Die alles erstickende Asche

„Wenn meine Arbeit nicht misslungen ist, habe ich erzählt, was mit Menschen geschieht, wenn sie Verhältnissen unterworfen sind, in denen sie eine relative materielle Sorglosigkeit mit ihrer geistigen Freiheit bezahlen.“ (Monika Maron)

Es war einer der spektakulärsten Fälle von Cancel Culture in den letzten Jahren, einem Phänomen, das es angeblich in Deutschland gar nicht gibt: Der Ende 2020 vorgenommene, ungnädige Rauswurf der Erfolgsschriftstellerin Monika Maron aus dem S. Fischer Verlag, der sie seit Jahrzehnten in ihrer publizistischen Arbeit betreute. Dem vorausgegangen war ein längerer, durchaus gegenseitiger Entfremdungsprozeß, den Maron vor allem mit ihren zunehmend „galligen“ Essays über Fehlentwicklungen in Deutschland, vor allem über die Islamisierung, beförderte. Auch wurde man dort offenbar mit ihren letzten Romanen „Artur Lanz“ und „Munin oder Chaos im Kopf“ nicht mehr so recht warm. Ebenso wurde ihr ihre Freundschaft zur Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen, die sie mit einem Essayband gemeinsam mit anderen „rechtsverdächtigen Abweichlern“ in ihre Buchreihe „Exil“ aufnahm, als Kontaktschuld zur Last gelegt. Glücklicherweise dauerte es nicht lange, und mit Hoffmann und Campe sprang ein anderer renommierter Verlag in die Lücke. Pünktlich einen Monat vor ihrem 80. Geburtstag am heutigen 3. Juni 2021 erschien unter ihrem neuen Flaggschiff ihr zu Ehren der Band „Was ist hier eigentlich los?“, der ihre bedeutendsten Essays aus den letzten Jahrzehnten versammelt.

Doch hier soll es nicht um diesen Essay-Band gehen. Das Jubiläum ist Anlaß, um das Werk zu betrachten, mit dem die Erfolgsgeschichte der Schriftstellerin Monika Maron begann: „Flugasche“.

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Monika Maron
Flugasche: Roman
Fischer Taschenbuch
256 Seiten; 15,00 Euro

Als „Flugasche“ 1981 in Westdeutschland erschien, lebte Maron noch in der DDR. In diesem Roman verarbeitete sie ihre Erfahrungen, die sie wenige Jahre zuvor als Reporterin der Ost-Berliner Wochenpost mit einem Bericht über das berüchtigte Chemierevier Bitterfeld machte. Die die Industriewerke versorgenden Kraftwerke hatten keine ausreichenden Staubfilter, so daß viele der in der Kohlenasche enthaltenen Schwermetallverbindungen durch die Schornsteine ausgestoßen wurden. Die aus dem Verbrennungsprozeß und entstandenen Stickstoffoxide erzeugten zusammen mit der nicht vorhandenen Entschwefelung jenen „sauren Regen“, der die Wälder im Erzgebirge zu Stangenhölzer verkümmern ließ; von den gesundheitlichen Gefahren für die Bevölkerung ganz zu schweigen.

An dieser Stelle möchte ich – quasi als kleinen Exkurs – meine eigenen Erfahrungen über die desaströse Umweltbilanz der DDR einschieben. Kurz nach der Wende erhielt das Büro, für das ich damals tätig war, den Auftrag die Vorarbeiten für den Bau einer neuen Kläranlage für eine Stadt – nennen wir sie Q. – im wiedergegründeten Bundesland Sachsen-Anhalt zu leisten. Auf dem Gelände der bisherigen Abwasserentsorgung wurde eine automatisierte Anlage zur Probeentnahme des einströmenden Abwassers eingerichtet, um so die Größenordnung der neu zu bauenden Kläranlage zu ermitteln.

Abwasserentsorgung in Mitteldeutschland, 1992 / © Daniel Körtel

Das bis dahin vorhandene System der Abwasserentsorgung von Q. primitiv zu nennen, wäre noch eine Untertreibung. Über ein marodes Verteilsystem wurde das Abwasser in verschiedene Klärteiche geleitet. War ein Teich voll, wurde der Schieber zum nächsten Teich geöffnet. Die rostzerfressenen Rohre des Schutzgeländers um das Verteiler- und Pumpsystem wurden im Inneren von Weidenstöcken notdürftig vor dem Abbrechen bewahrt. Der nach der Verdunstung und Versickerung des Wassers zurückgebliebene Trockenschlamm, der ohne jede Grobsiebung noch alles enthielt, was er mit sich geführt hat, wurde auf meterhohe Halden aufgetürmt. Direkt daneben wurde Feldwirtschaft betrieben.

Abwasserentsorgung in Mitteldeutschland, 1992 / © Daniel Körtel

Um die Mittagszeit kam es täglich zu einem merkwürdigen Phänomen. Das Abwasser nahm im Gerinne eine milchig weiße Färbung unbekannter Zusammensetzung an. Der Wassermeister konnte keine Auskunft über die Ursache abgeben, stellte aber fest, daß zur Vorwende-Zeit die Färbung noch ausgeprägter war. Welcher Produktionsbetrieb auch immer dafür verantwortlich war, der wirtschaftliche Einbruch machte sich bereits hierbei sichtbar.

Abwasserentsorgung in Mitteldeutschland, 1992 / © Daniel Körtel

Überhaupt war das Abwasser dieser Stadt eine bizarre Mischung. Bei einer Zufallsstichprobe aus dem Kanalsystem offenbarte bereits eine sensorische Inaugenscheinnahme der schillernden Farben und des beißenden Gestanks nach Lösemitteln ohne jede komplexe chemische Analyse, was für eine extreme Giftbrühe man vor sich hatte. Doch das erstaunlichste ist, daß an der Stelle der Entsorgungsruine noch zur Zeit des Kaiserreichs eine hochmoderne Anlage mit einem villenartigen Betriebsgebäude stand, die man für diese Zeit nicht erwartet hätte! Die Inschrift einer verwitterten, heute nicht mehr vorhandenen Mauer erinnerte noch an ihre Errichtung in den Jahren 1907-09. Erst die Einführung synthetischer Waschmittel in der Nachkriegszeit und ihre Vernachlässigung in der DDR gaben der Anlage den Rest. Der durch die Stadt strömende Fluß, der zu den idyllischsten der Region gehörte – was gottseidank heute wieder der Fall ist -, war bereits Anfang der 1950er Jahre ein totes Gewässer, nachdem die sowjetische Besatzungsmacht ihre Politik der Kriegsreparationen durch Demontage beendet hatte. Seither galt auch für die „verbündete“ DDR die Überlegenheit des Sozialismus mittels Industrialisierung, ohne Rücksicht auf ökologische Verluste, zu demonstrieren.

Abwasserentsorgung in Mitteldeutschland, 1992 / © Daniel Körtel

Wer also glaubt, es gäbe einen systemimmanenten Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Umweltzerstörung, und daher „alternative Modelle“ unter so wohlklingenden Namen wie „Ökosozialismus“ befürwortet, der sollte sich vor Augen halten, wie weit die DDR mit solchen Utopien gekommen ist. Auch aus Perspektive des Umweltschutzes war der Zusammenbruch der DDR ein großer Segen.

Doch zurück zu „Flugasche“. Maron stellt weniger die Bitterfelder Zustände in den Mittelpunkt ihrer Geschichte, sondern den Kampf ihrer Protagonistin Josefa Nadler, in der Illustrierten Woche eine Reportage über „die schmutzigste Stadt Europas“ zu publizieren. Mit ihrer Beharrlichkeit, die Mißstände in Bitterfeld aufzuzeigen, eckt Josefa, alleinerziehende Mutter eines heranwachsenden Jungen, in der Redaktion an. Josefa verweigert sich, die Beschreibungen ihres Textes zu relativieren. Es wäre zum Preis einer Selbstverleugnung, den sie nicht leisten will.

Doch das absichtsvolle Beschweigen der Wahrheit, die Unterordnung unter die bestimmende Linie der Partei führt zu einem Auseinanderklaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, den selbst den selbst eine überzeugte Idealistin wie Josefas Kollegin Luise einer schweren inneren Belastungsprobe unterzieht:

„Luise war Kommunistin, und ihr ideelles Bekenntnis galt der Befreiung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten. Als Ergebnis ihrer Arbeit lag aber Woche für Woche eine Zeitung vor, die ihr nicht gefiel und denen nicht, für die sie gemacht wurde, in der verschwiegen wurde, wovon Luise hätte sprechen müssen, in der nichts zu lesen war über Flugaschekammern, verätzte Bäume und vergessene Städte.“

Josefas Entschluß, sich in einem Beschwerdebrief über die Mißstände an die staatlichen Stellen zu wenden, hat für sie drastische Konsequenzen. Die Parteigruppe der Redaktion unterzieht sie einem inquisitorischen Tribunal, „wie man der Genossin helfen könne“. Es ist die Gelegenheit zu kleinlicher Abrechnung selbst banaler Animositäten, die sich in Orwellscher Begriffsverdrehung als „wohlmeinende Kritik“ tarnt, die nur eines zum Ziel hat: den Menschen zu brechen. Josefas Reaktion, noch bevor endgültig über ihren Ausschluß aus der Partei entschieden wird, ist der vollständige Rückzug aus Partei und Redaktion.

Fiktiv und doch autobiographisch – was Monika Maron in „Flugasche“ verarbeitete, sind ihre eigenen Erfahrungen als Reporterin in Ost-Berlin. Nachdem sie das Manuskript beim Greifenverlag in Rudolfstadt eingereicht hatte, ließen sich die staatlichen Genehmigungsstellen sehr viel Zeit mit der Prüfung. Frustriert von diesem jahrelangen Nervenkrieg, reichte sie es über einen von einem Mittelsmann eingefädelten Kontakt beim westdeutschen Fischer Verlag ein, der es 1981 veröffentlichte. Eine sinnvolle Zukunft in der DDR hatte Maron danach nicht mehr zu erwarten. Sie siedelte 1988 in die Bundesrepublik über und setzte dort ihre Schriftstellerkarriere erfolgreich fort.

Mehr als 40 Jahre nach Erscheinen von „Flugasche“, mehr als 30 Jahre nach der Wende sind die desaströsen ökologischen Zustände in Bitterfeld ein Fall für die Geschichtsbücher. Und doch besitzt der Roman eine beklemmende Aktualität in der Beschreibung frappierend ähnlicher „medialer Bewußtseinsvermittlung“ in der DDR damals und in der Bundesrepublik Deutschland heute. Wer findet in Passagen wie dieser nicht das Credo des postmodernen Haltungsjournalismus wieder, dessen Vertreter vor nichts mehr Angst zu haben scheinen, als etwas zu berichten, was den „Falschen“ nützt:

„Ich habe mir fast schon abgewöhnt, öffentlich über Alternativen zu reden, Gedanken auszusprechen, deren Undruckbarkeit ich ermessen kann. Wozu auch? Ich weiß vorher, was man mir antworten würde, und es hängt mir zum Halse heraus: Damit lieferst du dem Gegner die Argumente. Du kannst alles schreiben, wenn du es nur richtig einordnest.“

Auch heute finden sich Beispiele zuhauf, wie die „Wahrheit hinter schönen Sätzen [versteckt]“ wird. Da wird der Massenansturm auf Deutschland 2015 zur „hohen Zuwanderung“ verniedlicht, da wird ein judenfeindliche Parolen skandierender Mob zu einem Haufen „erlebnisorientierter Jugendlicher“ und so wie Josefa Nadler einen „Helden der Arbeit“ aus dem schmutzigsten Loch Bitterfelds porträtiert, um die humanitäre Arbeitswelt im Sozialismus zu belegen, werden Einzelbeispiele erfolgreicher Zuwanderer zu Wegmarken gelungener Integration und „bunter“ Gesellschaft hochgeschrieben.

Wie sehr sich in der „Bewußtseinsindustrie“ (Hans-Magnus Enzensberger) die Verhältnisse unter den informellen Vorgaben der political correctness denen der von Maron in der totalitären DDR erlebten fast schon beliebig nahe angeglichen haben, zeigt sich bei Birk Meinhardt, der desillusioniert in seinem Buch „Wie ich meine Zeitung verlor“ über seine journalistische Laufbahn nach der Wende durch die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet. Auf die ablehnende Kritik seines Vorgesetzten zu einem Text über einen Angehörigen der rechten Szene, der von der Justiz zu Unrecht eines Gewaltverbrechens beschuldigt wurde, schreibt ihm Meinhardt zurück:

„Die Rechten, sagen Sie, könnten meine Geschichte für ihre Zwecke nutzen. Das ist, warten Sie mit der Empörung, genau das Argument, das ich in meinem ersten Leben, als junger Journalist in der DDR, oft, zu oft gehört habe. Deine Kritik hier, hieß es, mag ja berechtigt sein, aber sie könne dem Klassenfeind zupaß kommen, also lassen wir das bleiben.“

Und auch hier wieder der Bezug zu Monika Maron, der kaum ein Zufall sein kann: Beiden gemeinsam ist die sinnesschärfende Prägung durch die DDR. Meinhardt erlebte diese Zeit zwar nicht als Dissident, aber kam aus ihr heraus mit der Erfahrung eines Systems, das auch daran zusammenbrach, weil es nicht imstande war, seine Defizite und Mißstände in den Medien adäquat darzustellen und sich stattdessen zu Verlogenheit und Schönfärberei verstieg.

Und Maron selbst schrieb zuletzt in ihrem Essay „Unser galliges Gelächter“:

„Kürzlich erzählte ich einem Freund, ich fühlte mich beim Schreiben zuweilen wie früher, als ich mein erstes Buch Flugasche geschrieben habe, wieder gedrängt ins Politische, weil es mich jeden Tag umtreibt, und bedrängt von dem Gedanken, was ich mir wohl einbrocke, wenn ich einen Protagonisten meines Buches diesen oder jenen Satz sagen lasse. Der Freund war empört: Wie ich die Bundesrepublik mit der DDR vergleichen könne und ob ich noch ganz bei Verstand sei. Es liegt mir fern, die Bundesrepublik mit der DDR zu vergleichen. Weder fürchte ich, mein Buch könnte wie in der DDR verboten werden, noch halte ich für möglich, daß ich juristisch belangt werden könnte. Und trotzdem habe ich dieses Gefühl.

Natürlich, Deutschland ist ein Rechtsstaat; darum werden Bücher nicht verboten und Schriftsteller nicht verhaftet. Aber jenseits des Gesetzes gibt es eine Deutungsmacht, die blindlings mit Verdächtigungen um sich werfen darf, sobald das, was sie als Wahrheit ausgibt, in Frage gestellt wird.“

Es ist hierbei besonders passend, daß dieser Essay 2019 erstmals in der NZZ (Neue Zürcher Zeitung) erschienen ist, die von Hans-Georg Maaßen, dem früheren Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, aufgrund ihrer offenen Berichterstattung über die Zustände in Deutschland mit dem früheren Westfernsehen vergleichen wurde, aus dem sich die DDR-Bürger gleichermaßen über ihr Land informieren konnten.

„Flugasche“, die von einem maroden Kraftwerk ausgestoßene stoffliche Substanz hoher Toxizität, ist somit auch als Metapher zu verstehen, als Metapher für die Geisteshaltung eines Machtapparats, die sich „als ideologisch intendierter Konformitäts- und Normierungsdruck auf immer mehr Lebensbereiche [legt]“ (Thorsten Hinz).

Ihre kritischen Äußerungen zum sich verengenden Meinungskorridor und zu den Folgen einer drohenden Islamisierung, ihre Kontakte mit den „falschen“ Leuten sowie die letzten Veröffentlichungen haben Maron das zur Abschreckung gedachte Etikett „umstritten“ eingebracht. Doch was heute ein umstrittener Schriftsteller ist, signalisiert tatsächlich einen Charakter, der etwas mitzuteilen hat, dessen Gedanken Wagnisse darstellen, der nicht vor dem Zeitgeist kapituliert.

Frau Monika Maron, alles Gute zu Ihrem 80. Geburtstag!

Monika Maron
Was ist eigentlich los?
Ausgewählte Essays aus vier Jahrzehnten
192 Seiten; 22,- Euro

Your own personal Sophie Scholl

„Und das schöne Wort der Freiheit
Wird gelispelt und gestammelt,
Freiheit! Freiheit! Freiheit!“

Nach Goethe, aus dem ersten Flugblatt der „Weißen Rose“, 1942

Der mediale Aufschrei war gewaltig. Als im vergangenen November auf einer Querdenker-Demo gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der sog. Corona-Pandemie eine als „Jana aus Kassel“ bekannt gewordene Rednerin sich in der Nachfolge der im Widerstand gegen das NS-Regime umgekommenen Sophie Scholl sah, rauschte eine Welle des Entsetzens und Abscheus durch die Mainstreammedien ob dieses Sakrilegs an einer der bedeutendsten Ikonen, auf die sich die heutige Bundesrepublik in ihrem Geschichtsverständnis beruft. Die Stellungnahmen und Kommentare fielen dabei einseitig und gleichlautend bis zur Austauschbarkeit aus. Wer eine dieser Reaktionen gelesen hat, der hat alle gelesen. Um die inhaltliche und austauschbare Engführung der hyperventilierenden Berichterstattung dazu zu illustrieren, sei stellvertretend die Redakteurin unserer regionalen Monopolzeitung HNA (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine), Frau Nicole Schippers, in ihrem „Standpunkt“ vom 23. November 2020 zitiert, die in der „kruden Szene“ eine „Beleidigung für alle, die jemals unter einer Diktatur gelitten haben“ sieht und die der Rednerin schließlich Geschichtsblindheit attestiert.

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Gewiß, Janas Auftritt war zum Fremdschämen. Und doch ist ein solches Verhalten kaum verwunderlich. Es gehört ja nun zum medialen und politischen Geschäft, alles auf einen möglichen Bezug zum Dritten Reich hin zu untersuchen. Nazi- und Faschismus-Vorwürfe sind inflationär und die Rassismus-Keule so oft eingesetzt, dass sie eigentlich schon stumpf sein müsste. Was liegt da für eine 22jährige, die ohnehin durch die „Gnade der späten Geburt“ jegliches Einfühlungsvermögen für die Zeit des Dritten Reiches abgehen dürfte, näher als sich der Instrumente innerhalb dieses Bezugsrahmens zu bedienen, zumal ihr vermutlich kein anderer vermittelt wurde? Daß Jana allerdings keinen klugen Gebrauch daraus gemacht hat – geschenkt…

Es hat auch einen schalen Beigeschmack, wenn Medien wie die HNA über dieser jungen Frau ob ihrer Unreife und Bildungsdefizite herfallen. Denn auf der anderen Seite hat die Journaille seit geraumer Zeit jedes dumme Wort, jeden nervtötenden Auftritt einer gewissen Heranwachsenden aus Schweden zum Thema Klimawandel andächtig notiert, so als könnte man in den Redaktionen eine 16jährige Autistin nicht von einem gesunden, erwachsenen Menschen unterscheiden. Da können diese sich Ihre Empörung über Jana getrost sparen.

Dabei ist „Jana aus Kassel“ nicht die einzige, die sich in ihrem Handeln auf Sophie Scholl beruft. Kurze Zeit später twitterte Carola Rackete, Migranten-Schlepperin aus Seenot: „If #SophieScholl was alive today I am pretty sure she would be part of local #Antifa organising.“ – Ein #Aufschrei blieb hierbei aus.

Der Auftritt der „Jana aus Kassel“ hallt noch Monate später nach, als am vergangenen 9. Mai 2021 dem 100. Geburtstag der Sophie Scholl gedacht wurde. Hierzu hat sich unsere für intellektuelle Höchstleistungen bekannte Lokalzeitung etwas Besonderes ausgedacht. Den von der Initiative „Offen für Vielfalt“ mit der „Weiße Rose Stiftung“ initiierte Wettbewerb für Schüler aufgreifend, veröffentlichte sie eine Auswahl von Briefen an oder über Sophie Scholl auf ihrer Webseite und gab einem ihrer Verfasser, einem 16jährigen Schüler des Kasseler Engelsburg-Gymnasiums ein ganzseitiges Interview.

Allen diesen Briefen gemeinsam ist die fast schon Verachtung ausstrahlende Distanzierung von „Jana aus Kassel“, zu der eine Briefschreiberin sich auf einen einschlägigen Tweet des Außenministers Maas berufet: „… nichts verbindet meiner Ansicht nach Corona-Protestler mit Widerstandskämpferinnen wie Dir“. Die staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung finden Unterstützung, das Bekenntnis zum politischen System der Bundesrepublik wird teils bis zur Selbstgefälligkeit vorgetragen. Mitunter wird es darin derart schwülstig, daß man nur hoffen kann, daß sich ihr Urheber später nicht für seine Worte schämt. Fazit: Diese Briefe sind eine Ansammlung konformistischer Allgemeinplätze und Platituden, das „sozial erwünschte“ so wiedergebend, wie es im Gemeinschaftskundeunterricht, der offenbar ganze Arbeit geleistet hat, vermittelt wurde. Aber ein echt kritischer origineller Gedanke findet sich darin nicht. Und ein Brief, der diese Qualitäten geboten hätte, wäre vermutlich auch kaum für den Wettbewerb zugelassen worden.

Von rechts bis links, von Querdenker bis „Zeuge Corona“, sieht sich jeder zur Berufung auf Sophie Scholl berechtigt, vereinnahmt sie für seine eigenen Zwecke, frei nach dem Motto: „Ich bin wie Sophie Scholl – Würde Sophie Scholl heute leben, setzte sie sich für die gleichen Ziele ein wie ich.“
Dabei ist es eine sehr zweifelhafte Methode Persönlichkeiten und ihre Charaktere aus ihrem jeweiligen historischen Kontext auf unsere Zeit zu übertragen. Niemand kann voraussagen, wie sich eine bestimmte Person in unserer Zeit entwickelt hätte. Und ebenso sollte sich umgekehrt jeder vor der Behauptung hüten, er wäre in der Zeit Sophie Scholls ebenso im Widerstand gewesen wie sie selbst.

In all dem Dickicht aus widersprechenden Vereinnahmungen, politischen Instrumentalisierungen und Mythenbildungen ist es angeraten, tiefer in die Materie einzusteigen. Zwei Biographien seien hierzu vorgestellt, die uns heute das kurze Leben der Sophie Scholl nahebringen. Da ist zum einen die als Referenz geadelte Scholl-Biographie der Historikerin Barbara Beuys, veröffentlicht 2010. Beuys setzt darin weit vor Sophies Geburt an, bei der Herkunft ihrer Eltern, um die familiären Wurzeln deutlich hervorzuheben. Sophies Charakterbildung ist nicht zu erklären ohne den prägenden Einfluß der Familie. Ihre tiefe Religiosität wurde ihr von der Mutter Lina, einer ehemaligen Diakonisse, in die Wiege gelegt, während der Vater Robert in seinem Aufstieg zum Wirtschaftsprüfer bürgerlichen Leistungsethos vorlebte. Beuys stellt ihn als liberal und demokratisch gesinnten Mann vor, der bereits vor der „Machtergreifung“ auf Distanz zu den Nazis ging, was aber keineswegs die Freundschaft zu Einzelnen ihrer Vertreter ausschloß.

Sophie entwickelte sich als viertes von sechs Kindern zu einem intelligenten Mädchen mit vielseitigen Interessen für Musik und Literatur und einem besonderen Talent für Kunst. Dennoch folgte sie mit Begeisterung ihren älteren Geschwistern Hans und Inge in die Hitlerjugend, dem der kritische Vater allerdings nichts entgegenzusetzen vermochte. Als Jungmädel zeigte sie Führungsqualitäten, die sie in der Hierarchie aufsteigen ließen. Das „neue Deutschland“ Adolf Hitlers hatte die Scholl-Kinder scheinbar für ihre Vorstellungen und Ziele einer „Volksgemeinschaft“ eingenommen. Beuys zeigt uns somit eine Sophie Scholl, die als Jungmädel dem nationalsozialistischen Ideal der „Jugend führt Jugend“ voll entsprach.

Als ein wesentlicher Bruch zum Nationalsozialismus läßt sich der Beginn des Zweiten Weltkriegs ausmachen, den Sophie kategorisch ablehnt. In ihren Aufzeichnungen werden gar die Franzosen heftig gescholten, daß sie Paris lieber zur offenen Stadt erklärten, als es bis zum Ende zu verteidigen. „Wenn eine Politik böse ist, muss man die Niederlage des eigenen Volkes wünschen, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.“ – diese kompromisslose Haltung, die sie auch nicht vor ihrem Verlobten Fritz Hartnagel – einem Offizier der Wehrmacht– verbarg, war selbst für manchen Nazigegner schwer erträglich. Und es sollte Claus Schenk Graf von Stauffenberg mit seinem letztlich gescheiterten Staatsstreich vom 4. Juli 1944 sein, der damit versuchte, aus diesem für die heutige Generation kaum verständlichen Dilemma zwischen militärischer Niederlage einerseits und dem Erhalt eines verbrecherischen Regimes andererseits einen Ausweg zu finden.

Mit der inneren Abkehr vom Nationalsozialismus entwickelte sich gleichzeitig ihre Religiosität weiter, vor allem unter dem Einfluß des jungen Familienfreundes Otl Aichers, der sie in die Richtung des Katholizismus zog. Ihr inneres Ringen mit dem Glauben erinnert stark an Luther und mündete in ein Gottvertrauen, das noch heute solchen Kirchenfürsten als Vorbild dienen sollte, die in Verleugnung ihres HErrn ihr Kreuz ablegen.

Erst ab 1942 bildete sich allmählich jenes als „Weiße Rose“ bekannte Netzwerk um ihren Bruder Hans heraus, welches über anonym versendete Flugblätter und regimekritische Graffitis den Boden für den Aufstand bereiten wollte. Der Rest, die Verhaftung der Geschwister Hans und Sophie zusammen mit dem Freund Christoph Probst am 18. Februar 1943 nach einer aufgeflogenen Aktion in der Münchener Universität und der bereits vier Tage später folgende Prozeß vor dem Volksgerichtshof unter dem Vorsitz des berüchtigten Blutrichters Roland Freisler mit Vollstreckung des Todesurteils noch am selben Tag – nichts anderes als ein Justizmord – ist hinlänglich bekannt. Viel ist in der Vergangenheit spekuliert worden, ob Sophie Scholl bewußt auf dieses Ende hingearbeitet hätte. Doch ist diese Mutmaßung inzwischen verworfen worden.

Auffallend ist, daß Beuys vielgelobte Scholl-Biographie an keiner Stelle das Symbol der „Weißen Rose“ entschlüsselt. Hans Scholl führte es auf den geflohenen Adel Frankreichs zurück, der vom Ausland aus die Französische Revolution bekämpfte. Es dürfte für heutige Geschichtspolitiker eine harte Nuß zu knacken sein, daß sich hierbei die „Weiße Rose“ ihre Symbolik ausgerechnet aus einer konterrevolutionären Bewegung ableitet, die mit der Französischen Revolution ein heute als Durchbruch der Moderne verstandenes Ereignis bekämpfte.

Noch rechtzeitig vor dem 100. Geburtstagsjubiläum der Sophie Scholl erschien mit „Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen“ eine aktuelle Biographie aus der Feder des evangelischen Theologen Robert M. Zoske. Hierin hebt er insbesondere die religiöse Motivation und Frömmigkeit Sophies hervor, die schon durch ihre Konfirmation einen wichtigen Impuls bekam. Ohne ihren christlichen Glauben kann Sophies Widerstand gegen Hitler und den Nationalsozialismus nicht erklärt werden.

Zoskes Sophie ist eine junge Frau, die aus dem traditionellen Frauenbild ihrer Zeit deutlich herausstach. Ihre Entwicklung zur Regimegegnerin erfolgte nicht über Nacht, sondern wie in einem Reifeprozeß, in dem sich ihr Freiheitsdrang langsam, aber radikal Bahn brach gegenüber der nationalsozialistischen Vermassung, die die ihr von den Nazis vermittelten Werte der Todesbereitschaft und der Unbedingtheit letztlich absichtsvoll gegen ihre Urheber wandte.

Doch interessanterweise beschreibt Zoske im Gegensatz zu Babara Beuys den Vater nicht als Demokraten, sondern als kaisertreuen Monarchisten, der – durchaus nachvollziehbar – der Massendemokratie die Schuld für den Aufstieg des Nationalsozialismus gab und dieser auch in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik kritisch gegenüberstand. Ein elterlicher Einfluß für eine demokratische Gesinnung scheidet somit aus. Und das ist insofern bemerkenswert, da bei allen schwammigen Vorstellungen des Kreises um die „Weiße Rose“ über die politische Nachkriegsordnung immerhin eines deutlich war: Deutschland sollte christlich sein.

Beide Biographen konnten aus einem umfangreichen Fundus aus Briefen, Tagebüchern und Akten schöpfen, um uns heute ein möglichst authentisches Bild Sophie Scholls zu vermitteln, fern von der Mythenbildung, die die überlebenden Geschwister unmittelbar nach dem Krieg betrieben haben.

Doch nicht allein Sophie Scholl wird uns näher gebracht, auch die Zeit des Dritten Reichs und wie schwer und fast unmöglich es für einen Einzelnen war, in diesem totalitären System in den Widerstand zu treten, sei es wegen der umfassenden Kontrolle durch die Machthaber, sei es dadurch, daß es das Regime vermochte, weite Teile des Volkes durch seine Politik zu vereinnahmen und zu blenden.

Was besondere Beklemmung beim Lesen beider Biographien auslöst, weil es unwillkürlich den Analogieschluß zur Gegenwart evoziert, sind die Schilderungen der Denunziationen, denen die damaligen Akteure ausgesetzt waren. Die „Meldehelden“ – um einen keineswegs ironisch gemeinten Euphemismus aus dem staatlichen Denunziationsportal des Landes Hessen zur angeblichen „Bekämpfung von Hass und Hetze im Netz“ aufzugreifen – der Nazi-Zeit zeigten Robert Scholl wegen abfälliger Äußerungen über Hitler bei der Staatsmacht an, ein mit Sophie Scholl ein Hotelzimmer teilender Gast wollte sie wegen des Besitzes und der Lektüre des Buches „Peter Pan“ anschwärzen – und letztlich war es der Hausmeister der Universität München, der aus vollkommen ernstgemeintem Pflichtgefühl Hans und Sophie Scholl an die Behörden verriet. Hier treten Grundtendenzen im Nationalcharakter der Deutschen zutage, die einfach nur beängstigend wirken.

Sophie fiel nicht nur in ihrer Zeit „aus der Rolle“. Ihre Belesenheit, ihre Bildung, ihre Reflektiertheit, ihr zum heutigen postmodernen Relativismus inkompatibler Glaubenseifer heben sie auch gegenüber unserer Zeit heraus, wo man kaum noch erwarten kann, daß ein junger Mensch Augustinus` „Bekenntnisse“ liest. Vergleicht man das Niveau ihrer Briefe mit denen, die im besagten Wettbewerb an sie gerichtet sind, so liegen dazwischen Welten, und damit sind nicht die unterschiedlichen Zeiten gemeint.

Sophie Scholl gab ihr Leben nicht für eine „bunte Republik“ und auch nicht für eine bestimmte medizinische Therapie zur Behandlung einer pandemischen Krankheit – sie gab es als Märtyrerin für ein freies Deutschland und ihr Volk. Es ist schwer zu beurteilen, auf wessen Seite Sophie Scholl heute stehen würde. Aber eines kann mit Sicherheit gesagt werden: Mit ihrer Reife, ihrer Bildung, ihrer Distanz gegenüber der Masse würde sie als Elite über allen stehen.

So sollte jedem einsichtig werden, der sich tiefer mit der komplexen Person der Sophie Scholl und der „Weißen Rose“ befasst, wie wenig beide mit heutigen linksliberalen, bundesrepublikanischen Denkmustern gemein haben. Hätte sich „Jana aus Kassel“ allein auf das Zitat von Theodor Körner – einem 1813 im Kampf gegen Napoleon gefallenen Freiheitskämpfer – aus dem letzten Flugblatt der „Weißen Rose“ bezogen – „Frisch auf mein Volk, die Flammenzeichen rauchen“ -, ohne dabei den Namen Sophie Scholl in den Mund zu nehmen, wäre sie vermutlich auch einem Verdikt verfallen – und zwar durch die gleiche Journaille, die sich anmaßt, Sophie Scholl vor falscher Vereinnahmung zu schützen.

Man muß „Jana aus Kassel“ nicht mögen, schon gar nicht für das, wofür sie steht und eintritt. Aber wenn sie in einem Sophie Scholl nahekommt, dann indem sie für sich den Begriff der Zivilcourage im eigentlichen Sinne des Wortes lebt: Auch mit einem kleinen Häufchen gegen eine tausendfache Übermacht aufzustehen.

Briefe an Sophie Scholl: Schüler erklären, was ihnen die NS-Widerstandskämpferin bedeutet | Kassel (hna.de)

Barbara Beuys
Sophie Scholl
Insel Verlag; 3. Edition (21. August 2011)
493 Seiten, Taschenbuch
14,00 Euro
Dr. Robert M. Zoske
Sophie Scholl: Es reut mich nichts

Porträt einer Widerständigen
Propyläen Verlag; 2. Edition (30. November 2020)
448 Seiten, geb. Ausgabe
24,00 Euro