Wie ein Mann ein Weltreich gewann

Das historische Porträt: Enrico Dandolo (1107 – 1205)

Enrico Dandolo (1107-1205)

Epochale Wenden können sich in der Menschheitsgeschichte über längere Zeiträume vollziehen, aber manchmal auch wie auf einen Schlag. Oftmals ist eine Zeitenwende dem Einsatz einer Persönlichkeit zuzuschreiben, in der Regel nicht mit vorabsehbarem Ergebnis, dieses jedoch durch den selbstbewußten Einsatz, das Werfen der eigenen Person in die Waagschale, schließlich herbeiführend. Ein solcher Wechsel vollzog sich im Jahr 1204, als eine westeuropäische Streitmacht aus Kreuzrittern unter der Führung der Handelsrepublik Venedig durch die Eroberung der Metropole Konstantinopel dem Byzantinischen Reich ein Ende bereitete und das Imperium von Venedig als Beherrscher des östlichen Mittelmeerraums an dessen Stelle trat. Der Mann, der das möglich machte: Enrico Dandolo, der Doge von Venedig.

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Das aus dem Zerfall des Römischen Reiches hervorgegangene Byzantinische Reich war die vorherrschende Großmacht in Osteuropa und Kleinasien. Seine Hauptstadt Konstantinopel galt an Reichtum und Pracht als einzigartig in Europa und als Knotenpunkt globaler Handelsströme. Dennoch zeigten sich bereits bedenkliche Risse in seinem morschen Gebälk. Im Inneren erschüttert von Unruhen, an seinen Rändern ausfransend, seine militärische Stärke bröckelnd, zeigte es ernste Symptome des Niedergangs.

Demgegenüber stand der Aufstieg von Venedig, einst byzantinischer Außenposten, der sich seine Unabhängigkeit vom Mutterland erkämpfte. Mit seinen Schiffen knüpfte es ein das Mittelmeer umspannendes Handelsnetz. An seinen Marktplätzen kamen aus ganz Europa die Händler zusammen. Die Lagunenstadt band ihr Schicksal an das Meer, über das ihm sein zunehmender Reichtum zufloss. Die strategische Wende zum Beherrscher der Adria kam für Venedig Ende des 11. Jahrhundert, als Byzanz ihm für maritime Waffenhilfe außerordentliche Handelsprivilegien zusprach. Eine Entscheidung, die die oströmischen Kaiser noch bitter bereuen sollten.

Es ist April 1204. Seit dem Juni vorigen Jahres steht das von einer venezianischen Flotte transportierte Kreuzfahrerheer vor den Mauern Konstantinopels. Eigentlich sollte dieses Heer als Vierter Kreuzzug Ägypten angreifen, um so die Jerusalem und das Heilige Land beherrschenden Sarazenen von ihrem reichen Hinterland abzuschneiden. Für Venedig, das die Flotte stellen sollte, wäre es ein Jahrhundertgeschäft geworden. Doch statt der zugesagten 34 000 Kreuzritter trafen am Ende sehr viel weniger in der Lagunenstadt ein. Für Venedig, das für das Unternehmen in erhebliche Vorleistungen getreten war, drohte ein Desaster.

Venedig, Blick von der Akademie-Brücke über den Canale Grande / © Daniel Körtel

Das Oberhaupt der Lagunenstadt, der greise Doge Enrico Dandolo, verfiel jedoch stattdessen auf einen perfiden Plan, der seiner Stadt doch noch zum Vorteil gereichen sollte. Erst ließ er zur Stundungsleistung der aufgehäuften Schulden im November 1202 die widerspenstige Adriastadt Zara von den Kreuzfahrern erobern und plündern. Der Überfall der Kreuzritter auf eine christliche Stadt, gegen den selbst die Sanktionen des Papstes sich als machtlos erwiesen, entlarvte die hehren Motive nach einer Befreiung des Heiligen Land als reine Staffage, hinter der sich reine Gier nach Macht und Eroberung verbargen, und der einen Vorgeschmack gab, auf das was noch kommen sollte.

Die Chance zur strategische Wende, die am Ende das politische Gleichgewicht in Osteuropa und im östlichen Mittelmeerraum zum Einsturz bringen sollte, kam schließlich in der Gestalt eines jungen byzantinischen Prinzen. Alexios Angelos – so töricht wie nichtsnutzig – erbat die Hilfe der Kreuzritter, um seinen Vater Issak II, der von seinem Onkel Alexios III. von Thron in Konstantinopel gestürzt und geblendet wurde, wieder in sein Amt einzusetzen. Seine Versprechungen waren so sagenhaft wie unrealistisch: Nicht alleine die Begleichung der Schulden der Kreuzritter, die Stellung von Soldaten für den Kreuzzug, sondern auch noch die Unterstellung der Orthodoxen Kirche unter das Supremat Roms.

Dandolo erkannte das Potential dieses Angebotes für Venedig wie kein anderer der Beteiligten. Über ihn schreibt der britische Publizist Roger Crowley:

In Venedig hatte man bei der Wahl der Dogen schon immer großen Wert auf eine Verbindung von Alter und Erfahrung gelegt, doch der Mann, den die Ritter aufsuchen wollten, war in jeder Hinsicht bemerkenswert. Enrico Dandolo war der Spross einer angesehenen Familie von Anwälten, Kaufleuten und Klerikern. Diese Familie war an nahezu allen wichtigen Ereignissen im vergangenen Jahrhundert beteiligt gewesen und hatte sich in bemerkenswerter Weise in den Dienst der Republik gestellt. Sie hatte an der Reformierung der kirchlichen und staatlichen Einrichtungen der Republik Mitte des 12. Jahrhunderts mitgewirkt und auch an den Kreuzzugsunternehmungen Venedigs teilgenommen. Nach allen Berichten waren die männlichen Mitglieder der Familie Dandolo mit beträchtlicher Klugheit und Energie ausgestattet – und mit Langlebigkeit. Im Jahr 1201 war Enrico schon über 90 Jahre alt. Und er war völlig blind. („Venedig erobert die Welt“, Roger Crowley)

Zwar war die Situation derzeit zwischen Konstantinopel und Venedig entspannt; die Handelsprivilegien waren immerhin bestätigt. Doch die Geißelkrise von 1172, als Kaiser Manuel alle Venezianer im Reich verhaften ließ, hinterließ einen Groll. Für Dandolo, der sich mit eigenen Mitteln im Kreuzzugsunternehmen engagierte und es mit seiner ganzen Persönlichkeit in seiner Stadt durchsetzte, ging es um alles. Die Flotte nahm Kurs auf, nicht in das Heilige Land, auch nicht nach Ägypten, sondern nach Konstantinopel.

Zur Überraschung der Kreuzfahrer war jedoch die Stadtbevölkerung, die bereits viele Machtwechsel gewöhnt war, keineswegs bereit, dem Prinzen die Tore zu öffnen. Doch bereits nach dem ersten Großangriff im Juli 1203, bei dem Venedig seine maritime Überlegenheit an der schwächsten Stelle der Stadtmauer, seiner Seite zur See hin, ausspielte, floh der Kaiser mit den Kronjuwelen aus der Stadt.

Issak II. wurde aus einem Kloster geholt und gemeinsam mit seinem Sohn wieder auf den Thron gesetzt. Und wieder einmal war es der persönliche Einsatz von Dandolo, der an vorderster Front am Bug seiner purpurroten Galeere, den Erfolg herbeigeführt hatte, als der Angriff auf der Kippe stand. Gleichwohl, Teile Konstantinopels gingen dabei in Flammen auf; ca. 20.000 Menschen verloren ihre Wohnstätte. Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Schnell zeigte sich, daß die Kaiser ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht einhalten konnten. Zwar versorgten sie das Kreuzfahrerheer, das sich zurückgezogen hatte, weiterhin mit Lebensmitteln. Doch die Stimmung in der Stadt erhitzte sich beständig, nahmen die Gegensätze zwischen Griechen und Westlern bedenklich zu. Kaiser Alexios vergriff sich am Kirchengold, um die Kreuzfahrer milde zu stimmen. Im August führten Ausschreitungen zwischen Griechen und italienischen Händlern zu einer verheerenden Feuersbrunst. Im sich anbahnenden Chaos unternahm im Januar 1204 der Edelmann Alexios Dukas „Murtzuphlos“ einen Staatsstreich und ließ die beiden Kaiser beseitigen, um mit Nikolaos Kanabos eine Marionette als Kaiser einzusetzen, um im Folgemonat diesen wiederum durch sich selbst als Alexios V. inthronisieren zu lassen.

Diese Wende war für Venedig und die Kreuzfahrer eine Katastrophe. Denn die Verträge waren an die Personen Issak und Alexios gebunden. Murtzuphlos wiederum dachte nicht daran, sich den Invasoren zu unterwerfen, sondern organisierte energisch den militärischen Widerstand.

Aus den Erfahrungen des vorhergehenden Großangriffs gelernt, gelang trotz heftiger Gegenwehr den Kreuzfahrern der Durchbruch in die Stadt über die Seemauer. Es war der 12. April 1204, heute vor genau 820 Jahren, als Konstantinopel seinen bis dahin schwärzesten Tag erlebte. Die Gegenwehr brach im Chaos zusammen, Murtzuphlos floh aus der Stadt.

Ohne Führung trat in einer religiösen Prozession eine Volksmenge den Kreuzrittern entgegen, um ihnen – wie in den von ihnen gewohnten Herrscherwechseln – die Krone des Reiches anzubieten. Die Kreuzritter wiederum, die den Griechen gegenüber äußerst mißtrauisch waren, verstanden diese Geste als Kapitulation, die ihnen das Recht zur Plünderung gab:

Für die Byzantiner war Konstantinopel das Abbild des Himmels auf Erden, eine Vision des Göttlichen, das dem Menschen offenbart worden war, ein großes heiliges Symbol. Die Kreuzfahrer dagegen betrachteten es als eine Schatzkammer, die der Plünderung harrte. Im Herbst noch hatten sie Konstantinopel gewissermaßen als Touristen besucht und den enormen Wohlstand der Stadt mit eigenen Augen gesehen. Auch Robert de Clari gehörte zu jenen, die sprachlos die Reichtümer bestaunten, die sich hier den Kriegern aus dem unterentwickelten Westeuropa boten. „Kein irdischer Mensch, wie lange er auch in der Stadt bleiben mag, könnte euch den hundertsten Teil des Reichtums, der Schönheit und der Herrlichkeit aufzählen oder beschreiben, die es an Abteien und Klöstern und Palästen in der Stadt gibt; man würde meinen, dass er lüge, und ihr würdet ihm nicht glauben.“ Nun war ihnen all dies ausgeliefert. Die beiden Führer des Kreuzzugs sicherten sich eilig die besten Beutestücke — die prachtvollen Kaiserpaläste, den Bukoleon- und den Blachernen-Palast, „so reich und so prächtig, dass man sie euch nicht zu beschreiben weiß.“ Eine Plünderungswelle überrollte die Stadt. Die vor dem Angriff abgegebenen Versprechungen waren vergessen. Die Kreuzfahrer fielen sowohl über die Kirchen als auch über die Häuser der Reichen her. (Venedig erobert die Welt“, Roger Crowley)

Die Quadriga, die berühmteste Kriegsbeute der Venezianer, stand einst im Hippodrom von Konstantinopel, heute im Museum der Markuskathedrale / © Daniel Körtel

Was folgte war die Zerstückelung des Byzantinischen Reiches: Zum einen entstand daraus das schwache Lateinische Kaiserreich mit Konstantinopel. Da Dandolo die ihm angetragene Kaiserkrone ablehnte, hing sie an dem Franken Balduin, der nach einer 1205 verlorenen Schlacht sein Ende in einem bulgarischen Verlies fand. Der größte Gewinner war jedoch Venedig, dem eine Vielzahl von Stützpunkten in der Ägäis und die Insel Kreta als Kolonie zufielen, auf denen es sein bis in das Schwarze Meer hineinreichendes Imperium begründete. Dandolo hatte das vermutlich nie als Ziel vor Augen, doch nun war Venedig die unbestrittene Macht im östlichen Mittelmeer. Ein Jahr später starb er in der einst prachtvollsten und bevölkerungsreichsten Stadt der Christenheit, deren bitteres Schicksal er zu verantworten hatte.

Doch langfristig war diese geopolitische Zeitenwende eine Katastrophe. Denn mit seinem Niedergang verlor das Byzantinische Reich seine Pufferfunktion gegenüber dem aus Kleinasien heranrückenden Islam. Zwar gelang dem griechischen Nachfolgereich von Nikaia von Kleinasien aus eine bescheidene Restauration und konnte 1261 gar Konstantinopel zurückerobern. Doch seine Tage als Großmacht waren vorüber. Die Bewältigung des kollektiven Traumas von 1204 überforderte die verbliebenen Resilienz-Kräfte der Griechen. Die Konkurrenzkämpfe der italienischen Seerepubliken auf seinem Boden taten ihr übriges. So waren es die Genuesen, die osmanische Krieger von Kleinasien in den europäischen Teil von Byzanz übersetzten und so der muslimischen Landnahme nach Europa irreversibel Vorschub leisteten. Die einstige Weltmacht Ostrom glich einem langsam dahinsiechenden Leib. Nach rund 250 Jahren, am 29. Mai 1453, gaben die Osmanen mit der Eroberung Konstantinopels dem letzten Rest des Imperiums, was seit seiner Gründung im Jahr 330 n. Chr. durch Konstantin den Großen davon noch übriggeblieben war, endgültig den Todesstoß.

Roger Crowley
Venedig erobert die Welt
Die Dogen-Republik zwischen Macht und Intrige
Theiss Verlag, 2011, 357 Seiten
Nur noch antiquarisch erhältlich

Zusammenarbeit statt Kampf der Kulturen?

In Hildesheim vermittelt die Ausstellung „Islam in Europa 1000 – 1250“ ein neues Bild vom Austausch zwischen Orient und Okzident

Der im frühen Mittelalter angelegte Hildesheimer Dom vermag in seiner vorromanischen Bauweise eine Ahnung von der Bedeutung dieser Stadt in der damaligen Zeit zu geben. Seinen Höhepunkt als Macht-, Wissens- und Kulturzentrum im ersten Deutschen Reich erlangte er im Hochmittelalter, als seine Bischöfe als Erzieher der Königs- und Kaiserkinder dienten oder in diplomatischer Mission unterwegs waren, auch an der Nahtstelle zur islamischen Zivilisation wie etwa in Süditalien. Die mit ihren Diensten verbundenen Belohnungen in Form von Geschenken kamen einer Prachtentfaltung zugute, die sich auch in einem reich ausgestatteten Domschatz niederschlugen, der heute zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt.

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Hildesheimer Dom

Das Dommuseum Hildesheim gibt nun in der Ausstellung „Islam in Europa 1000 – 1250“ der Öffentlichkeit einen Einblick auf die wertvollsten Stücke seiner Schatzkammer. Dabei verbinden die Ausstellungsmacher einen weitergehenden Anspruch, der über die Exponate als anschauliche Zeugnisse ihrer Zeit bis in die Gegenwart reicht. Geht es in dem einleitenden Beitrag zu dem Ausstellungskatalog zuerst um die Dekonstruktion scheinbar überkommener Vorstellungen vom islamischen Mittelalter und illusorischer Epochenbrüche, obgleich die Expansion des Islam angeblich keinen Bruch in den eroberten Gebieten darstellte, so wird der Bogen weiter gespannt in die von ethnischer und religiöser Vielfalt geprägte, postmoderne Bundesrepublik. Als Kronzeugin für diesen Wandel wird die Soziologin Nakia Fourtan angeführt mit ihrer Forderung nach einer Erzählung, „die eine neue, plurale und migrationsoffene nationale Identität formuliert“ und zu der die Ausstellung offenbar ihrerseits einen Beitrag leisten will. Immerhin wird dabei eingeräumt, daß das dem dabei zugrundeliegende Konzept der Transkulturalität, wonach Kulturen nicht getrennt voneinander zu betrachten sind und immer im gegenseitigen Austausch stehen, den Blick auf die Konflikte verengt.

Zu den schönsten und ältesten Exponaten gehört das Keilförmige Reliquiar, mit zwei darin eingearbeiteten, auffallenden Objekten aus dem islamischen Raum, zum einen die krönende Spitze mit einer Schachfigur aus Bergkristall und einem roten Kristall mit der arabischen Inschrift „Muhammad Ibn Ismail“ (Muhammad Sohn des Ismail). Keineswegs war damit die Übernahme religiöser Vorstellungen aus dem Orient beabsichtigt, sondern die Herstellung einer Verbindung zum Heiligen Land und seiner dort gesprochenen Sprache. Die Verwendung solcher Schmucksteine war kein Einzelfall, wie das Heinrichs-Kreuz aus Fritzlar zeigt.

Kaum ein anderes Material ist so schwer zu bearbeiten wie Bergkristall, der im Mittelalter aus Madagaskar importiert wurde. Seine Bearbeitung stellt höchste Ansprüche an das Können des Handwerkers. Kunstvoll eingefräste Reliefs und die Aushöhlung des Rohlings durch einen engen Flaschenhals geben eine Vorstellung der damit verbundenen Mühen. Daher ist die Leihgabe des Bergkristallkrugs aus dem Florentiner Museo degli Argenti an Wert kaum zu unterschätzen. Auf ihm enthalten ist die Inschrift des Kalifen al-´Aziz billah (reg. 975 – 996). Bei der vermuteten abenteuerlichen Reise von der geplünderten Kairoer Schatzkammer bis nach Venedig grenzt es an ein Wunder, daß dieses empfindliche Objekt seinen Reiseweg unbeschadet überstanden hat.

Als einer der Belege für die herausragende Stellung der islamischen Welt und ihrer Verdienste als Wissensvermittler antiken Gedankenguts stehen die arabischen Astrolabien zur Sternenbeobachtung und geographischen Standortbestimmung, deren Ursprünge auf das alte Griechenland zurückgehen. Vollständig erhalten ist das Astrolabium aus der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz aus dem 11. Jahrhundert aus dem islamischen Toledo.

Das sizilianische Palermo war der Kreuzungspunkt der römisch-katholischen, byzantinischen und islamischen Welt. Trotz verschiedener Herrschaften konnte sich bis in die Zeit der Normannen und Staufer eine islamische Kunsttradition erhalten, die die Stile aller Kulturen vereinte. Dafür steht der mit kunstvollen Ornamenten aus feinstem Granulat verzierte Schmuckkasten aus vergoldetem Silber, der später seinen Weg als Reliquiar nach Trier fand.

Die Hervorhebung islamischer Leistungen vor allem in der Wissenschaft und Philosophie gegenüber einem an der europäischen Peripherie stehenden Mitteleuropa in der Hildesheimer Ausstellung machen mehr als deutlich, wie sehr trotz aller guten Argumente der revisionistische Ansatz von dem Mediävisten Sylvain Gouguenheim („Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel“), der vor dem Transfer aus dem Arabischen ältere und bedeutendere Übersetzungslinien aus Byzanz ausgemacht hat, inzwischen in der Versenkung verwunden ist, mit ihm andere Stimmen wie die seines Kollegen Darío Fernández-Morera, der des verklärenden Bild einer Annahme eines für Westeuropa notwendigen Transfers von angeblich verlorengegangenen Wissen aus dem Arabischen auf islamische Propaganda zurückführte. Wie gering ihre Chancen auf Anerkennung je waren unter den Bedingungen westlicher Einwanderungsgesellschaften, die verzweifelt darum bemüht sind, die konfliktträchtigen Folgen der Migration aus dem islamischen Raum in einen Gewinn umzudeuten, auch davon vermittelt die Ausstellung einen Eindruck.

Doch jenseits ihrer Instrumentalisierung für die transkulturelle Transformation Deutschlands in einen Vielvölkerstaat ist der Besuch der Ausstellung dennoch lohnend. Die kunstvoll gearbeiteten Objekte geben einen eindrucksvollen Einblick in das hohe Niveau in das Kunsthandwerk ihrer Zeit und die Denkvorstellungen ihrer Auftraggeber.

Die Ausstellung „Islam in Europa 1000-1250“ ist noch bis zum bis zum 12. Februar 2023 im Hildesheimer Dommuseum zu sehen. 

Ausstellungsband
Islam in Europa 1000-1250
352 Seiten; 35,- Euro

Dänemarks Eiserne Lady

Es ist heute kaum vorstellbar, daß ausgerechnet das kleine Dänemark im Spätmittelalter das Kernland eines ganz Skandinavien umfassenden Reiches war, das zu den bedeutendsten europäischen Regionalmächten seiner Zeit gehörte. Zu verdanken ist diese Leistung einer wahrhaft außergewöhnlichen Herrschergestalt. Hinter der Schaffung dieser Kalmarer Union genannten Verbindung stand kein Kriegsherr, sondern eine der bemerkenswertesten Herrscherinnen des Mittelalters, die dänische Königin Margarete I. (1353 – 1412).

 

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Als jüngste Tochter des berüchtigten Dänenkönigs Waldemar IV. „Atterdag“ gelang es ihr nach dem Tod des Vaters 1375, ihren gerade mal sechs Jahre alten Sohn Olaf auf den Thron zu setzen, womit ihr die Rolle der Regentin zufiel. Nach dem Tod ihres Gemahls König Hakoon VI. vier Jahre später übernahm sie zusätzlich die Herrschaft über dessen Königreich Norwegen.

Nach langen Verhandlungen mit dem schwedischen Adel gelang es Margarete, auch Schweden auf ihre Seite zu ziehen. Nachdem ihr Sohn Olaf im Alter von 17 Jahren verstarb, übernahm die Rolle des Thronfolgers ihr an Sohnes statt adoptierter Großneffe Erik. Seine Krönung 1397 zum schwedischen König war der Beginn der Kalmarer Union, einem nordeuropäischen Imperium, das immerhin bis 1523 von Grönland über Island herunter bis kurz vor Hamburg und weiter bis zur Ostsee reichte.

Aus dänischer Produktion ist dieser Tage der Film „Die Königin des Nordens“ (2021) erschienen, der die Herrschaft Margaretes in den Mittelpunkt stellt. Er setzt an bei einem heiklen diplomatischen Unterfangen, einem Heiratsbündnis mit England, zu besiegeln mit der Ehe zwischen Erik und der kindlichen Prinzessin Philippa. Mitten in die Verhandlungen platzt ein Fremder in zerlumpter Gestalt. Seine kühne Behauptung: Er sei Olaf, der totgeglaubte Sohn Margaretes.

Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Eine öffentliche Untersuchung versucht dem Anspruch des Fremden auf den Grund zu gehen. Von ihrem Ergebnis, wer „der einzig wahre König“ ist, hängt die Zukunft der Kalmarer Union und damit das Lebenswerk Margaretes ab.

Ein vielfaches Intrigenspiel beginnt. Hat der um die Herrschaft im Ostseeraum rivalisierende Deutsche Orden aus Preußen seine Finger mit im Spiel? Oder sind hier Adelige am Werk, die im Sinne ihrer selbstsüchtigen Interessen ihr eigenes Süppchen kochen? Das zersetzende Gift der Intrige beginnt zu wirken und droht, die fragile Union zu sprengen. Oder ist der Fremde tatsächlich Olaf? Margarete will nicht handeln wie eine Tyrannin: „Wir hängen niemanden, ohne zu wissen, wer er ist.“

Die preisgekrönte Schauspielerin Trine Dyrholm in der Hauptrolle der Margarete ist eine exzellente Besetzung, die perfekt eine Königin verkörpert, die hin- und hergerissen ist zwischen Staatsräson und Mutterliebe. Die Dramaturgie dieses düsteren Historiendramas um das zuweilen perfide Spiel der Macht wird verstärkt durch seine Einbettung in einer durchgehend im Low-Key aufgenommenen Atmosphäre, als ob im mittelalterlichen Nordreich Margaretes nie die Sonne scheint.

„Die Königin des Nordens“ ist einer der besten und sehenswertesten europäischen Produktionen der letzten Jahre, die sich kein Filmliebhaber entgehen lassen sollte. Das kleine Dänemark zeigt damit auf höchstem Niveau, wie Europa mit Hollywood mithalten kann.

Die Königin des Nordens
Mit Trine Dyrholm
2021; ca. 116 Minuten