Der Liquidator der Römischen Republik

Das historische Porträt: Gaius Julius Cäsar

An warnenden Vorzeichen hatte es nicht gemangelt. Doch weder die düsteren Prophezeiungen seines Auguren Spurinna noch die Albträume seiner Gattin Calpurnia in der Vornacht konnten Gaius Julius Cäsar davon abhalten, die an den Iden des März, dem 15. März 44 v. Chr. anberaumte Senatssitzung aufzusuchen. Rund 60 Verschwörer aus der Senatsaristokratie – darunter auch sein mutmaßlicher Sohn Brutus – erwarteten ihn, die Dolche unter der Toga versteckt, um schließlich loszuschlagen. Am Ende zählte der von einer geballten Ladung leidenschaftlichen Hasses entstellte Körper des Opfers 23 Stiche. Cäsar starb 56jährig den Tod, den er sich immer gewünscht hat, den „plötzlichen und unerwarteten“.

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Der erst wenige Wochen zuvor nach einem Bürgerkrieg, aus dem er als Sieger hervorging, zum römischen Diktator auf Lebenszeit ernannte Cäsar war am Ende nicht nur auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Nie zuvor in der Geschichte Roms hat ein Mensch ein derart gewaltiges Imperium mit einer solchen Machtfülle regiert. Seine Feldzüge führten ihn von Britannien bis nach Ägypten. Seine Liaison mit der ägyptischen Königin Kleopatra bietet bis heute Stoff für Romantiker und Hollywood-Klischees.

Erst sein blutiges Ende machte Cäsar im historischen Sinne unsterblich. In seiner Bekanntheit dürfte dieses politische Attentat auf einer Stufe mit der Ermordung Kennedys stehen. Die sich daraus ergebende Faszination ist ungebrochen und schlägt sich in einer nicht enden wollenden Ausgabe von Biographien nieder.

Cäsars Weg an die Spitze zeichnete sich dadurch aus, daß ihm der Erfolg keineswegs, wie in dynastischen Erbfolgen üblich, in die Wiege gelegt wurde. Er mußte ihn sich hart erkämpfen. Die Adelsfamilie der Julier, in die er 100 v. Chr. hineingeboren wurde, verfügte nur über einen alten Namen, aber nicht über Reichtümer.

Die römische Republik seiner Zeit wurde auf dem Grundsatz gegründet, niemals die unumschränkte Herrschaft eines Einzelnen zuzulassen. Machtteilung und durch Wahlen vergebene Ämter auf Zeit waren die tragenden Säulen ihrer Verfassung. An der Spitze des Staates standen nach dem Kollegialitätsprinzip zwei auf ein Jahr gewählte Konsuln. Doch von Anfang an bestand das Problem, daß dieses System den gleichzeitig von der Tradition geförderten Ehrgeiz, im gegenseitigen Wettbewerb nach höchster Ehre zu streben, immer schwerer eindämmen konnte. „Gerade weil die Römer größeren Durst nach Ehre verspürten als jedes andere Volk auf der Welt, waren sie ihren Gefahren gegenüber stärker auf der Hut. Je süßer der Ruhm, desto größer die Gefahr der Vergiftung“ (Tom Holland). Und Ruhm erwarb der Römer vor allem durch militärische Erfolge, die die Grundlage für eine spätere politische Karriere legten. Ruhm war für die Römer wichtiger als Frieden und der eigentliche Motor ihrer Expansion, die in Cäsars Ära fast das gesamte Mittelmeer umfasste.

Zudem erschütterte die sich verschärfende Agrarkrise die römischen Kernlande, mit immer größeren Massen verarmter Bauern, die das Heer des urbanen Plebs vergrößerten. In der zunehmenden Polarisierung standen sich zwei Parteiungen gegenüber, die alteingesessene Senatsoligarchie der Optimaten, die starr auf dem Status quo bestand und die Popularen, die sich der Volksmassen als Machtbasis bedienten.

Aufgrund seiner Herkunft stand Cäsar den Popularen nahe. Sein Aufstieg über die Ämterlaufbahn war gekennzeichnet von Extravaganz und äußerster Freigiebigkeit, durch die er das Volk nach dem klassisch-römischen Prinzip „Brot und Spiel“ unterhielt und damit auf seine Seite zog. Sein Talent als politischer Überlebenskünstler bewies er dadurch, daß er unbeschadet durch die Catilinaische Verschwörung (63 v. Chr.) kam. Währenddessen wuchs seine Verschuldung an und brachte ihn in die Abhängigkeit der schwerreichen, grauen Eminenz Crassus. Weitere Stationen waren die Statthalterschaft in Hispanien und schließlich 60 v. Chr. das Konsulat, das er zusätzlich mit dem Ersten Triumvirat absicherte, ein informelles Bündnis mit Crassus und dem Feldherren Pompeius.

Seine Reformen zur Linderung der Agrarkrise und der Landzuteilungen für Armeeveteranen konnte er nur über Rechtsbrüche durchsetzen und brachte ihm die erbitterte Gegnerschaft der Optimaten ein. Um nach Ablauf des Konsulats weiterhin unter dem Schutz der juristischen Immunität zu stehen, nahm er in Gallien und Illyrien die Statthalterschaft an. Die Immunität war seine letzte Lebensversicherung und erhielt damit auch den Bestand der von ihm erlassenen Gesetze. Jetzt ergab sich die Ausgangsbasis für den Gallischen Krieg (58-51/50 v. Chr.), den er vom Zaun brach, mit zwei zwischenzeitlichen kurzen Sprüngen über den Ärmelkanal nach Britannien. Seine rücksichtslose Kriegsführung nahm die Ausmaße eines Genozids an, war aber eine effektive, ruhmreiche „politische PR“ für die heimischen Massen, bewältigte er doch auf diese Weise das kollektive Trauma von der barbarischen „Gefahr aus dem Norden“.

Doch Cäsars Machtzuwachs durch erfahrene, ihrem General loyal ergebene Legionen und seine nun schier unbegrenzten Mittel steigerten die Ängste seiner senatorischen Gegner vor dem autokratischen Staatsstreich. Das Triumvirat war inzwischen zerbrochen, nachdem Crassus 53 v. Chr. auf einem Feldzug im Orient fiel und Pompeius sich dem Senat wieder zuwandte. Statt der Aufforderung des Senats zur Auflösung seiner Legionen nachzukommen, überschritt der zum Staatsfeind erklärte Cäsar mit diesen im Januar 49 v. Chr. den Rubikon, einen kleinen Grenzfluß in Norditalien. Es war der Auftakt zum Bürgerkrieg.

Der Legende nach unterlegte Cäsar die Grenzüberschreitung mit dem zum geflügelten Wort gewordenen „alea iacta est – die Würfel sind gefallen“. Hier zeigt sich der Vabanque-Spieler, der den höchsten Einsatz – wenn nicht sogar dem des eigenen Lebens – riskiert. Es ist ein Bild, das seltsame Assoziationen zu aktuellen Vorgängen evoziert und damit Zweifel, ob die Bewunderungswürdigkeit „großer Männer“ der Vergangenheit heute noch angemessen ist.

Aus der Perspektive ihrer beschränkten militärischen Mittel durchaus nachvollziehbar, unterlief den Gegnern Cäsars ein psychologisch-politisch schwerer Fehler, als sie die italienische Halbinsel räumten und nach Griechenland auswichen. Denn nun standen Cäsar Rom und seinen Senat offen: „Indem er aus der Stadt floh, hatte sich der Senat von all denen getrennt – der großen Mehrheit der Bürger -, die es sich nicht leisten konnten, alles zusammenzupacken und ihre Heimstäte zu verlassen. Das Gemeinschaftsgefühl, das selbst die ärmsten Bürger mit den Idealen des Staates verbunden hatte, schien dadurch kompromittiert“ (Tom Holland).

Durch seine demonstrative Milde gegenüber seinen Gegnern, denen er habhaft wurde, nahm er dem Volk die Sorge vor einem Blutbad und damit weiter für sich ein. In den folgenden Kampagnen, die ihn von Hispanien über Griechenland, Ägypten – und hier in die Arme von Kleopatra – und Nordafrika führten, schaltete er nacheinander den Widerstand aus, während Pompeius zwischenzeitlich auf Befehl des ägyptischen König Ptolemaios ermordet wurde

Seine Alleinherrschaft sicherte sich Cäsar im Februar 44 v. Chr. so ab, daß seine Amtszeit als Diktator ein Amt, das gemäß der Verfassung eigentlich nur auf sechs Monate befristet war – nun von zehn Jahren auf unbegrenzte Dauer verlängert wurde. Die Republik Rom war damit am Ende. Die in offenkundigen Inszenierungen angetragene Königswürde lehnte er demonstrativ ab, was aber den tiefsitzenden Haß seiner Gegner nicht mildern konnte. So formierte sich mit dem bekannten Ende eine senatorische Verschwörung, um über die Leiche des Diktators hinweg die republikanische Freiheit wiederzubeleben.

Cäsars Lebensbilanz im war gewaltig, im Guten wie im Schlechten. Einerseits erkannte er den Reformbedarf der römischen Institutionen, die den Anforderungen eines Weltreichs nicht mehr angemessen waren. Die Liquidierung der Republik betrieb er deswegen, weil er erkannte, daß diese „so nicht mehr leben kann. Weder politisch, noch ökonomisch. Weil sich die Welt nicht länger von einigen noch nicht einmal 100 adligen Familien Roms ausplündern läßt“ (Wilhelm Hankel). So setzt er an die Stelle der unbeschränkten Ausplünderung der eroberten Provinzen auf ihre wirtschaftliche Entwicklung und schuf mit dem Aureus die erste Weltwährung, die immerhin 400 Jahre Bestand hatte. Und vielleicht dürften auch hier die eigentlichen Interessen liegen, die seine vorgeblich von idealistischen Motiven angetriebenen Mörder verletzt sahen. Noch längeren Bestand hatte seine Kalenderreform; der Julianische Kalender sollte teilweise noch bis in das 20. Jahrhundert Verwendung finden.

Auf der anderen Seite steht nicht allein sein brutales Kalkül, das auch vor Kriegstreiberei und Völkermord nicht zurückschreckte. „In Cäsars Energie war etwas Dämonisches und Erhabenes. Sie war geprägt von Kühnheit, Ausdauer und dem Verlangen danach, der Beste zu sein, und brachte den Geist der Republik in seiner begeisterndsten und tödlichsten Form zum Ausdruck.“ (Tom Holland)

Seine Mörder überlebten ihr Opfer nicht lange. Cäsars Gegenspieler Cicero, der in die Verschwörung nicht eingeweiht war, bescheinigte ihren Urhebern „Mannesmut, aber mit Kinderverstand“. Unfähig für die Zeit nach der Tat Vorkehrungen zu treffen, kamen sie allesamt in dem nachfolgenden Bürgerkrieg innerhalb von drei Jahren ums Leben. Schließlich vollendete Cäsars Neffe und Erbe Oktavian (63 v. Chr. – 14 n. Chr.), der spätere Augustus, was sein Adoptivvater begonnen hat. Das von ihm installierte Prinzipat bediente sich der republikanischen Institutionen, um das in Wahrheit monarchische System der Kaiserherrschaft zu kaschieren. Als Kaiser Augustus transformierte er den republikanischen Stadtstaat Rom in das römische Weltreich, das auch nach seinem Untergang für viele Nachfolger zu einem später mit christlichen Motiven angereicherten Sehnsuchtsbild eines universellen Friedensreiches werden sollte.

Doch der Preis, den die Römer dafür bezahlten, war hoch. Aus Bürgern wurden Untertanen, Freiheit tauschten sie für Ruhm aus, und waren dabei ausgeliefert der Willkür eines unumschränkten Autokraten. Diese konnte vom Falle der nachfolgenden als Cäsar (aus dem später der Titel „Kaiser“ wurde) bezeichneten Herrscher herausragende und prägende Persönlichkeiten wie Vespasian, Trajan oder Marc Aurel sein. Aber auch so bedenkliche, der absoluten Korrumpierung durch absolute Macht – in der Psychopathologie auch „Caesarenwahn“ genannt – erlegene Charaktere wie Nero, Domitian und Commodus.

Wilhelm Hankel
Caesar: Weltwirtschaft des Alten Rom
1987
Tom Holland
Rubikon: Triumph und Tragödie der Römischen Republik
464 Seiten; 18,-

Das einzige Wild, das zu jagen sich lohnt

Der im vergangenen Jahr im Alter von 88 Jahren verstorbene, französische Schauspieler Jean-Paul Belmondo zählte bereits zu den Superstars der Filmindustrie seines Landes und auch darüber hinaus, als er sich in den 1970er Jahren zu einem harten Imagewechsel entschied. Stand er bislang als Charakterdarsteller anspruchsvoller Filme vor der Kamera, wie in Goddards Meisterwerk „Außer Atem“ (1960), orientierte er sich um zum kommerziell ausgerichteten Actionfilm. Den Kritikern mißfiel der Schwenk, was Belmondos Karriere jedoch keinen Abbruch tat. Einer seiner besten Filme aus dieser Zeit ist „Der Greifer“ von 1976.

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Belmondo spielt darin Roger Pilard, einen früheren Großwildjäger. Doch statt im Löwen und Tiger stellt er im verdeckten Auftrag der französischen Justiz dem Organisierten Verbrechen nach. Seine Dienste werden gut honoriert, doch ist Geld nicht seine eigentliche Motivation: „Das einzige interessante Raubtier, das zu jagen sich lohnt, ist der Mensch. Er ist bösartig, unberechenbar und feige.“

Ein besonderes Wild, auf das diese Beschreibung zutrifft, ist ein nur „die Bestie“ genannter Verbrecher, der junge Herumtreiber aufliest und für seine Raubüberfälle zu Komplizen macht. Zeugen, die ihn wiedererkennen könnten, räumt er erbarmungslos aus dem Weg, auch seine naiven Mittäter. Pilards einzige Verbindung zur „Bestie“ ist Costa Valdez, dem einzigen Komplizen, der der Bestie entkommen konnte. Schweigend gegenüber der Polizei sitzt er in einem Hochsicherheitsgefängnis. Pilard muß ihn zum Reden bringen…

Belmondo brilliert als „der Greifer“ in seiner populärsten Paraderolle als sportlicher, harter Knochen, immer mit einem lockeren Spruch auf den Lippen. „Unnötige Härten“ bescheinigte ihm das Lexikon des Internationalen Films, was in der Rückschau selbst für die damalige Zeit reichlich übertrieben erscheint. Heute jedoch ist die Gewaltdarstellung im Film zu einer eigenen Kunstform erhoben.

Mit der von Bruno Cremer verkörperten „Bestie“ steht ihm ein Gegner gegenüber, der keinerlei Skrupel kennt. In seiner Performance bleibt Cremer auf Augenhöhe mit Belmondo, ohne ihn in den Schatten zu stellen. Nur in den 1970er Jahren war es wohl noch möglich, dieser Figur, die zur Bedienung aller Klischees auch noch ein Flugzeug-Steward ist, einen schwulen Touch zu geben.
Das Frankreich, in dem „Der Greifer“ spielt, könnte kaum kaputter sein: Ein auf allen Ebenen korruptes Land in Trostlosigkeit, deren Ausdruck noch verstärkt wird durch das Setting in der Herbstzeit, der baumlosen Weiten und der kalten Beton-Architektur, die die letzten heruntergekommenen Relikte der glorreichen Vergangenheit einzwängt.

Fast 50 Jahre später ist Belmondos „Greifer“ wie eine cineastische Zeitreise, als Frankreichs Kino noch stilgebend und bedeutsam war. Aber auch in einem Jahrzehnt, das vor ästhetischen Geschmacklosigkeiten wie Schlaghosen und häßlichen Krawattenmustern nur so strotzte. Aber vor allem als ein Denkmal für einen begnadeten Schauspieler, der nicht nur zu den besten von Frankreich, sondern ganz Europas zählt.

Der Greifer
Mit Jean-Paul Belmondo, Bruno Cremer
1976, Laufzeit 1:36

Botschafter zu den Sternen

Das historische Porträt: Pioneer 10

Die Überwindung dessen, was an Unbekannten jenseits des Horizonts liegt, gehörte schon immer zu den größten Antrieben des Menschen. Sie ließ ihn die höchsten Berge überwinden und endlos erscheinenden Ozeane überqueren. Doch irgendwann im 20. Jahrhundert war auch der letzte unbekannte Winkel der Erde ausgeforscht. Mit der Entwicklung der Raumfahrt neigte sich das menschliche Interesse den schier unendlichen Weiten des Weltraums zu. 1957 startete die Sowjetunion mit Sputnik den ersten künstlichen Trabant. 12 Jahre später vollzogen die konkurrierenden USA ihrerseits mit dem ersten Menschen auf dem Mond „einen großen Schritt für die Menschheit“ nach.

Nur drei Jahre nach der Landung der Apollo-Mission auf den Mond gingen die USA einen weiteren Schritt in der Weltraumfahrt. Am 3. März 1972 – heute vor genau 50 Jahren – startete vom Weltraumbahnhof Cape Canaveral auf einer Atlas-Centaur-Trägerrakete die Raumsonde Pioneer 10. Mit ihr sollte erstmals eine Raumsonde in den interstellaren Raum vorstoßen.

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Quelle: Nasa.gov

Mit am Bord befinden sich elf wissenschaftliche Instrumente, unter anderem ein Meteoriten-Detektor, verschiedene Messgeräte zu unterschiedlichen Strahlungsarten und zur Analyse des Jupiter, zu dem die Sonde im November 1973 vorstieß, um in einem Swingby-Manöver den letzten nötigen Schwung zum Weiterflug aus dem Sonnensystem heraus zu holen.

Doch der interessanteste Teil der Sonde gehört nicht zum naturwissenschaftlichen Programm, sondern ist ein Produkt kultureller Überlegungen. Die Planer der Sonde wollten diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen, ohne der Sonde eine Botschaft von ihren Erbauern mitzugeben, für den Fall, daß sie auf ihrer weiten Reise auf eine extraterrestrische Zivilisation stößt. Die Konzeption dieser „kosmischen Flaschenpost“ oblag den Astronomen Frank Drake (* 1930) und Carl Sagan (1934 – 1996). Aus der Überlegung, wie man einer von der Menschheit vollkommen verschiedenen außerirdischen Spezies unsere Natur und Herkunft vermittelt, entwickelten sie die Idee einer Plakette mit verschiedenen Zeichnungen.

Mit einer Fläche von 152 zu 229 Millimetern (kleiner als ein DIN A4-Blatt) und einer Dicke von 1,2 Millimetern ist die Größe der goldbeschichteten Aluminiumplatte, auf die die Zeichnungen eingeätzt wurden, recht bescheiden. An dem Antennenmast der Pioneer-Sonde wurde sie so angebracht, daß sie optimal gegen den Weltraumstaub geschützt ist.

Quelle: de.wikipedia.org

Auf der Plakette sieht der Betrachter in der linken Hälfte einen Punkt, von dem ein Strahlenbündel unterschiedlicher Länge ausgeht. Es symbolisiert die Position der Erde in Relation zu 14 sie umgebenden Pulsaren, also Radiostrahlen aussendende Neutronensterne. Ihre individuelle Radiofrequenz ist durch binäre Symbole neben dem jeweiligen Strahl wiedergegeben. Damit lassen sich sowohl der Ausgangspunkt der Sonde als auch ihr Startzeitpunkt genau ermitteln, denn die Radioimpulse eines Quasars nimmt gesetzmäßig ab.

Unterhalb der Plakette ist das Sonnensystem abgebildet, mit der Flugroute der Pioneer von der Erde zum Jupiter und darüber hinaus ins Weltall. Auch hier finden sich zu den Planeten (zu denen seinerzeit auch der Pluto gehörte, dem 2006 der Planetenstatus aberkannt wurde) Binärsymbole, die ihre relative Entfernung zur Sonne angeben.

Oben links finden sich zwei miteinander verbundene Kreise, das Symbol für ein strahlendes Wasserstoffatom. Wasserstoff ist das häufigste Element im Kosmos und seine Radiostrahlung und Schwingungsdauer sind überall gleich. Damit hat der Empfänger der „Flaschenpost“ ein universell verstehbares Maß zur Verfügung für die in der Botschaft verschlüsselten Längen- und Zeiteinheiten.

In der rechten Hälfte ist vor dem Hintergrund der schematischen Pioneer ein nacktes Menschenpaar in ihrem jeweiligen Größenverhältnis zueinander abgebildet, die rechte Hand des Mannes zum Gruß erhoben. Aber wird ein außerirdischer Betrachter die Bedeutung dieser zutiefst menschlichen Geste je verstehen und erfassen können? Es ist eine Sache, einer vernunftbegabten, technisierten Alien-Zivilisation mitzuteilen wo wir sind; eine andere ist es, ihr zu vermitteln, was wir sind.

Da wo sich die Botschaft der Plakette „menschlich“ zeigt, da offenbaren sich die Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen einander vollkommen unbekannten Absender und Adressaten. Wird der Empfänger die naturwissenschaftlichen Chiffren noch übersetzen können, wird ihm wohl jedes Verstehen des abgebildeten Menschenpaars abgehen. Doch auch auf der Erde fiel dieser Teil der Abbildung auf Unverständnis. Die Nacktheit und der Anthropozentrismus fanden nicht überall Gefallen. Bei den nachfolgenden Voyager-Sonden wurde dann auch auf jede Abbildung eines Menschen bewußt verzichtet.

Später erhob der britische Astrophysiker Stephen Hawking sogar grundsätzliche Kritik daran, daß Raumsonden Botschaften mitgegeben würde, die Außerirdischen unsere Existenz und Position im Weltall verraten würden. Denn vielleicht wären sie uns ähnlicher als uns lieb sein könnten, und nutzten die Informationen zur Invasion der Erde und zur Vernichtung der Menschheit.

Doch angesichts der gewaltigen Ausdehnung des Weltalls und der weiten Entfernung der darin befindlichen Objekte dürfte die Wahrscheinlichkeit, daß die Pioneer jemals auf intelligentes Leben treffen könnte, beliebig nahe gen Null tendieren. Die Erwägung dieser Möglichkeit eignet sich bestenfalls für Science-Fiction, so wie im Film „Star Trek V“, wo ein klingonischer Weltraumkrieger die Pioneer als Weltraumschrott für Schießübungen mit der Laserkanone mißbraucht.

Somit dürfte sich die Botschaft der Pioneer-Plakette eher in einem historischen Sinne an die nachfolgenden Generationen ihrer Erbauer richten, nicht allein als eines der bedeutendsten Dokumente in der Geschichte der Menschheit, sondern auch als Quellenmaterial darüber, welchen Blick wir zum Zeitpunkt ihrer Erstellung auf uns selbst hatten. Und dieser Blick dürfte sich in den vergangenen 50 Jahren erheblich geändert haben! Kann angesichts ausufernder „Identitätskrisen“ um LGBTQ und „postkolonialen Erwachens“ heute noch ein weißes, heteronormativ aussendendes, zweigeschlechtliches Menschenpaar noch die gesamte Menschheit repräsentieren? Niemals würde die woke Bewegung der Social Justice Warriors es noch einmal so weit kommen lassen, obwohl sich aus ihren Reihen nie ein Geist rekrutieren ließe, der es mit der Expertise und den Fähigkeiten jener heute von ihnen zutiefst verachteten „alten weißen Männer“ aufnehmen könnte, die die Pioneer damals entwickelten und ins All schickten.

Zum 50. Jahrestag ihres Flugs hat sich Pioneer 10 mehr als 19 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. Ihren Status als das am weitesten von der Erde entfernte vom Menschen geschaffene Objekt verlor sie 1998 an die 1977 gestartete Sonde Voyager 1, die sie bis dahin durch ihre höhere Geschwindigkeit überholte. Die letzte Kontaktaufnahme mit der Sonde erfolgte am 23. Januar 2003. Seitdem ist Pioneer 10 verstummt.

Helmut Höfling
Dem Kosmos auf der Spur

1976
Friedrich Heer
Die großen Dokumente der Weltgeschichte
Von den Zehn Geboten bis zur Atlantik-Charta
1978

Dänemarks Eiserne Lady

Es ist heute kaum vorstellbar, daß ausgerechnet das kleine Dänemark im Spätmittelalter das Kernland eines ganz Skandinavien umfassenden Reiches war, das zu den bedeutendsten europäischen Regionalmächten seiner Zeit gehörte. Zu verdanken ist diese Leistung einer wahrhaft außergewöhnlichen Herrschergestalt. Hinter der Schaffung dieser Kalmarer Union genannten Verbindung stand kein Kriegsherr, sondern eine der bemerkenswertesten Herrscherinnen des Mittelalters, die dänische Königin Margarete I. (1353 – 1412).

 

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Als jüngste Tochter des berüchtigten Dänenkönigs Waldemar IV. „Atterdag“ gelang es ihr nach dem Tod des Vaters 1375, ihren gerade mal sechs Jahre alten Sohn Olaf auf den Thron zu setzen, womit ihr die Rolle der Regentin zufiel. Nach dem Tod ihres Gemahls König Hakoon VI. vier Jahre später übernahm sie zusätzlich die Herrschaft über dessen Königreich Norwegen.

Nach langen Verhandlungen mit dem schwedischen Adel gelang es Margarete, auch Schweden auf ihre Seite zu ziehen. Nachdem ihr Sohn Olaf im Alter von 17 Jahren verstarb, übernahm die Rolle des Thronfolgers ihr an Sohnes statt adoptierter Großneffe Erik. Seine Krönung 1397 zum schwedischen König war der Beginn der Kalmarer Union, einem nordeuropäischen Imperium, das immerhin bis 1523 von Grönland über Island herunter bis kurz vor Hamburg und weiter bis zur Ostsee reichte.

Aus dänischer Produktion ist dieser Tage der Film „Die Königin des Nordens“ (2021) erschienen, der die Herrschaft Margaretes in den Mittelpunkt stellt. Er setzt an bei einem heiklen diplomatischen Unterfangen, einem Heiratsbündnis mit England, zu besiegeln mit der Ehe zwischen Erik und der kindlichen Prinzessin Philippa. Mitten in die Verhandlungen platzt ein Fremder in zerlumpter Gestalt. Seine kühne Behauptung: Er sei Olaf, der totgeglaubte Sohn Margaretes.

Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Eine öffentliche Untersuchung versucht dem Anspruch des Fremden auf den Grund zu gehen. Von ihrem Ergebnis, wer „der einzig wahre König“ ist, hängt die Zukunft der Kalmarer Union und damit das Lebenswerk Margaretes ab.

Ein vielfaches Intrigenspiel beginnt. Hat der um die Herrschaft im Ostseeraum rivalisierende Deutsche Orden aus Preußen seine Finger mit im Spiel? Oder sind hier Adelige am Werk, die im Sinne ihrer selbstsüchtigen Interessen ihr eigenes Süppchen kochen? Das zersetzende Gift der Intrige beginnt zu wirken und droht, die fragile Union zu sprengen. Oder ist der Fremde tatsächlich Olaf? Margarete will nicht handeln wie eine Tyrannin: „Wir hängen niemanden, ohne zu wissen, wer er ist.“

Die preisgekrönte Schauspielerin Trine Dyrholm in der Hauptrolle der Margarete ist eine exzellente Besetzung, die perfekt eine Königin verkörpert, die hin- und hergerissen ist zwischen Staatsräson und Mutterliebe. Die Dramaturgie dieses düsteren Historiendramas um das zuweilen perfide Spiel der Macht wird verstärkt durch seine Einbettung in einer durchgehend im Low-Key aufgenommenen Atmosphäre, als ob im mittelalterlichen Nordreich Margaretes nie die Sonne scheint.

„Die Königin des Nordens“ ist einer der besten und sehenswertesten europäischen Produktionen der letzten Jahre, die sich kein Filmliebhaber entgehen lassen sollte. Das kleine Dänemark zeigt damit auf höchstem Niveau, wie Europa mit Hollywood mithalten kann.

Die Königin des Nordens
Mit Trine Dyrholm
2021; ca. 116 Minuten

Der Theranos-Skandal – oder wie man Schrott als den Heiligen Gral verkauft

„Wohin man bei dieser jungen Frau auch schaut, man sieht nichts als Reinheit. Ich glaube, sie versucht wirklich, die Welt besser zu machen, und das will sie damit erreichen.“
George Shultz (1920-2021), früherer US-Außenminister, über die Theranos-Gründerin Elisabeth Holmes

Es war einer der größten Betrugsskandale in der Startup-Szene des Sillicon Valley: Der spektakuläre Zusammenbruch des Biotech-Unternehmens Theranos, an dessen Spitze die zur Ikone aufgestiegene Elisabeth Holmes stand. Anfang dieses Jahres erfolgte in dem Verfahren vor einem kalifornischen Gericht der vorläufige Schlußpunkt in dem Prozeß gegen Holmes. Eine Jury sprach sie in vier der elf Anklagepunkte für schuldig. Die Verkündung des Strafmaßes wird für September erwartet. Ihr droht eine Gefängnisstrafe von mindestens 20 Jahren.

Wie konnte es soweit kommen? Das Verdienst um die Aufdeckung des gewaltigen Betrugs durch Theranos gebührt dem Wall-Street-Journalisten John Carreyrou, der mit seiner Aufdeckungsstory ein leuchtendes Beispiel dafür gab, was investigativer Journalismus zu leisten vermag. Sein Bericht „Bad Blood – Die wahre Geschichte des größten Betrugs im SILLICON VALLEY“ erzählt die ganze Historie von Theranos.

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Am Anfang steht eine junge Frau: Elisabeth Holmes, geboren 1984, entschließt sich mit gerade einmal 19 Jahren nach zwei Semestern ihr Chemieingenieur-Studium an der Stanford University abzubrechen, um mit der Gründung von Theranos eine Vision zu verwirklichen, die das Potential hat, die gesamte Analytik der medizinischen Labordiagnostik zu revolutionieren. Ihr Ziel ist die Entwicklung eines Gerätes, das mit wenigen Tropfen Blut aus einem Fingerstich in weniger als einer halben Stunde eine Vielzahl auch komplexer Parameter präzise und kostengünstig messen kann. Eine für viele Menschen unangenehme venöse Blutabnahme würde so überflüssig. Die Zielgröße dieses Analysators wurde so bemessen, daß ihn jeder zuhause hinstellen könnte. Die so ermittelten Werte könnten durch ein Netzwerk zum behandelnden Arzt weitergeleitet werden, der so beispielsweise die Dosierung von Medikamenten überwachen könnte. Grundlage dieser innovativen Idee war die Mikrofluidik, mit der sich bislang makroskopische Prozesse auf ein kleines Chip-Kartenformat reduzieren lassen. Was Holmes in Aussicht stellte, war nichts anderes als der Heilige Gral der medizinischen Analytik.

Das Problem jedoch bestand darin, daß die Technologie bei weitem nicht die Reife erreicht hat, eine derart anspruchsvolle Vision wie die von Holmes zu erfüllen. Dennoch setzte sie unbeirrt ihren Weg fort. Ihr großes Vorbild war die Hitech-Ikone Steve Jobs, der Apple zum Vorreiter der PC-Industrie machte. Deutlich dokumentierte sie dies durch optische Imitation, indem sie mit Vorliebe wie Jobs einen schwarzen Rollkragenpullover trug.

Carreyrous Recherchen ergaben bei Holmes das Profil einer Frau, die als smart beschrieben wurde, mit der Fähigkeit andere zu inspirieren und zu motivieren. Darüber hinaus ist sie eine brillante Verkäuferin. Doch auf der anderen Seite zeigten sich in ihrem Verhalten bedenkliche soziopathische Züge. Sie verlangte von ihren Mitarbeitern absolute Loyalität und zeigte einen Hang zu Paranoia innerhalb und außerhalb von Theranos. Als nicht weniger bedenklich erwies sich ihre Entscheidung, ihren wesentlich älteren und charakterlich problematischen Lebenspartner Sunny Balwani zum Geschäftsführer von Theranos zu machen. Entsprechend hoch war die personelle Fluktuation im Unternehmen. Abgänge wurden durch Schweigepflichtserklärungen geknebelt. Einem frustrierten Mitarbeiter kam es vor, „als würde Theranos seine Mitarbeiter allmählich ihrer Mitmenschlichkeit berauben“.

Obwohl Theranos weit davon entfernt war, einen arbeitsfähigen Prototyp vorzustellen, gelang es Holmes, in mehreren Runden Kapitalgeber zu finden, die bis zu dreistellige Millionenbeträge investierten, obgleich es auf deren Seite intern nicht an warnenden Stimmen mangelte, die aber fahrlässig beiseitegeschoben wurden. Holmes achtete darauf, nur solche Investoren heranzuziehen, die von der Materie keine Ahnung hatten. Zu ihnen zählten sogar namhafte Persönlichkeiten wie die früheren US-Außenminister Henry Kissinger und George Shultz. Gleichzeitig erweiterte sie ihr Netzwerk bis in die höchsten Stellen der Politik, was sie fast unantastbar machte. Holmes Träume schienen sich zumindest teilweise zu erfüllen: Sie erreichte nun eine Prominenz, die sie endlich auf eine Stufe mit ihrem Vorbild Jobs hob, während der Marktwert von Theranos auf sagenhafte neun Milliarden Dollar geschätzt wurde.

Gleichzeitig trat die technische Entwicklung jedoch auf der Stelle. Die Konstrukteure konnten die Erwartungen immer noch nicht erfüllen, so daß die bis dahin vorgenommenen Bestimmungen aus herkömmlichen Analysatoren ermittelt wurden. Kontrollbehörden führte man bei ihren Begehungen gezielt hinters Licht.

Die Stufe zum vorsätzlichen Betrug überschritt Theranos, als 2013 mangels eines funktionierenden Modells zur Erfüllung einer Partnerschaft mit der Supermarktkette Walgreen mit dem „Edison“ ein Gerät der älteren Generation in deren Filialen aufgestellt wurde. Der Edison arbeitete weder in der notwendigen Qualität noch verfügte er über eine behördliche Genehmigung. Die Werte, die er herausgab, waren schlicht wertlos und konnten im schlimmsten Fall die Gesundheit der Verbraucher gefährden, die sich auf ihn verließen.

Nur zwei Jahre später fiel das Kartenhaus, aus dem Theranos errichtet war, in sich zusammen. Durch Hinweise früherer Mitarbeiter aufmerksam gemacht, mündeten die langwierigen und aufwendigen Recherchen von Carreyrou in einen Artikel, der den Stein ins Rollen brachte, mit bekanntem Ende, das auch die renommiertesten und gewieftesten Anwälte, die Holmes ins Feld warf, nicht aufzuhalten vermochten.

Holmes bekannte einmal gegenüber ihren Mitarbeitern, sie wolle mit Theranos eine „neue Religion“ gründen. Wenn man als Beschäftigter mit einer solchen Firmenkultur konfrontiert wird, sollte man schnellstens die Flucht ergreifen. Eine weitere Lehre aus dem Betrugsskandal sollte die erhöhte Wachsamkeit von Risikokapitalgebern sein, vorsichtig zu sein, ob sie sich bei unbekanntem Terrain nicht auf zu dünnes Eis begeben. Holmes wird vermutlich nicht die letzte Blenderin sein, auf die auch die cleversten Manager hereinfallen werden.

Doch je näher man beim Lesen von Carreyrous Bericht dem Ende kommt, umso mehr wächst das Unbehagen über eine Wiederholung, bildet sich unwillkürlich vor dem geistigen Auge die Gestalt eines gewissen, in der Corona-Epidemie steil erfolgreichen Biotech-Unternehmers, nicht weniger viel versprechend wie es Holmes tat, nicht weniger gehypt durch die Medien und nicht weniger politisch gut vernetzt. Wir können nur hoffen, in solchen Analogien gänzlich falsch zu liegen.

UPDATE 19.11.2022:

Die einstige US-Vorzeigeunternehmerin Elizabeth Holmes ist wegen Betrugs zu einer Haftstrafe von mehr als elf Jahren verurteilt worden. Der zuständige Richter Edward Davila gab das Strafmaß von 135 Monaten am Freitag in San Jose bekannt. Holmes wollte mit ihrer Bluttest-Firma Theranos die Pharma- und Gesundheitsbranche revolutionieren – doch das Versprechen entpuppte sich als Bluff. Im Januar hatte eine Geschworenenjury die 38-Jährige schuldig gesprochen, Investoren gezielt getäuscht zu haben.

Theranos-Gründerin: Frühere US-Bluttest-Unternehmerin Holmes zu elf Jahren Haft verurteilt – WELT

John Carreyou
Bad Blood
Die wahre Geschichte des größten Betrugs im SILLICON VALLEY
400 Seiten; 24,- EURO

Der Stoff, mit dem Amerika talabwärts fährt

Für die bedeutendste Industrienation der Welt mit dem Anspruch auf globale Geltung ihrer Werte war die Nachricht ein beschämendes Debakel: Wie das Ärzteblatt in einer Meldung vom 30. Oktober 2019 berichtete, sank in den USA erstmals seit 1993 die Lebenserwartung. Ursache dieses Rückgangs ist die steigende Zahl von Opioid-Toten, Folge der seit rund 25 Jahren grassierenden Opioid-Krise, der allein 2018 rund 32.000 Menschen infolge von Überdosen, wie beispielsweise mit Fentanyl, zum Opfer fielen.

Der Medienkonzern Disney ist allgemein bekannt für sein seichtes Unterhaltungsprogramm. Doch zu den Perlen ernsthafterer Angebote zählt aktuell auf seinem Streaming-Kanal die Dramaserie „Dopesick“, die die Opioid-Krise einem breiten Publikum vermittelt. Hauptprotagonist ist der Hollywood-Schauspieler und Oscarpreisträger Michael Keaton („Batman“, „Birdman“) in der Rolle des Arztes Dr. Samuel Finnix, der seinen Patienten im Vertrauen auf die nicht süchtig machende Wirkung das Schmerzmittels OxyContin verschreibt. Doch „Oxy“ hält nicht das, was der Pharmakonzern Perdue verspricht; es macht hochgradig süchtig. Oxy wird der Auslöser für eine neue Drogenepidemie, der tragischerweise auch Dr. Finnix zum Opfer fällt.

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Grundlage der Serie ist das Buch „Dopesick – Wie Ärzte und die Pharmaindustrie uns süchtig machen“ der preisgekrönten Journalistin und Autorin Beth Macy. Darin geht sie der Historie der Opioid-Krise nach und interviewte dazu zahlreiche Betroffene wie Ärzte, Polizeiermittler, Juristen, Süchtige und ihre Familienangehörigen.

Ausgangspunkt war 1996 die Markteinführung von OxyContin durch den Pharmakonzern Perdue. Etwa zeitgleich zog eine neue Kultur der Schmerzbetrachtung ein, wonach Schmerz als „fünftes Vitalzeichen“ eine höhere medizinische Aufmerksamkeit erhielt. Genau hierauf zielte Perdues Marketingstrategie ab, das Medikament bereits bei Alltagsschmerzen anzuwenden. Das Suchtpotential wurde bewußt heruntergespielt mit der unbelegten Behauptung, durch seinen retardierenden – also verzögernden – Wirkungsmechanismus würden lediglich weniger als ein Prozent der Patienten süchtig werden!

Die Ärzte, Krankenschwestern und Apotheker wurden von Perdues Vertretern mit teuren Werbegeschenken korrumpiert, wozu sogar kostenlose Trips nach Florida gehörten. Die aufsichtführende Behörde FDA (Food and Drug Administration) erwies sich als Totalausfall. Perdue hat in einem Paradebeispiel für die von orthodoxen Ökonomen gerne negierte angebotsorientierte Marktwirtschaft einen eigenen Absatzmarkt für ein höchst bedenkliches Produkt geschaffen.

Der Ausgangspunkt der Krise waren sozial deprivierte Regionen wie die isolierten Appalachen, der Rust Belt im Mittleren Westen und das ländliche Maine, wo die ökonomische Hoffnungslosigkeit der beste Wachstumsboden für ein Suchtmittel wie Oxy bietet. Da ohnehin von der Politik abgeschrieben und die Vernetzungsmöglichkeiten des Internets noch in den Kinderschuhen steckten, dauerte es, bis das Ausmaß der Folgen des Oxy-Konsums sichtbar wurden. Die Beschaffungskriminalität grassierte, Oxy wurde zur Einstiegsdroge für Heroin und Fentanyl und die Zahl der Todesopfer von Überdosen schwoll bedenklich an. Die Verhinderung des „Turkeys“ oder „Dopesick“, also des schmerzhaften Entzugs der Droge, wurde zur obersten Priorität im Leben der Junkies. Oxy wurde so zu einer Seuche, die vor allem das weiße Amerika in seinen besten Jahren traf. Und der Weg dahin führte über ein verschreibungspflichtiges Medikament.

Geebnet wurde dieser Weg von Ärzten, die einerseits bestochen, andererseits vertrauend auf die von der FDA abgesicherten Versprechungen auf die scheinbaren Segnungen des Oxys zu Dealern wurden, während die Sacklers als Eigentümer von Perdue zu einer der reichsten Familien der USA aufstieg – ganz legale Drogenbarone, die sich nebenher als Kunstmäzene einen Namen machten.

Es hat lange gedauert, bis das Bewußtsein für die Krise einen Schwellenwert erreicht an, an dem endlich ihr Ausmaß begriffen wurde. Zu verdanken ist dies vor allem der unermüdlichen Arbeit von Basisgruppen, die direkt am Ort des Geschehens operierten. Ihre Bewältigung wird zu einer Daueraufgabe werden, denn Opioidabhängigkeit ist eine mit vielen Rückfällen behaftete lebenslange Erkrankung. Die ökonomischen und sozialen Folgen der Abwehrmaßnahmen gegen die Covid-Pandemie haben die Opioid-Krise sogar verstärkt. Erst langsam setzt sich in den USA die Erkenntnis durch, daß der beste Weg aus der Abhängigkeit durch die medikamentöse Substitutionstherapie erfolgt und nicht durch Askese, die das Problem eher verschlimmert. Dabei ist der Therapiebedarf größer als das Angebot. Erschwerend kommt hinzu, daß es in den USA kein wie in Deutschland verpflichtendes und vergleichbares Krankenversicherungssystem gibt.

Aktueller Stand der juristischen Aufarbeitung der Opioid-Krise ist ein im vorigen Jahr abgeschlossener Vergleich zwischen 15 Bundesstaaten und Perdue Pharma über eine Summe von 4,5 Milliarden Dollar. Mit einer Vergleichssumme von sogar 26 Milliarden Dollar wurden weitere Profiteure der Krise zur Kasse gebeten, drei Großhändler für Medikamente sowie der Pharma-Konzern Johnson & Johnson.

Noch in den 1980er Jahren konnte ein Mainstream-Magazin, wie „Der Spiegel“, Titel auf den Markt bringen, wonach die Pharmaindustrie weniger das Wohl der Patienten als vielmehr ihre eigenen Interessen der Gewinnmaximierung im Blick hat, und dabei zu verantwortungslosen Methoden greift. Heute, in den Hochzeiten von Corona und der Debatte über die Impfpflicht, wird dieselbe These in das Reich der Verschwörungsmythen verwiesen. OxyContin und Perdue sind aber der beste Beweis, daß darin mehr als ein Körnchen Wahrheit steckt. Ungeachtet der Frage, ob die Impfung das wirksamste Mittel gegen die Covid-Pandemie ist – aber wer will da noch Impfskeptikern und-verweigerern ihre kritische Haltung übelnehmen?

Beth Macy
Dopesick: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie uns süchtig machen
464 Seiten; 22,- EU

Mystische Klangreise

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de

04/22 / 21. Januar 2022

CD-Kritik: Emily D’Angelo – Enargeia
Mystische Klangreise
Daniel Körtel

Trotz ihres recht jungen Alters von gerade einmal 27 Jahren hat es die in Toronto geborene Sängerin Emily D’Angelo bereits in die bedeutendsten Konzerthäuser der Welt geschafft, nach New York, Paris, London, Zürich, Berlin, zuletzt auch an die Bayerische Staatsoper in München. 2019 erhielt sie den renommierten Leonard Bernstein Award des Schleswig-Holstein Musik Festival. Nun hat die aufstrebende Mezzosopranistin bei der Deutschen Grammophon ihr Debütalbum „Enargeia“ veröffentlicht.

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Die darin enthaltene Titelliste von zwölf Gesangsstücken schlägt einen weiten Bogen von der Äbtissin, Dichterin und Mystikerin des Mittelalters, Hildegard von Bingen, hin zu den Komponisten der modernen Klassik des 21. Jahrhunderts, für die Repräsentanten wie die Isländerin Hildur Gudnadóttir sowie die beiden US-Amerikannerinnen Sarah Kirkland und Missy Mazzoli stehen. Sie alle bilden zusammen das titelgebende philosophische Konzept der enargeia.

„Enargeia“ beschreibt die Fähigkeit eines Vortragenden, seinen Gegenstand mit einer derartigen Präsenz und Intensität zu erfüllen, daß er ihn zum Leben zu erwecken scheint und so dem Zuhörer „den (unerträglichen) Glanz des Seins vor Augen führt“. D’Angelo ist eine Meisterin darin, mit ihrer Stimme dieses Konzept in einer geradezu sakralen Atmosphäre zu erfüllen, so als ob sie die Transzendenz auf die Erde holt. Der überzeugendste Anspieltip: das überaus kraftvolle Schlußstück „The Lotus Eater“.

Emily D’Angelo Enargeia Grammophon, 2021 www.emilydangelo.com www.deutschegrammophon.com

Der Kuss des Spinnengottes

Wenn soziale Deprivation den gesellschaftlichen Nährboden für massenhaften Drogenmißbrauch bildet, dann ist eine Stadt wie Detroit der perfekte Acker für Rekordernten. Einst die Hauptstadt der amerikanischen Automobilindustrie ist sie seit deren Niedergang nur noch ein urbaner Kadaver. Soweit zur Hintergrundkulisse der aktuellen, zweiteiligen Comic-Reihe „Spider“ aus dem Splitter Verlag, deren finaler Band im vergangenen Monat auf den Markt kam.

Rasend verbreitet sich in der Stadt eine geheimnisvolle neue Droge, genannt „Spider“. Aufgenommen wird sie über den Verzehr lebender Spinnen. Wie in einer grotesken Nachahmung der achtbeinigen Spinne huldigen die „Spider“-Junkies durch das Abschneiden der beiden Ringfinger ihrem neuen Gott Anansi. Doch im weiteren Fortgang ihrer Sucht machen ihre Körper eine grauenvolle Transformation durch zu abnormalen Wesen, denen nichts Menschliches mehr anhaftet.

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Detective John Brandt ermittelt gegen die das „Spider“ vertreibende Organisation „das Netz“. Gegen seinen ausdrücklichen Willen stellt ihm sein Vorgesetzter Captain Wood einen jungen Frischling an die Seite, Charlene Wood. Sehr rasch werden sie mit den entsetzlichen Auswüchsen der neuen Drogen-Epidemie konfrontiert. Und während Brandt die schweren Verletzungen auskuriert, die ihm ein Spider-Junkie mit seinen schier übermenschlichen Kräften zugefügt hat, kommt Wood dem „Netz“ auf selbstmörderische Weise immer näher.

Der Szenarist Christophe Bec dürfte in der Comic-Szene der bekannteste Kopf in dem Team sein, das die „Spider“-Serie kreiert hat und dem weiter Giles Daoust und der Zeichner Stefano Raffaele angehören. Unverkennbar findet sich in der Story die unverwechselbare Handschrift Becs, dem bereits mit „Heiligtum“ ein Meisterwerk mit dem Potential zum Kult-Klassiker gelungen ist.

Zwar bewegen sich die Charaktere in nur allzu klischeehaften Bahnen, wie sie einem aus vielen gängigen Polizeiserien vor allem us-amerikanischer Provenienz bekannt sind: Die Hauptfigur besetzt mit einem sozial inkompatiblen, abgehärteten Polizisten mittleren Alters, sein Sidekick eine junge Frau, der ihnen vorgesetzte Chief ein Quoten-Schwarzer mit ausgeprägtem Hang zum Zynismus und effizierter Zielorientierung. Und als Antagonistin eine geheimnisvolle, bizarre Schönheit mit dem treffenden Namen Arachne.

Den Reiz von „Spider“ macht aber vor allem zum einen die düstere Atmosphäre der Zeichnungen aus, die von dem Koloristen Marcelo Maiolo den perfekten Feinschliff erhielten. Dies fällt besonders im Lokalkolorit der Ruinen und Elendsbehausungen Detroits ins Auge. Zum anderen ist es die amorphe Gestalt des Bösen, die hinter dem alle bisherigen Vorstellungen von Drogen sprengenden „Spider“ steht und für die das Symbol der Spinne steht, eine kaum ansehnliche Arten enthaltende Gattung, vor die die Menschheit im Laufe ihrer Evolution aufgrund der potentiellen Letalität mancher giftiger Exemplare einen ausgeprägten Abwehrinstinkt entwickelt hat.

Ein erstaunliches Wagnis ging das Team mit einer bestimmten Facette der Protagonistin Dubowski ein: Die junge Polizistin ist getrieben von einem Kindheitstrauma, das ihr durch den Mißbrauch durch die mehr als burschikosen Lebenspartnerin ihrer lesbischen Mutter zugefügt wurde. Ein derartiger Verstoß gegen die Sitten der „political correctness“ im Zeitalter der „Woke“-Bewegung, die vor allem bislang sexuelle Minderheiten gegenüber den Heteros positiv hervorzuheben versucht, birgt auch dann das Risiko zum Shitstorm, wenn die übliche Klientel, die Comics kauft, hierin kein Problem zu sehen scheint.

Arachnophobie, die krankhafte Angst vor Spinnen, ist begründet in den tiefen Urängsten der menschlichen Seele. Darauf aufbauend ist „Spider“ eine außergewöhnliche Horrorstory, die geschickt mit diesen Ängsten spielt, Ekelgarantie inklusive.

SPIDER #1 – Rabbit Hole

Bec, Daoust & Raffaele

Splitter Verlag

56 Seiten; 16,- EURO

SPIDER #2 – Wonderland

Bec, Daoust & Raffaele

Splitter Verlag

56 Seiten; 16,- EURO

Die Himmelsscheibe als Schlüsselloch der Geschichte

Der Archäologe Prof. Harald Meller war sich der Bedeutung des Fundes wohl noch lange nicht bewußt, als im Februar 2002 ein Raubgräber in der Bar des Baseler Hilton den größten Ausgrabungsfund in Deutschland des 20. Jahrhunderts unter seinem Pullover, eingewickelt in einem Handtuch, herausholte und ihm präsentierte: Die als „Himmelsscheibe von Nebra“ berühmt gewordene Bronzeplatte aus der Bronzezeit Mitteleuropas. Das konspirative Treffen war mit dem Landesarchäologen von Sachsen-Anhalt verabredet worden, um den Raubfund, den zwei illegale Sondengänger am 4. Juli 1999 auf einem Höhenzug in der Nähe des sachsen-anhaltinischen Städtchens Nebra machten, mit einem hohen Gewinn zu verkaufen. Mit dem Auftauchen der bis dahin verdeckt operierenden Schweizer Polizeibeamten, die eng mit Meller zusammenarbeiteten, klickten die Handschellen und der Handel war damit geplatzt.

Das vorläufige und abrupte Ende dieses hochspannenden Wissenschaftskrimis war der Einstieg in die bis heute nicht abgeschlossene Forschungsarbeit über die Himmelsscheibe, die sich bis heute besonders auch außerhalb der Fachwelt einer ungeheuren Popularität erfreut. Der Fundort auf dem Mittelberg ist inzwischen gekennzeichnet durch das „Himmelsauge“, in direkter Nachbarschaft steht ein Aussichtsturm und auf dem Wanderweg dorthin befindet sich seit 2007 ein Besucherzentrum, das sich zu einem touristischen Anziehungspunkt entwickelt hat. Die Himmelsscheibe ist nicht nur ein Glücksfall für die Wissenschaft, darüber hinaus ist sie auch zu einem Segen für eine ansonsten strukturschwache Region geworden.

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Arche Nebra / Lageplan / Himmelsauge / Aussichtsturm / © Daniel Körtel

Am vergangenen Freitagabend stellte Meller im Rahmen des Literaturherbstes Göttingen in der Paulinerkirche den aktuellen Stand der von ihm geleiteten Forschungen über die Himmelsscheibe vor. Basis dieses Vortrags ist sein mit dem Co-Autor Kai Michel erarbeitetes neuestes populärwissenschaftliches Werk „Griff nach den Sternen – Nebra, Stonehenge, Babylon: Reise ins Universum der Himmelsscheibe“, das Nachfolgebuch zu seinem Bestseller „Die Himmelsscheibe von Nebra“.

Prof. Harald Meller (links) / © Daniel Körtel

Zu Beginn hob Meller heraus, daß das vor 3700 bis 4100 Jahren geschmiedete Artefakt mit seiner ältesten Darstellung konkreter astronomischer Phänomene die aufwendigste Forschungsleistung – gemessen an der Fläche -aufweise und uns die Welt der Bronzezeitmenschen größer als bislang gedacht erscheinen lasse. Seine Entdeckung verdanke sich dem Umstand, daß nachfolgend durch die Wende 1989/90 die Neuen Länder zu einem El Dorado der Raubgräber wurden, während der Westen der Bundesrepublik bereits weitgehend ausgekundschaftet gewesen sei. Überwiegend sind Militaria aus dem Zweiten Weltkrieg, wie im Kessel von Halbe, die Suchobjekte der Sondengänger. Doch mit einem derart alten und qualitativ hochwertigen Fund hatte bis dahin niemand gerechnet.

Die in fünf Phasen zu ihrer letzten Form umgearbeitete Scheibe gab den Ackerbaukulturen der damaligen Zeit ein kalendarisches Instrument in die Hand, um die nicht kongruent laufenden Mond- und Sonnenjahre mit Hilfe der darauf abgebildeten Plejaden und der Monddarstellung in Übereinstimmung zu bringen.

Die am linken und rechten Rand aufgetragenen goldenen Seitenbögen ermöglichen über den Horizont die wichtige Bestimmung der Winter- und Sommersonnenwende am 21. Juli bzw. am 21. Dezember. Wer sich in der wiedererrichteten Kreisgrabenanlage von Goseck – einem ca. 4900 v. Chr. errichteten Sonnen-Observatorium, nur knapp 40 Kilometer von Nebra entfernt – befindet, erkennt hier sofort die Übereinstimmungen im Aufbau.

Kreisgrabenanlage von Goseck / © Daniel Körtel

Meller sieht in den verschiedenen Phasen der Himmelsscheiben-Bearbeitung eine Entwicklung „vom Logos zum Mythos“, das heißt seine einem kleinen geheimen Personenkreis vorbehaltene rationale Nutzung ging verloren zugunsten eines Symbols der öffentlichen Repräsentation der Machtelite, wofür auch seine abschließende Deponierung mit den Schwertern eines Fürsten spricht.

Aber warum fand die Himmelsscheibe dieses Ende? Meller sieht den Grund hierfür in der ersten schweren Pestwelle, die Europa um 1600 v. Chr. heimgesucht hat. Die Folgen eines gleichzeitigen Vulkanausbruchs dürfte mit dem damit verbundenen „Himmelsfeuer“ das Gefühl einer Endzeit vermittelt haben, deren Kräfte sich nur mit einer wertvollen Opfergabe wie der Himmelsscheibe besänftigen ließen.

Doch wer waren die Menschen der Himmelsscheibe? Sie gehörten der Aunjetitzer Kultur (benannt nach dem ersten Fundort im böhmischen Aunjetitz) an, die im Vorharz ein wahres El Dorado für den Ackerbau vorfanden. Zwar ist die Region von wüstenartiger Trockenheit geprägt, doch der Lössboden bot für das Getreide einen optimalen Grund. Hier führte die Verschmelzung der neolithischen Kulturen der Glockenbecher und Schnurbandkeramiker zur Gründung eines ersten Staates in Mitteleuropa.

Die Aunjetitzer Kultur zeichnete sich aus durch soziale Differenzierung mit einer Elite an der Spitze, die sich durch Machtsymbole auszeichnete und die Gemeinschaft vor den Göttern vertrat. Des Weiteren war sie durch Fernhandelswege – und kontakte bis nach Cornwall und den Vorderen Orient global vernetzt. Doch ihre Beziehungen zeichneten sich nicht nur durch friedlichen Austausch aus, sondern auch durch interne Gewalt und Kriegszüge. Durch das Skelett eines Fürstengrabs konnte sogar der erste Fürstenmord der Geschichte nachgewiesen werden! Ebenso belegt sind Menschenopfer, ein Kennzeichen aller ersten Hochkulturen.

Bemerkenswert waren Mellers Ausführungen über die „Bernstein-Sperre“, die die Aunjetitzer Kultur über ihren wertvollen Schatz verhängte. Erst nach ihrem Zusammenbruch konnte sich das „Gold des Nordens“ frei über Europa verbreiten.

Abschließend stellte Meller die Himmelsscheibe von Nebra als ein Produkt globaler Vernetzung vor: Ihre Rohstoffe kamen unter anderem aus Cornwall, die Handwerkstechniken mit den Goldtauschierungen aus der Ägäis, das Schiffssymbol aus Ägypten und das Element der Plejaden aus dem Vorderen Orient. Meller zufolge ist es unwahrscheinlich, daß letzteres seinen Weg direkt aus dem Orient nach Mitteleuropa fand. Eher sei davon auszugehen, daß Reisende aus Europa es auf ihrem Rückweg hierherbrachten.

Mit dieser letzten Vermutung bezieht sich Meller implizit auf die These vom Licht, das aus dem Osten kam. Gleichwohl begibt er sich hierbei auf das Feld der Spekulation. Denn ihr Schwachpunkt besteht darin, daß im Orient ältere Artefakte gleicher oder ähnlicher Art bislang nie gefunden wurden!

Irritierend kommt hinzu, wie Meller noch den Bogen zur Gegenwart spannte und angesichts der bronzezeitlichen Vernetzung von der „Konstruiertheit der Grenzen“ sprach, so als ob diese Vergangenheit eine „No-Border“-Idylle gewesen sei.

Die Rekonstruktion des so hochkomplexen Gegenstandes der Himmelsscheibe, so Meller am Ende, erlaubt uns den Blick durch ein Schlüsselloch der Geschichte auf eine Vergangenheit, die bislang dramatisch unterschätzt wurde.

Die Himmelsscheibe von Nebra kann derzeit im Original noch bis zum 9. Januar 2022 in der Sonderausstellung „DIE WELT DER HIMMELSSCHEIBE VON NEBRA – NEUE HORIZONTE“ des Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale) angesehen werden.

Harald Meller * Kai Michel
Griff nach den Sternen
Nebra, Stonehenge, Babylon:
Reise ins Universum der Himmelsscheibe

272 Seiten; 39,- Euro

Der Hortfund von Nebra im Original der Ausstellung (© Daniel Körtel)


Heimat ist das, was gesprochen wird

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Heimat ist das, was gesprochen wird
Kulturpreis Deutsche Sprache: Der Jacob-Grimm-Preis ging in diesem Jahr an die Schriftstellerin Herta Müller
Daniel Körtel

Es ist wie ein Zeichen des kulturellen Aufbruchs nach dem langen Corona-Lockdown, daß endlich wieder öffentliche Preisverleihungen stattfinden können. Gerade rechtzeitig für den Kulturpreis Deutsche Sprache, der am vergangenen Samstag vor einem pandemiebedingt kleinen Publikum im Blauen Saal der Stadthalle Kassel verliehen wurde und zu diesem Anlaß sein 20. Jubiläum feiern konnte.

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Stadthalle / Kongress-Palais Kassel / © Daniel Körtel

Der vom Verein Deutsche Sprache (VDS) und der Helmut-Schöck-Stiftung getragene Kulturpreis fällt zum einen in den undotierten Institutionenpreis, der dieses Jahr an die Wissenschaftssendung „Wissen macht Ah!“ des Westdeutschen Rundfunks ging. Zum anderen erhielt für ihre Leistungen um die deutsche Sprache den mit 30.000 Euro verbundenen Jacob-Grimm-Preis die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller; es ist der am höchsten dotierte Sprachpreis in Deutschland. Der Initiativpreis über die Verdienste in der Verwendung eines klaren und verständlichen Deutschs, dessen Träger über einen Poetry-Slam „Zauberwort“ ermittelt werden sollte, konnte mangels qualifizierter Bewerber bezeichnenderweise nicht vergeben werden.

© Daniel Körtel

Verhöre durch die rumänische Geheimpolizei

In seinem Grußwort erinnerte Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) an den Namensgeber des Hauptpreises, Jacob Grimm (1785–1863), und seinen Beitrag zur Stadtidentität. Gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm – sie verbrachten viele Jahre ihres Lebens in Kassel und sammelten hier ihre ersten Märchen – begann Jacob die Arbeit an dem ersten deutschen Wörterbuch.

Weiterhin warnte Geselle vor Mißbrauch und Beugung der Sprache durch „Haß und Hetze“. Die Verrohung der Sprache, so Geselle in Anspielung auf den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, könne „zu grausamen Taten führen“. Ebenso wies er auf die Großdemonstration von Querdenkern in Kassel im vergangenen März hin. Dagegen sei entschieden Haltung zu zeigen, gegen Haß und Unterdrückung, genauso wie es die Brüder Grimm taten.

In ihrer Laudatio auf den Träger des Institutionenpreises für die Bemühungen um die Verwendung eines klaren und verständlichen Deutschs lobte Jury-Mitglied Anke Sauter die WDR-Sendung „Wissen macht Ah!“, die sich an Kinder ab acht Jahren richtet. In ironisierender Brechung des Begriffes „Klugscheißer“ würden dem jugendlichen Publikum durch eine „klare und klug eingesetzte Sprache“ Redewendungen und die Semantik von Fachbegriffen erklärt. Dabei schrecke das Moderationsteam vor keiner Peinlichkeit zurück, „ein bißchen verrückt, ein bißchen eklig“. Dies sei eine witzige Art der kindgerechten Wissensvermittlung, von der man auch als Erwachsener noch viel lernen könne.

Der Historiker und frühere Berliner Wissenschaftssenator Christoph Stölzl zog in seiner Laudatio auf die Hauptpreisträgerin Herta Müller (68) eine Linie vom Freiheitsverständnis Jacob Grimms, der als Abgeordneter der ersten Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche die gesetzliche Freilassung aller auswärtigen Sklaven auf deutschem Boden forderte, zu Herta Müller, die als Angehörige der Banater Schwaben in Konflikt mit dem rumänischen Ceausescu-Regime geriet. Erst nach ihrer Ausreise in die Bundesrepublik 1987 fielen die Ketten der Sklaverei von ihr ab; ihre geistigen Ketten habe sie bereits vorher abgelegt. Ihre „kompromißlose Literatur“, in der sie unter anderem in ihrem Hauptwerk „Atemschaukel“ (2009) in einer „Autotherapie“ gegen das postkommunistische Vergessen in Osteuropa ankämpfe, lobte Stölzl als „Sprachkunstwerke von solcher Makellosigkeit, daß einem die Augen ausfielen“. Besonders im Jahr des Mauerfalls 1989 sei sie die richtige Stimme zur richtigen Zeit gewesen.

In ihrer Dankesrede reflektierte Müller anhand ihrer Verhöre durch die rumänische Geheimpolizei Securitate über die Ambivalenz des Gesprochenen, in denen ihre Sätze „nie die richtigen, sondern sogar die falschen“ sein konnten. „Wörter haben im Verhör das schwerste Gewicht“, so Müller. Man sei an sie gebunden wie an der Leine an einem Pflock. „Gehörte mir ein Wort, weil sie es umdrehen konnten und weil es die Seiten wechseln kann?“ Die Situation des Verhörs sei für sie, was Sprache betrifft, die undurchschaubarste gewesen. „Beim Verhör glüht das Sprechen im Mund und das Gesprochene gefriert.“ Müller schloß mit einem Zitat des spanischen Schriftstellers Jorge Semprún: „Nicht die Sprache ist Heimat, sondern was gesprochen wird.“

Der Weg vom Blauen Saal des Kongreß Palais zum Ort, an dem die Sprache zum Schlachtfeld ideologischer Kulturkämpfe geworden ist, war auch an diesem Nachmittag nicht sehr weit: Auf dem Vorplatz hatten linke Demonstranten ihren Protest gegen die Preisverleihung mit Kreide auf dem Straßenpflaster ausgedrückt: „Offen für Vielfalt, geschlossen gegen den VDS“, „Genderstern statt Nazikern“ oder auch „Kein Platz für völkische Populist*innen!“ Der Protest weckte Erinnerungen an die Kinderbuchautorin Kerstin Boie, die im vergangenen Jahr die Annahme des Preises ablehnte, weil sie dem VDS-Bundesvorsitzenden Walter Krämer angebliche rechtspopulistische Äußerungen vorwarf.

© Daniel Körtel
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