Die Himmelsscheibe als Schlüsselloch der Geschichte

Der Archäologe Prof. Harald Meller war sich der Bedeutung des Fundes wohl noch lange nicht bewußt, als im Februar 2002 ein Raubgräber in der Bar des Baseler Hilton den größten Ausgrabungsfund in Deutschland des 20. Jahrhunderts unter seinem Pullover, eingewickelt in einem Handtuch, herausholte und ihm präsentierte: Die als „Himmelsscheibe von Nebra“ berühmt gewordene Bronzeplatte aus der Bronzezeit Mitteleuropas. Das konspirative Treffen war mit dem Landesarchäologen von Sachsen-Anhalt verabredet worden, um den Raubfund, den zwei illegale Sondengänger am 4. Juli 1999 auf einem Höhenzug in der Nähe des sachsen-anhaltinischen Städtchens Nebra machten, mit einem hohen Gewinn zu verkaufen. Mit dem Auftauchen der bis dahin verdeckt operierenden Schweizer Polizeibeamten, die eng mit Meller zusammenarbeiteten, klickten die Handschellen und der Handel war damit geplatzt.

Das vorläufige und abrupte Ende dieses hochspannenden Wissenschaftskrimis war der Einstieg in die bis heute nicht abgeschlossene Forschungsarbeit über die Himmelsscheibe, die sich bis heute besonders auch außerhalb der Fachwelt einer ungeheuren Popularität erfreut. Der Fundort auf dem Mittelberg ist inzwischen gekennzeichnet durch das „Himmelsauge“, in direkter Nachbarschaft steht ein Aussichtsturm und auf dem Wanderweg dorthin befindet sich seit 2007 ein Besucherzentrum, das sich zu einem touristischen Anziehungspunkt entwickelt hat. Die Himmelsscheibe ist nicht nur ein Glücksfall für die Wissenschaft, darüber hinaus ist sie auch zu einem Segen für eine ansonsten strukturschwache Region geworden.

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Arche Nebra / Lageplan / Himmelsauge / Aussichtsturm / © Daniel Körtel

Am vergangenen Freitagabend stellte Meller im Rahmen des Literaturherbstes Göttingen in der Paulinerkirche den aktuellen Stand der von ihm geleiteten Forschungen über die Himmelsscheibe vor. Basis dieses Vortrags ist sein mit dem Co-Autor Kai Michel erarbeitetes neuestes populärwissenschaftliches Werk „Griff nach den Sternen – Nebra, Stonehenge, Babylon: Reise ins Universum der Himmelsscheibe“, das Nachfolgebuch zu seinem Bestseller „Die Himmelsscheibe von Nebra“.

Prof. Harald Meller (links) / © Daniel Körtel

Zu Beginn hob Meller heraus, daß das vor 3700 bis 4100 Jahren geschmiedete Artefakt mit seiner ältesten Darstellung konkreter astronomischer Phänomene die aufwendigste Forschungsleistung – gemessen an der Fläche -aufweise und uns die Welt der Bronzezeitmenschen größer als bislang gedacht erscheinen lasse. Seine Entdeckung verdanke sich dem Umstand, daß nachfolgend durch die Wende 1989/90 die Neuen Länder zu einem El Dorado der Raubgräber wurden, während der Westen der Bundesrepublik bereits weitgehend ausgekundschaftet gewesen sei. Überwiegend sind Militaria aus dem Zweiten Weltkrieg, wie im Kessel von Halbe, die Suchobjekte der Sondengänger. Doch mit einem derart alten und qualitativ hochwertigen Fund hatte bis dahin niemand gerechnet.

Die in fünf Phasen zu ihrer letzten Form umgearbeitete Scheibe gab den Ackerbaukulturen der damaligen Zeit ein kalendarisches Instrument in die Hand, um die nicht kongruent laufenden Mond- und Sonnenjahre mit Hilfe der darauf abgebildeten Plejaden und der Monddarstellung in Übereinstimmung zu bringen.

Die am linken und rechten Rand aufgetragenen goldenen Seitenbögen ermöglichen über den Horizont die wichtige Bestimmung der Winter- und Sommersonnenwende am 21. Juli bzw. am 21. Dezember. Wer sich in der wiedererrichteten Kreisgrabenanlage von Goseck – einem ca. 4900 v. Chr. errichteten Sonnen-Observatorium, nur knapp 40 Kilometer von Nebra entfernt – befindet, erkennt hier sofort die Übereinstimmungen im Aufbau.

Kreisgrabenanlage von Goseck / © Daniel Körtel

Meller sieht in den verschiedenen Phasen der Himmelsscheiben-Bearbeitung eine Entwicklung „vom Logos zum Mythos“, das heißt seine einem kleinen geheimen Personenkreis vorbehaltene rationale Nutzung ging verloren zugunsten eines Symbols der öffentlichen Repräsentation der Machtelite, wofür auch seine abschließende Deponierung mit den Schwertern eines Fürsten spricht.

Aber warum fand die Himmelsscheibe dieses Ende? Meller sieht den Grund hierfür in der ersten schweren Pestwelle, die Europa um 1600 v. Chr. heimgesucht hat. Die Folgen eines gleichzeitigen Vulkanausbruchs dürfte mit dem damit verbundenen „Himmelsfeuer“ das Gefühl einer Endzeit vermittelt haben, deren Kräfte sich nur mit einer wertvollen Opfergabe wie der Himmelsscheibe besänftigen ließen.

Doch wer waren die Menschen der Himmelsscheibe? Sie gehörten der Aunjetitzer Kultur (benannt nach dem ersten Fundort im böhmischen Aunjetitz) an, die im Vorharz ein wahres El Dorado für den Ackerbau vorfanden. Zwar ist die Region von wüstenartiger Trockenheit geprägt, doch der Lössboden bot für das Getreide einen optimalen Grund. Hier führte die Verschmelzung der neolithischen Kulturen der Glockenbecher und Schnurbandkeramiker zur Gründung eines ersten Staates in Mitteleuropa.

Die Aunjetitzer Kultur zeichnete sich aus durch soziale Differenzierung mit einer Elite an der Spitze, die sich durch Machtsymbole auszeichnete und die Gemeinschaft vor den Göttern vertrat. Des Weiteren war sie durch Fernhandelswege – und kontakte bis nach Cornwall und den Vorderen Orient global vernetzt. Doch ihre Beziehungen zeichneten sich nicht nur durch friedlichen Austausch aus, sondern auch durch interne Gewalt und Kriegszüge. Durch das Skelett eines Fürstengrabs konnte sogar der erste Fürstenmord der Geschichte nachgewiesen werden! Ebenso belegt sind Menschenopfer, ein Kennzeichen aller ersten Hochkulturen.

Bemerkenswert waren Mellers Ausführungen über die „Bernstein-Sperre“, die die Aunjetitzer Kultur über ihren wertvollen Schatz verhängte. Erst nach ihrem Zusammenbruch konnte sich das „Gold des Nordens“ frei über Europa verbreiten.

Abschließend stellte Meller die Himmelsscheibe von Nebra als ein Produkt globaler Vernetzung vor: Ihre Rohstoffe kamen unter anderem aus Cornwall, die Handwerkstechniken mit den Goldtauschierungen aus der Ägäis, das Schiffssymbol aus Ägypten und das Element der Plejaden aus dem Vorderen Orient. Meller zufolge ist es unwahrscheinlich, daß letzteres seinen Weg direkt aus dem Orient nach Mitteleuropa fand. Eher sei davon auszugehen, daß Reisende aus Europa es auf ihrem Rückweg hierherbrachten.

Mit dieser letzten Vermutung bezieht sich Meller implizit auf die These vom Licht, das aus dem Osten kam. Gleichwohl begibt er sich hierbei auf das Feld der Spekulation. Denn ihr Schwachpunkt besteht darin, daß im Orient ältere Artefakte gleicher oder ähnlicher Art bislang nie gefunden wurden!

Irritierend kommt hinzu, wie Meller noch den Bogen zur Gegenwart spannte und angesichts der bronzezeitlichen Vernetzung von der „Konstruiertheit der Grenzen“ sprach, so als ob diese Vergangenheit eine „No-Border“-Idylle gewesen sei.

Die Rekonstruktion des so hochkomplexen Gegenstandes der Himmelsscheibe, so Meller am Ende, erlaubt uns den Blick durch ein Schlüsselloch der Geschichte auf eine Vergangenheit, die bislang dramatisch unterschätzt wurde.

Die Himmelsscheibe von Nebra kann derzeit im Original noch bis zum 9. Januar 2022 in der Sonderausstellung „DIE WELT DER HIMMELSSCHEIBE VON NEBRA – NEUE HORIZONTE“ des Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale) angesehen werden.

Harald Meller * Kai Michel
Griff nach den Sternen
Nebra, Stonehenge, Babylon:
Reise ins Universum der Himmelsscheibe

272 Seiten; 39,- Euro

Der Hortfund von Nebra im Original der Ausstellung (© Daniel Körtel)


Heimat ist das, was gesprochen wird

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Heimat ist das, was gesprochen wird
Kulturpreis Deutsche Sprache: Der Jacob-Grimm-Preis ging in diesem Jahr an die Schriftstellerin Herta Müller
Daniel Körtel

Es ist wie ein Zeichen des kulturellen Aufbruchs nach dem langen Corona-Lockdown, daß endlich wieder öffentliche Preisverleihungen stattfinden können. Gerade rechtzeitig für den Kulturpreis Deutsche Sprache, der am vergangenen Samstag vor einem pandemiebedingt kleinen Publikum im Blauen Saal der Stadthalle Kassel verliehen wurde und zu diesem Anlaß sein 20. Jubiläum feiern konnte.

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Stadthalle / Kongress-Palais Kassel / © Daniel Körtel

Der vom Verein Deutsche Sprache (VDS) und der Helmut-Schöck-Stiftung getragene Kulturpreis fällt zum einen in den undotierten Institutionenpreis, der dieses Jahr an die Wissenschaftssendung „Wissen macht Ah!“ des Westdeutschen Rundfunks ging. Zum anderen erhielt für ihre Leistungen um die deutsche Sprache den mit 30.000 Euro verbundenen Jacob-Grimm-Preis die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller; es ist der am höchsten dotierte Sprachpreis in Deutschland. Der Initiativpreis über die Verdienste in der Verwendung eines klaren und verständlichen Deutschs, dessen Träger über einen Poetry-Slam „Zauberwort“ ermittelt werden sollte, konnte mangels qualifizierter Bewerber bezeichnenderweise nicht vergeben werden.

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Verhöre durch die rumänische Geheimpolizei

In seinem Grußwort erinnerte Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) an den Namensgeber des Hauptpreises, Jacob Grimm (1785–1863), und seinen Beitrag zur Stadtidentität. Gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm – sie verbrachten viele Jahre ihres Lebens in Kassel und sammelten hier ihre ersten Märchen – begann Jacob die Arbeit an dem ersten deutschen Wörterbuch.

Weiterhin warnte Geselle vor Mißbrauch und Beugung der Sprache durch „Haß und Hetze“. Die Verrohung der Sprache, so Geselle in Anspielung auf den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, könne „zu grausamen Taten führen“. Ebenso wies er auf die Großdemonstration von Querdenkern in Kassel im vergangenen März hin. Dagegen sei entschieden Haltung zu zeigen, gegen Haß und Unterdrückung, genauso wie es die Brüder Grimm taten.

In ihrer Laudatio auf den Träger des Institutionenpreises für die Bemühungen um die Verwendung eines klaren und verständlichen Deutschs lobte Jury-Mitglied Anke Sauter die WDR-Sendung „Wissen macht Ah!“, die sich an Kinder ab acht Jahren richtet. In ironisierender Brechung des Begriffes „Klugscheißer“ würden dem jugendlichen Publikum durch eine „klare und klug eingesetzte Sprache“ Redewendungen und die Semantik von Fachbegriffen erklärt. Dabei schrecke das Moderationsteam vor keiner Peinlichkeit zurück, „ein bißchen verrückt, ein bißchen eklig“. Dies sei eine witzige Art der kindgerechten Wissensvermittlung, von der man auch als Erwachsener noch viel lernen könne.

Der Historiker und frühere Berliner Wissenschaftssenator Christoph Stölzl zog in seiner Laudatio auf die Hauptpreisträgerin Herta Müller (68) eine Linie vom Freiheitsverständnis Jacob Grimms, der als Abgeordneter der ersten Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche die gesetzliche Freilassung aller auswärtigen Sklaven auf deutschem Boden forderte, zu Herta Müller, die als Angehörige der Banater Schwaben in Konflikt mit dem rumänischen Ceausescu-Regime geriet. Erst nach ihrer Ausreise in die Bundesrepublik 1987 fielen die Ketten der Sklaverei von ihr ab; ihre geistigen Ketten habe sie bereits vorher abgelegt. Ihre „kompromißlose Literatur“, in der sie unter anderem in ihrem Hauptwerk „Atemschaukel“ (2009) in einer „Autotherapie“ gegen das postkommunistische Vergessen in Osteuropa ankämpfe, lobte Stölzl als „Sprachkunstwerke von solcher Makellosigkeit, daß einem die Augen ausfielen“. Besonders im Jahr des Mauerfalls 1989 sei sie die richtige Stimme zur richtigen Zeit gewesen.

In ihrer Dankesrede reflektierte Müller anhand ihrer Verhöre durch die rumänische Geheimpolizei Securitate über die Ambivalenz des Gesprochenen, in denen ihre Sätze „nie die richtigen, sondern sogar die falschen“ sein konnten. „Wörter haben im Verhör das schwerste Gewicht“, so Müller. Man sei an sie gebunden wie an der Leine an einem Pflock. „Gehörte mir ein Wort, weil sie es umdrehen konnten und weil es die Seiten wechseln kann?“ Die Situation des Verhörs sei für sie, was Sprache betrifft, die undurchschaubarste gewesen. „Beim Verhör glüht das Sprechen im Mund und das Gesprochene gefriert.“ Müller schloß mit einem Zitat des spanischen Schriftstellers Jorge Semprún: „Nicht die Sprache ist Heimat, sondern was gesprochen wird.“

Der Weg vom Blauen Saal des Kongreß Palais zum Ort, an dem die Sprache zum Schlachtfeld ideologischer Kulturkämpfe geworden ist, war auch an diesem Nachmittag nicht sehr weit: Auf dem Vorplatz hatten linke Demonstranten ihren Protest gegen die Preisverleihung mit Kreide auf dem Straßenpflaster ausgedrückt: „Offen für Vielfalt, geschlossen gegen den VDS“, „Genderstern statt Nazikern“ oder auch „Kein Platz für völkische Populist*innen!“ Der Protest weckte Erinnerungen an die Kinderbuchautorin Kerstin Boie, die im vergangenen Jahr die Annahme des Preises ablehnte, weil sie dem VDS-Bundesvorsitzenden Walter Krämer angebliche rechtspopulistische Äußerungen vorwarf.

© Daniel Körtel
© Daniel Körtel

Es ist die Religion, Dummkopf!

„Der Islam, der in jeder Hinsicht unbeschmutzt, friedlich, demokratisch, tolerant und frauenfreundlich ist, ist ein schöner Traum, hat aber wenig mit der Realität des Islam im Hier und Jetzt zu tun.“
Ruud Koopmans

Es war ein merkwürdiges, fast haargenau gleiches, zeitliches Zusammenfallen: Die unblutige und rasante Rückkehr der Taliban an die Macht und der 20. Jahrestag des Ereignisses von „9-11“, das infolge der amerikanischen Invasion in Afghanistan zur zeitweisen Vertreibung der fundamentalistischen Gotteskrieger von der Macht führte, die daraufhin den westlichen Besatzern einen Abnutzungskrieg, vergleichbar auch jenen den sowjetischen Okkupanten der 1980er Jahre lieferten. Doch einzuordnen ist diese Phase des muslimisch-westlichen Konfliktes in einen wesentlich größeren historischen Kontext, dessen Beginn 1979 mit dem Sturz des Schahs und der Installation der Islamischen Republik Iran angesetzt wird. Es ist ein bislang nicht abgeschlossener Prozeß der Rückkehr des Islam auf die politische Agenda der Welt und damit einhergehend, was der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington 1993 in die griffige Formel vom „Kampf der Kulturen“ packte, vor allem auch der Ablösung des Ost-West-Konfliktes durch eine aggressive Konfrontation zwischen der westlichen und der islamischen Zivilisation.

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Unzweifelhaft war der Fall von Kabul eine krachende Niederlage des Westens und seines Anspruches auf die Universalität seiner Werte sowie seiner Überzeugung, daß sein politisch-gesellschaftliches Modell eine überzeugende Vorbildfunktion für die Dritte Welt darstellt. Offen bis klammheimlich dürften Muslime aller Schattierungen und Denominationen den Sieg der Taliban über den Westen auch und vor allem als einen Sieg des Islam reklamieren, der ihrem Selbstbewußtsein neue Kraft zuführt.

Dieses muslimische Selbstbewußtsein findet gerade heute, am 3. Oktober, seine außerordentliche Manifestation. Es ist nicht nur der deutsche Nationalfeiertag zum Gedenken an die Wiedervereinigung Deutschlands von 1990. Seit 1997 findet zeitgleich auch der Tag der offenen Moschee statt, eine Einrichtung, bei der sich bundesweit zahlreiche islamische Gebetszentren der deutschen Öffentlichkeit präsentieren. Zum 25jährigen Jubiläum steht die Veranstaltung in diesem Jahr unter dem Motto „25 Jahre TOM – Moscheen gestern und heute“ mit der Einladung „zum Dialog und zum Miteinander“.

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So überragend der Sieg der „Koranschüler“ in Kabul auch sein mag, so scheinbar offen und glanzvoll sich die Moscheen in Deutschland in einer Show-Veranstaltung als Vertreter eines friedfertigen Islam darzustellen vermögen – nur schwerlich können Ereignisse dieser Art verdecken, daß die vom Islam dominierten Länder durchgehend einer Misere ausgesetzt sind, die sie in allen wesentlichen ökonomischen und sozialen Feldern zu globalen Schlußlichtern macht, sofern sie nicht vom Ölreichtum profitieren, der jedoch nur viele der zahlreichen Probleme verdeckt.

Zu den wenigen Wissenschaftlern, die ein kritisches Auge auf die Lage der muslimischen Welt richten, zählt Ruud Koopmans. Der niederländische Soziologe ist seit 2013 Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Berliner Humboldt-Universität. Wie an Necla Kelek und Thilo Sarrazin wurde auch ihm das Etikett „umstritten“ angeheftet, weil er den fast schon dogmatischen Leitlinien des beschränkten Diskurses über den Islam nicht gefolgt ist. Wie weit die Versuche gehen, ihn in seinem Fach zu isolieren, zeigte Die Welt in einem Porträt auf:

„Ein Forscherkollege habe seinen Doktoranden verboten, mit Koopmans Doktoranden in Kontakt zu treten, weil er mit dessen Ansichten nicht einverstanden sei. Bereits mehrfach seien Koopmans Mitarbeiter, wenn sie sich auf Stellen beworben haben, gefragt worden, wie sie zu dessen Forschung stünden.“ (Die Welt, 23.02.2021)

Im vergangenen Jahr veröffentlichte Koopmans sein aktuelles Buch „Das verfallene Haus des Islam“. Darin vertritt er die These, daß nicht externe Faktoren oder Belastungen aus der Vergangenheit wie dem kolonialen Erbe schuld sind an den gravierenden Defiziten und Rückschritten im Hinblick auf Demokratie, Bildung, Geschlechtergleichheit, Wirtschaft und Minderheitenrechte in der muslimischen Welt, sondern die Ursache hierfür im heute real gelebten Islam zu suchen ist.

Als Soziologe hält sich Koopmans von jeglichen theologischen Überlegungen fern und setzt zum einen auf einen statistikbasierten Ansatz, zum anderen vergleicht er die unterschiedliche Entwicklung von benachbarten Staaten unterschiedlicher kultureller Prägung, aber ähnlicher ethnischer Zusammensetzung und geschichtlicher Vergangenheit, wie zum Beispiel Mauritius / Malediven, Indien / Pakistan-Bangladesch. So untersucht er die islamische Welt in vier Kapiteln eingehend in den Kategorien Demokratie, Freiheit, Gewalt und Ökonomie, um sich in den letzten beiden Kapiteln der problematischen Integration der Muslime in den westlichen Gesellschaften und möglichen Lösungsansätzen zur Befreiung des Islam vom Fundamentalismus zuzuwenden.

Einer der schockierendsten Belege, die Koopmanns für die Rückständigkeit der muslimischen Staaten vom Rest der Welt anführt, ist der Mangel an Literarität, als bestehe für Muslime Lesekompetenz einzig darin, im Koran zu lesen, ungeachtet ob man den Text überhaupt versteht. Geradezu erbärmlich ist die niedrige Zahl von Übersetzungen aus dem Westen und dem Rest der Welt:

„Laut dem Arab Human Development Report von 2003 war die Gesamtzahl der ins Arabische übersetzten Bücher von der Blütezeit des Abbasidenkalifats im neunten Jahrhundert bis in die 1980er Jahre geringer als die Zahl der in einem Jahr ins Spanische übersetzten Titel.“

Da ist es nicht verwunderlich, daß die Zahl der Analphabeten 25 Prozent der Bevölkerung islamischer Länder ausmacht, gegenüber 12 Prozent in nichtmuslimischen. Die Ursache für diese Rückständigkeit war das bis 1727 bestehende, religiös begründete Verbot, die Druckerpresse im Osmanischen Reich einzuführen. Ein Verbot mit drastischen Langzeitfolgen für die Entwicklung eines produktiven Humankapitals.

Keinesfalls unberücksichtigt bleibt der „Fluch des Öls“, mit dem die reichen Ölproduzenten des Orients das Wohl ihrer Untertanen erkaufen und so die Bildung eines gegenüber der Herrscherelite selbstbewußten Bürgertums unterbinden. Doch über allem schwebt der Fluch des real existierenden Islam:

„Die Ursachen der islamischen Krise lassen sich in drei Schlüsselproblemen zusammenfassen: der fehlenden Trennung von Religion und Staat, der Benachteiligung der Frauen und der Geringschätzung von säkularem Wissen. Von diesen ist die Vermischung von Religion und Politik das grundlegendste Problem, das indirekt auch die beiden anderen beeinflusst.“

Was Koopmans über die muslimische Welt ausbreitet, ist ein derart soziales und gesellschaftliches Desaster, daß man hierfür ohne Bedenken die Trump’sche Metapher von den Shithole Countries verwenden kann. Niemand im Westen, der an zivilisatorische und rechtsstaatliche Mindeststandards gewöhnt ist, würde freiwillig auf Dauer seine Existenz dort verleben wollen. Umso weniger verwunderlich ist der anhaltende Strom von muslimischen Zuwanderern in den Westen, mittellos, aber dafür mit einem erheblichen kulturellen „Gepäck“, das ihnen der Islam eingebrannt hat. Und damit wären wir schon beim Kapitel über die Integration.

Dieses Kapitel dürfte von besonderem Interesse sein, denn hiermit schließt sich der Kreis zum heutigen Tag der offenen Moschee. Auch hier gilt: „In den Problemen der muslimischen Integration spiegelt sich die Krise der islamischen Welt im Kleinformat.“ Die Islamverbände dürften kaum eine Hilfe sein; sie sind vielmehr Teil des Problems. Aus Moscheen, in denen islamisch-nationalistische sowie antisemitische Haß-Predigten gehalten werden und gar das Märtyrertum verherrlicht wird, kann schwerlich ein sinnvoller Beitrag zu Integration erwartet werden.

Koopmans Lösungsansätzen kann der Rezensent nur bedingt folgen. Zwar zeigt er sich aufgeschlossen gegenüber Maßnahmen wie denen der österreichischen Regierung unter Kanzler Kurz, die auf gesetzlichem Wege die Finanzflüsse aus dem islamischen Ausland in die Moscheen Österreichs auszutrocknen versucht. Doch dem gemäßigten Universalisten Koopmans ist offenbar in seinem Beharren auf die Vorzüge der offenen Gesellschaft nicht bewußt, daß diese in ihrem utopischen Anspruch, die Grundlage eines friedlichen Ausgleiches für alle kulturellen Differenzen zu bieten, die weiteste offene Flanke für eine aggressive Weltanschauung mit gleichfalls universalem Anspruch bietet. Am Ende entscheidet Quantität – die hohe Geburtenrate der Muslime sorgt für stetigen Nachschub – und ein Anspruch auf Machtausübung, der vor allem in Deutschland völlig abhandengekommen ist.

Ruud Koopmans
Das verfallene Haus des Islams
Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt
288 Seiten; 20,- Euro

„Ich würde niemals die Linke wählen!“

Nirgendwo in Deutschland liegen Glanz und Elend deutscher Geschichte so nahe beieinander wie in Weimar. Zum einen als früheres Zentrum deutschen Geisteslebens, wovon noch heute als Wahrzeichen in der Innenstadt die Doppelstatue von Goethe und Schiller zeugen. Zum anderen für die Abgründe der Barbarei des Naziregimes in Form des berüchtigten Konzentrationslagers Buchenwald. In direkter Nachbarschaft zu Buchenwald steht in einer traumhaften Waldlandschaft das Schloss Ettersburg, 1706-1712 als herzogliches Jagdschloss erbaut, in welchem zahlreiche Geistesgrößen deutscher Kultur verkehrten. In den Jahren vor der Wende leer und verfallen, ist inzwischen die Revitalisierung zu einem erfolgreichen Hotel und einer bekannten Tagungsstätte mit anspruchsvollem Programm gelungen.

Diesen Erfolg kann sich zurecht auch der Leiter Dr. Peter Krause zusprechen. 2008 erlangte er bundesweite Bekanntheit durch seine Nominierung als thüringischer Kultusminister durch den damaligen Ministerpräsidenten Althaus (CDU). Die Nominierung rief heftige Kritik hervor, da Krause 1998 für sage und schreibe zweieinhalb Monate Redakteur der rechtskonservativen Wochenzeitung Junge Freiheit war. Es folgte das übliche Kesseltreiben des linksliberalen Mainstreams, in dem sich etablierte Medien – allen voran die extrem linkslastige taz – als Einpeitscher betätigten in einer Kampagne gegen einen zum Abschuß freigegebenen Konservativen, um den es selbst in seiner Partei immer einsamer wurde. Am Ende wurde Krause aufgrund des Drucks fallen gelassen. Es blieb nicht allein beim politischen Karriereknick, auch seine Familie erlitt Anfeindungen, sein Auto wurde gar angezündet. Ein inzwischen vollkommen „normal“ gewordener Vorgang, heute auch besser bekannt als „cancel culture“.

Tagungsstätte Schloss Ettersburg / © Daniel Körtel

Am vergangenen Sonntagnachmittag, den 5. September 2021, war es mit Monika Maron die wohl bedeutendste Schriftstellerin Deutschlands, die zu den Ettersburger Gesprächen das Podium betreten durfte, als „Sidekick“ begleitet von ihrem Hund Bonnie Propeller.

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Marons Schriftstellerkarriere ist nach 40 Jahren in diesem Jahr in eine außergewöhnliche Phase eingetreten. Noch in der DDR lebend, lieferte sie 1981 mit dem Roman „Flugasche“, der nur in der Bundesrepublik erscheinen konnte, ihr gefeiertes Debüt. Nach der Übersiedlung in den Westen setzte sie ihre Laufbahn erfolgreich fort, bis sie in den letzten Jahren durch islamkritische Essays und den Romanen „Munin oder Chaos im Kopf“ sowie „Artur Lanz“ den Argwohn des linksliberalen Establishments weckte und sie zu dem wurde, was man dort so gerne als „umstritten“ und „neurechts“ etikettiert – also eine Persönlichkeit, die sich quer zum Zeitgeist stellt.

Der Tiefpunkt war erreicht mit ihrem kalten Rauswurf aus dem S. Fischer Verlag im vergangenen Jahr, als Reaktion auf ihr freundschaftliches Verhältnis zu der ebenfalls als „umstritten“ geltenden Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen vom Buchhaus Loschwitz. Immerhin, andere wußten eher ihren Wert zu schätzen und so fand Maron schnell Aufnahme im Verlag Hoffmann und Campe, der pünktlich zu ihrem Geburtstag mit „Was ist eigentlich los?“ eine Sammlung ihrer Essays aus den letzten 40 Jahren veröffentlichte.

In seiner Einführung erinnerte Krause an einen Bericht des Deutschlandfunks über einen weiter zurückliegenden Auftritt Marons auf Ettersburg, wonach sie vor dem Feuilleton ihre Romane verteidigen müsse: „Das Feuilleton mutiert zum ZK.“

Maron las vier Texte aus ihrem aktuellen Essay-Band und stellte sich abwechselnd dem Gespräch mit dem Kulturreporter Michael Helbing von der Thüringer Allgemeinen. Den Abschluß bildete ein Ausschnitt aus der ihrem Hund gewidmeten gleichnamigen Erzählung „Bonnie Propeller“.

Monika Maron im Gespräch mit Michael Helbing / © Daniel Körtel

Gleich zu Beginn auf ihr Erstlingswerk „Flugasche“ von 1981 angesprochen – ein Roman über eine DDR-Journalistin, die über die prekäre Umweltsituation in Bitterfeld schreibt – bekennt sie, daß dieser heute aktueller sei als noch vor zehn oder 15 Jahren, nicht im Hinblick auf die darin beschriebene Umweltsituation, sondern daß sie heute bemerkt, wie sie sich beim Schreiben wie vor 40 Jahren gut überlege, „was passiert mir mit diesem Satz?“

Die Grenzen der Meinungsfreiheit und die sich verändernde Debattenkultur machte Maron vor allen an dem fest, „wenn der Islam ins Spiel kommt“. In ihrer Abneigung gegen diese aggressiv auftretende Religion hielt sie sich auch bei dieser Gelegenheit nicht zurück und beklagte die Nachgiebigkeit des Westens gegenüber den Ansprüchen der Muslime auf Sonderrechte: „Wenn der Burkini zum Maßstab für Sittlichkeit wird, was wird dann künftig der Bikini?“ Auf Dauer verändere das die Maßstäbe, alles sei eine Frage der Quantität und des Anspruchs. Weiterhin kritisierte sie „Kleinstadt-Moscheen“ wie die in Köln-Ehrenfeld, die durch ihre umfangreiche, auf Autonomie ausgerichtete Infrastruktur – selbst Poststellen sind in ihnen angesiedelt – nichts mit einer Gemeinschaft mit den Deutschen zu tun hätten. Die mit solchen Einrichtungen verbundenen Versprechungen seien alle nicht eingelöst worden.

Es lag auch nahe, daß Helbing sie als gebürtige Ostdeutsche auch zu ihrer Meinung zu Kanzlerin Merkel befragte, die zwar in Hamburger geboren, aber in der DDR aufgewachsen ist. Merkels Haltung zur Spenden-Affäre von Helmut Kohl 1999 habe ihr noch imponiert. Doch mit ihrer Kanzlerschaft sei es damit schnell vorbei gewesen. Maron kritisierte Merkels dumpfen Regierungsstil mit ihren abrupten Änderungen ebenso wie ihren „diktatorischen Stil“, den sie ausdrücklich nicht mit einer Diktatur gleichgesetzt wissen wolle: „Sie hätte am liebsten mit Herrn Drosten durchregiert.“

Besser kam bei Maron hingegen eine andere Politikerin an, Sarah Wagenknecht von den Linken, der sie erst kürzlich in der Welt ein sehr wohlwollendes Porträt widmete. Sie folge ihren Analysen, aber nicht ihren Schlußfolgerungen. Entschieden blieb sie dennoch bei ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Wagenknechts Partei: „Ich würde niemals die Linke wählen!“ Stattdessen bekannte sie sich zur Wahl der FDP, „die einzige Partei, die das Wort ‚Freiheit‘ überhaupt noch erwähnt“.

Der zumindest seine teilweisen Sympathien für die Grünen bekennende Moderator vermochte es nicht, Maron wenigstens im Hinblick auf die Klimapolitik der Grünen zu überzeugen. Den Grünen vermochte sie ebenso wenig etwas abgewinnen wie der Linken: „Im Osten dachte ich, die Grünen wären meine politische Heimat, aber nach drei Wochen im Westen hatte sich das erledigt.“

Zusätzliche Schärfe erhielt ihre Kritik durch ihre Warnung vor einem „Weg ins Grüne Reich“, wo nur noch ein ideologisches Ziel verfolgt würde: „Das ist keine Politik.“ Vollkommenes Unverständnis brachte sie der Abholzung ganzer Wälder für Windräder entgegen, während technische Alternativen wie moderne und sichere Atomkraftwerke nicht in Betracht gezogen würden, „weil den Westdeutschen die Anti-AKW-Stimmung in Fleisch und Blut übergegangen ist“.

Am Klima-Thema wurde die zunehmende Überforderung des Moderators offensichtlich, der sich hier an der souverän argumentierenden Maron die Zähne ausbiss und am Ende keinen glücklichen Eindruck machte. Helbings Gesprächsführung kam auch nicht überall im Publikum an, aus dem ihm gegenüber vereinzelt der Vorwurf des Verhörs erhoben wurde. Die Herzen des Publikums hatte Maron bis dahin schon lange gewonnen. Für sie war der Nachmittag wie ein Heimspiel. Immer wieder wurde sie von Beifall unterbrochen, auffallend oft kam jenes an die früheren DDR-Verhältnisse gemahnende „gallige Gelächter“ auf, dem sie ihren am meisten beklatschten, zuletzt vorgetragenen Essay widmete:

„[…] Es gibt auch in einem Rechtsstaat Möglichkeiten, Menschen wegen unerwünschter Meinungen die Existenz zu erschweren oder sogar zu zerstören Wenn Zweifel schon verdächtig sind, wenn Fragen als Provokationen wahrgenommen werden, wenn Bedenken als reaktionär gelten, wenn im Streit nur eine Partei immer recht hat, können einem alte Gefühle eben überkommen. Und dann kann man darüber verzweifeln, vor Wut toben oder darüber lachen, unser schönes galliges Gelächter.“

Dem Publikum zur Freude, dem ZK-Feuilleton zum Graus erwies sich Monika Maron trotz altersgemäß leicht brüchiger Stimme erklärtermaßen bester Gesundheit und kündigte auch einem neuen Roman an. Auf ihr Alter angesprochen antwortete sie humorvoll: „Die Leute sind so verdächtig freundlich und höflich zu mir. Mit 79 sind sie über mich hergefallen, mit 80 werde ich gefeiert und mit 90 wahrscheinlich heiliggesprochen.“

Dresden, Ingo Schulze und die rechtschaffenen Mörder

Es hätte nicht viel gefehlt, und das Lesedinner mit dem Schriftsteller Ingo Schulze wäre kurzfristig abgesagt worden. Seine weitere Zugfahrt nach Kassel drohte in Göttingen komplett auszufallen, weil ein Fahrgast sich weigerte, den vorgeschriebenen Mund-Nasen-Schutz aufzusetzen. Aber so konnte am vergangenen Freitagabend des 3. September 2021 nach mehreren coronabedingten Verschiebungen die Veranstaltung im Rahmen des Literarischer Frühling in der Heimat der Brüder Grimm dennoch endlich nachgeholt werden, wenngleich auch nicht im Frühling, sondern im recht warmen Spätsommer.

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Das Romantik Hotel Landhaus Bärenmühle, abseits gelegen zwischen Bad Wildungen und Frankenberg, bot den gediegenen Rahmen für das Lesedinner, zwar nicht in den Innenräumen, sondern in einem externen Zelt. Doch das Ambiente darin war recht edel gehalten. Für Berichterstatter, wie geladenen Gast, war es die erste Erfahrung eines solchen Lesedinners.

Romantik Hotel Landhaus Bärenmühle / © Daniel Körtel

Ein Vier-Gänge-Menü bot den Rahmen, passend zum Thema des Abends bestehend aus einer Mischung lokaler und ostdeutscher Spezialitäten wie Ellershäuser Ziegenfrischkäse, Leipziger Allerlei und Sächsischer Eierbemme. Als Mitorganisatorin des Literarischen Frühlings und Inhaberin des gemeinsam mit ihren Geschwistern von ihren Eltern übernommenen Landhauses Bärenmühle hat die frühere Journalistin von hohem Renommee der Süddeutschen Zeitung es verstanden, ein Kulturereignis erster Klasse aufzustellen.

© Daniel Körtel

Kohl, die durch den Abend auch als Moderatorin führte, stellte Ingo Schulze als „Chronisten deutsch-deutscher Befindlichkeiten“ vor. Der gebürtige Dresdner gehört mit seinen Romanen zu den bedeutendsten Schriftstellern ostdeutscher Provenienz. Anlaß der Einladung war sein aktueller Roman „Die rechtschaffenen Mörder“.

Christiane Kohl und Ingo Schulze / © Daniel Körtel

Anders als es der Titel nahelegt, handelt es sich dabei keineswegs um einen Kriminalroman. Es ist eine Dresden-Roman, über eine Stadt, in der sich wie in einem Brennglas die gesellschaftspolitische Spaltung Deutschlands fokussiert. Als eine Parabel auf diese Spaltung erzählt uns Schulze die fiktive Geschichte des Dresdner Buchhändlers Norbert Paulini, eines schrulligen Sonderlings, und seines Antiquariats durch die Wechselfälle der 1970er Jahre bis in die heutige Zeit. Ohne selbst der Opposition anzugehören, entwickelt sich in den Vorwendejahren sein renommiertes Geschäft zu einem Gegenpol zur Staatsmacht, dort wo Wohn- und Geschäftsräume in einem sind – ein Leben nur für die Bücher. Der Autor läßt sein Alter ego, den Schriftsteller Schultze, über den Büchernarren sagen:

„Meine Erzählung sollte Paulini als den großen Leser zeigen, der über die Zeiten und Systeme hinweg aufgrund seiner Veranlagung und Leidenschaft zum Bollwerk wird gegen das, was uns Büchermenschen bedroht, der, weil er seinen Wünschen und Überzeugungen treu bleibt, sich gewissermaßen auf natürliche Weise gegen das stemmt, was uns Jahr für Jahr aushöhlt und wegschwemmt und eines Tages nichts mehr von dem übrig gelassen haben wird, wofür wir zu leben geglaubt habe. Wären wir nicht ohne die Paulinis dieser Welt verloren?“

Doch so einfach wird es dem Leser nicht gemacht, im weiteren Verlauf der Geschichte den Hauptprotagonisten als Sympathiefigur anzunehmen.
In den Wendeumbrüchen mißlingt Paulini die Anpassung an die neuen Bedingungen. Restitutionsansprüche an das Geschäftshaus und das Elbehochwasser setzen ihm zu. Es folgt der soziale Abstieg. Im Verlauf der folgenden Jahre radikalisiert sich Paulini und gerät gemeinsam mit seinem Sohn in polizeiliche Ermittlungen über fremdenfeindliche Vorfälle. Das Ende des Romans, so viel sei hier schon vorweggenommen, läßt in seiner Uneindeutigkeit über die Umstände von Paulinis Tod den Leser ratlos zurück, ein Umstand, der vom Autor durchaus beabsichtigt ist.

Im Gespräch mit dem Autor entwickelte Moderatorin Kohl das Bild eines vielschichtigen Dresden-Romans, den Schulze mit „Die rechtschaffenen Mörder“ geschaffen habe, „ein Roman mit vielen, vielen Rätseln“, „als Plädoyer gegen die Eindeutigkeiten“. Das weitere Gespräch warf nicht nur die Frage nach der speziellen gesellschaftspolitischen Situation in Dresden, sondern nach dem Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschen auf. „Dem Westen“, so Schulze, „fehle nichts so sehr wie die nicht-westliche Erfahrung, um sich selbst zu verstehen“.

Dennoch erlaubte sich Kohl die Frage an Schulze zu einem anderen Schriftstellerkollegen in Dresden, Uwe Tellkamp, in Zusammenhang mit seinem Roman, „wie driftet man durch die Welt, ich will nicht abdriften sagen“. Tellkamp hatte sich unter anderem entschieden gegen die Politik der offenen Grenzen in der Migrationskrise 2015 positioniert. Ein konsterniertes Gesicht aufziehend, sagte Schulze, es habe ihn nicht in Tellkamps Erfolgsroman „Der Turm“ – ebenfalls eine Wende-Geschichte aus Dresden – gezogen. Und mit sarkastischem Unterton legte er noch unter dem Gelächter des Publikums nach, „Der Turm“ passe „wunderbar in das westliche Bild, um den Osten zu erklären“. Die Dresdner Fehden, sie waren auch an diesem Abend in Nordhessen präsent.

Ingo Schulze / © Daniel Körtel

Dresden, der Osten und der Westen, der deutsche Riss – einen derart komplexen Themenzusammenhang anhand eines so vielschichtigen Buches wie „Die rechtschaffenen Mörder“ eingehend auszuloten, das wäre im Rahmen eines derartigen Lesedinners eine kaum zu bewältigende Herausforderung gewesen. Das eigentliche Kunststück einer solchen Veranstaltung ist die gelungene Balance zwischen dem kulinarischen Genuß eines Vier-Gänge-Menüs und der hinreichenden Vermittlung des literarischen Themas.

Somit blieben leider wichtige Punkte unerwähnt: Zum einen die Rolle von Schulz in der nach wie vor laufenden Debatte um die Dresdener Buchhändlerin Susanne Dagen vom Buchhaus Loschwitz wegen ihrer „rechtsabweichlerischen Tendenzen“, in der es zum Bruch zwischen beiden gekommen ist. Zum anderen damit hineinspielend seine eindeutige Positionierung zum Rauswurf von Monika Maron aus ihrem bisherigen Verlag S. Fischer, dem er seinen Dank aussprach, „dass er, nicht so wie ich und viele andere auch, stillschweigend weggeschaut hat.“ Es hätte wohl auch den Rahmen der Veranstaltung ob des um diese Causa uninformierten Publikums gesprengt.

Somit bleibt ein Abend, der in gelungener Weise aufgezeigt hat, wie eine gehobene Kulturvermittlung selbst in der Abgeschiedenheit des nordhessischen Umlands von Kassel gelingen kann.

Ingo Schulze
Die rechtschaffenen Mörder
S. Fischer Verlag
320 Seiten, 21,- Euro

 

Leben unter Vorbehalt – die Juden unter muslimischer Herrschaft

„Selbst wenn Jahrzehnte dazwischen liegen, kann man nicht Millionen Juden töten und später dann Millionen ihrer schlimmsten Feinde holen.“
Karl Lagerfeld (1933 – 2019) im November 2017

Das Aufflackern des Nahostkonfliktes im vergangenen Mai durch die Raketenangriffe der islamistischen Hamas vom Gaza-Streifen auf israelisches Territorium und der darauf folgenden militärischen Reaktion Israels warf auch auf Westeuropa die Zündfunken auf ein kaum verdecktes antisemitisches Ressentiment zugewanderter Migranten aus dem islamischen Kulturraum. Den Lockdown-Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie zum Trotz gingen auch in Deutschland zahlreiche Muslime zugunsten der Palästinenser auf die Straße, durchgehend aggressiv im Ton, zuweilen auch verbunden mit Gewaltausschreitungen.

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Es ist nicht das erste Mal, daß der Nahostkonflikt derartig haßerfüllte Reaktionen unter den in Deutschland lebenden Muslimen hervorruft. Bereits im Sommer 2014 demonstrierten vorwiegend Tausende vorwiegend muslimische Demonstranten gegen die israelische Militärpolitik. Nicht allein der Schlachtruf „Allahu Akbar“ (Allah ist der Größte) wurde von den Mengen skandiert; auch Parolen wie „Kindermörder Israel“ oder „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ waren zu hören.

Der Protest tobte auch in Kassel, wo es zu der skurrilen Szene kam mit einem jungen Muslim, der auffällig sein T-Shirt mit der Aufschrift „Don’t panic, I’m Muslim“ („Nicht in Panik geraten, ich bin Muslim“) zu Schau stellte. Vor dem Hintergrund des aggressiven Charakters der Proteste mag das je nach Gemütszustand des Beobachters aberwitzig oder verstörend wirken. Doch Sympathiepunkte bei den vielfach den Folgen der Zuwanderung und dem damit verbundenen Import externer Konflikte skeptisch gegenüberstehenden Deutschen dürfte dieser junge Mann mit seiner wenig glaubwürdigen Botschaft dennoch auf keinen Fall gewonnen haben.

2014 übte sich das sonst die Vorzüge einer ethnisch und kulturell vielfältigen Gesellschaft überbetonende Establishment in Sprachlosigkeit über das offenkundige Scheitern ihres ambitionierten Projektes einer „Bunten Republik Deutschland“. Sechs Jahre später ringen ihre Vertreter immer noch um Fassung und versprechen die Abschiebung antisemitischer Migranten, so als ob ihnen dieses Mal etwas in der Regulierung eines vollkommen außer Rand und Band geratenen Asylsystems gelingen sollte, an der sie schon so oft gescheitert sind – falls sie es denn je ernsthaft angegangen sind.

Doch statt die Warnungen vor einem aus dem islamischen Kulturraum importierten Antisemitismus ernst zu nehmen, haben die Mainstreammedien dem Publikum erstaunliche Erklärungen für den muslimischen Antisemitismus präsentiert. So wollte in einem Interview mit der HNA (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine) der als Experte für jüdische Weltverschwörungen vorgestellte Julian Timm nicht von einem importierten Antisemitismus sprechen, „da der europäische Antisemitismus zunächst ab dem 19. Jahrhundert in den arabischen Raum gelangte und somit ein europäisches Phänomen ist.“ – Doch wenn der „Experte“ Timm eines damit unter Beweis gestellt hat, dann daß man sich in Sachen Schuldstolz auch weiterhin von niemanden die Butter vom Brot nehmen lassen will (HNA vom 01. Juni 2021).

Martin Gilbert (1936 – 2015), selbst Jude, ist hierzulande ein Unbekannter. Doch in Großbritannien zählt der zu Lebzeiten vielfach geehrte zu den bedeutendsten Historikern des Landes. Schwerpunkte seines Schaffens waren der britische Premier Winston Churchill und der Holocaust. Sein 2010 veröffentlichtes, letztes Werk behandelte die prekäre Existenz der Juden unter muslimischer Herrschaft; „In Ishmael’s House“.

Obwohl es ein anhaltend aktuelles Thema behandelt, obgleich es in Umfang und Detailfülle den Stellenwert eines Standardwerks einnimmt, ist auch elf Jahre nach seinem Erscheinen eine deutsche Übersetzung nicht in Sicht. Dieses Defizit sagt einiges über die Diskursverhältnisse hierzulande aus, wo die Angst, der „falschen Seite“ Nahrung zu geben, jeden Tag größer wird.

Der Titel „In Ishmael’s House“ nimmt Bezug auf den gemeinsamen mythischen Ursprung von Juden und Arabern. Demzufolge leiten sich die Araber ab von Ismael, dem von Abraham mit seiner Magd Hagar gezeugten Sohn. Obgleich diese Verbindung von Abrahams Ehefrau Sarah gestiftet wurde, sorgte sie später dafür, daß Ismael und seine Mutter in die Wüste verstoßen wurden, wo Gott sie unter seinen Schutz stellte. Später zeugte Abraham mit Sarah seinen Sohn Isaak, aus dessen Sohn Jakob – der später Israel genannt wurde – die zwölf Stämme Israels hervorgingen. Somit gilt Abraham als Stammvater der Juden wie der Araber.

Doch die gemeinsame, verzwickte Geschichte von Juden und Muslimen beginnt nicht mit Abraham, sondern dem Aufstieg Mohammeds (570 – 613) zum Religionsstifter des Islam. Hier setzt auch Gilberts Monographie an. Neben dem Christentum zog Mohammed auch zahlreiche Einflüsse und Inspirationen aus dem Judentum, das auf der arabischen Halbinsel bereits stark verankert war. Doch sein eifriges Bemühen um die Anerkennung der Juden als Propheten Gottes lief ins Leere; war doch die Prophetenzeit für die Juden mit Maleachi im vierten vorchristlichen Jahrhundert abgeschlossen. Ihre teils spöttische Opposition zum Anspruch Mohammeds mußte zwangsläufig in ihm den Keim der tiefen Feindschaft setzen. Die Trennlinie, die er zwischen sich und den Juden setzte, wurde am deutlichsten in seiner Abkehr im Gebetsritual in Richtung Jerusalem zugunsten Mekkas.

Für ihre Verbindung zu Mohammeds heidnischen Feinden mußten die Juden am Ende einen tödlichen Preis bezahlen. Sein Sieg über den jüdischen Stamm der Qurayzah endete mit der Hinrichtung aller wehrfähigen Männer, der Versklavung der Frauen und der Verteilung ihres Eigentums als Beute unter Mohammeds Kriegern. Der nachfolgende Feldzug gegen die Qurazah in der Oase Khaibar beendete schließlich die Existenz jüdischer Stämme in Arabien.

Die Behandlung der unterworfenen Juden wurde zum Präzedenzfall für die entsprechenden Scharia-Regularien, die spätere eroberte nicht-muslimische Völker betrafen. Sie erhielten als Dhimmis einen Schutzstatus, unter dem sie einerseits ihren Glauben weiter ausüben konnten. Andererseits mußten sie 50 Prozent ihrer Ernte aus der Landwirtschaft der Oasen an die Eroberer abgeben. Das Land selbst wurde muslimisches Gemeindeeigentum. Gilbert konstatiert:

„Für einige Muslime, die auf diese Episode zurückblicken, (…) symbolisiert die Schlacht von Khaibar die Niederlage ihrer jüdischen ungläubigen Feinde und der Beginn der sanktionierten Erniedrigung der Juden unter der Dhimmi-Praxis. Für Nicht-Muslime symbolisiert Khaibar den Beginn reglementierter Diskriminierung, die Jahrhunderte andauerte.“

Mohammed gab sich jedoch damit nicht zufrieden. Als letzte Verfügung vor seinem Tod befahl er die Vertreibung aller Juden aus Arabien.
Der Status des Dhimmis bot den Juden einen zweifelhaften Schutz vor Verfolgung, immer abhängig von den gegenwärtigen Launen ihrer muslimischen Herrscher. Die Diskriminierung fand eine noch erniedrigendere Ausweitung in der Verpflichtung spezielle Kleidung zu tragen, dem Verbot Waffen zu tragen oder Pferde zu reiten. In Zeiten wachsenden Fundamentalismus nahm auch der Druck auf die Juden immer wieder zu. Konvertierten begegnete man mit Mißtrauen. Dennoch konnte sich auf der intellektuellen Ebene jüdisches und muslimisches Leben unter Beachtung der Rangunterschiede durchaus gegenseitig verbinden.

Bemerkenswert ist die Förderung, die die Juden im Osmanischen Imperium erhielten, das ihnen im Spätmittelalter einen Schutzhafen bot gegen die Wellen der Verfolgung in den Ländern der Christenheit wie in der übrigen muslimischen Welt. Diese wohlwollende Behandlung steht im auffallenden Kontrast zur antisemitischen Haltung des türkischen Staatspräsidenten Erdogan, der sich gerne als Neo-Osmanen inszeniert. Doch auch unter den Osmanen war die Sicherheit der Juden nicht gewährleistet:

„Doch egal wie weit sich das Osmanische Imperium erstreckte, Juden, die innerhalb seiner Grenzen lebten, verblieben unter dem ominösen Schatten des Dhimmi-Status. Sie erbten die fundamentale Unsicherheit des Lebens unter muslimischer Herrschaft: Die dualen Aussichten von Möglichkeiten und Restriktionen, Schutz und Verfolgung.“

Somit zieht sich über die Jahrhunderte hinweg ein roter Faden aus Übergriffen der Muslime an Juden – auf Einzelne wie kollektiv – durch die Seiten von Gilberts Werk. Noch 1912 kam es in der marokkanischen Stadt Fez zu einem Pogrom an der jüdischen Bevölkerung, dessen Opferzahl mit mehr als 60 Toten das Pogrom im russischen Kischinau neun Jahre zuvor übertraf:

„Doch das Pogrom von Kischinau, in welchem 49 Juden ermordet wurden, hatte zu weitverbreiteten Protesten in der christlichen Welt geführt, von Christen und Juden gleichermaßen. Über das Fez-Pogrom wurde weit weniger berichtet – und dann ignoriert.“

Zwar kam im 19. Jahrhundert auch der Einfluß des europäischen Antisemitismus zusätzlich ins Spiel, doch traf er hier auf einen ohnehin schon religiös beackerten, äußerst fruchtbaren Boden. Zum anderen muß an dieser Stelle aber auch der zunehmende Druck der europäischen Großmächte auf das Osmanische Reich benannt werden, die bedrückende Situation seiner Untertanen zu verbessern. Es brauchte keine Europäer, um dem muslimischen Antisemitismus ins Leben zu rufen – aber es bedurfte der Europäer, um dem Los der Juden unter den Muslimen endlich Linderung zu verschaffen.

Das 20. Jahrhundert schaffte mit dem Aufstieg des arabischen und jüdischen Nationalismus eine neue Dynamik im Verhältnis zwischen Juden und Muslimen. Im Vorfeld der Gründung des Staates Israel (1948) operierten die arabischen Regime mit ihren jüdischen Minderheiten als einem Faustpfand. Letztlich war deren Situation derart unhaltbar geworden, daß sich innerhalb weniger Jahre aus dem Orient und Nordafrika ein regelrechter Exodus von rund 850.000 Flüchtlingen nach Israel ergab, dem ersten Platz in der jüdischen Geschichte seit rund 2000 Jahren, wo Juden nicht als Bürger zweiter Klasse lebten.

Vielfach wird in der Debatte um den Nahostkonflikt die ungeklärte Situation der palästinensischen Flüchtlinge betont. Doch weit weniger bekannt ist, daß auf der Ebene der politischen Verhandlungen eine diesbezügliche Lösung untrennbar verknüpft ist mit der Restitution der jüdischen Flüchtlinge, die unter nicht weniger dramatischen Umständen ihre alte Heimat verlassen mußten.

Die komplexe gemeinsame Geschichte von Juden und Muslimen, wie sie Gilbert detailliert ausbreitet, zeigt auf, daß die Judenfeindschaft im Islam weiter zurückreicht als der Nahostkonflikt. In ihren Wurzeln reicht sie weit in die Ursprünge des Islam. Es ist also ein Irrglaube anzunehmen, eine wie auch immer geartete Lösung des Nahost-Konfliktes würde hier für Entspannung sorgen. Es ist eher so, daß die theologische Begründung des islamischen Antisemitismus einer rationalen Friedenslösung eine schier unüberwindbare Barriere aufgebaut hat.

Gewiß ist der religiös grundierte Antisemitismus auch im Abendland nicht unbekannt. Selbst in der Christenheit war er fast über seine gesamte Geschichte hinweg Bestandteil der Tradition. In seinem Buch „Im Schatten des Schwertes“ weist der britische Autor Tom Holland hier auf byzantinische Vorbilder aus der Zeit des Kaisers Herakleios (um 575 – 641) hin, die eindeutig auf den Islam abgefärbt haben. Doch die eigentliche Frage muß sein, wie das Christentum theologisch mit seiner inhärenten, immerhin bis zum Apostel Paulus rückverfolgbaren antisemitischen Tradition brechen konnte und was im Islam geschehen muß, um den gleichen Wandel zu vollziehen?

Was letztlich in der Behandlung der Juden durch Muslime so bedeutsam ist, ist die darin offenkundige Widerlegung des islamischen Anspruchs, eine Religion des Friedens zu sein. Es sei denn, man akzeptiert die Formel eines „Friedens durch Unterwerfung“, und zwar alleine unter dem muslimischen Willen, was sich allzu oft als Auslieferung in die Willkür des Eroberers entlarvte.

Seinen Kollegen Bernard Lewis, auch er Jude, zitierend, wies Gilbert darauf hin, „daß es in der islamischen Geschichte keine Parallele zur Vertreibung aus Spanien und der Inquisition, den russischen Pogromen und dem Holocaust durch die Nazis gibt.“ Aber ebenso wenig gebe es „in der Geschichte von Juden unter dem Islam etwas Vergleichbares zu der fortschrittlichen Emanzipation und Akzeptanz der Juden im demokratischen Westen durch die letzten drei Jahrhunderte.“

Es geht nicht alleine um Juden und Muslime. Nicht weit entfernt vom scharfen Gegensatz der Muslime zu den Juden ist der zu anderen Gruppen, denen ein gleichwertiger Status abgesprochen wird, so den Frauen und den sogenannten „Ungläubigen“, und da vor allem Säkulare und Atheisten. Mit steigenden Bevölkerungsanteil der Muslime in den westeuropäischen Staaten wird dieses Problem auch hier zu einer existentiellen Herausforderung.

 

Martin Gilbert
In Ishmael’s House
A History Of Jews In Muslim Land
424 Seiten, 2010
Yale University Press

28,99 Euro (Thalia)

 

Die alles erstickende Asche

„Wenn meine Arbeit nicht misslungen ist, habe ich erzählt, was mit Menschen geschieht, wenn sie Verhältnissen unterworfen sind, in denen sie eine relative materielle Sorglosigkeit mit ihrer geistigen Freiheit bezahlen.“ (Monika Maron)

Es war einer der spektakulärsten Fälle von Cancel Culture in den letzten Jahren, einem Phänomen, das es angeblich in Deutschland gar nicht gibt: Der Ende 2020 vorgenommene, ungnädige Rauswurf der Erfolgsschriftstellerin Monika Maron aus dem S. Fischer Verlag, der sie seit Jahrzehnten in ihrer publizistischen Arbeit betreute. Dem vorausgegangen war ein längerer, durchaus gegenseitiger Entfremdungsprozeß, den Maron vor allem mit ihren zunehmend „galligen“ Essays über Fehlentwicklungen in Deutschland, vor allem über die Islamisierung, beförderte. Auch wurde man dort offenbar mit ihren letzten Romanen „Artur Lanz“ und „Munin oder Chaos im Kopf“ nicht mehr so recht warm. Ebenso wurde ihr ihre Freundschaft zur Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen, die sie mit einem Essayband gemeinsam mit anderen „rechtsverdächtigen Abweichlern“ in ihre Buchreihe „Exil“ aufnahm, als Kontaktschuld zur Last gelegt. Glücklicherweise dauerte es nicht lange, und mit Hoffmann und Campe sprang ein anderer renommierter Verlag in die Lücke. Pünktlich einen Monat vor ihrem 80. Geburtstag am heutigen 3. Juni 2021 erschien unter ihrem neuen Flaggschiff ihr zu Ehren der Band „Was ist hier eigentlich los?“, der ihre bedeutendsten Essays aus den letzten Jahrzehnten versammelt.

Doch hier soll es nicht um diesen Essay-Band gehen. Das Jubiläum ist Anlaß, um das Werk zu betrachten, mit dem die Erfolgsgeschichte der Schriftstellerin Monika Maron begann: „Flugasche“.

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Monika Maron
Flugasche: Roman
Fischer Taschenbuch
256 Seiten; 15,00 Euro

Als „Flugasche“ 1981 in Westdeutschland erschien, lebte Maron noch in der DDR. In diesem Roman verarbeitete sie ihre Erfahrungen, die sie wenige Jahre zuvor als Reporterin der Ost-Berliner Wochenpost mit einem Bericht über das berüchtigte Chemierevier Bitterfeld machte. Die die Industriewerke versorgenden Kraftwerke hatten keine ausreichenden Staubfilter, so daß viele der in der Kohlenasche enthaltenen Schwermetallverbindungen durch die Schornsteine ausgestoßen wurden. Die aus dem Verbrennungsprozeß und entstandenen Stickstoffoxide erzeugten zusammen mit der nicht vorhandenen Entschwefelung jenen „sauren Regen“, der die Wälder im Erzgebirge zu Stangenhölzer verkümmern ließ; von den gesundheitlichen Gefahren für die Bevölkerung ganz zu schweigen.

An dieser Stelle möchte ich – quasi als kleinen Exkurs – meine eigenen Erfahrungen über die desaströse Umweltbilanz der DDR einschieben. Kurz nach der Wende erhielt das Büro, für das ich damals tätig war, den Auftrag die Vorarbeiten für den Bau einer neuen Kläranlage für eine Stadt – nennen wir sie Q. – im wiedergegründeten Bundesland Sachsen-Anhalt zu leisten. Auf dem Gelände der bisherigen Abwasserentsorgung wurde eine automatisierte Anlage zur Probeentnahme des einströmenden Abwassers eingerichtet, um so die Größenordnung der neu zu bauenden Kläranlage zu ermitteln.

Abwasserentsorgung in Mitteldeutschland, 1992 / © Daniel Körtel

Das bis dahin vorhandene System der Abwasserentsorgung von Q. primitiv zu nennen, wäre noch eine Untertreibung. Über ein marodes Verteilsystem wurde das Abwasser in verschiedene Klärteiche geleitet. War ein Teich voll, wurde der Schieber zum nächsten Teich geöffnet. Die rostzerfressenen Rohre des Schutzgeländers um das Verteiler- und Pumpsystem wurden im Inneren von Weidenstöcken notdürftig vor dem Abbrechen bewahrt. Der nach der Verdunstung und Versickerung des Wassers zurückgebliebene Trockenschlamm, der ohne jede Grobsiebung noch alles enthielt, was er mit sich geführt hat, wurde auf meterhohe Halden aufgetürmt. Direkt daneben wurde Feldwirtschaft betrieben.

Abwasserentsorgung in Mitteldeutschland, 1992 / © Daniel Körtel

Um die Mittagszeit kam es täglich zu einem merkwürdigen Phänomen. Das Abwasser nahm im Gerinne eine milchig weiße Färbung unbekannter Zusammensetzung an. Der Wassermeister konnte keine Auskunft über die Ursache abgeben, stellte aber fest, daß zur Vorwende-Zeit die Färbung noch ausgeprägter war. Welcher Produktionsbetrieb auch immer dafür verantwortlich war, der wirtschaftliche Einbruch machte sich bereits hierbei sichtbar.

Abwasserentsorgung in Mitteldeutschland, 1992 / © Daniel Körtel

Überhaupt war das Abwasser dieser Stadt eine bizarre Mischung. Bei einer Zufallsstichprobe aus dem Kanalsystem offenbarte bereits eine sensorische Inaugenscheinnahme der schillernden Farben und des beißenden Gestanks nach Lösemitteln ohne jede komplexe chemische Analyse, was für eine extreme Giftbrühe man vor sich hatte. Doch das erstaunlichste ist, daß an der Stelle der Entsorgungsruine noch zur Zeit des Kaiserreichs eine hochmoderne Anlage mit einem villenartigen Betriebsgebäude stand, die man für diese Zeit nicht erwartet hätte! Die Inschrift einer verwitterten, heute nicht mehr vorhandenen Mauer erinnerte noch an ihre Errichtung in den Jahren 1907-09. Erst die Einführung synthetischer Waschmittel in der Nachkriegszeit und ihre Vernachlässigung in der DDR gaben der Anlage den Rest. Der durch die Stadt strömende Fluß, der zu den idyllischsten der Region gehörte – was gottseidank heute wieder der Fall ist -, war bereits Anfang der 1950er Jahre ein totes Gewässer, nachdem die sowjetische Besatzungsmacht ihre Politik der Kriegsreparationen durch Demontage beendet hatte. Seither galt auch für die „verbündete“ DDR die Überlegenheit des Sozialismus mittels Industrialisierung, ohne Rücksicht auf ökologische Verluste, zu demonstrieren.

Abwasserentsorgung in Mitteldeutschland, 1992 / © Daniel Körtel

Wer also glaubt, es gäbe einen systemimmanenten Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Umweltzerstörung, und daher „alternative Modelle“ unter so wohlklingenden Namen wie „Ökosozialismus“ befürwortet, der sollte sich vor Augen halten, wie weit die DDR mit solchen Utopien gekommen ist. Auch aus Perspektive des Umweltschutzes war der Zusammenbruch der DDR ein großer Segen.

Doch zurück zu „Flugasche“. Maron stellt weniger die Bitterfelder Zustände in den Mittelpunkt ihrer Geschichte, sondern den Kampf ihrer Protagonistin Josefa Nadler, in der Illustrierten Woche eine Reportage über „die schmutzigste Stadt Europas“ zu publizieren. Mit ihrer Beharrlichkeit, die Mißstände in Bitterfeld aufzuzeigen, eckt Josefa, alleinerziehende Mutter eines heranwachsenden Jungen, in der Redaktion an. Josefa verweigert sich, die Beschreibungen ihres Textes zu relativieren. Es wäre zum Preis einer Selbstverleugnung, den sie nicht leisten will.

Doch das absichtsvolle Beschweigen der Wahrheit, die Unterordnung unter die bestimmende Linie der Partei führt zu einem Auseinanderklaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, den selbst den selbst eine überzeugte Idealistin wie Josefas Kollegin Luise einer schweren inneren Belastungsprobe unterzieht:

„Luise war Kommunistin, und ihr ideelles Bekenntnis galt der Befreiung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten. Als Ergebnis ihrer Arbeit lag aber Woche für Woche eine Zeitung vor, die ihr nicht gefiel und denen nicht, für die sie gemacht wurde, in der verschwiegen wurde, wovon Luise hätte sprechen müssen, in der nichts zu lesen war über Flugaschekammern, verätzte Bäume und vergessene Städte.“

Josefas Entschluß, sich in einem Beschwerdebrief über die Mißstände an die staatlichen Stellen zu wenden, hat für sie drastische Konsequenzen. Die Parteigruppe der Redaktion unterzieht sie einem inquisitorischen Tribunal, „wie man der Genossin helfen könne“. Es ist die Gelegenheit zu kleinlicher Abrechnung selbst banaler Animositäten, die sich in Orwellscher Begriffsverdrehung als „wohlmeinende Kritik“ tarnt, die nur eines zum Ziel hat: den Menschen zu brechen. Josefas Reaktion, noch bevor endgültig über ihren Ausschluß aus der Partei entschieden wird, ist der vollständige Rückzug aus Partei und Redaktion.

Fiktiv und doch autobiographisch – was Monika Maron in „Flugasche“ verarbeitete, sind ihre eigenen Erfahrungen als Reporterin in Ost-Berlin. Nachdem sie das Manuskript beim Greifenverlag in Rudolfstadt eingereicht hatte, ließen sich die staatlichen Genehmigungsstellen sehr viel Zeit mit der Prüfung. Frustriert von diesem jahrelangen Nervenkrieg, reichte sie es über einen von einem Mittelsmann eingefädelten Kontakt beim westdeutschen Fischer Verlag ein, der es 1981 veröffentlichte. Eine sinnvolle Zukunft in der DDR hatte Maron danach nicht mehr zu erwarten. Sie siedelte 1988 in die Bundesrepublik über und setzte dort ihre Schriftstellerkarriere erfolgreich fort.

Mehr als 40 Jahre nach Erscheinen von „Flugasche“, mehr als 30 Jahre nach der Wende sind die desaströsen ökologischen Zustände in Bitterfeld ein Fall für die Geschichtsbücher. Und doch besitzt der Roman eine beklemmende Aktualität in der Beschreibung frappierend ähnlicher „medialer Bewußtseinsvermittlung“ in der DDR damals und in der Bundesrepublik Deutschland heute. Wer findet in Passagen wie dieser nicht das Credo des postmodernen Haltungsjournalismus wieder, dessen Vertreter vor nichts mehr Angst zu haben scheinen, als etwas zu berichten, was den „Falschen“ nützt:

„Ich habe mir fast schon abgewöhnt, öffentlich über Alternativen zu reden, Gedanken auszusprechen, deren Undruckbarkeit ich ermessen kann. Wozu auch? Ich weiß vorher, was man mir antworten würde, und es hängt mir zum Halse heraus: Damit lieferst du dem Gegner die Argumente. Du kannst alles schreiben, wenn du es nur richtig einordnest.“

Auch heute finden sich Beispiele zuhauf, wie die „Wahrheit hinter schönen Sätzen [versteckt]“ wird. Da wird der Massenansturm auf Deutschland 2015 zur „hohen Zuwanderung“ verniedlicht, da wird ein judenfeindliche Parolen skandierender Mob zu einem Haufen „erlebnisorientierter Jugendlicher“ und so wie Josefa Nadler einen „Helden der Arbeit“ aus dem schmutzigsten Loch Bitterfelds porträtiert, um die humanitäre Arbeitswelt im Sozialismus zu belegen, werden Einzelbeispiele erfolgreicher Zuwanderer zu Wegmarken gelungener Integration und „bunter“ Gesellschaft hochgeschrieben.

Wie sehr sich in der „Bewußtseinsindustrie“ (Hans-Magnus Enzensberger) die Verhältnisse unter den informellen Vorgaben der political correctness denen der von Maron in der totalitären DDR erlebten fast schon beliebig nahe angeglichen haben, zeigt sich bei Birk Meinhardt, der desillusioniert in seinem Buch „Wie ich meine Zeitung verlor“ über seine journalistische Laufbahn nach der Wende durch die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet. Auf die ablehnende Kritik seines Vorgesetzten zu einem Text über einen Angehörigen der rechten Szene, der von der Justiz zu Unrecht eines Gewaltverbrechens beschuldigt wurde, schreibt ihm Meinhardt zurück:

„Die Rechten, sagen Sie, könnten meine Geschichte für ihre Zwecke nutzen. Das ist, warten Sie mit der Empörung, genau das Argument, das ich in meinem ersten Leben, als junger Journalist in der DDR, oft, zu oft gehört habe. Deine Kritik hier, hieß es, mag ja berechtigt sein, aber sie könne dem Klassenfeind zupaß kommen, also lassen wir das bleiben.“

Und auch hier wieder der Bezug zu Monika Maron, der kaum ein Zufall sein kann: Beiden gemeinsam ist die sinnesschärfende Prägung durch die DDR. Meinhardt erlebte diese Zeit zwar nicht als Dissident, aber kam aus ihr heraus mit der Erfahrung eines Systems, das auch daran zusammenbrach, weil es nicht imstande war, seine Defizite und Mißstände in den Medien adäquat darzustellen und sich stattdessen zu Verlogenheit und Schönfärberei verstieg.

Und Maron selbst schrieb zuletzt in ihrem Essay „Unser galliges Gelächter“:

„Kürzlich erzählte ich einem Freund, ich fühlte mich beim Schreiben zuweilen wie früher, als ich mein erstes Buch Flugasche geschrieben habe, wieder gedrängt ins Politische, weil es mich jeden Tag umtreibt, und bedrängt von dem Gedanken, was ich mir wohl einbrocke, wenn ich einen Protagonisten meines Buches diesen oder jenen Satz sagen lasse. Der Freund war empört: Wie ich die Bundesrepublik mit der DDR vergleichen könne und ob ich noch ganz bei Verstand sei. Es liegt mir fern, die Bundesrepublik mit der DDR zu vergleichen. Weder fürchte ich, mein Buch könnte wie in der DDR verboten werden, noch halte ich für möglich, daß ich juristisch belangt werden könnte. Und trotzdem habe ich dieses Gefühl.

Natürlich, Deutschland ist ein Rechtsstaat; darum werden Bücher nicht verboten und Schriftsteller nicht verhaftet. Aber jenseits des Gesetzes gibt es eine Deutungsmacht, die blindlings mit Verdächtigungen um sich werfen darf, sobald das, was sie als Wahrheit ausgibt, in Frage gestellt wird.“

Es ist hierbei besonders passend, daß dieser Essay 2019 erstmals in der NZZ (Neue Zürcher Zeitung) erschienen ist, die von Hans-Georg Maaßen, dem früheren Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, aufgrund ihrer offenen Berichterstattung über die Zustände in Deutschland mit dem früheren Westfernsehen vergleichen wurde, aus dem sich die DDR-Bürger gleichermaßen über ihr Land informieren konnten.

„Flugasche“, die von einem maroden Kraftwerk ausgestoßene stoffliche Substanz hoher Toxizität, ist somit auch als Metapher zu verstehen, als Metapher für die Geisteshaltung eines Machtapparats, die sich „als ideologisch intendierter Konformitäts- und Normierungsdruck auf immer mehr Lebensbereiche [legt]“ (Thorsten Hinz).

Ihre kritischen Äußerungen zum sich verengenden Meinungskorridor und zu den Folgen einer drohenden Islamisierung, ihre Kontakte mit den „falschen“ Leuten sowie die letzten Veröffentlichungen haben Maron das zur Abschreckung gedachte Etikett „umstritten“ eingebracht. Doch was heute ein umstrittener Schriftsteller ist, signalisiert tatsächlich einen Charakter, der etwas mitzuteilen hat, dessen Gedanken Wagnisse darstellen, der nicht vor dem Zeitgeist kapituliert.

Frau Monika Maron, alles Gute zu Ihrem 80. Geburtstag!

Monika Maron
Was ist eigentlich los?
Ausgewählte Essays aus vier Jahrzehnten
192 Seiten; 22,- Euro

Your own personal Sophie Scholl

„Und das schöne Wort der Freiheit
Wird gelispelt und gestammelt,
Freiheit! Freiheit! Freiheit!“

Nach Goethe, aus dem ersten Flugblatt der „Weißen Rose“, 1942

Der mediale Aufschrei war gewaltig. Als im vergangenen November auf einer Querdenker-Demo gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der sog. Corona-Pandemie eine als „Jana aus Kassel“ bekannt gewordene Rednerin sich in der Nachfolge der im Widerstand gegen das NS-Regime umgekommenen Sophie Scholl sah, rauschte eine Welle des Entsetzens und Abscheus durch die Mainstreammedien ob dieses Sakrilegs an einer der bedeutendsten Ikonen, auf die sich die heutige Bundesrepublik in ihrem Geschichtsverständnis beruft. Die Stellungnahmen und Kommentare fielen dabei einseitig und gleichlautend bis zur Austauschbarkeit aus. Wer eine dieser Reaktionen gelesen hat, der hat alle gelesen. Um die inhaltliche und austauschbare Engführung der hyperventilierenden Berichterstattung dazu zu illustrieren, sei stellvertretend die Redakteurin unserer regionalen Monopolzeitung HNA (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine), Frau Nicole Schippers, in ihrem „Standpunkt“ vom 23. November 2020 zitiert, die in der „kruden Szene“ eine „Beleidigung für alle, die jemals unter einer Diktatur gelitten haben“ sieht und die der Rednerin schließlich Geschichtsblindheit attestiert.

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Gewiß, Janas Auftritt war zum Fremdschämen. Und doch ist ein solches Verhalten kaum verwunderlich. Es gehört ja nun zum medialen und politischen Geschäft, alles auf einen möglichen Bezug zum Dritten Reich hin zu untersuchen. Nazi- und Faschismus-Vorwürfe sind inflationär und die Rassismus-Keule so oft eingesetzt, dass sie eigentlich schon stumpf sein müsste. Was liegt da für eine 22jährige, die ohnehin durch die „Gnade der späten Geburt“ jegliches Einfühlungsvermögen für die Zeit des Dritten Reiches abgehen dürfte, näher als sich der Instrumente innerhalb dieses Bezugsrahmens zu bedienen, zumal ihr vermutlich kein anderer vermittelt wurde? Daß Jana allerdings keinen klugen Gebrauch daraus gemacht hat – geschenkt…

Es hat auch einen schalen Beigeschmack, wenn Medien wie die HNA über dieser jungen Frau ob ihrer Unreife und Bildungsdefizite herfallen. Denn auf der anderen Seite hat die Journaille seit geraumer Zeit jedes dumme Wort, jeden nervtötenden Auftritt einer gewissen Heranwachsenden aus Schweden zum Thema Klimawandel andächtig notiert, so als könnte man in den Redaktionen eine 16jährige Autistin nicht von einem gesunden, erwachsenen Menschen unterscheiden. Da können diese sich Ihre Empörung über Jana getrost sparen.

Dabei ist „Jana aus Kassel“ nicht die einzige, die sich in ihrem Handeln auf Sophie Scholl beruft. Kurze Zeit später twitterte Carola Rackete, Migranten-Schlepperin aus Seenot: „If #SophieScholl was alive today I am pretty sure she would be part of local #Antifa organising.“ – Ein #Aufschrei blieb hierbei aus.

Der Auftritt der „Jana aus Kassel“ hallt noch Monate später nach, als am vergangenen 9. Mai 2021 dem 100. Geburtstag der Sophie Scholl gedacht wurde. Hierzu hat sich unsere für intellektuelle Höchstleistungen bekannte Lokalzeitung etwas Besonderes ausgedacht. Den von der Initiative „Offen für Vielfalt“ mit der „Weiße Rose Stiftung“ initiierte Wettbewerb für Schüler aufgreifend, veröffentlichte sie eine Auswahl von Briefen an oder über Sophie Scholl auf ihrer Webseite und gab einem ihrer Verfasser, einem 16jährigen Schüler des Kasseler Engelsburg-Gymnasiums ein ganzseitiges Interview.

Allen diesen Briefen gemeinsam ist die fast schon Verachtung ausstrahlende Distanzierung von „Jana aus Kassel“, zu der eine Briefschreiberin sich auf einen einschlägigen Tweet des Außenministers Maas berufet: „… nichts verbindet meiner Ansicht nach Corona-Protestler mit Widerstandskämpferinnen wie Dir“. Die staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung finden Unterstützung, das Bekenntnis zum politischen System der Bundesrepublik wird teils bis zur Selbstgefälligkeit vorgetragen. Mitunter wird es darin derart schwülstig, daß man nur hoffen kann, daß sich ihr Urheber später nicht für seine Worte schämt. Fazit: Diese Briefe sind eine Ansammlung konformistischer Allgemeinplätze und Platituden, das „sozial erwünschte“ so wiedergebend, wie es im Gemeinschaftskundeunterricht, der offenbar ganze Arbeit geleistet hat, vermittelt wurde. Aber ein echt kritischer origineller Gedanke findet sich darin nicht. Und ein Brief, der diese Qualitäten geboten hätte, wäre vermutlich auch kaum für den Wettbewerb zugelassen worden.

Von rechts bis links, von Querdenker bis „Zeuge Corona“, sieht sich jeder zur Berufung auf Sophie Scholl berechtigt, vereinnahmt sie für seine eigenen Zwecke, frei nach dem Motto: „Ich bin wie Sophie Scholl – Würde Sophie Scholl heute leben, setzte sie sich für die gleichen Ziele ein wie ich.“
Dabei ist es eine sehr zweifelhafte Methode Persönlichkeiten und ihre Charaktere aus ihrem jeweiligen historischen Kontext auf unsere Zeit zu übertragen. Niemand kann voraussagen, wie sich eine bestimmte Person in unserer Zeit entwickelt hätte. Und ebenso sollte sich umgekehrt jeder vor der Behauptung hüten, er wäre in der Zeit Sophie Scholls ebenso im Widerstand gewesen wie sie selbst.

In all dem Dickicht aus widersprechenden Vereinnahmungen, politischen Instrumentalisierungen und Mythenbildungen ist es angeraten, tiefer in die Materie einzusteigen. Zwei Biographien seien hierzu vorgestellt, die uns heute das kurze Leben der Sophie Scholl nahebringen. Da ist zum einen die als Referenz geadelte Scholl-Biographie der Historikerin Barbara Beuys, veröffentlicht 2010. Beuys setzt darin weit vor Sophies Geburt an, bei der Herkunft ihrer Eltern, um die familiären Wurzeln deutlich hervorzuheben. Sophies Charakterbildung ist nicht zu erklären ohne den prägenden Einfluß der Familie. Ihre tiefe Religiosität wurde ihr von der Mutter Lina, einer ehemaligen Diakonisse, in die Wiege gelegt, während der Vater Robert in seinem Aufstieg zum Wirtschaftsprüfer bürgerlichen Leistungsethos vorlebte. Beuys stellt ihn als liberal und demokratisch gesinnten Mann vor, der bereits vor der „Machtergreifung“ auf Distanz zu den Nazis ging, was aber keineswegs die Freundschaft zu Einzelnen ihrer Vertreter ausschloß.

Sophie entwickelte sich als viertes von sechs Kindern zu einem intelligenten Mädchen mit vielseitigen Interessen für Musik und Literatur und einem besonderen Talent für Kunst. Dennoch folgte sie mit Begeisterung ihren älteren Geschwistern Hans und Inge in die Hitlerjugend, dem der kritische Vater allerdings nichts entgegenzusetzen vermochte. Als Jungmädel zeigte sie Führungsqualitäten, die sie in der Hierarchie aufsteigen ließen. Das „neue Deutschland“ Adolf Hitlers hatte die Scholl-Kinder scheinbar für ihre Vorstellungen und Ziele einer „Volksgemeinschaft“ eingenommen. Beuys zeigt uns somit eine Sophie Scholl, die als Jungmädel dem nationalsozialistischen Ideal der „Jugend führt Jugend“ voll entsprach.

Als ein wesentlicher Bruch zum Nationalsozialismus läßt sich der Beginn des Zweiten Weltkriegs ausmachen, den Sophie kategorisch ablehnt. In ihren Aufzeichnungen werden gar die Franzosen heftig gescholten, daß sie Paris lieber zur offenen Stadt erklärten, als es bis zum Ende zu verteidigen. „Wenn eine Politik böse ist, muss man die Niederlage des eigenen Volkes wünschen, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.“ – diese kompromisslose Haltung, die sie auch nicht vor ihrem Verlobten Fritz Hartnagel – einem Offizier der Wehrmacht– verbarg, war selbst für manchen Nazigegner schwer erträglich. Und es sollte Claus Schenk Graf von Stauffenberg mit seinem letztlich gescheiterten Staatsstreich vom 4. Juli 1944 sein, der damit versuchte, aus diesem für die heutige Generation kaum verständlichen Dilemma zwischen militärischer Niederlage einerseits und dem Erhalt eines verbrecherischen Regimes andererseits einen Ausweg zu finden.

Mit der inneren Abkehr vom Nationalsozialismus entwickelte sich gleichzeitig ihre Religiosität weiter, vor allem unter dem Einfluß des jungen Familienfreundes Otl Aichers, der sie in die Richtung des Katholizismus zog. Ihr inneres Ringen mit dem Glauben erinnert stark an Luther und mündete in ein Gottvertrauen, das noch heute solchen Kirchenfürsten als Vorbild dienen sollte, die in Verleugnung ihres HErrn ihr Kreuz ablegen.

Erst ab 1942 bildete sich allmählich jenes als „Weiße Rose“ bekannte Netzwerk um ihren Bruder Hans heraus, welches über anonym versendete Flugblätter und regimekritische Graffitis den Boden für den Aufstand bereiten wollte. Der Rest, die Verhaftung der Geschwister Hans und Sophie zusammen mit dem Freund Christoph Probst am 18. Februar 1943 nach einer aufgeflogenen Aktion in der Münchener Universität und der bereits vier Tage später folgende Prozeß vor dem Volksgerichtshof unter dem Vorsitz des berüchtigten Blutrichters Roland Freisler mit Vollstreckung des Todesurteils noch am selben Tag – nichts anderes als ein Justizmord – ist hinlänglich bekannt. Viel ist in der Vergangenheit spekuliert worden, ob Sophie Scholl bewußt auf dieses Ende hingearbeitet hätte. Doch ist diese Mutmaßung inzwischen verworfen worden.

Auffallend ist, daß Beuys vielgelobte Scholl-Biographie an keiner Stelle das Symbol der „Weißen Rose“ entschlüsselt. Hans Scholl führte es auf den geflohenen Adel Frankreichs zurück, der vom Ausland aus die Französische Revolution bekämpfte. Es dürfte für heutige Geschichtspolitiker eine harte Nuß zu knacken sein, daß sich hierbei die „Weiße Rose“ ihre Symbolik ausgerechnet aus einer konterrevolutionären Bewegung ableitet, die mit der Französischen Revolution ein heute als Durchbruch der Moderne verstandenes Ereignis bekämpfte.

Noch rechtzeitig vor dem 100. Geburtstagsjubiläum der Sophie Scholl erschien mit „Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen“ eine aktuelle Biographie aus der Feder des evangelischen Theologen Robert M. Zoske. Hierin hebt er insbesondere die religiöse Motivation und Frömmigkeit Sophies hervor, die schon durch ihre Konfirmation einen wichtigen Impuls bekam. Ohne ihren christlichen Glauben kann Sophies Widerstand gegen Hitler und den Nationalsozialismus nicht erklärt werden.

Zoskes Sophie ist eine junge Frau, die aus dem traditionellen Frauenbild ihrer Zeit deutlich herausstach. Ihre Entwicklung zur Regimegegnerin erfolgte nicht über Nacht, sondern wie in einem Reifeprozeß, in dem sich ihr Freiheitsdrang langsam, aber radikal Bahn brach gegenüber der nationalsozialistischen Vermassung, die die ihr von den Nazis vermittelten Werte der Todesbereitschaft und der Unbedingtheit letztlich absichtsvoll gegen ihre Urheber wandte.

Doch interessanterweise beschreibt Zoske im Gegensatz zu Babara Beuys den Vater nicht als Demokraten, sondern als kaisertreuen Monarchisten, der – durchaus nachvollziehbar – der Massendemokratie die Schuld für den Aufstieg des Nationalsozialismus gab und dieser auch in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik kritisch gegenüberstand. Ein elterlicher Einfluß für eine demokratische Gesinnung scheidet somit aus. Und das ist insofern bemerkenswert, da bei allen schwammigen Vorstellungen des Kreises um die „Weiße Rose“ über die politische Nachkriegsordnung immerhin eines deutlich war: Deutschland sollte christlich sein.

Beide Biographen konnten aus einem umfangreichen Fundus aus Briefen, Tagebüchern und Akten schöpfen, um uns heute ein möglichst authentisches Bild Sophie Scholls zu vermitteln, fern von der Mythenbildung, die die überlebenden Geschwister unmittelbar nach dem Krieg betrieben haben.

Doch nicht allein Sophie Scholl wird uns näher gebracht, auch die Zeit des Dritten Reichs und wie schwer und fast unmöglich es für einen Einzelnen war, in diesem totalitären System in den Widerstand zu treten, sei es wegen der umfassenden Kontrolle durch die Machthaber, sei es dadurch, daß es das Regime vermochte, weite Teile des Volkes durch seine Politik zu vereinnahmen und zu blenden.

Was besondere Beklemmung beim Lesen beider Biographien auslöst, weil es unwillkürlich den Analogieschluß zur Gegenwart evoziert, sind die Schilderungen der Denunziationen, denen die damaligen Akteure ausgesetzt waren. Die „Meldehelden“ – um einen keineswegs ironisch gemeinten Euphemismus aus dem staatlichen Denunziationsportal des Landes Hessen zur angeblichen „Bekämpfung von Hass und Hetze im Netz“ aufzugreifen – der Nazi-Zeit zeigten Robert Scholl wegen abfälliger Äußerungen über Hitler bei der Staatsmacht an, ein mit Sophie Scholl ein Hotelzimmer teilender Gast wollte sie wegen des Besitzes und der Lektüre des Buches „Peter Pan“ anschwärzen – und letztlich war es der Hausmeister der Universität München, der aus vollkommen ernstgemeintem Pflichtgefühl Hans und Sophie Scholl an die Behörden verriet. Hier treten Grundtendenzen im Nationalcharakter der Deutschen zutage, die einfach nur beängstigend wirken.

Sophie fiel nicht nur in ihrer Zeit „aus der Rolle“. Ihre Belesenheit, ihre Bildung, ihre Reflektiertheit, ihr zum heutigen postmodernen Relativismus inkompatibler Glaubenseifer heben sie auch gegenüber unserer Zeit heraus, wo man kaum noch erwarten kann, daß ein junger Mensch Augustinus` „Bekenntnisse“ liest. Vergleicht man das Niveau ihrer Briefe mit denen, die im besagten Wettbewerb an sie gerichtet sind, so liegen dazwischen Welten, und damit sind nicht die unterschiedlichen Zeiten gemeint.

Sophie Scholl gab ihr Leben nicht für eine „bunte Republik“ und auch nicht für eine bestimmte medizinische Therapie zur Behandlung einer pandemischen Krankheit – sie gab es als Märtyrerin für ein freies Deutschland und ihr Volk. Es ist schwer zu beurteilen, auf wessen Seite Sophie Scholl heute stehen würde. Aber eines kann mit Sicherheit gesagt werden: Mit ihrer Reife, ihrer Bildung, ihrer Distanz gegenüber der Masse würde sie als Elite über allen stehen.

So sollte jedem einsichtig werden, der sich tiefer mit der komplexen Person der Sophie Scholl und der „Weißen Rose“ befasst, wie wenig beide mit heutigen linksliberalen, bundesrepublikanischen Denkmustern gemein haben. Hätte sich „Jana aus Kassel“ allein auf das Zitat von Theodor Körner – einem 1813 im Kampf gegen Napoleon gefallenen Freiheitskämpfer – aus dem letzten Flugblatt der „Weißen Rose“ bezogen – „Frisch auf mein Volk, die Flammenzeichen rauchen“ -, ohne dabei den Namen Sophie Scholl in den Mund zu nehmen, wäre sie vermutlich auch einem Verdikt verfallen – und zwar durch die gleiche Journaille, die sich anmaßt, Sophie Scholl vor falscher Vereinnahmung zu schützen.

Man muß „Jana aus Kassel“ nicht mögen, schon gar nicht für das, wofür sie steht und eintritt. Aber wenn sie in einem Sophie Scholl nahekommt, dann indem sie für sich den Begriff der Zivilcourage im eigentlichen Sinne des Wortes lebt: Auch mit einem kleinen Häufchen gegen eine tausendfache Übermacht aufzustehen.

Briefe an Sophie Scholl: Schüler erklären, was ihnen die NS-Widerstandskämpferin bedeutet | Kassel (hna.de)

Barbara Beuys
Sophie Scholl
Insel Verlag; 3. Edition (21. August 2011)
493 Seiten, Taschenbuch
14,00 Euro
Dr. Robert M. Zoske
Sophie Scholl: Es reut mich nichts

Porträt einer Widerständigen
Propyläen Verlag; 2. Edition (30. November 2020)
448 Seiten, geb. Ausgabe
24,00 Euro