Der standhafte Verfemte

Es gibt zwei Dinge in diesem Land, die nicht zusammenpassen. Da ist zum einen die immer wieder erhobene Behauptung von Vertretern der politischen und medialen Elite, „im besten Deutschland aller Zeiten zu leben“ (u.a. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier). Dem gegenüber steht ein demoskopisch gut abgesichertes Unbehagen weiter Teile der Bevölkerung, man könne nicht mehr frei und ungehindert seine Meinung sagen. Meinungsfreiheit – gilt die noch in Deutschland?

Einer der sich auf das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit beruft, ist der Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp. Doch seine konträr zum Mainstream stehenden kritischen Ansichten zur Flüchtlingspolitik hatten für ihn unangenehme Konsequenzen. Nicht alleine sein Verlag Suhrkamp distanzierte sich von ihm. Dem einst für seinen Roman „Der Turm“ gefeierten Romancier haftet seitdem das Etikett „umstritten“ an, was Tellkamp wiederum als Auszeichnung empfindet. Aus dem Schriftsteller Tellkamp wurde der „Fall Tellkamp“.

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Auffallend ist, dass sein aktueller Roman „Der Schlaf in den Uhren“ – die Fortsetzung des „Turm“ – von den Feuilletons der Mainstreammedien ausnahmslos mit teils heftigen Verrissen bedacht wurde, so als wolle man dem weitverbreiteten Eindruck der Leserschaft eines engen Meinungskorridors unbedingt Bestätigung verschaffen. Dem Erfolg des Buches tat das keinen Abbruch, im Gegenteil: Es bestätigte sich wieder einmal die Regel, daß einhellige Verrisse der Literaturkritik oft die besten Kaufempfehlungen sind.

Am vergangenen Sonntag nutzte Tellkamp die Gelegenheit, im Rahmen der Ettersburger Gespräche seinen Roman „Der Schlaf in den Uhren“ vorzustellen. Man muß das Buch vor allem als ein Wagnis bezeichnen. Ein Umfang von 900 Seiten voller surrealistischer Allegorien machen den Titel nicht gerade zu einem leichtflüssig zu lesendem Schmöker. Zwei Zeitebenen von der Wende bis zur Migrationskrise 2015 – verlagert in den fiktiven Staat Trevia – umfassen einen Plot, in dem sich der bereits im „Turm“ auftauchende Protagonist des Chronisten Fabian Hoffmann bewegt, der dabei keineswegs ein Alter Ego seines Schöpfers ist.

Es dürfte sich derzeit wohl kaum ein komplexeres Werk im aktuellen Buchhandel finden als „Der Schlaf in den Uhren“. Doch die Kritik hielt sich nicht an diesen Formalien fest, sondern an dem Plot, der beim Leser unschöne Assoziationen weckt zwischen der heutigen Bundesrepublik und der DDR: „Jetzt wagt er sich über die Bundesrepublik zu schreiben“, so Tellkamp die Kritik paraphrasierend im Gespräch mit Dr. Peter Krause, dem Direktor von Schloss Ettersburg.

Uwe Tellkamp (li.) im Gespräch mit Dr. Peter Krause / © Daniel Körtel

Tellkamp warf der Kritik vor, nicht das Buch zu rezensieren, sondern den Autoren: „Man schließt von der politischen Einstellung auf das Kunstwerk.“ Tellkamps Absicht sei es gewesen, einen Zeitroman zu schreiben und keinen Gesellschaftsroman. Offenkundig sind die Inspirationen durch Tomas Manns „Zauberberg“, aber vor allem erklärtermaßen durch „Jahrestage“ von Uwe Johnson. Ihm ginge es um den Sprachgebrauch der Politikerzählung, ihrer Sprachbühne und -theater. „Mit dem klassischen Erzählen“, so Tellkamp, „erfassen Sie nur Teile unserer Zeit.“

Wie ist das zu verstehen? Tellkamp erläuterte das an dem Terminus „Operative Vorgänge“, mit dem die DDR-Staatssicherheit ihre Zersetzungsmaßnahmen umschrieb und den Tellkamp in seinem Buch von seiner seinerzeitigen Begrifflichkeit zu lösen versuchte, „um von der Staatssicherheit das Konkrete herauszuarbeiten und in die Ewigkeit zu übertragen“.

War es hintergründige, boshafte Ironie, als Tellkamp auf Nachfrage aus dem Publikum mit einem vielsagenden Lächeln die Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag mit „gut – trotz Irritationen“ kommentierte? Das neue Buch sei, so Tellkamp, ein typisches Suhrkamp-Buch. Tellkamp fragte zurück, wo denn das Buch stattdessen hätte erscheinen sollen? Die Antwort: „Jedenfalls nicht im Fischer Verlag“, hingegen keineswegs ironisch auf den Rauswurf von Monika Maron aus jenem Verlag anspielend.

„Die Bücher haben ihr eigenes Schicksal“, so Tellkamp zur Rezeption seiner Werke. „Der Turm“ sei im Westen besser aufgenommen worden als im Osten, während es beim „Der Schlaf in den Uhren“ genau umgekehrt sei, was beide Bücher wie zu Zwillingen mache.

Doch wie steht es um die Meinungsfreiheit in Deutschland und wie verhält sich dazu der „Fall Tellkamp“? „Meine Meinung darf ich sagen“, so Tellkamp: „Interessant wird es, was hinterher passiert…“ Der Autor beklagte, daß er über die vielen Rechtfertigungen keine Arbeitsruhe mehr habe. Geradezu ernüchternd und schockierend seien die Vorkommnisse anläßlich seiner Lesungen im Westen, wo beispielsweise über Fake-Accounts versucht wurde, den Kartenvorverkauf zu sabotieren. Doch wie einen Hoffnungsschimmer habe es auch Beispiele zivilcouragierter Unterstützung gegeben.

Dem gegenüber stellte Tellkamp den ostdeutschen Schriftsteller Ingo Schulze, für den es kein Problem darstelle für „Die Linke“ zu kandidieren, „aber wie ein Fürst zu leben“.

Am Ende spannte Tellkamp unter dem anhaltenden Beifall der mit rund 130 Gästen ausverkauften Veranstaltung im Gewehrsaal des Weimarer Schlosses Ettersburg mit einem bemerkenswerten Satz den Bogen von seinen persönlichen Erfahrungen in der DDR zu heute: „Uwe, du hast den falschen Klassenstandpunkt.“

Schloss Ettersburg / © Daniel Körtel
Uwe Tellkamp
Der Schlaf in den Uhren
Suhrkamp Verlag
2022, 904 Seiten, 32,- Euro

„Was bleibt noch heil, wenn Rom untergeht?“

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

„Was bleibt noch heil, wenn Rom untergeht?“
Ausstellung: Drei Museen in Trier beleuchten das Ende des Römischen Reiches
Daniel Körtel

In weniger als 150 Jahren, nachdem Konstantin der Große nach der langen Krisenphase der Soldatenkaiser das Römische Reich noch einmal zu imperialer Größe trieb, setzte der germanische Warlord Odoaker 476 n. Chr. den letzten weströmischen Kaiser Romulus Augustulus ab. Dem vorausgegangen war ein langer Abstieg in Agonie. Demographische Veränderungen, Bürgerkriege und wirtschaftlicher Verfall führten in eine selbstzerstörerische Abwärtsspirale, der die schwindende kaiserliche Zentralgewalt nichts mehr entgegenzusetzen wußte. Damit war das Römische Reich nach rund 1.200 Jahren in seiner Westhälfte zusammengebrochen.

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Über den Kreis der Historiker hinaus geht auch nach mehr als 1.500 Jahren von diesem Ende eine ungebrochene Faszination aus, versucht jede Generation neue Antworten auf die Frage nach den tieferen Ursachen zu finden und vor allem, ob sich Parallelen zur Gegenwart finden lassen. Als Hauptursachen wurden wie Moden und Projektionen ihrer Zeit vor allem der Aufstieg des Christentums erhoben, der Einfall der Barbaren in der Völkerwanderung und vor allem die Dekadenz der späten Römer. Zuletzt rückte Kyle Harper in „Fatum“ (2020) die gravierenden Auswirkungen der spätantiken Klimaverschlechterung und Epidemien in den Mittelpunkt.

Wenn es eine Stadt in Deutschland gibt, die eng mit dieser schicksalsträchtigen Phase verbunden ist, dann ist es die Moselstadt Trier. Um die Zeitenwende als Augusta Treverorum aus einer römischen Stadtgründung hervorgegangen, war sie im vierten nachchristlichen Jahrhundert aufgrund ihrer strategischen Nähe zu der bedrohten Nordgrenze kaiserliche Residenzstadt. Von dieser Blütezeit zeugen die imposante Konstantinbasilika, die Ruinen der Kaiserthermen und vor allem die berühmte Porta Nigra.

Passend zu ihrer historischen Rolle im Römischen Reich findet derzeit in Trier bis zum 27. November die Sonderausstellung „Der Untergang des Römischen Reiches“ statt. Den thematischen Umfang der Schau machen schon die nackten Zahlen deutlich: Gezeigt werden an drei Standorten in rund 30 Ausstellungssälen auf einer Fläche von 2.000 Quadratmetern etwa 700 Exponate aus 130 Museen und 20 Ländern. Am Stadtmuseum Simeonstift bekommt der Besucher in „Das Erbe Roms“ die Nachwirkungen des Untergangs Roms auf die spätere Kunst vermittelt. Ausgestellt sind dort vor allem Gemälde, darunter das Hauptwerk des französischen Malers Thomas Couture, „Die Römer der Verfallszeit“ (1847). Ebenfalls beeindruckend sind Joseph-Noël Sylvestres knapp zwei Meter hohes Ölbild „Plünderung Roms durch die Barbaren 410“ (1890) und „Die Lieblinge des Kaisers Honorius“ (1883) des italienisch-britischen Malers John William Waterhouse, letzteres eine weit angereiste Leihgabe der Art Gallery of South Australia.

Das Museum am Dom widmet sich unter dem Titel „Im Zeichen des Kreuzes“ vor allem der archäologischen Auswertung der Trierer Nekropole St. Maximin und dem steigenden Einfluß des Christentums. Prunkstücke hier sind unter anderem ein Elfenbeinrelief mit der Darstellung einer Reliquienprozession sowie eine Goldscheibenfibel aus dem 7. Jahrhundert. Doch der Schwerpunkt findet sich mit der Hauptausstellung im Rheinischen Landesmuseum.

Hier führt die Ausstellung über die Zeit der Tetrarchie am Ende des dritten Jahrhunderts, als Kaiser Diokletian mit grundlegenden Reformen dem krisengeschüttelten Reich wieder Stabilität verleihen konnte. Unter den vielen beeindruckenden Exponaten fällt gleich der „Prachthelm von Berkasovo“ (Novi Sad) aus vergoldetem Silberblech ins Auge, ein eindrucksvoller Beleg des noch vorhandenen Reichtums dieser Zeit. Dem gegenüber evozieren die stark mit Patina überzogenen Hortfunde von Mittelstrimmig mit den materiell minderwertigen Folles genannten Münzen schon zwangsläufig den Bogen zur aktuellen Inflationserfahrung. Passend dazu folgt gleich darauf das in einem Papyrus festgehaltene Insidergeschäft eines Beamten, der der angekündigten Geldentwertung seines Kaisers durch Kaufanweisungen an einen Untergebenen entgegenwirken will: „Aber laß dir ja keine Schurkerei einfallen.“

Umfrage: „Steht uns heute wieder ein Untergang bevor?“

Dennoch, für Trier waren diese Zeiten gut, was nicht alleine die eingangs erwähnten Bauwerke beweisen. Seine weitreichende Attraktivität belegt auch der Grabstein des Azizos, der vom fernen Syrien aus nach Trier gezogen und dort auch gestorben ist. Dargestellt wird er als ein Beispiel antiker Migrationserfahrung, die aber in diesem Fall eigentlich eine Binnenwanderung ist.

Düstere Musik und dunkle Räume führen durch einen Vorhang zum Schlußakt, den 410 n. Chr. die Plünderung Roms durch die einst als Söldner aufgenommenen Goten einleitet. „Was bleibt noch heil, wenn Rom untergeht?“, wird der Kirchenvater Hieronymus zitiert. Auch hier zeigt sich der folgende Einschnitt in den Exponaten. Die hochwertige Glasproduktion geht zurück, Holz tritt an die Stelle von Ziegel und Stein, die einzigartige Trinkwasserversorgung bricht zusammen.

Der umfangreiche Katalog der Ausstellung umfaßt auch eine Reihe von Fachbeiträgen, die nicht allein die bis heute anhaltende Kontroverse über die Ursachen des Untergangs dokumentieren, sondern ebenso die keineswegs abgeschlossene Debatte, ob man anstelle eines „Untergangs“ nicht eher von einer Transformation sprechen müsse. Für die verschiedenen Pole steht zum einen der Althistoriker Roland Steinacher, der innerrömische Zerfallsprozesse für ausschlaggebend sieht, in denen die alten Eliten zu ihrem eigenen Vorteil die loyalistischen Bindungen zur Zentralmacht auflösten, zugunsten der germanischen Heerführer und so die Regionalisierung des Reiches vorantrieben. Dem wiederum entgegen hält Peter Heather die verschiedenen Wellen von Barbareneinfällen in der Völkerwanderung für entscheidend, die vertraglich als Föderaten angesiedelt, die Einheit des Reiches unterminierten, statt es zu stabilisieren.

1.500 Jahre nach dem Ende des Römischen Reiches: „Steht uns heute wieder ein Untergang bevor?“, fragt die Ausstellung im Simeonstift am Ausgang den Besucher, der hierüber mit einem Aufkleber Antwort geben kann. Progressive Geschichtspolitiker und -pädagogen muß es beunruhigen, daß bis Mitte Juli rund drei Wochen nach Beginn der Ausstellung die Mehrheit hierüber mit einem deutlichen „Ja“ abgestimmt hat.

Die Ausstellung „Der Untergang des Römischen Reiches“ ist bis zum 27. November in Trier im Rheinischen Landesmuseum, Weimarer Allee 1, im Museum am Dom, Bischof-Stein-Platz 1, und im Stadtmuseum Simeonstift, Simeonstraße 60, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der Katalog mit 465 Seiten und über 500 Abbildungen kostet in den Museen 29,90 Euro.

Telefon: 06 51 / 97 74 0

https://untergang-rom-ausstellung.de

Der Vater der „Climate Fiction“ und die Apokalypse des Feuers

Es ist ein Sommer der Extreme. Fast nahtlos reiht sich auch 2022 in die Abfolge von Jahren ein, die nicht allein in Europa von extremer Trockenheit und Hitzewellen geprägt sind. Selbst das für sein gemäßigtes Klima bekannte Großbritannien meldete erstmals das Überschreiten der Temperatur von 40 Grad Celsius. Das benachbarte Irland hat mit 33,1 Grad den heißesten Tag seit Beginn der Aufzeichnungen vor 135 Jahren bekannt gegeben.

Die negativen Auswirkungen dieses Extremwetters sind neben den gesundheitlichen Auswirkungen auf den Menschen die Gefahren von Ernteausfällen und Großbränden. „Europa in Flammen“ überschreibt DIE WELT einen traurigen Rekord, „den Europa in diesem Jahr zu verzeichnen hat: Waldbrände haben innerhalb der Europäischen Union seit Jahresbeginn schon mehr vernichtet als im gesamten Jahr zuvor.“

Ob man nun an den menschengemachten Klimawandel „glauben“ will oder nicht, im klimatischen Gefüge unserer Welt zeichnet sich deutlich die Tendenz einer Änderung zum Schlechteren ab. Kaum verwunderlich, daß sich diese Entwicklung auch in der Literatur niederschlägt. Dystopien einer vom Klimawandel verheerten Welt haben Konjunktur. „Climate-Fiction“ ist der neue Name dieses der Literaturgattung der Science-Fiction untergeordneten Genres, in dem sich die Ängste und Gefahren des global warming widerspiegeln.

Aktuell finden sich entsprechende Titel wie „Die Erinnerung an unbekannte Städte“ von Simone Weinmann oder „Milchzähne“ von Helene Bukowski.
Doch so neu ist diese Form der Literatur nicht. In den 1960er Jahren setzte damit der Brite James Graham Ballard (1930 – 2009) den Grundstein für eine Karriere, die ihn zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes und darüber hinaus machte.

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Der Sturm aus dem Nichts“ (Storm-Wind, 1961) bildete den Anfang eines Reigens der Extreme, in denen er die Urgewalten als globale Katastrophen auftreten läßt: Ein wie aus dem Nichts entfesselter Supersturm zerstört die menschliche Zivilisation, die kein Entkommen findet. Ihm folgte „Karneval der Alligatoren“ (The Drowned World, 1962), in Deutschland einer der erfolgreichsten Roman Ballards, über eine in den Fluten einer globalen Schneeschmelze versunkene Welt. Danach erschien „Welt in Flammen“ (The Drought, 1965), in der die Menschheit in einer überhitzten Welt zugrunde geht. Für den Abschluß steht „Kristallwelt“ (The Crystal World, 1966), wo ausgelöst durch eine kosmische Quantenverschränkung vom westafrikanischen Dschungel aus sich alle Materie – egal ob leblos oder belebt – langsam in eine kristalline Struktur transformiert.

Alle vier Romane stehen für die Vier-Elemente-Lehre der griechischen Naturphilosophie, als die Stoffe, aus denen die Welt bestehen sollte: Luft, Wasser, Feuer und Erde.

Der Schweizer Verlag Diaphanes, der bereits seit einigen Jahren das Werk Ballards nach und nach neu aufgelegt hat, hat für Ende Oktober die Neuerscheinung von Ballards „Welt in Flammen“ unter dem Titel „Die Dürre“ angekündigt. Es ist ein Roman zur rechten Zeit.

„Welt in Flammen“ / „Die Dürre“ führt in eine Zukunft, in der durch die Umweltverschmutzung sich ein hauchdünner, aber unzerstörbarer Polymerfilm über die gesamten Wasseroberflächen gelegt hat, der die Verdunstung des Wassers unterbindet. Die Folgen sind desaströs. Der Wasserkreislauf ist unterbrochen; es fällt kein Regen mehr. Die Atmosphäre ist erfüllt von Trockenheit und Hitze:

„Regen! Ransom versuchte sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was dieses Wort einmal bedeutet hatte und sah dabei zum Himmel auf. Die Sonne hing wie eine glühende Kugel über ihm, deren unerträglicher Glanz weder durch Wolken- noch durch Wasserdampfschleier gemildert wurde. Die ausgetrockneten Felder und Wiesen an beiden Ufern des Flusses lagen unter dem gleichen unbarmherzigen Licht wie unter einer riesigen Hitzeglocke, die alles zur Bewegungslosigkeit erstarren ließ.“

Die letzten Überlebenden fliehen zum Meer, wo sie sich Kühlung erhoffen. Auf dem dünnen Streifen zwischen Meer und Land dicht gedrängt richten sie sich mit Anlagen zur Wasserdestillation auf ein kümmerliches Überleben ein. Sand, Staub und Flugasche bedecken währenddessen die verlassenen Relikte der untergegangenen Zivilisation.

Der Plot des Romans begleitet Ballards Protagonisten Charles Ransom auf seinem Weg in dieser dystopischen Welt. Der Mediziner versucht so lange wie möglich in seinem Wohnboot an den Ufern eines verschlammten Flusses auszuharren. Marodeure suchen die Gegend heim. Seine Frau hat sich von ihm getrennt. Auch er macht sich schließlich gemeinsam mit vier weiteren Begleitern auf den langen Weg zur Küste durch eine von der Apokalypse des Feuers verzehrten Welt:

„Eine Stunde später gingen sie nebeneinander das ausgetrocknete Flussbett entlang, über das der Gluthauch der zahlreichen Feuer am Ufer wie ein heißer Wüstenwind hinwegblies. Der gesamte Horizont stand in Flammen, denn in den Außenbezirken der Stadt wüteten unvorstellbare Großfeuer. Larchmont brannte am Fluß, und das Feuer hatte auch die Bootshäuser erfaßt. Hoch über ihren Köpfen segelten Myriaden von glühenden Holzstückchen wie Glühwürmer vorbei und blieben auf den Feldern im Süden liegen, als sei der ausgetrocknete Boden jetzt ebenfalls in Brand geraten.“

Die surrealen Beschreibungen der von Hitze und Feuer verwandelten Landschaften, ihre Ursache in einer vom Menschen verursachten Umweltkatastrophe – all das legt den Schluß nahe, Ballard hätte mit „Welt in Flammen“ eine Warnschrift vor dem ökologischen Kollaps vorlegen wollen. Doch nichts lag ihm ferner, auch wenn in der Zeit der Entstehung des Romans erste Ängste vor den Folgen der Umweltzerstörung aufkamen, und Ballards Romane lassen durchaus eine Lesart zu, in der sich ein stückweit diese Ängste widerspiegeln.

Jedoch ging es ihm weniger um die gefährdete Ökologie unseres Planeten. Ballard war tief beeinflußt von den Surrealisten sowie den Psychoanalytikern Sigmund Freud und C. G. Jung, so daß

„keineswegs die abenteuerliche Bewältigung der diversen Katastrophen im Mittelpunkt [steht], sondern ein besonderes Mensch-Natur-Verhältnis, das vor diesem Hintergrund Ballards spezifische Vorstellungen einer individuellen, gesellschaftlichen und kosmisch-irdischen Devolution beleuchtet. Diese Naturkatastrophen liefern gleichsam das Bühnenbild, vor dem sich das folgende Drama entwickeln kann.“ (Klaus W. Pietrek)

Allen vier Romanen ist gemeinsam, daß es darin keine Rückkehr zu den alten Zuständen gibt. Doch überraschenderweise wehrte sich Ballard stets dagegen, daß seine Romane Geschichten von globalen Katastrophen ohne Happy Ends enthielten:

„Die Helden nehmen die besonderen Wandlungen freudig auf, wofür sie ihre eigenen psychologischen Gründe haben. Das sind Geschichten von ungeheuren psychischen Transformationen (…) und ich verwende diese äußere Transformation der Landschaft, um die innere Wandlung zu reflektieren und sie mit ihr zu verbinden, nämlich die psychologische Wandlung der Charaktere. Das ist das Thema dieser Romane: es sind Geschichten von Verwandlungen anstatt Katastrophengeschichten.“

Als diese vier Romane Ballards erschienen, befand sich die Science-Fiction in einer Krise. Trotz ihres visionären Gehalts konnte auch er ihr damit keine Impulse geben. Ballard blieb ein Solitär in diesem Genre, allerdings ein sehr erfolgreicher, der in den 1970er Jahren mit den als Einheit zu verstehenden, provokativen Romanen „Crash“ (1996 von David Cronenberg verfilmt), „Die Betoninsel“ und „Der Block“ (2015 unter dem Titel „High-Rise“ in den Hauptrollen mit Tom Hiddleston und Jeremy Irons verfilmt) noch mal für Furore sorgte.

Auch fast 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung ist „Welt in Flammen“ ein Roman, der keineswegs an Reiz verloren hat und den die Klimafrage aktueller denn je macht. Vielleicht kann seine Neuauflage in der heutigen Science-Fiction eine Rückbesinnung herbeiführen auf Stoffe, die uns mehr zu erzählen haben, jenseits der modernen Weltraummythen von Star Wars und Star Trek.

J.G. Ballard
Welt in Flammen
Heyne Verlag

175 Seiten, 1978
J.G. Ballard
Die Dürre

Diaphanes
VÖ 27.10.2022, 224 Seiten

18,- Euro

Wehe uns, wenn man der Moderne den Stecker zieht

Steht uns in Deutschland ein Winter des Missvergnügens bevor? Das durch den Ukraine-Krieg ausgelöste Zusammenspiel von Sanktionen gegen den Aggressor Russland und seinem Erpressungspotential läßt uns ängstlich auf die entscheidende Achillesferse unserer modernen Industriegesellschaft blicken: unsere ausreichende Versorgung mit bezahlbarer Energie. In weniger als einem halben Jahr klopft der Winter an unsere Tür, und niemand vermag heute zu sagen, ob bis dahin die Gasspeicher wieder gefüllt sein werden, geschweige denn, ob ihr Inhalt noch für breite Bevölkerungsschichten bezahlbar sein wird.

Was sich hier anzukündigen droht, ist ein Albtraumszenario. Die von den Grünen und ihrer Gefolgschaft in den Mainstreammedien befeuerte Debatte um den angeblichen Klimakollaps hat in den vergangenen Jahren eine Energiewende befördert, die uns in direkte und gefährliche Abhängigkeit eines einzelnen Lieferanten von Erdgas beförderte, weil andere fossile Energieträger wie Kohle zur Absicherung unsicherer Lasten aus Wind und Sonne für unerwünscht erklärt wurden.

Doch wie könnte sich dieses Szenario in Real ausgestalten? Im Genre des Techno-Thrillers war es der Österreicher Marc Elsberg, der hierzu eines der überzeugendsten Ergebnisse abgeliefert hat: „Blackout – Morgen ist es zu spät“. Auch zehn Jahre nach seinem Erscheinen ist es auf dem Buchmarkt ein Bestseller in Millionenauflage, dem die aktuelle Krise eine unerwartete Aktualität beschert hat.

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Es ist November in Europa. Ohne Vorwarnung bricht in Westeuropa das gesamte Stromnetz zusammen. Niemand kann sich auf die Ursache einen Reim machen. Bis der freischaffende Programmierer und Hacker Piero Manzano in den Smart Metern, der inzwischen trotz Bedenken von Datenschützern als Standard verbauten Stromzählern, merkwürdige Steuerungsbefehle entdeckt, die dort nicht hineingehören. Ein Verdacht keimt auf: Ist es das Werk von Terroristen? Oder probt hier eine auswärtige Macht einen Cyberangriff in einer bislang nie dagewesenen Dimension?

Während Ermittler von Interpol und der Polizeibehörden den Tätern hinterherspüren, sind die Behörden am Rande ihrer Möglichkeiten, die öffentliche Ordnung und Versorgung mit den notwendigsten Gütern aufrecht zu erhalten. Kassensysteme sind tot, Geldautomaten spucken kein Geld aus, selbst die Benzinförderung an Tankstellen ist nicht mehr möglich, weil auch sie nur über Strom funktioniert. Ellsbergs drastische, aber gut recherchierte Schilderungen lassen den Leser in tiefe Abgründe blicken:

„Gerade bei der Milchproduktion stehen wir in den kommenden Tagen vor einer wahren Katastrophe., die wir nur bedingt aufhalten können. Wer von Ihnen auf dem Land aufgewachsen ist oder einmal mit seinen Kindern Urlaub auf dem Bauernhof gemacht hat, kennt vielleicht das Muhen der Kühe am Morgen, wenn ihre Euter voll sind und gemolken werden wollen. Genau das tun sie in all jenen Ställen mittlerweile, die nicht mehr mit Energie versorgt werden. Diese Kühe sind zum Milchproduzieren gezüchtet, sie geben bis zu vierzig Liter am Tag. Stellen Sie sich die Euter dazu vor. Und vergegenwärtigen Sie sich als nächstes, dass diese Euter seit zwei Tagen nicht gemolken wurden. Die Landwirte können nur einen kleinen Bruchteil von ihnen mit den Händen erleichtern. Alle anderen leiden unter übervollen Drüsen. Selbst wenn wir die betroffenen Unternehmen in den kommenden Stunden mit Notstromgeneratoren ausrüsten, wird die Hilfe für viele zu spät kommen. Millionen werden an ihren geschwollenen Eutern unter ohrenbetäubendem Brüllen qualvoll sterben. Denn für Notschlachtungen in diesem Ausmaß fehlen uns Mittel und Personal.“

Doch dabei bleibt es nicht. Leiser, aber für die Nahrungsmittelproduktion nicht weniger gefährlich, ist der Systemausfall in der industrialisierten Gemüse- und Obstzucht. Ebenso vom Ausfall betroffen sind die Trinkwasserversorgung und die Entsorgung des anfallenden Abwassers:

Stellen Sie sich ein Hochhaus vor, in dem niemand mehr seine Toilette benutzen kann, aber es trotzdem tun muss.“

Die Gefahr von Seuchen steigt, auch weil Müll nicht entsorgt wird. Besonders prekär wird die Situation für die Schwächsten der Gesellschaft, Krankenhauspatienten und die wie in einer „Todesfalle“ sitzenden Bewohner von Alten- und Pflegeheimen:

„Künstliche Ernährung funktioniert nicht, wie auch alle anderen Geräte, etwa zur künstlichen Lebensverlängerung. Die Küche fällt aus, die Versorgung mit Lebensmitteln insgesamt, ebenso die mit Wasser. Reinigung von Pyjamas und Bettwäsche wird unmöglich, die hygienischen Zustände werden auch hier schnell untragbar. Die Heizungen fallen aus, und binnen weniger Stunden erkalten die Räume. Viele der Insassen können sich nicht mehr von allein bewegen. Auch hier funktionieren die Fahrstühle nicht mehr, eine Verlegung wird kompliziert. Wie die Ärzte können Teile des Personals ihren Arbeitsplatz nicht erreichen. Die Verbliebenen sind völlig überfordert.“

Und dabei bleibt es noch lange nicht! Die Story erfährt eine dramatische Zuspitzung, nachdem die von langer Hand manipulierte Steuerungssoftware etliche Kraftwerke am Hochfahren hindert. Aber auch im heruntergefahrenen Zustand sind Atomkraftwerke auf die ständige Kühlung ihres Brennstoffs angewiesen, um eine Kernschmelze zu verhindern. Zwar verfügen diese hierfür über dieselbetriebene Notfallsysteme, doch der Nachschub fällt im sich ausbreitenden Chaos aus. Einer der daraus resultierenden Störfälle hat die radioaktive Verseuchung des französischen Rhone-Tals zur Folge.

In weniger als 14 Tagen sind in Elsbergs Plot die staatlichen Ordnungen Europas reif für den Zusammenbruch. Die Menschen fallen in anarchische Zustände, in denen sie sich am Gut anderer selbstbedienen. Recht und Gesetz werden seitens der wie abwesenden Staatsmacht nicht mehr durchgesetzt.

Als Urheber des Cyber-Angriffs läßt Elsberg eine Terrorgruppe von postmodernen Fanatikern und Anarchisten auftreten, die ihre Utopie einer neuen, antikapitalistischen Ordnung auf den Trümmern und Leichenbergen der alten Welt Wirklichkeit werden lassen wollen. Hierin ist Ellsberg wirklich sehr vorausschauend gewesen. Denn wer wollte ausschließen, daß die Jünger der Klimasekte aus „Bündnis Letzte Generation“ und „Fridays for Future“ zu noch ganz anderen Mitteln greifen werden, wenn sie mit ihren infantilen Exzessen aus Klima-Hüpfen und Festkleben auf Fahrbahnen nicht mehr weiterkommen?

Allein der Computerwurm Stuxnet (2010) und die russischen Cyberangriffe auf Estland 2007 haben die Verwundbarkeit technischer Netzwerke spektakulär vorgeführt. Und wie bereits lokale Katastrophen einen Zivilisationskollaps auslösen können, kann eingehend am Wirbelsturm Katrina (2005) studiert werden. Insofern ist Ellsbergs „Blackout“ auch in der unwahrscheinlichen Zuspitzung eines annähernd globalen Ereignisses näher an den Realitäten als uns lieb sein kann. Doch es sollte dabei keineswegs außer Acht gelassen werden, daß es allein schon die sogenannte Energiewende ist, die unsere Versorgungssysteme für Störungen anfällig werden lassen.

Elsberg traf mit seinem Thriller offenbar einen Nerv, selbst sogar in Fachkreisen, mit denen er darüber immer wieder ins Gespräch kommt. Der Autor selbst machte bislang aus seiner Enttäuschung keinen Hehl, wenig mehr bewegt zu haben als ein Bewußtsein für die Thematik geschaffen zu haben.

Dem geweckten Bewußtsein sollten andere Taten folgen, als den staatlichen Institutionen blind zu vertrauen, mit den Herausforderungen einer teils selbst geschaffenen Energiekrise fertig zu werden. Schaffen Sie sich Notfallvorräte an, wie Kerzen und Zündhölzer, ebenso einen großen Kanister voll Wasser für die Klospülung. Auch ein Kurbel-Radio kann dann bessere Dienste leisten als jedes Smartphone. Und vor allem: Lesen Sie Marc Elsbergs „Blackout“.

Marc Elsberg
Blackout – Morgen ist es zu spät
2012; 832 Seiten; 12,00 Euro

R.I.P. Vangelis (1943 – 2022)

Der Grieche Evangelos Odysseas Papathanassiou wurde unter seinem Künstlernamen Vangelis weltberühmt als Komponist für die Soundtracks so bedeutender Filme wie „Chariots of Fire“, „Blade Runner“ oder „1492 – Die Eroberung des Paradieses“. Am 17. Mai ist Vangelis im Alter von 79 Jahren in Paris verstorben. Aus diesem Anlaß hier ein Beitrag über diesen Pionier der Elektronischen Musik, den ich 2016 für die JUNGE FREIHEIT geschrieben habe.

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© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/16 / 30. September 2016

Walzer tanzen auf Tschuri
Kosmisches Zusammenspiel: Die ESA beendet ihre Weltraummission der Rosetta-Sonde / Zeitgleich veröffentlicht der Erfolgskomponist Vangelis seine gleichnamige Sinfonie
Daniel Körtel

Sie ist eine der spektakulärsten Missionen der Europäischen Raumfahrtagentur ESA: die 2004 gestartete Raumsonde Rosetta zum Kometen Tschurjumow-Gerassimenko – Kurzform: „Tschuri“ –, auf dem im November 2014 die von ihr abgekoppelte Tochtersonde Philae landete. Drei Tage lieferte Philae Daten von dem eisigen Himmelskörper, dann brach wegen der nachlassenden Energieversorgung der Kontakt zu dem in einem Spalt festsitzenden Landemodul ab. Ein dauerhafter Kontakt konnte seitdem nicht mehr hergestellt werden.

Ein besonders aufmerksamer Beobachter der Mission war der Komponist Vangelis, auf den Astronomie und Weltraum seit jeher eine starke Faszination ausüben. Kurz vor dem geplanten Finale, wenn Rosetta aus seinem Orbit um „Tschuri“ in einem kontrollierten Sinkflug am 30. September auf die Oberfläche des Kometen treffen soll, veröffentlicht der Künstler in Kooperation mit der ESA mit der Sinfonie „Rosetta“ seine musikalischen Eindrücke dieses wissenschaftlichen Abenteuers.

In 13 Sätzen interpretiert Vangelis die einzelnen Phasen des kosmischen Zusammenspiels von Rosetta und „Tschuri“ und charakterisiert die einzelnen Protagonisten: ob von den ersten Takten an, die die Annäherung von Rosetta an den Kometen signalisieren, dem turbulenten „Philae’s Descent“, dem leichtfüßigen Walzer für Rosetta („Mission Accomplie“), der Dramatik im sonnennächsten Bahnpunkt des Kometen – dem „Perihelion“–, ein trauriges Klagelied für Rosettas Ende, bevor das geheimnisvolle „Return to the Void“ den Kometen mit seinen zwei verstummten Passagieren in die leeren Weiten des Alls verabschiedet – Gänsehautgefühle sind dem Zuhörer garantiert.

Doch wer ist der öffentlichkeitsscheue „Man of Mystery“ mit der ungeheuren physischen Präsenz und dem Rauschebart, der auf ein beachtliches künstlerisches Lebenswerk von mehr als fünfzig Jahren zurückblickt und dem zu Ehren passenderweise 1995 ein Asteroid benannt wurde? Vangelis wurde am 29. März 1943 in Velos an der griechischen Ostküste unter dem Namen Evangelos Odysseas Papathanassiou geboren. Bereits ab dem Alter von vier Jahren erwies er sich als ein musikalisches Wunderkind, das schon mit sechs Jahren vor großem Publikum seine eigenen Kompositionen vorstellte. Instinktiv entfaltete sich sein Naturtalent, das sich jedoch in keine Form pressen ließ.

Perfekte Symbiose von Film und Musik

In den sechziger Jahren machte er Griechenland mit der Popmusik vertraut. Dem Druck der griechischen Militärdiktatur ausweichend, ging Vangelis 1968 nach Frankreich, wo er gemeinsam mit seinem Landsmann Demis Roussos (1946–2015), dem späteren Schlagerstar, die Band Aphrodite’s Child gründete und mit Beat und Progressive Rock mit einem Schuß mediterranem Folk ersten internationalen Ruhm erntete. Kurz vor der Auflösung der Band 1972 setzte der Keyboarder mit seinen Kompositionen zu dem zum Kultalbum avancierten „666“ – eine epische Vertonung der Johannes-Apokalypse – neue Maßstäbe.

Aphrodite’s Child – The Four Horsemen (video)

Der Erfolg von Aphrodite’s Child beförderte Vangelis in die glückliche Lage, losgelöst vom engen Korsett der Plattenfirmen, die Musik zu kreieren, die ihm gefiel. Das optimale Instrument seiner Wahl war der Synthesizer, ein noch junges Werkzeug. Es folgten erste Instrumentalkompositionen für Konzept-Alben und Filmmusiken für Natur-Dokumentationen. Die siebziger Jahre sind das Jahrzehnt der elektronischen Musik, und Vangelis avanciert neben Tangerine Dream und Jean-Michel Jarre zu einem ihrer bedeutendsten Vertreter.

Zum internationalen Durchbruch verhalf Vangelis das Musikstück „Chariots of Fire“ für das Sportlerdrama „Die Stunde des Siegers“. Unerwartet erhielt der Komponist 1982 den Oscar für die beste Filmmusik. Die Melodie ist bis heute ein weltweit populärer Dauerläufer, der immer wieder zu sportlichen Anlässen gespielt wird. Hier zeigte sich der Künstler als Pionier, dem die perfekte Symbiose von Film und Musik gelang. Mit seinen Synthesizern erweiterte er die Grenzen, die den klassischen Orchestern gesetzt waren, mit denen Hollywood bislang traditionell arbeitete. Diesen Stil führte er fort mit seiner Arbeit zu Ridley Scotts „Blade Runner“ (1982), einem dystopischen Film noir, dessen düstere Atmosphäre Vangelis gelungen akzentuierte. Auch hier konnte der Soundtrack über cineastische Kreise hinaus bis heute eine außerordentliche Popularität entfalten.

Blade Runner • Main Theme • Vangelis

Doch mit dem zunehmenden Erfolg ging Vangelis immer deutlicher auf Distanz zur kommerziellen Musik-industrie, der er die Etablierung einer Massenkultur auf Kosten der Qualität vorhielt und deren Produkte er mit akustischer Umweltverschmutzung verglich. Entsprechend hielt er sich mit der Veröffentlichung von Soundtracks für den Musikmarkt zurück und schlug viele Angebote aus, um nicht als „Fabrik für Filmmusiken“ zu verkümmern.

Und doch war es wieder ein Soundtrack, der seine vermutlich beste Leistung wurde und sogar „Chariots of Fire“ übertraf. 1992 komponierte er wieder in Zusammenarbeit mit Ridley Scott für dessen Kolumbus-Biographie „1492 – Die Eroberung des Paradieses“ den Soundtrack, verwoben mit zahlreichen Einflüssen ethnischer Musik, eine Spezialität Vangelis’. Kurioserweise wurde der kommerzielle Erfolg des Soundtracks nachträglich drei Jahre später weit übertroffen, als der Boxweltmeister Henry Maske die Titelmelodie zu seiner Ring-Fanfare erwählte. Der Soundtrack stieg zum Millionenhit auf, der allein in Deutschland bis dahin von keinem anderen Titel übertroffen wurde!

1492: Conquest of Paradise • Main Theme • Vangelis

Aus seinem Synthesizer zaubert der „griechische Tasten-Magier“ kontemplative Harmonien bis sakral-mystische Klangräume, die ganze Kathedralen ausfüllen können. Ihnen gemeinsam ist die elektronische Signatur, die stets auf ihren herausragenden Schöpfer verweist.

Kein Mensch kommt als unbeschriebenes Blatt auf die Welt. Hochbegabungen wie die von Vangelis werden in die Wiege gelegt und können von keinem noch so progressiven Bildungssystem herangezogen werden. „Große Musiker sind nicht groß, weil sie studieren. Sie sind groß, weil sie groß sind!“ – so die Begründung des Autodidakten und Freigeistes Vangelis, warum er bereits als Kind jede formale Musikausbildung ablehnte. Noten lesen und schreiben kann Vangelis bis heute nicht.

Und doch hat Vangelis der modernen Musikwelt seinen prägenden Stempel aufgesetzt. Oft wird er mit dem Maler El Greco (1541–1614) verglichen. Seitdem dieser seine kretische Heimat verließ, um im Ausland seine Schaffenskraft zu entfalten, hat kein Grieche einen solchen kulturellen Einfluß ausgeübt wie der Musiker Vangelis.

Vangelis Rosetta Decca (Universal Music), 20 16 www.universal-music.de

Vangelis (1943 – 2022)

Was gibt es da zu feiern?

„immer noch, nach den drei jahren, zittert unter den arbeitern, höre ich allgemein, die panik, verursacht durch die plünderungen und vergewaltigungen nach, die der eroberung von berlin folgten. … nach dem kampf durchzogen betrunkene horden die wohnungen, holten die frauen, schossen die widerstand leistenden frauen und männer nieder, vergewaltigten vor den augen von kindern, standen in schlangen an vor häusern usw.“- Bert Brecht

Selten zuvor standen die traditionellen Moskauer Feierlichkeiten zum 9. Mai, dem Gedenken zum Sieg Sowjetrusslands über Nazideutschland 1945, so im Interesse der Weltöffentlichkeit wie in diesem Jahr. Kreml-Astrologen suchten in der Rede Putins nach irgendwelchen Hinweisen über sein weiteres Vorgehen in der Ukraine oder gar nach versteckten Friedenshinweisen. Andere betonten den Propagandacharakter des Ereignisses, um das Russische Volk „in der Spur zu halten“ zur Fortsetzung des Krieges, mit dem Ziel der vermeintlichen „Entnazifizierung der Ukraine“, die in eine Linie mit dem „Großen Vaterländischen Krieg“ gestellt wird. Dieses Narrativ ist von besonderer Bedeutung, stellt doch der Große Vaterländische Krieg die Russen, wie zum Trost über die entsetzlichen Verheerungen des Stalinismus, auf die Seite der Guten.

Aber es gibt einen nicht unwesentlichen Aspekt in der Kriegsführung der Roten Armee, der dieses Narrativ in Frage stellt, und der angesichts der Gräueltaten russischer Soldaten in der Ukraine heute erneut von besonderer Aktualität ist: Die Massenvergewaltigung von Frauen durch Rotarmisten.

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Zuletzt war es 2013 ausgerechnet ein polnischer Kunststudent, der Danziger Jerzy Szumczyk, der mit seiner Skulptur „Frau, komm!“ die Empörung der russischen Regierung provozierte. Nur wenige Stunden in der Nacht, die die Skulptur ohne jede Genehmigung neben einem russischen Weltkriegs-Ehrenmal stand, reichten aus für eine weltweite Aufmerksamkeit. Nicht alleine deutsche Frauen waren die Opfer solcher Kriegsverbrechen; ebenso wurden solche in allen von der Roten Armee eroberten Länder Osteuropas verübt. Der russische Historiker Dmitrij Chmelnitzki schätzt aber allein die deutsche Opfergruppe als die größte auf etwa zwei Millionen.

Skandalskulptur „Frau, komm“ (Quelle: dailymail.co.uk)

Nicht allein in Russland, auch in Deutschland selbst wurde um das Thema ein Tabu errichtet. Auch hierzulande gilt der Sieg der Sowjetunion über Deutschland als „Befreiung von der Nazi-Diktatur“. Werden die Massenvergewaltigungen erwähnt, so werden diese üblicherweise mit Hinweis auf den deutschen Vernichtungskrieg gegenüber dem Osten relativiert.

Erst 2009 hatte der frühere Hamburger Wissenschaftssenator Ingo von Münch (* 1932) mit der Veröffentlichung seines Buches „‘Frau, komm!‘ Die Massenvergewaltigung deutscher Frauen und Mädchen“ für Furore beim Thema gesorgt. Als Angehöriger des etablierten Politikbereichs und der Erlebnisgeneration wurde sein tiefes Interesse durch die Bekanntschaft mit Opfern geweckt. Sein Buch dokumentiert ausgiebig zahlreiche authentische Berichte in teils grausigen Details über die erlebten Schändungen und die brutale Vorgehensweise der Rotarmisten. Widerstand war in der Regel zwecklos und konnte für das Opfer tödlich enden. Selbst anwesende Kinder waren kein Hindernisgrund und wurden oft genug ebenfalls vergewaltigt oder getötet.

Von Münch ging auch der Motivation der Rotarmisten auf den Grund. Naheliegend waren es Haß- und Rachegefühle, die die Männer antrieben sowie die Einstellung, eine Art „Volksgericht“ über den Feind und seine Zivilbevölkerung auszuüben. Auch wenn ein spezifischer offizieller Befehl, der diese Verbrechen legitimierte, nicht vorlag, so kommt von Münch zu der Feststellung, daß „die sowjetische politisch-psychologische Kriegsführung mit ihrer Hasspropaganda gegen die Deutschen (eben nicht nur gegen ‚die Faschisten‘ oder gegen ‚die deutschen Soldaten‘) den Boden die Gewalttaten bereitete“. Berühmt berüchtigt sind hier die mit Billigung der obersten Führung verbreiteten Tötungs- und Vergewaltigungsaufrufe eines Ilja Ehrenburgs. Daß sich damit auch der humanistische Anspruch der von den Sowjets vertretenen kommunistischen Ideologie restlos entwertete, sei hier nur am Rande bemerkt.

Das Schweigen darüber betraf Opfer- wie Täterseite. Die Verletzung des Intimbereichs, die persönliche und totale Demütigung – teils auch der eigenen Männer, die gezwungen waren, hilflos und ohnmächtig zuzusehen – waren derart traumatisch, daß vor tiefer Scham hiernach kaum ein Gespräch darüber geführt werden konnte. Erst der Erlebnisbericht „Eine Frau in Berlin“ der „Anonyma“ von 1954 gab den in Vergessenheit zu geratenen Opfern eine vielbeachtete Stimme. Es sollte bis 2008 dauern, bis es zur Verfilmung des Stoffes kam, bezeichnenderweise angereichert mit einer Schmonzette der Protagonistin mit einem Sowjet-Offizier, die in real nie stattfand.

Inhaltlich konnte gegen von Münchs Werk nichts entgegengesetzt werden. Seine Person ist als anerkannter Jurist und FDP-Politiker kaum in das revisionistische Lager einzuordnen. Kritik erhob sich vielfach, weil das Buch im österreichischen Ares Verlag erschien, der für seine rechtskonservativen Publikationen bekannt ist. Von Münch entgegnete dieser Kritik mit dem Hinweis, daß sich in Deutschland kein Verlag fand, der dieses „heiße Eisen“ anzufassen wagte. Auch heute noch müssen in aller Regel Erlebnisberichte aus dieser Zeit im Selbstverlag erscheinen.

Es war absehbar, daß die Wirkung von „Frau, komm!“ bei weitem nicht ausreichen würde, das Schicksal der Massenvergewaltigungen deutscher Frauen im kollektiven Gedächtnis und Gedenken der Deutschen zu verankern. Aber vielleicht werden die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine wenigstens bewirken, daß diesem Thema wieder eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteilwird. Denn es liegt sehr nahe, zwischen den russischen Verbrechen damals und heute ein gemeinsames Muster zu erkennen.

European Parliament accuses Russia of using rape as weapon of war

Ingo von Münch
Frau, komm!
Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45
208 Seiten, 2009,
19,90 Euro

Friedenslogik statt Sicherheitslogik?

Ein Schlaglicht auf die Stimmungslage in Deutschland in Bezug auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die Position Deutschlands darin warf vergangenen Sonntagnachmittag eine Vortragsveranstaltung in der Kasseler Kirche St. Familia. Zu Gast war Clemens Ronnefeldt, langjähriger Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des internationalen Versöhnungsbundes, wohnhaft in der Ukraine. Thema seines an rund 100 Zuhörer gerichteten Vortrags: „Der Ukraine-Krieg: Hintergründe und Perspektiven“. Die eigentliche thematische Stoßrichtung gab der frühere Dechant Harald Fischer in seiner Eröffnung vor, als er auf den Druck hinwies, den „die Zeitenwende in der jüngeren Geschichte“ auf die Friedensbewegung in Deutschland ausübt und sie in eine Position rücke, in der sie sich entschuldigen müsse. Fischer ist ein prominenter und keineswegs unumstrittener Aktivist der lokalen Friedensbewegung, der immer wieder als Wortführer gegen die nordhessische Rüstungsindustrie von sich reden machte.

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Zu Beginn gab Ronnefeldt einen historischen Überblick über das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine von den Kiewer Rus bis in die heutige Zeit. Seine informativen Ausführungen machten deutlich, wieso der Krieg, den Russland dort führt, keiner über Rohstoffe ist, sondern ein „Beziehungs- und Identitätskrieg“.

Über die unübersehbaren Spaltungstendenzen in der Ukraine in der Präsidentschaftswahl von 2004 habe Ronnefeldt nach eigenem Bekunden „die Luft angehalten“. Er habe der Ukraine die Rolle „eines Brückenlandes gewünscht, das seine Füße in beiden Lagern behält“. Doch vor die Wahl gestellt zwischen dem Westen und Russland mußte es zum Riss kommen.

In seinem Porträt des russischen Präsidenten Putin fand er seine christlich-orthodoxe Taufe auf Betreiben der Mutter bemerkenswert, von der der Vater – ein Kommunist und Atheist – nichts wissen durfte. Als eine wichtige Prägung erscheint sowohl der geglückte Bluff mit angeblichen Scharfschützen zum Schutz der Dresdner KGB-Filiale zur Abschreckung ostdeutscher Bürgerrechtsdemonstranten, als auch die etwa zeitgleiche Niederschlagung der chinesischen Bürgerrechtsbewegung durch das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.

Kritisch ging Ronnefeldt auf die bekannten Bilder ein, in denen sich Putin mit freiem Oberkörper in Machopose inszeniert und in denen er ihm ein Problem mit seiner Männlichkeit attestiert. Ohne die Überwindung des damit verbundenen patriarchalischen Denkens würde das Leiden der Menschen kein Ende finden.

Bei aller gebotenen Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands in der Ukraine sparte er die NATO von einer Mitverantwortung an der Entwicklung dahin nicht aus. Er begründete seinen Fokus auf die NATO dahingehend, daß hier die Seite liege, auf die man Einfluß habe. Nach dem mündlichen Versprechen an die Sowjetunion durch den damaligen Außenministers James Baker 1990, die Nato um „keinen Inch nach Osten“ zu erweitern, sah er seit 1992 mit den neoliberalen Wolfowitz, Friedman und Brzeziński eine gegenteilige amerikanische Politik am Wirken, die Russland nicht auf Augenhöhe begegnen wollte, sondern als künftigen potentiellen Konkurrenten niederzuhalten versuchte. Besonders bei Brzeziński, dem Verfasser des Bestsellers „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, konnte der Referent kaum seine Fassungslosigkeit verbergen, daß die westlichen Staaten nicht gegen seinen Einfluß opponiert haben.

Dagegen lobte Ronnefeldt die nach seiner Ansicht auf Ausgleich bedachte Politik der Regierung Merkel, während die USA diese immer wieder konterkariert habe. Als entscheidende Wegmarken hob Ronnefeldt die Münchener Sicherheitskonferenz von 2007 hervor, in der Putin explizit die Haltung Russlands gegenüber einer weiteren Runde der NATO-Osterweiterung vortrug, wie auch die völkerrechtswidrige Abtrennung des Kosovo 2007 mit westlicher Hilfe.

Mit großem Beifall goutierte das Publikum Ronnefeldts rhetorische Frage zu den Auswirkungen der amerikanischen Politik in der Ukraine: „Wieviel Blut wird fließen für höhere, übergeordnete Ziele?“

Reichlich naiv und von der Realität überholt wirken jedoch seine Alternativen zu einem bewaffneten Widerstand der Ukrainer gegen die russischen Invasoren, in denen er dem gewaltfreien Widerstand den Vorzug gab. Seine Berufung auf frühere Umfragen unter der ukrainischen Bevölkerung, die inzwischen allesamt Makulatur sein dürften, wirkte da reichlich irreal, was aber im Publikum niemanden aufzufallen schien. Ronnefeldt traf sich hier mit dem Aktivismus seines Gastgebers Fischer, indem er der deutschen Rüstungsindustrie vorhielt, ob es sie überhaupt interessiere, „was die Menschen dort denken?“

Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob es Ronnefeldt überhaupt für möglich halten könnte, daß die Ukrainer die Waffen aus deutscher Produktion geradezu herbeisehnen? Denn mit gewaltfreiem Widerstand und zivilgesellschaftlichen Ungehorsam lassen sich Massaker wie in Butscha wohl kaum verhindern.

Was können „wir“ tun, um den Krieg in der Ukraine zu beenden? Ronnefeldt problematisierte hier vor allem die deutsche Rüstungsindustrie, die über den Suchkopf auch Zulieferer für die türkische Drohne ist, die wiederum vertragswidrig von der Ukraine eingesetzt würde. An dem betreffenden Unternehmen hielte die Bundesrepublik eine Sperrminorität, die sie unter fadenscheinigen Begründungen nicht anwende. Ebenso kritisierte Ronnefeldt die durchaus bedenklichen Netzwerkverbindungen zwischen der Rüstungsindustrie und der Münchener Sicherheitskonferenz zu ihrem gegenseitigen materiellen Vorteil.

Weiterhin rief er gezielt in Richtung Publikum dazu auf: „Nehmen Sie Deserteure auf!“, ohne allerdings zu reflektieren, daß es durchaus einen Unterschied macht, ob ein Soldat der Aggressormacht oder der angegriffenen Seite fahnenflüchtig wird.

Ebenso riet er zum Erhalt der zivilgesellschaftlichen Kräfte, beispielsweise durch Städtepartnerschaften, so als ob die – mittlerweile auf Eis gelegte – Städtepartnerschaft Kassels mit dem russischen Jaroslaw irgendwie etwas geändert hätte.

Keinen leichten Stand hatte an dem Nachmittag der Kasseler Bundestagsabgeordnete der Grünen, Boris Mijatovic, der unter deutlichen Unmutsbekundungen aus dem Publikum von Fischer zu einer Stellungnahme nach vorne gebeten wurde. Besonders hörbar mit spöttischem Unterton fiel der Satz „Frieden schaffen mit schweren Waffen“, und das aus einem Milieu, in dem die Grünen einst Zuhause waren. Zwar stimme er Teilen des Vortrags zu (ohne zu sagen welchen), doch außer nichtssagenden Phrasen über Besonnenheit und rationales Handeln hatte Mijatovic nichts anzubieten.

In seinem Schlußwort betonte Ronnefeldt die weitere Notwendigkeit einer Friedensbewegung. An die Stelle der Sicherheitslogik müsse eine Friedenslogik treten, um die eigene Sicherheit nicht auf Kosten anderer zu sichern: „In einer vernetzten Welt kann es nur noch gemeinsame Sicherheitsinteressen geben.“

Fischer wiederum kritisierte die Lieferungen schwerer Waffen in die Ukraine, die für ihn eine moralische Glaubensfrage sei: „Es ist als teste der Westen aus, wo für Putin die Schmerzgrenze für den Atomwaffeneinsatz liegt.“
Es war, um einen ironischen Vergleich zur Militärsprache zu bemühen, ein Nachmittag, an dem es einem führenden Aktivisten der kirchlichen Friedensbewegung darum ging, die eigenen Truppen moralisch aufzubauen und zu stärken, nachdem der russische Angriff auch sie kalt erwischt hat.

Wenig überraschend war, daß während des Vortrags auch Flugblätter des marxistischen und kaum seriösen „Kasseler Friedensforum“ verteilt wurden. Und wenn Ronnefeldts Vortrag sich von einem thematisch ähnlichen im Café Buchoase unterschieden hätte, dann vor allem dadurch, daß er sehr deutlich gemacht hat, daß die Behauptung Russlands von der „Entnazifizierung der Ukraine“ eine reine Propagandalüge ist, um die Russen „bei der Stange zu halten, weil der Große Vaterländische Krieg [der Zweite Weltkrieg] der letzte gute gewesen ist“.

Daß die vom Bundeskanzler ausgerufene „Zeitenwende“ einhellig von der Bevölkerung nachvollzogen wurde, läßt sich hiernach jedenfalls nicht bestätigen, im Gegenteil. Wortmeldungen aus dem Publikum lassen ahnen, das die nicht nur in der Friedensbewegung traditionell gegen die Amerikaner gerichtete Vorbehalte – um nicht zu sagen: antiamerikanische Ressentiments – nach wie vor fest verankert sind. Die deutsche Front des politischen Krieges gegen Russland scheint vielleicht brüchiger zu sein, als es manchen Strategen in Berlin, Brüssel oder Washington lieb sein kann.

Russlands Tragödie: Gefangen in imperialen Träumen

„Das Unwissen über die Stalin-Zeit ist in Russland allgegenwärtig, es gibt keine Aufklärung über die Diktatur, wie wir sie kennen. Die Stalin-Zeit ist keine historische, sondern eine mythische Zeit. Man erinnert sich nicht an den Terror und den Horror, sondern an die Grösse und den Glanz eines untergegangenen Imperiums, an den Sieg im Grossen Vaterländischen Krieg, dessen Symbol Stalin ist. Nicht der Despot, der Terrorist und Gewalttäter wird besungen, sondern der Schöpfer und Bewahrer eines mächtigen Reiches. Vom Kommunismus ist am Ende nichts geblieben als die Erinnerung an das verlorengegangene Imperium.“ (Prof. Jörg Baberowski in der NZZ vom 04.04.2022)

Die Organisatoren des Literarischen Frühlings haben nach Eröffnung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine eine erfreuliche Flexibilität gezeigt, und ihr aktuelles Programm kurz vor dem Start noch einmal erweitert. Zusätzliche, den aktuellen Vorgängen verbundene Veranstaltungen wurden aufgezogen mit der georgischstämmigen Autorin Nino Haratischwili („Das mangelnde Licht“) und dem Stalin-Experten und Osteuropahistoriker Prof. Jörg Baberowski („Der tote Terror“, „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“).

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Am gestrigen Sonntagnachmittag trat Baberowski im Metzen Alter Kuhstall in Ellershausen vor das Publikum, unter der Moderation von Klaus Brill, der als thematischen Einstieg den von Wladimir Putin am Vorabend des Angriffs beschworenen Gründungsmythos der mittelalterlichen Kiewer Rus wählte. Die Taufe des Großfürsten Wladimir zum christlich-orthodoxen Glauben im Jahr 988 gilt als das Ursprungsdatum dieses Mythos, die Ukraine den Russen somit als russisches Kernland.

Links: Klaus Brill; rechts: Prof. Jörg Baberowski

Baberowski erklärte, daß er als Historiker nicht viel mit solchen Mythen anfangen könne, denn seine Aufgabe bestehe gerade in der Dekonstruktion solcher Mythen. Die in Stände hineingeborenen Menschen des Mittelalters konnten mit einer auf der Gleichheit Aller beruhenden Nationalidentität nichts anfangen. Die Nation sei ein emanzipatorisches Projekt der Moderne. Baberowski sieht die „Illusion“ der Nation unter Berufung auf Ernest Renan als „tägliches Plebiszit“, ihre Vergegenwärtigung finde in der Begegnung mit dem Anderen statt. Putin hingegen benutze Geschichte zur Rechtfertigung der Gegenwart.

Natürlich seien Nationen nicht vollkommen willkürlich konstruierbar. Der Überlieferungszusammenhang der Russen sei das Orthodoxe Christentum und die slawische Sprache. Wie wenig die russische Geschichte zur Begründung eines Nationalbewußtseins taugt, machte Baberowski deutlich an der Einführung der Leibeigenschaft der Bauern 1649, die dem Gleichheitsanspruch der Nation widerspreche. Die lokalen Eliten waren zur Hälfte Deutschbalten, während die Eliten noch bis in das 18. Jahrhundert überwiegend Französisch sprachen und die Zarin Katharina die Große war eine gebürtige Deutsche. Nationen, so Baberowski, seien gut begründete Lügen: „Man beschwört eine Zeit, die es eigentlich nicht gegeben hat.“

Angesprochen auf die Annektierung der Krim durch die Zarin Katharina im im Jahr 1783, was als Begründung russischer Gebietsansprüche herangezogen wird, fragte Baberowski, wie weit man zurückgehen solle: „Da läßt man die Geschichte besser aus dem Spiel.“

Erst im 18./19. Jahrhundert kam eine Nationalbewegung auf, allerdings als Elitenprojekt, das nicht das Interesse der Dörfler mit ihrem begrenzten Horizont fand. Interessanterweise stand die russische Regierung dem Projekt skeptisch gegenüber; ein Vielvölkerimperium wie Russland könne sich nicht auf der Idee der Nation gründen. Doch das, so Baberowski, „wollen Leute wie Putin nicht hören.“

Paradoxerweise seien die Kommunisten die eigentlichen Nationalgründer gewesen. Um ab 1922 „den Sozialismus ins Dorf zu bringen“, habe man wie am Reißbrett die Sowjetunion in Nationen überführt, die Bauern in ihren jeweiligen Nationalsprachen unterrichtet. Eine russische Nation wurde jedoch nicht gegründet; die Russen sollten sich mit dem Imperium der Sowjetunion identifizieren.

Als Folge der bolschewistischen Politik sei die Ukraine und ihre erste Staatlichkeit eine sowjetische Schöpfung. Dennoch sei diese nicht einfach ein künstliches Gebilde, denn in allen Sowjetrepubliken habe es nationale Erweckungsbewegungen gegeben.

Der ab 1928 einsetzende Terror Stalins habe die Ukraine mit dem „Holodomor“ am härtesten getroffen. Zu seiner Bewertung als „Genozid“ meinte Baberowski zurückhaltend, daß die Hungersnot Folge des Krieges der sowjetischen Regierung gegen das eigene Volk gewesen sei, der jeden traf. Er wies weiter auf die ebenfalls in einer Hungersnot umgekommenen zwei Millionen Kasachen hin, über die niemand spreche, „vielleicht weil es Muslime sind?“. Jedenfalls stehe es in der kasachischen Kultur nicht gut an, sich zum Opfer zu machen.

In Bezug auf Putin wollte Baberowski dem Publikum keine Hoffnung auf einen Wechsel mitgeben: „In der Krise sind alle Despoten im Vorteil, weil sich alles um sie schart. Fällt Putin, fallen sie alle.“ Wie Stalin habe er seine Gefolgschaft in seine Verbrechen involviert. Ebenso dämpfte er die Erwartung auf eine liberale Phase nach Putin. Die stärksten Parteien seien Kommunisten und Nationalisten; liberale Kräfte waren zuletzt auf den hintersten Plätzen.

Weiterhin warnte er vor einem Zusammenbruch Russlands, was Konsequenzen für die ganze asiatische Region habe. Baberowski mahnte zu einer verantwortungsethischen Politik, die das im Blick haben müsse: „Wie kann man mit Russland operieren, ohne in Feindschaft mit ihm zu geraten?“

Die Aufarbeitung des Stalinismus beschrieb Baberowski als komplexes Projekt. Es sei nicht leicht in einer solchen Aufarbeitung Täter und Opfer zu benennen. Die meisten Täter seien zudem selbst hingerichtet worden. In der Sowjetunion habe man den Terror wie eine Naturkatastrophe hingenommen. Zudem wirke bis heute der Große Vaterländische Krieg als tröstendes Narrativ, das die meisten dankbar angenommen hätten, um endlich als Sieger dazustehen. Für die anderen Völker gäbe es keine Empathie. Sie spielten keine Rolle im russischen Gedächtnis. Die große Tragödie sei, so Baberowski am Ende seines erkenntnisreichen, aber auch ernüchternden Vortrags: „Solange Russland keinen Weg findet aus der imperialen Vergangenheit, wird es gefangen bleiben in imperialen Träumen, statt auf die anderen Völker zuzugehen.“

Prof. Jörg Baberowski
Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt
2012; 606 Seiten; 29,95 Euro

Echo der Vergangenheit

Als die Organisatoren des „Literarischen Frühlings“ Anfang dieses Jahres ihr aktuelles Programm für 2022 herausgaben, konnten sie noch nicht wissen, wie die Entwicklungen in der Ukraine ihrer Top-Veranstaltung, dem Lesedinner mit der Schriftstellerin Katerina Poladjan, zu besonderer Aktualität verhelfen würden. Poladjan (51) ist gebürtige Russin und siedelte 1977 in die Bundesrepublik über. Ihre Romane erhielten zahlreiche Preise – zuletzt den mit 15.000 Euro dotierten Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund – und wurden vielfach in andere Sprachen übersetzt. Ihr aktueller Roman „Zukunftsmusik“, den Moderator Klaus Brill als ihren Durchbruch bezeichnete, stand im Mittelpunkt des vergangenen Freitagabends in Ellershausen nahe Frankenberg/Eder.

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Poladjan ist für die Institution des Literarischen Frühlings keine Unbekannte. Sie trat schön des Öfteren dort auf als Schreib-Dozentin, Vorleserin von Klassikern oder als Interpretin ihrer eigenen Werke. Ungewöhnlich der Standort, der die Karriere vom Kuhstall zum Kulturstall machte: „Zukunftsmusik“ stellte sie vor im „Metzen Alter Kuhstall“, der zwar überwiegend Landmaschinen beherbergt, aber auch so gebaut und umgestaltet wurde, daß er innerhalb kürzester Zeit für eine gehobene Dinner-Veranstaltung umfunktioniert werden kann.

„Metzen Alter Kuhstall“ in Ellershausen

Das Dinner selbst bestand dem Thema des Abends entsprechend aus einem Vier-Gänge-Menü osteuropäischer Spezialitäten wie Sibirische Teigtaschen und dem klassischen Borschtsch, einer Suppe aus Roter Bete. Die Organisation übernahm das Romantik Hotel Landhaus Bärenmühle.

„Zukunftsmusik“ ist ein Roman, der mit eine Antwort zu geben versucht, wie Russland wurde, was es heute ist. An diesem Abend trafen sich die Vergangenheit mit der Gegenwart, um einen Ausblick in die Zukunft zu versuchen. Die Handlung des Romans beginnt am 11. März 1985, einem historischen und schicksalsträchtigen Datum in der Sowjetunion. Der greise Generalsekretär Tschernenko war nach nur wenigen Monaten an der Macht am Vortag verstorben. Ihm folgte bereits einen Tag später Michail Gorbatschow ins Amt, der Mann, der sich an Reform und Rettung der Sowjetunion versuchte und in dieser – letztlich kläglich gescheiterten – Mission die Wiedervereinigung Deutschland ermöglichte.

Erster Gang: Pelmeni Sibirskie, Sibirische Teigtaschen gefüllt mit Rindfleisch und mit buntem Salat.

Der Schauplatz des Romans ist eine Kommunalka im tiefsten Sibirien. Die Kommunalka war in der Sowjetunion eine Wohnform, die der chronischen Wohnungsnot entgegenwirken sollte. Oftmals ehemalige Häuser des Adels und des Großbürgertums wurden von sechs bis sieben Mietparteien aus 40 – 50 Menschen bewohnt, Küche und Bad gemeinsam genutzt. Der zur Verfügung stehende Platz wurde so optimiert, daß man durch größere Zimmer einfach neue Wände zog. In der Regel stand jeder Mietpartei nur ein Zimmer zur Verfügung – die Kommunalka als ein Sinnbild für die Sowjetunion mit ihren vielen Nationalitäten.

Zweiter Gang: Borschtsch, Rote-Bete-Suppe

So auch der Familie von Janka, vier Frauen aus vier Generationen. Janka, mit Anfang 20 im besten Jugendalter, gehört dennoch einer verlorenen und vergessenen Generation an. Die weitgehende Abwesenheit der Männer in dem Plot ist dem Umstand geschuldet, daß diese in jener Epoche oft ein kurzes Leben führten. Der grassierende Wodka-Alkoholismus, der Tod an der Front im Zweiten Weltkrieg oder in Afghanistan ließ ihre Lebenserwartung drastisch sinken. Oder sie saßen einfach im Gefängnis oder Straflager.

Dritter Gang: Kotlety po-Kyjiwski, Hühnchen-Kotelett ohne Knochen, mit Butter gefüllt, Gemüse und Buchweizen-Blini

Ein solches Milieu eröffnet eine besondere Psychodynamik, die durch den ganzen Roman trägt. Die Kommunalka kennt keine Privatsphäre und bringt komplexe Beziehungsgeflechte hervor. Trotz der „heiteren Melancholie“ des Romans, ist es ein ideologisch geprägtes System, in dem sich Kollektiv und Individuum konträr gegenüberstehen.

Poladjan knüpft in ihrer Geschichte an verschiedene Stränge der russischen Literaturtradition an, so zum Beispiel an „Oblomow“, den Roman Iwan Gontscharow über einen in seiner Lethargie gefangenen Adligen. Auch in „Zukunftsmusik“ sind die Protagonisten in der Spätphase der Sowjetunion gleichermaßen in einer ausweglosen Trägheit gefangen: „Sehen Sie, man kann nichts tun.

Wo „Zukunftsmusik“ die Frage nach der Freiheit im damaligen Sowjet-Russland stellt, so ist die Antwort nach Poladjan, daß man in Freiheit sozialisiert werden muß, um Freiheit leben zu können. Unter den Bedingungen der Kommunalka ist das kaum möglich. Und wer in einem „System der Lüge“ lebt, fängt schließlich an, sich selbst zu mißtrauen.

Katerina Poladjan

Auf die Frage nach ihrer Identität bekennt Poladjan offen, daß ihr jeder Sinn für eine nationale Identität fehle, etwas was ihr in ihrem Elternhaus auch nicht vermittelt wurde. Sprache sei für sie „nicht Heimat, sondern das, was gesagt wird“. Zuletzt sei sie durch „Hier sind Löwen“, einem Roman über den türkischen Genozid an den Armeniern, als armenisch stämmige Immigratin eingeordnet worden. Sie jedoch sei eine deutsche Schriftstellerin, die in Russland geboren wurde.

Doch als was immer Katerina Poladjan ihre Identität sieht, die deutschsprachige Literatur kann sich glücklich schätzen, eine derart talentierte Schriftstellerin vorweisen zu können.

Katerina Poladjan
Zukunftsmusik
2022; 192 Seiten, 22,- Euro

Putins Werk und Amerikas Beitrag

Der Krieg ist nicht nur der „Vater aller Dinge“ (Heraklit), sein Ausbruch selbst hat zumeist viele Väter. Mit anderen Worten, die Ursachen eines gewaltsamen Konfliktes zwischen Staaten und Nationen lassen sich in den seltensten Fällen monokausal erklären. Die Wurzeln seiner Genese lassen sich oft weit in die Vergangenheit zurückverfolgen, teilweise mit komplexen Verästelungen, in denen sich Ursache und Wirkung nur noch schwer voneinander unterscheiden lassen. Das gilt auch für den gegenwärtigen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Zwar ist Russland aufgrund seines im Februar erfolgten Angriffs nach wiederholter Lüge, es würde an seiner Grenze zur Ukraine lediglich Manöver abhalten, unzweifelhaft in der Rolle des Aggressors. Doch auch dieser Konflikt hat eine Vorgeschichte, die viel mit dem Verhalten des Westens gegenüber Russland tun hat.

Der amerikanische Journalist Tim Weiner ist in der Geheimdienst-Szene bestens vernetzt. International bekannt wurde er als Verfasser einer umfassenden Monographie über die Geschichte des US-Geheimdienstes CIA („CIA: Die ganze Geschichte“; 2007). In seinem letzten, 2021 auf Deutsch erschienenen Werk, – also noch vor Ausbruch des Ukraine-Krieges – beleuchtet er das 75jährige Ringen der USA und der Sowjetunion bzw. Russlands um die Weltherrschaft: „Macht und Wahn. Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945“.

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Weiner beginnt seine Darstellung mit dem berühmten „Langen Telegramm“ des amerikanischen Diplomaten George F. Kennan (1904 – 2005) von 1946, in dem er seiner Regierung im aufziehenden Kalten Krieg eine neue Strategie zur Eindämmung des Sowjetkommunismus unterbreitete. Dies war die Geburtsstunde des politischen Kampfes zwischen den beiden Weltmächten, der mit nichtmilitärischen Mitteln ausgetragen wurde. Seine Instrumente waren verdeckte Operationen, Fake News und Propaganda. Die Schauplätze waren die Länder der Dritten Welt und die osteuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion; ihre Akteure vor allem die Geheimdienste CIA und KGB.

Dabei war Amerika in der Wahl seiner Methoden keineswegs zimperlich. Wo es die US-Administration als notwendig für ihre Interessen erachtete, wurden wie im Iran oder Kongo mißliebige Regierungschefs weggeputscht oder gar liquidiert und die schlimmsten Potentaten hofiert: „Menschenrechte [spielten] in der amerikanischen Außenpolitik nur selten eine Rolle.“

Zu den größten amerikanischen Erfolgen im Informationskrieg im Kalten Krieg dürfte die Herbeischaffung und globale Verbreitung der Geheimrede von Chruschtschow vom 1956 sein, in der er mit seinem Vorgänger Stalin abrechnete.

Die sowjetische Seite wiederum konnte sich mit der Erfindung der Verschwörungstheorie „revanchieren“, wonach AIDS eine in amerikanischen Militärlabors gezüchtete Krankheit sei. Diese Mär hat über den Kalten Krieg hinaus bis heute in Millionen Köpfen überlebt.

Von besonderem Interesse ist die zweite Hälfte des Buches, in welchem Weiner die weitere Entwicklung nach dem Triumph der USA im Kalten Krieg beschreibt, und hier vor allem der Weg, den die USA mit der NATO-Osterweiterung eingeschlagen haben.

In den vergangenen Wochen und Monaten wurde in den deutschen Medien vielfach verbreitet, es sei ein Mythos gewesen, „dass sich die Nato mit der Osterweiterung schuldig gemacht habe, weil diese gegen Versprechen von Anfang der 90er verstoßen habe. (…) Dieses Narrativ sollte sich erledigt haben. (…) Die Regierung Jelzin aber akzeptierte das Selbstbestimmungsrecht der Warschauer-Pakt-Staaten und ehemaliger Sowjetrepubliken: Im Budapester Memorandum bestätigte Russland deren Souveränität – für den Verzicht auf Nuklearwaffen.“ (pars pro toto Mark-Christian von Busse in der HNA vom 15. März 2022). Jedoch, ganz so einfach stellt sich die Historie der NATO-Osterweiterung nicht dar.

Bereits US-Außenminister George Baker gab 1990 dem sowjetischen Staatschef Gorbatschow die „kategorische Zusicherung“: „Nicht einen Zoll weiter nach Osten.“ Vor einer Abkehr dieser Linie warnten auch hochrangige Militärs und Diplomaten, wonach „die Russen die Erweiterung der NATO als existenzielle Bedrohung betrachten würden“.

Gorbatschows Nachfolger Jelzin, den Weiner in entscheidenden Momenten als alkoholisiert beschreibt, ließ sich auf das „doppelzüngige Spiel“ des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton ein, der einerseits Jelzin unterstützte, andererseits das Projekt der NATO-Osterweiterung betrieb. Die Clinton-Administration hatte selbst nach Einschätzung ihrer eigenen Diplomaten die Russen in dieser Frage eindeutig hintergangen. Vize-Außenminister Strobe Talbott bekannte intern: „Die NATO-Erweiterung wird, wenn sie stattfindet, per definitionem Bestrafung oder ‚Neo-Containment‘ des bösen Bären sein“.

Talbott machte unumwunden deutlich, daß es zwischen den USA und Russland nicht um eine Begegnung auf Augenhöhe gehen könnte. Amerika wollte der Sieger des Kalten Kriegs sein. Es wollte seine Macht und seinen Einfluß weltweit ausdehnen und wiederholte damit den Fehler, der nach dem Zweiten Weltkrieg begangen wurde, als man es sträflich unterließ, den früheren Feind in eine seine Interessen berücksichtigende Friedensordnung einzubinden.

Das mit dem Budapester Memorandum verbundene Beitrittsangebot der NATO an Polen, Ungarn und die Tschechische Republik fasst Weiner in seiner Wirkung auf die russische Seite drastisch zusammen: „Dies verstärkte Russlands Gefühl, dass die Amerikaner den Bären nicht nur in einen Käfig sperren, sondern ihm auch noch die Augen ausstechen wollten.“

Das „große Spiel“ erfuhr 2000 eine bedeutende Wende, als Wladimir Putin von Jelzin das Amt des Russischen Staatspräsidenten erbte. Der frühere KGB-Agent Putin – „ein Tschekist bis ins Mark“ – , getrieben von seiner traumatischen, hautnahen Erfahrung des Untergangs der Sowjetunion, hatte zwei Ziele: Rache an Amerika und die Wiederherstellung der alten Größe Russlands. Umgehend wurde der Staatsapparat mit Geheimdienstagenten durchsetzt und so aus den Trümmern der Sowjetunion ein neuer Geheimdienststaat geschaffen, der den früheren politischen Krieg wiederaufnahm.

Der Informationskrieg wurde zu Putins stärkster Waffe, seine Instrumente Cyberangriffe, Medienmanipulation und psychologische Operationen, „die effizienteste politische Kriegsführung des 21. Jahrhunderts“. Die Cyberattacken auf Estland 2007 und der Hack in die IT-Wahlmaschinerie der Ukraine waren erste Kostproben der neosowjetischen Strategie Putins.

Besonderes Aufsehen erregte 2014 die Veröffentlichung eines von russischen Geheimagenten mitgeschnittenen Telefonats zwischen der hochrangigen US-Diplomatin Victoria Nuland und dem amerikanischen Botschafter in der Ukraine, das die tiefe amerikanischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes dokumentierte. Berühmt wurde dieses Telefonat wegen des darin enthaltenen Kraftausdrucks von Nuland, man könne „auf die EU scheißen“.

Doch das waren nur Gesellenstücke auf dem Weg zum großen Ziel: Die heimliche Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahl von 2016, dem großen Zweikampf der Kandidaten Hillary Clinton und Donald Trump.

Weiner legt ausführlich dar, wie Russland mithilfe seiner in Sankt Petersburg ansässigen Troll-Fabrik in den Wahlkampf eingriff, zugunsten des Kreml-Wunschkandidaten Trump. Kompromittierendes Material gegen Clinton wurde von den Servern der Demokratischen Partei gestohlen und WikiLeaks zugespielt, das Internet mit Fake News geflutet und aufgeheizt, während das amerikanische Programm von Russia Today eine massive Kampagne fuhr, um durch die Unterstützung einer linken Außenseiter-Kandidatin Clinton entscheidende Stimmen zu entziehen und die Wählerschaft der Demokraten zu spalten. Der Angriff traf die USA vollkommen unvorbereitet. Ebenso gab es zahlreiche vom FBI dokumentierte Kontakte der Teams von Trump und Putin.

Das Ende der Geschichte ist bekannt: Mit Trump wurde ein Kandidat zum Präsidenten gewählt, der den Interessen des Kremls am dienlichsten war, der die NATO für „obsolet“ hielt, das außenpolitische Engagement der USA zurückfahren wollte und darüber hinaus Putin mit viel Lob bedachte.

Weiner läßt offen, ob er den heimlichen Angriff des Kremls als den entscheidenden Ausschlag für Trumps Wahl ansieht. Ebenso legt er sich nicht explizit fest, ob er Trump für einen russischen Einflußagenten hält.
Dennoch, Trump belastendes Material gibt es zuhauf. Doch sollte nicht außer Acht gelassen werden, daß Putins Trolle die politisch aufgeheizte Stimmung und die ihr zugrunde liegende jahrzehntelange Entwicklung gesellschaftlicher Spaltungen lediglich für ihre Zwecke instrumentalisieren, aber keineswegs lenken oder gar herbeiführen konnten. Es bleiben auch Zweifel an Trumps Nutzen für Russland, denn immerhin hat er sich gegen eines der wichtigsten Kreml-Projekte, die Erdgasverbindung Nord Stream 2, ausgesprochen. Dennoch, auch ohne den letzten Beweis muß unter der Last der Fakten Trumps Wahlsieg mindestens als kompromittiert angesehen werden.

Wäre Weiners Buch ein Politthriller, er wäre höchst unterhaltsam. Aber tatsächlich ist es ein beklemmendes Dokument, das auf eine für die westlichen Demokratien trübe Zukunft einstimmt, eine Zeit, in der es den Wählern immer schwerer fallen wird, die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden und dabei jede Sicherheit zu verlieren gehen droht, in ihren politischen Entscheidungen nicht Opfer einer perfiden Manipulation zu sein. Und die schlimmste Vorstellung daran: Die Marionettenspieler müssen noch nicht einmal im feindlichen Ausland sitzen – sie könnten auch aus dem eigenen Land kommen.

Tim Weiner
Macht und Wahn
Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945
2021; 352 Seiten; 26,- Euro