenen, hageren Statur wurde sein Ruf als „honest Abe“, der ehrliche Abe, der es als Selfmademan aus den Frontiers in das Bürgertum geschafft hat, zu seinem Markenzeichen.

1842 folgte die Hochzeit mit Mary Todd. Ihre Herkunft aus einer wohlhabenden Familie von sklavenhaltenden Pflanzern war kein Hindernis; zumal Lincoln bis dahin nicht als radikaler Abolutionist aufgefallen ist. Aus ihrer Ehe sollten schließlich vier Söhne hervorgehen. Mary wurde auch zum antreibenden Motor seines politischen Ehrgeizes.

Mit seinem rhetorischen Talent, seinem Humor und seiner authentischen Volksverbundenheit konnte sich Lincoln zunehmend politisch profilieren. Im Klima der sich verschärfenden Zuspitzung der Gegensätze zwischen den Nord- und den Südstaaten in der Sklavenfrage stieg sein Stern immer weiter auf. Mit der geschickten Instrumentalisierung des republikanischen Parteiapparats gelang ihm schließlich im Mai 1860 die Nominierung als Präsidentschaftskandidat.

Zu diesem Zeitpunkt trieb der Streit zwischen Nord und Süd über die Sklaverei seinem Höhepunkt entgegen. Der Süden mit seiner Agrarwirtschaft wollte auf diese „besondere Institution“ um keinen Preis verzichten und betrieb ihre Ausdehnung auf die neuen Territorien, was der Norden wiederum zu verhindern suchte. Sämtliche Kompromisse, die ein Gleichgewicht herstellen sollten, hatten sich verbraucht. Es bleibt ein historisches Rätsel, warum der Süden unbeirrbar auf seinem Standpunkt beharrte. Konnte noch in der Antike Sklaverei selbstverständlich sein, da Freiheit nur von Wert war, wenn es daneben auch Unfreiheit gab, so konnte unter dem Einfluß der europäischen Aufklärung eine Freiheit nicht mehr auf den Knochen anderer Menschen gedeihen.

In seiner Kampagne setzt Lincoln vor allem auf industriellen Fortschritt, Schutzzollpolitik, den Ausbau der Infrastruktur und die Rechte der Einwanderer. In letzterem zeigte sich der zunehmende Einfluß der Immigration aus Deutschland, vor allem nach der gescheiterten Revolution von 1848. Diese Wählergruppe, zu der auch ein namhafter deutscher Exilant namens Carl Schurz – US-Innenminister von 1877-1881 – zählte, erwies sich als starke Stütze von Lincolns Kampagne.

Mit nur 40 Prozent der Stimmen, aber der überwältigenden Mehrheit der Wahlmännerstimmen, konnte Lincoln die Präsidentschaftswahl im November 1860 gegen drei Gegenkandidaten für sich entscheiden. Die fortschreitende Zersplitterung des Landes zeigte sich in dieser Wahl schon allein daran, daß es den Demokraten – zum Vorteil Lincolns – nicht gelang, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen.

Obwohl Lincolns Programm keineswegs die Abschaffung der Sklaverei vorsah, sondern vielmehr ihre Eindämmung, nahmen die Südstaaten seine Wahl wiederum zum Anlaß, aus der Union auszutreten und die Konföderierten Staaten von Amerika (CSA) zu konstituieren. Als Lincoln am 4. März 1861 in sein Amt eingeführt wurde, waren die USA faktisch ein geteiltes Land.

Lincoln konnte in seinem politischen Selbstverständnis diese Spaltung nicht hinnehmen, stellte sie doch den Erfolg des amerikanischen Experiments, als das die USA gegründet waren und dem er sich zutiefst verpflichtet fühlte, in Frage. Konnte eine demokratische Republik auf Dauer Bestand haben, wenn es der bei einer Abstimmung unterlegenen Minderheit gestattet war, aus dieser auszutreten? Lincoln nahm die Herausforderung des sich aus dieser Frage ergebenden Sezessionskrieges an. Es gab durchaus kritische Stimmen, die Zweifel hatten an dem „Erhalt einer Union allein auf der Macht der Bajonette“.

Den Rest der verbliebenen Union dennoch auf diesen Bürgerkrieg einzuschwören, war Lincolns erste herausragende Leistung als Präsident.
Bis dahin und auch danach wurde auf dem amerikanischen Doppelkontinent keine kriegerische Auseinandersetzung mit einer derartigen Totalität ausgefochten wie im vierjährigen Ringen des Sezessionskriegs. Sein Blutzoll belief sich auf weit über 500.000 Soldaten. In seinen Materialschlachten, in denen ganze Massenheere kämpften, und für die Namen wie Bull Run, Shilo, Vicksburg, Antietam und Gettysburg stehen, nahm er als erster moderner Volkskrieg das Grauen des Ersten Weltkriegs vorweg.

„Amerikas blutigster Tag“: Die Schlacht am Antietam (17. Sept. 1862), Kurz & Allison

Politisch sollte der Sezessionskrieg auch das Schwert werden, das den schier unlösbar erscheinenden Knoten der Sklavereifrage durchtrennte. Um die Südstaaten zu schwächen, die europäischen Mächte aus dem Konflikt herauszuhalten und der eigenen Seite eine höhere moralische Rechtfertigung zu geben, verfügte Lincoln für den 1. Januar 1863 die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten, als letzten Schritt vor ihrer endgültigen Abschaffung in der gesamten Union 1865.

Dabei muß festgehalten werden, daß Lincoln erst im Laufe seiner Amtszeit von gewissen früheren Positionen in der Frage der künftigen Stellung der Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft abrückte. Vertrat er zuvor noch die Ansicht, die Schwarzen könnten niemals gleichwertige Bürger werden und sollten im Rahmen eines Rekolonialisierungsprojektes wieder nach Afrika zurückgeführt werden, vollzog er als Präsident vor allem unter dem Einfluß des Aktivisten Frederick Douglass, einem früheren Sklaven, eine Wende, in der er ihre soziale Gleichheit mit den Weißen befürwortete.

Den Kipppunkt zum Sieg erreichten die Nordstaaten mit einem Strategiewechsel, indem sie den totalen Krieg auf eine neue Stufe hoben. Mit dem neuen Oberbefehlshaber Grant an der Spitze wurden die Kampfhandlungen an allen Fronten ausgedehnt. Und als besonders effektiv sollte sich die Einbeziehung der Zivilbevölkerung in den Südstaaten zeigen. „Sherman‘s Raid“, der Marsch des Nordstaaten-Generals William T. Sherman nach Savannah am Atlantik, in welchem er mit seiner Armee wie ein alles verschlingender Lindwurm eine Schneise der Verwüstung hinter sich herzog, trennte den Süden in zwei Hälften. Das von Unionssoldaten angesteckte Atlanta sollte für den Süden zum Fanal werden. Der Konföderation sollte ökonomisch endgültig das Genick gebrochen und ihrer Bevölkerung jeder Geschmack an einer Rebellion genommen werden.

Mit dem Ende des Sezessionskrieges hatte Lincoln seinen Platz als bedeutendster Präsident der USA sicher. Er rettete die Union vor ihrem Zerfall und damit die Idee der Demokratie. Er organisierte 1864 unter den Bedingungen eines auf eigenen Boden ausgetragenen Krieges eine Präsidentschaftswahl, die er gegen die gegenüber dem Süden kompromißbereiten Demokraten schließlich mit Bravour gewann. Und er beendete den Skandal der die Werte der amerikanischen Verfassung untergrabenden Sklaverei. Lincoln war der „konservative Revolutionär“, der aus einer Union von Einzelstaaten eine Nation formte und damit den „Grundstock für die ‚imperiale Präsidentschaft‘ des 20. Jahrhunderts“ legte (Jörg Nagler).

Doch auf der anderen Seite steht sein „laxer Umgang“ mit den Bürgerrechten, der ihm oft den Vorwurf des „Diktators“ einbrachte. Die Aufhebung des Habeas Corpus Acts, der willkürliche Verhaftungen ohne richterlichen Beschluß verbot, stellte keine Banalität dar und wurde nach dem Krieg vom Obersten Gericht einkassiert. Immerhin mußte für die Implementierung dieses Bürgerrechts im englischen Mutterland rund 200 Jahre zuvor ein König seinen Kopf rollen lassen.

Noch schwerer jedoch wiegt die Strategie der verbrannten Erde, mit der der Süden überzogen wurde, obwohl in Lincolns Regierung anfangs noch Grundsätze eines die Zivilbevölkerung schützenden, fortschrittlichen Kriegsrechts formuliert wurden.

In diesem Punkt geht der Lincoln-Biograph Jörg Nagler mit dem Präsidenten kritisch ins Gericht: „Inwieweit er über die Einzelheiten des Vernichtungsfeldzuges und seiner Auswirkungen informiert war, ist nicht bekannt. (…). Trotzdem muß Lincoln sie erkannt haben. Er hat die [verheerenden zivilen Konsequenzen] nicht nur toleriert, sondern Sherman nach deren ‚erfolgreichem‘ Abschluß seine ‚dankbare Anerkennung‘ ausgesprochen, was einen dunklen Fleck in der Beurteilung seiner Persönlichkeit und moralischen Integrität hinterlassen hat.

Den Triumph des Sieges konnte Lincoln nicht lange auskosten. Bereits sechs Tage später, am 15. April – einem Karfreitag -, erlag er einem Attentat des Südstaaten-Extremisten John Wilkes Booth, das dieser auf ihn während einer Theateraufführung im Beisein seiner Ehefrau Mary in Washington verübte. Ist Lincoln schon im Leben zu einzigartiger Größe aufgestiegen, so sollte ihm dieser Tod an einem Karfreitag unmittelbar nach dem Sieg noch eine die politische Kultur der USA kennzeichnende zivilreligiöse Weihe – ikonisch verstärkt mit den bekannten späten Porträts, in denen Lincoln die Last des Amtes regelrecht in sein Gesicht eingetrieben schien – zum bis heute wirksamen nationalen Märtyrer-Mythos geben.

Doch 150 Jahre nach seinem Tod hat die Strahlkraft von Lincolns Mythos spürbar nachgelassen. Amerikans Demokratie steht stärker unter Druck denn je. Spätestens zur Präsidentschaftswahl 2016 zwischen Hillary Clinton und Donald Trump wurde eine neue Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft offenbar, deren Gräben sich nicht geographisch einordnen lassen. Sie ziehen sich zwischen Generationen und Rassen, trennen liberale urbane Zentren von konservativen ländlichen Regionen, scheiden kosmopolitische Anywheres von verwurzelten Somewheres.

Es ist eine merkwürdige Volte der Geschichte, daß in diesem Kulturkampf der Furor der „woken“ Bewegung nicht allein die Denkmäler der konföderierten Kriegshelden wie Lee vom Sockel stürzt, sondern die Hand sogar an Lincolns Erbe legt: Aus San Franciso wurde der – letztlich aufgrund des Widerstands der Eltern gescheiterte – Versuch einer linksliberalen Schulbehörde bekannt, „im Namen der sozialen Gerechtigkeit“ Lincoln als Namensgeber von Lehranstalten zu streichen, aufgrund seiner gegenüber den Indianern ablehnenden Haltung.

Die USA befinden sich unbezweifelbar in einem „kalten Bürgerkrieg“ und die Angst, daß aus diesem ein heißer werden könnte, ist allgegenwärtig. Und ob Präsident Joe Biden das Talent und das Format besitzt, diese Gegensätze miteinander zu versöhnen und einen neuen Konsens herzustellen vermag, ist noch vollkommen offen.

 Jörg Nagler
Abraham Lincoln. Amerikas großer Präsident
2009; 464 Seiten
Ken Burns
Civil War – Der Amerikanische Bürgerkrieg [5 DVDs]
1990; 11 h:15 Min.
Günter Schomaekers
Der Bürgerkrieg in Nordamerika
1977; 160 Seiten
Torben Lütjen
Amerika im Kalten Bürgerkrieg – Wie ein Land seine Mitte verliert
2020; 208 Seiten, 20,- Euro