Friedenslogik statt Sicherheitslogik?

Ein Schlaglicht auf die Stimmungslage in Deutschland in Bezug auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die Position Deutschlands darin warf vergangenen Sonntagnachmittag eine Vortragsveranstaltung in der Kasseler Kirche St. Familia. Zu Gast war Clemens Ronnefeldt, langjähriger Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des internationalen Versöhnungsbundes, wohnhaft in der Ukraine. Thema seines an rund 100 Zuhörer gerichteten Vortrags: „Der Ukraine-Krieg: Hintergründe und Perspektiven“. Die eigentliche thematische Stoßrichtung gab der frühere Dechant Harald Fischer in seiner Eröffnung vor, als er auf den Druck hinwies, den „die Zeitenwende in der jüngeren Geschichte“ auf die Friedensbewegung in Deutschland ausübt und sie in eine Position rücke, in der sie sich entschuldigen müsse. Fischer ist ein prominenter und keineswegs unumstrittener Aktivist der lokalen Friedensbewegung, der immer wieder als Wortführer gegen die nordhessische Rüstungsindustrie von sich reden machte.

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Zu Beginn gab Ronnefeldt einen historischen Überblick über das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine von den Kiewer Rus bis in die heutige Zeit. Seine informativen Ausführungen machten deutlich, wieso der Krieg, den Russland dort führt, keiner über Rohstoffe ist, sondern ein „Beziehungs- und Identitätskrieg“.

Über die unübersehbaren Spaltungstendenzen in der Ukraine in der Präsidentschaftswahl von 2004 habe Ronnefeldt nach eigenem Bekunden „die Luft angehalten“. Er habe der Ukraine die Rolle „eines Brückenlandes gewünscht, das seine Füße in beiden Lagern behält“. Doch vor die Wahl gestellt zwischen dem Westen und Russland mußte es zum Riss kommen.

In seinem Porträt des russischen Präsidenten Putin fand er seine christlich-orthodoxe Taufe auf Betreiben der Mutter bemerkenswert, von der der Vater – ein Kommunist und Atheist – nichts wissen durfte. Als eine wichtige Prägung erscheint sowohl der geglückte Bluff mit angeblichen Scharfschützen zum Schutz der Dresdner KGB-Filiale zur Abschreckung ostdeutscher Bürgerrechtsdemonstranten, als auch die etwa zeitgleiche Niederschlagung der chinesischen Bürgerrechtsbewegung durch das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.

Kritisch ging Ronnefeldt auf die bekannten Bilder ein, in denen sich Putin mit freiem Oberkörper in Machopose inszeniert und in denen er ihm ein Problem mit seiner Männlichkeit attestiert. Ohne die Überwindung des damit verbundenen patriarchalischen Denkens würde das Leiden der Menschen kein Ende finden.

Bei aller gebotenen Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands in der Ukraine sparte er die NATO von einer Mitverantwortung an der Entwicklung dahin nicht aus. Er begründete seinen Fokus auf die NATO dahingehend, daß hier die Seite liege, auf die man Einfluß habe. Nach dem mündlichen Versprechen an die Sowjetunion durch den damaligen Außenministers James Baker 1990, die Nato um „keinen Inch nach Osten“ zu erweitern, sah er seit 1992 mit den neoliberalen Wolfowitz, Friedman und Brzeziński eine gegenteilige amerikanische Politik am Wirken, die Russland nicht auf Augenhöhe begegnen wollte, sondern als künftigen potentiellen Konkurrenten niederzuhalten versuchte. Besonders bei Brzeziński, dem Verfasser des Bestsellers „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, konnte der Referent kaum seine Fassungslosigkeit verbergen, daß die westlichen Staaten nicht gegen seinen Einfluß opponiert haben.

Dagegen lobte Ronnefeldt die nach seiner Ansicht auf Ausgleich bedachte Politik der Regierung Merkel, während die USA diese immer wieder konterkariert habe. Als entscheidende Wegmarken hob Ronnefeldt die Münchener Sicherheitskonferenz von 2007 hervor, in der Putin explizit die Haltung Russlands gegenüber einer weiteren Runde der NATO-Osterweiterung vortrug, wie auch die völkerrechtswidrige Abtrennung des Kosovo 2007 mit westlicher Hilfe.

Mit großem Beifall goutierte das Publikum Ronnefeldts rhetorische Frage zu den Auswirkungen der amerikanischen Politik in der Ukraine: „Wieviel Blut wird fließen für höhere, übergeordnete Ziele?“

Reichlich naiv und von der Realität überholt wirken jedoch seine Alternativen zu einem bewaffneten Widerstand der Ukrainer gegen die russischen Invasoren, in denen er dem gewaltfreien Widerstand den Vorzug gab. Seine Berufung auf frühere Umfragen unter der ukrainischen Bevölkerung, die inzwischen allesamt Makulatur sein dürften, wirkte da reichlich irreal, was aber im Publikum niemanden aufzufallen schien. Ronnefeldt traf sich hier mit dem Aktivismus seines Gastgebers Fischer, indem er der deutschen Rüstungsindustrie vorhielt, ob es sie überhaupt interessiere, „was die Menschen dort denken?“

Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob es Ronnefeldt überhaupt für möglich halten könnte, daß die Ukrainer die Waffen aus deutscher Produktion geradezu herbeisehnen? Denn mit gewaltfreiem Widerstand und zivilgesellschaftlichen Ungehorsam lassen sich Massaker wie in Butscha wohl kaum verhindern.

Was können „wir“ tun, um den Krieg in der Ukraine zu beenden? Ronnefeldt problematisierte hier vor allem die deutsche Rüstungsindustrie, die über den Suchkopf auch Zulieferer für die türkische Drohne ist, die wiederum vertragswidrig von der Ukraine eingesetzt würde. An dem betreffenden Unternehmen hielte die Bundesrepublik eine Sperrminorität, die sie unter fadenscheinigen Begründungen nicht anwende. Ebenso kritisierte Ronnefeldt die durchaus bedenklichen Netzwerkverbindungen zwischen der Rüstungsindustrie und der Münchener Sicherheitskonferenz zu ihrem gegenseitigen materiellen Vorteil.

Weiterhin rief er gezielt in Richtung Publikum dazu auf: „Nehmen Sie Deserteure auf!“, ohne allerdings zu reflektieren, daß es durchaus einen Unterschied macht, ob ein Soldat der Aggressormacht oder der angegriffenen Seite fahnenflüchtig wird.

Ebenso riet er zum Erhalt der zivilgesellschaftlichen Kräfte, beispielsweise durch Städtepartnerschaften, so als ob die – mittlerweile auf Eis gelegte – Städtepartnerschaft Kassels mit dem russischen Jaroslaw irgendwie etwas geändert hätte.

Keinen leichten Stand hatte an dem Nachmittag der Kasseler Bundestagsabgeordnete der Grünen, Boris Mijatovic, der unter deutlichen Unmutsbekundungen aus dem Publikum von Fischer zu einer Stellungnahme nach vorne gebeten wurde. Besonders hörbar mit spöttischem Unterton fiel der Satz „Frieden schaffen mit schweren Waffen“, und das aus einem Milieu, in dem die Grünen einst Zuhause waren. Zwar stimme er Teilen des Vortrags zu (ohne zu sagen welchen), doch außer nichtssagenden Phrasen über Besonnenheit und rationales Handeln hatte Mijatovic nichts anzubieten.

In seinem Schlußwort betonte Ronnefeldt die weitere Notwendigkeit einer Friedensbewegung. An die Stelle der Sicherheitslogik müsse eine Friedenslogik treten, um die eigene Sicherheit nicht auf Kosten anderer zu sichern: „In einer vernetzten Welt kann es nur noch gemeinsame Sicherheitsinteressen geben.“

Fischer wiederum kritisierte die Lieferungen schwerer Waffen in die Ukraine, die für ihn eine moralische Glaubensfrage sei: „Es ist als teste der Westen aus, wo für Putin die Schmerzgrenze für den Atomwaffeneinsatz liegt.“
Es war, um einen ironischen Vergleich zur Militärsprache zu bemühen, ein Nachmittag, an dem es einem führenden Aktivisten der kirchlichen Friedensbewegung darum ging, die eigenen Truppen moralisch aufzubauen und zu stärken, nachdem der russische Angriff auch sie kalt erwischt hat.

Wenig überraschend war, daß während des Vortrags auch Flugblätter des marxistischen und kaum seriösen „Kasseler Friedensforum“ verteilt wurden. Und wenn Ronnefeldts Vortrag sich von einem thematisch ähnlichen im Café Buchoase unterschieden hätte, dann vor allem dadurch, daß er sehr deutlich gemacht hat, daß die Behauptung Russlands von der „Entnazifizierung der Ukraine“ eine reine Propagandalüge ist, um die Russen „bei der Stange zu halten, weil der Große Vaterländische Krieg [der Zweite Weltkrieg] der letzte gute gewesen ist“.

Daß die vom Bundeskanzler ausgerufene „Zeitenwende“ einhellig von der Bevölkerung nachvollzogen wurde, läßt sich hiernach jedenfalls nicht bestätigen, im Gegenteil. Wortmeldungen aus dem Publikum lassen ahnen, das die nicht nur in der Friedensbewegung traditionell gegen die Amerikaner gerichtete Vorbehalte – um nicht zu sagen: antiamerikanische Ressentiments – nach wie vor fest verankert sind. Die deutsche Front des politischen Krieges gegen Russland scheint vielleicht brüchiger zu sein, als es manchen Strategen in Berlin, Brüssel oder Washington lieb sein kann.

Russlands Tragödie: Gefangen in imperialen Träumen

„Das Unwissen über die Stalin-Zeit ist in Russland allgegenwärtig, es gibt keine Aufklärung über die Diktatur, wie wir sie kennen. Die Stalin-Zeit ist keine historische, sondern eine mythische Zeit. Man erinnert sich nicht an den Terror und den Horror, sondern an die Grösse und den Glanz eines untergegangenen Imperiums, an den Sieg im Grossen Vaterländischen Krieg, dessen Symbol Stalin ist. Nicht der Despot, der Terrorist und Gewalttäter wird besungen, sondern der Schöpfer und Bewahrer eines mächtigen Reiches. Vom Kommunismus ist am Ende nichts geblieben als die Erinnerung an das verlorengegangene Imperium.“ (Prof. Jörg Baberowski in der NZZ vom 04.04.2022)

Die Organisatoren des Literarischen Frühlings haben nach Eröffnung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine eine erfreuliche Flexibilität gezeigt, und ihr aktuelles Programm kurz vor dem Start noch einmal erweitert. Zusätzliche, den aktuellen Vorgängen verbundene Veranstaltungen wurden aufgezogen mit der georgischstämmigen Autorin Nino Haratischwili („Das mangelnde Licht“) und dem Stalin-Experten und Osteuropahistoriker Prof. Jörg Baberowski („Der tote Terror“, „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“).

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Am gestrigen Sonntagnachmittag trat Baberowski im Metzen Alter Kuhstall in Ellershausen vor das Publikum, unter der Moderation von Klaus Brill, der als thematischen Einstieg den von Wladimir Putin am Vorabend des Angriffs beschworenen Gründungsmythos der mittelalterlichen Kiewer Rus wählte. Die Taufe des Großfürsten Wladimir zum christlich-orthodoxen Glauben im Jahr 988 gilt als das Ursprungsdatum dieses Mythos, die Ukraine den Russen somit als russisches Kernland.

Links: Klaus Brill; rechts: Prof. Jörg Baberowski

Baberowski erklärte, daß er als Historiker nicht viel mit solchen Mythen anfangen könne, denn seine Aufgabe bestehe gerade in der Dekonstruktion solcher Mythen. Die in Stände hineingeborenen Menschen des Mittelalters konnten mit einer auf der Gleichheit Aller beruhenden Nationalidentität nichts anfangen. Die Nation sei ein emanzipatorisches Projekt der Moderne. Baberowski sieht die „Illusion“ der Nation unter Berufung auf Ernest Renan als „tägliches Plebiszit“, ihre Vergegenwärtigung finde in der Begegnung mit dem Anderen statt. Putin hingegen benutze Geschichte zur Rechtfertigung der Gegenwart.

Natürlich seien Nationen nicht vollkommen willkürlich konstruierbar. Der Überlieferungszusammenhang der Russen sei das Orthodoxe Christentum und die slawische Sprache. Wie wenig die russische Geschichte zur Begründung eines Nationalbewußtseins taugt, machte Baberowski deutlich an der Einführung der Leibeigenschaft der Bauern 1649, die dem Gleichheitsanspruch der Nation widerspreche. Die lokalen Eliten waren zur Hälfte Deutschbalten, während die Eliten noch bis in das 18. Jahrhundert überwiegend Französisch sprachen und die Zarin Katharina die Große war eine gebürtige Deutsche. Nationen, so Baberowski, seien gut begründete Lügen: „Man beschwört eine Zeit, die es eigentlich nicht gegeben hat.“

Angesprochen auf die Annektierung der Krim durch die Zarin Katharina im im Jahr 1783, was als Begründung russischer Gebietsansprüche herangezogen wird, fragte Baberowski, wie weit man zurückgehen solle: „Da läßt man die Geschichte besser aus dem Spiel.“

Erst im 18./19. Jahrhundert kam eine Nationalbewegung auf, allerdings als Elitenprojekt, das nicht das Interesse der Dörfler mit ihrem begrenzten Horizont fand. Interessanterweise stand die russische Regierung dem Projekt skeptisch gegenüber; ein Vielvölkerimperium wie Russland könne sich nicht auf der Idee der Nation gründen. Doch das, so Baberowski, „wollen Leute wie Putin nicht hören.“

Paradoxerweise seien die Kommunisten die eigentlichen Nationalgründer gewesen. Um ab 1922 „den Sozialismus ins Dorf zu bringen“, habe man wie am Reißbrett die Sowjetunion in Nationen überführt, die Bauern in ihren jeweiligen Nationalsprachen unterrichtet. Eine russische Nation wurde jedoch nicht gegründet; die Russen sollten sich mit dem Imperium der Sowjetunion identifizieren.

Als Folge der bolschewistischen Politik sei die Ukraine und ihre erste Staatlichkeit eine sowjetische Schöpfung. Dennoch sei diese nicht einfach ein künstliches Gebilde, denn in allen Sowjetrepubliken habe es nationale Erweckungsbewegungen gegeben.

Der ab 1928 einsetzende Terror Stalins habe die Ukraine mit dem „Holodomor“ am härtesten getroffen. Zu seiner Bewertung als „Genozid“ meinte Baberowski zurückhaltend, daß die Hungersnot Folge des Krieges der sowjetischen Regierung gegen das eigene Volk gewesen sei, der jeden traf. Er wies weiter auf die ebenfalls in einer Hungersnot umgekommenen zwei Millionen Kasachen hin, über die niemand spreche, „vielleicht weil es Muslime sind?“. Jedenfalls stehe es in der kasachischen Kultur nicht gut an, sich zum Opfer zu machen.

In Bezug auf Putin wollte Baberowski dem Publikum keine Hoffnung auf einen Wechsel mitgeben: „In der Krise sind alle Despoten im Vorteil, weil sich alles um sie schart. Fällt Putin, fallen sie alle.“ Wie Stalin habe er seine Gefolgschaft in seine Verbrechen involviert. Ebenso dämpfte er die Erwartung auf eine liberale Phase nach Putin. Die stärksten Parteien seien Kommunisten und Nationalisten; liberale Kräfte waren zuletzt auf den hintersten Plätzen.

Weiterhin warnte er vor einem Zusammenbruch Russlands, was Konsequenzen für die ganze asiatische Region habe. Baberowski mahnte zu einer verantwortungsethischen Politik, die das im Blick haben müsse: „Wie kann man mit Russland operieren, ohne in Feindschaft mit ihm zu geraten?“

Die Aufarbeitung des Stalinismus beschrieb Baberowski als komplexes Projekt. Es sei nicht leicht in einer solchen Aufarbeitung Täter und Opfer zu benennen. Die meisten Täter seien zudem selbst hingerichtet worden. In der Sowjetunion habe man den Terror wie eine Naturkatastrophe hingenommen. Zudem wirke bis heute der Große Vaterländische Krieg als tröstendes Narrativ, das die meisten dankbar angenommen hätten, um endlich als Sieger dazustehen. Für die anderen Völker gäbe es keine Empathie. Sie spielten keine Rolle im russischen Gedächtnis. Die große Tragödie sei, so Baberowski am Ende seines erkenntnisreichen, aber auch ernüchternden Vortrags: „Solange Russland keinen Weg findet aus der imperialen Vergangenheit, wird es gefangen bleiben in imperialen Träumen, statt auf die anderen Völker zuzugehen.“

Prof. Jörg Baberowski
Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt
2012; 606 Seiten; 29,95 Euro

Echo der Vergangenheit

Als die Organisatoren des „Literarischen Frühlings“ Anfang dieses Jahres ihr aktuelles Programm für 2022 herausgaben, konnten sie noch nicht wissen, wie die Entwicklungen in der Ukraine ihrer Top-Veranstaltung, dem Lesedinner mit der Schriftstellerin Katerina Poladjan, zu besonderer Aktualität verhelfen würden. Poladjan (51) ist gebürtige Russin und siedelte 1977 in die Bundesrepublik über. Ihre Romane erhielten zahlreiche Preise – zuletzt den mit 15.000 Euro dotierten Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund – und wurden vielfach in andere Sprachen übersetzt. Ihr aktueller Roman „Zukunftsmusik“, den Moderator Klaus Brill als ihren Durchbruch bezeichnete, stand im Mittelpunkt des vergangenen Freitagabends in Ellershausen nahe Frankenberg/Eder.

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Poladjan ist für die Institution des Literarischen Frühlings keine Unbekannte. Sie trat schön des Öfteren dort auf als Schreib-Dozentin, Vorleserin von Klassikern oder als Interpretin ihrer eigenen Werke. Ungewöhnlich der Standort, der die Karriere vom Kuhstall zum Kulturstall machte: „Zukunftsmusik“ stellte sie vor im „Metzen Alter Kuhstall“, der zwar überwiegend Landmaschinen beherbergt, aber auch so gebaut und umgestaltet wurde, daß er innerhalb kürzester Zeit für eine gehobene Dinner-Veranstaltung umfunktioniert werden kann.

„Metzen Alter Kuhstall“ in Ellershausen

Das Dinner selbst bestand dem Thema des Abends entsprechend aus einem Vier-Gänge-Menü osteuropäischer Spezialitäten wie Sibirische Teigtaschen und dem klassischen Borschtsch, einer Suppe aus Roter Bete. Die Organisation übernahm das Romantik Hotel Landhaus Bärenmühle.

„Zukunftsmusik“ ist ein Roman, der mit eine Antwort zu geben versucht, wie Russland wurde, was es heute ist. An diesem Abend trafen sich die Vergangenheit mit der Gegenwart, um einen Ausblick in die Zukunft zu versuchen. Die Handlung des Romans beginnt am 11. März 1985, einem historischen und schicksalsträchtigen Datum in der Sowjetunion. Der greise Generalsekretär Tschernenko war nach nur wenigen Monaten an der Macht am Vortag verstorben. Ihm folgte bereits einen Tag später Michail Gorbatschow ins Amt, der Mann, der sich an Reform und Rettung der Sowjetunion versuchte und in dieser – letztlich kläglich gescheiterten – Mission die Wiedervereinigung Deutschland ermöglichte.

Erster Gang: Pelmeni Sibirskie, Sibirische Teigtaschen gefüllt mit Rindfleisch und mit buntem Salat.

Der Schauplatz des Romans ist eine Kommunalka im tiefsten Sibirien. Die Kommunalka war in der Sowjetunion eine Wohnform, die der chronischen Wohnungsnot entgegenwirken sollte. Oftmals ehemalige Häuser des Adels und des Großbürgertums wurden von sechs bis sieben Mietparteien aus 40 – 50 Menschen bewohnt, Küche und Bad gemeinsam genutzt. Der zur Verfügung stehende Platz wurde so optimiert, daß man durch größere Zimmer einfach neue Wände zog. In der Regel stand jeder Mietpartei nur ein Zimmer zur Verfügung – die Kommunalka als ein Sinnbild für die Sowjetunion mit ihren vielen Nationalitäten.

Zweiter Gang: Borschtsch, Rote-Bete-Suppe

So auch der Familie von Janka, vier Frauen aus vier Generationen. Janka, mit Anfang 20 im besten Jugendalter, gehört dennoch einer verlorenen und vergessenen Generation an. Die weitgehende Abwesenheit der Männer in dem Plot ist dem Umstand geschuldet, daß diese in jener Epoche oft ein kurzes Leben führten. Der grassierende Wodka-Alkoholismus, der Tod an der Front im Zweiten Weltkrieg oder in Afghanistan ließ ihre Lebenserwartung drastisch sinken. Oder sie saßen einfach im Gefängnis oder Straflager.

Dritter Gang: Kotlety po-Kyjiwski, Hühnchen-Kotelett ohne Knochen, mit Butter gefüllt, Gemüse und Buchweizen-Blini

Ein solches Milieu eröffnet eine besondere Psychodynamik, die durch den ganzen Roman trägt. Die Kommunalka kennt keine Privatsphäre und bringt komplexe Beziehungsgeflechte hervor. Trotz der „heiteren Melancholie“ des Romans, ist es ein ideologisch geprägtes System, in dem sich Kollektiv und Individuum konträr gegenüberstehen.

Poladjan knüpft in ihrer Geschichte an verschiedene Stränge der russischen Literaturtradition an, so zum Beispiel an „Oblomow“, den Roman Iwan Gontscharow über einen in seiner Lethargie gefangenen Adligen. Auch in „Zukunftsmusik“ sind die Protagonisten in der Spätphase der Sowjetunion gleichermaßen in einer ausweglosen Trägheit gefangen: „Sehen Sie, man kann nichts tun.

Wo „Zukunftsmusik“ die Frage nach der Freiheit im damaligen Sowjet-Russland stellt, so ist die Antwort nach Poladjan, daß man in Freiheit sozialisiert werden muß, um Freiheit leben zu können. Unter den Bedingungen der Kommunalka ist das kaum möglich. Und wer in einem „System der Lüge“ lebt, fängt schließlich an, sich selbst zu mißtrauen.

Katerina Poladjan

Auf die Frage nach ihrer Identität bekennt Poladjan offen, daß ihr jeder Sinn für eine nationale Identität fehle, etwas was ihr in ihrem Elternhaus auch nicht vermittelt wurde. Sprache sei für sie „nicht Heimat, sondern das, was gesagt wird“. Zuletzt sei sie durch „Hier sind Löwen“, einem Roman über den türkischen Genozid an den Armeniern, als armenisch stämmige Immigratin eingeordnet worden. Sie jedoch sei eine deutsche Schriftstellerin, die in Russland geboren wurde.

Doch als was immer Katerina Poladjan ihre Identität sieht, die deutschsprachige Literatur kann sich glücklich schätzen, eine derart talentierte Schriftstellerin vorweisen zu können.

Katerina Poladjan
Zukunftsmusik
2022; 192 Seiten, 22,- Euro

Putins Werk und Amerikas Beitrag

Der Krieg ist nicht nur der „Vater aller Dinge“ (Heraklit), sein Ausbruch selbst hat zumeist viele Väter. Mit anderen Worten, die Ursachen eines gewaltsamen Konfliktes zwischen Staaten und Nationen lassen sich in den seltensten Fällen monokausal erklären. Die Wurzeln seiner Genese lassen sich oft weit in die Vergangenheit zurückverfolgen, teilweise mit komplexen Verästelungen, in denen sich Ursache und Wirkung nur noch schwer voneinander unterscheiden lassen. Das gilt auch für den gegenwärtigen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Zwar ist Russland aufgrund seines im Februar erfolgten Angriffs nach wiederholter Lüge, es würde an seiner Grenze zur Ukraine lediglich Manöver abhalten, unzweifelhaft in der Rolle des Aggressors. Doch auch dieser Konflikt hat eine Vorgeschichte, die viel mit dem Verhalten des Westens gegenüber Russland tun hat.

Der amerikanische Journalist Tim Weiner ist in der Geheimdienst-Szene bestens vernetzt. International bekannt wurde er als Verfasser einer umfassenden Monographie über die Geschichte des US-Geheimdienstes CIA („CIA: Die ganze Geschichte“; 2007). In seinem letzten, 2021 auf Deutsch erschienenen Werk, – also noch vor Ausbruch des Ukraine-Krieges – beleuchtet er das 75jährige Ringen der USA und der Sowjetunion bzw. Russlands um die Weltherrschaft: „Macht und Wahn. Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945“.

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Weiner beginnt seine Darstellung mit dem berühmten „Langen Telegramm“ des amerikanischen Diplomaten George F. Kennan (1904 – 2005) von 1946, in dem er seiner Regierung im aufziehenden Kalten Krieg eine neue Strategie zur Eindämmung des Sowjetkommunismus unterbreitete. Dies war die Geburtsstunde des politischen Kampfes zwischen den beiden Weltmächten, der mit nichtmilitärischen Mitteln ausgetragen wurde. Seine Instrumente waren verdeckte Operationen, Fake News und Propaganda. Die Schauplätze waren die Länder der Dritten Welt und die osteuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion; ihre Akteure vor allem die Geheimdienste CIA und KGB.

Dabei war Amerika in der Wahl seiner Methoden keineswegs zimperlich. Wo es die US-Administration als notwendig für ihre Interessen erachtete, wurden wie im Iran oder Kongo mißliebige Regierungschefs weggeputscht oder gar liquidiert und die schlimmsten Potentaten hofiert: „Menschenrechte [spielten] in der amerikanischen Außenpolitik nur selten eine Rolle.“

Zu den größten amerikanischen Erfolgen im Informationskrieg im Kalten Krieg dürfte die Herbeischaffung und globale Verbreitung der Geheimrede von Chruschtschow vom 1956 sein, in der er mit seinem Vorgänger Stalin abrechnete.

Die sowjetische Seite wiederum konnte sich mit der Erfindung der Verschwörungstheorie „revanchieren“, wonach AIDS eine in amerikanischen Militärlabors gezüchtete Krankheit sei. Diese Mär hat über den Kalten Krieg hinaus bis heute in Millionen Köpfen überlebt.

Von besonderem Interesse ist die zweite Hälfte des Buches, in welchem Weiner die weitere Entwicklung nach dem Triumph der USA im Kalten Krieg beschreibt, und hier vor allem der Weg, den die USA mit der NATO-Osterweiterung eingeschlagen haben.

In den vergangenen Wochen und Monaten wurde in den deutschen Medien vielfach verbreitet, es sei ein Mythos gewesen, „dass sich die Nato mit der Osterweiterung schuldig gemacht habe, weil diese gegen Versprechen von Anfang der 90er verstoßen habe. (…) Dieses Narrativ sollte sich erledigt haben. (…) Die Regierung Jelzin aber akzeptierte das Selbstbestimmungsrecht der Warschauer-Pakt-Staaten und ehemaliger Sowjetrepubliken: Im Budapester Memorandum bestätigte Russland deren Souveränität – für den Verzicht auf Nuklearwaffen.“ (pars pro toto Mark-Christian von Busse in der HNA vom 15. März 2022). Jedoch, ganz so einfach stellt sich die Historie der NATO-Osterweiterung nicht dar.

Bereits US-Außenminister George Baker gab 1990 dem sowjetischen Staatschef Gorbatschow die „kategorische Zusicherung“: „Nicht einen Zoll weiter nach Osten.“ Vor einer Abkehr dieser Linie warnten auch hochrangige Militärs und Diplomaten, wonach „die Russen die Erweiterung der NATO als existenzielle Bedrohung betrachten würden“.

Gorbatschows Nachfolger Jelzin, den Weiner in entscheidenden Momenten als alkoholisiert beschreibt, ließ sich auf das „doppelzüngige Spiel“ des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton ein, der einerseits Jelzin unterstützte, andererseits das Projekt der NATO-Osterweiterung betrieb. Die Clinton-Administration hatte selbst nach Einschätzung ihrer eigenen Diplomaten die Russen in dieser Frage eindeutig hintergangen. Vize-Außenminister Strobe Talbott bekannte intern: „Die NATO-Erweiterung wird, wenn sie stattfindet, per definitionem Bestrafung oder ‚Neo-Containment‘ des bösen Bären sein“.

Talbott machte unumwunden deutlich, daß es zwischen den USA und Russland nicht um eine Begegnung auf Augenhöhe gehen könnte. Amerika wollte der Sieger des Kalten Kriegs sein. Es wollte seine Macht und seinen Einfluß weltweit ausdehnen und wiederholte damit den Fehler, der nach dem Ersten Weltkrieg begangen wurde, als man es sträflich unterließ, den früheren Feind in eine seine Interessen berücksichtigende Friedensordnung einzubinden.

Das mit dem Budapester Memorandum verbundene Beitrittsangebot der NATO an Polen, Ungarn und die Tschechische Republik fasst Weiner in seiner Wirkung auf die russische Seite drastisch zusammen: „Dies verstärkte Russlands Gefühl, dass die Amerikaner den Bären nicht nur in einen Käfig sperren, sondern ihm auch noch die Augen ausstechen wollten.“

Das „große Spiel“ erfuhr 2000 eine bedeutende Wende, als Wladimir Putin von Jelzin das Amt des Russischen Staatspräsidenten erbte. Der frühere KGB-Agent Putin – „ein Tschekist bis ins Mark“ – , getrieben von seiner traumatischen, hautnahen Erfahrung des Untergangs der Sowjetunion, hatte zwei Ziele: Rache an Amerika und die Wiederherstellung der alten Größe Russlands. Umgehend wurde der Staatsapparat mit Geheimdienstagenten durchsetzt und so aus den Trümmern der Sowjetunion ein neuer Geheimdienststaat geschaffen, der den früheren politischen Krieg wiederaufnahm.

Der Informationskrieg wurde zu Putins stärkster Waffe, seine Instrumente Cyberangriffe, Medienmanipulation und psychologische Operationen, „die effizienteste politische Kriegsführung des 21. Jahrhunderts“. Die Cyberattacken auf Estland 2007 und der Hack in die IT-Wahlmaschinerie der Ukraine waren erste Kostproben der neosowjetischen Strategie Putins.

Besonderes Aufsehen erregte 2014 die Veröffentlichung eines von russischen Geheimagenten mitgeschnittenen Telefonats zwischen der hochrangigen US-Diplomatin Victoria Nuland und dem amerikanischen Botschafter in der Ukraine, das die tiefe amerikanischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes dokumentierte. Berühmt wurde dieses Telefonat wegen des darin enthaltenen Kraftausdrucks von Nuland, man könne „auf die EU scheißen“.

Doch das waren nur Gesellenstücke auf dem Weg zum großen Ziel: Die heimliche Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahl von 2016, dem großen Zweikampf der Kandidaten Hillary Clinton und Donald Trump.

Weiner legt ausführlich dar, wie Russland mithilfe seiner in Sankt Petersburg ansässigen Troll-Fabrik in den Wahlkampf eingriff, zugunsten des Kreml-Wunschkandidaten Trump. Kompromittierendes Material gegen Clinton wurde von den Servern der Demokratischen Partei gestohlen und WikiLeaks zugespielt, das Internet mit Fake News geflutet und aufgeheizt, während das amerikanische Programm von Russia Today eine massive Kampagne fuhr, um durch die Unterstützung einer linken Außenseiter-Kandidatin Clinton entscheidende Stimmen zu entziehen und die Wählerschaft der Demokraten zu spalten. Der Angriff traf die USA vollkommen unvorbereitet. Ebenso gab es zahlreiche vom FBI dokumentierte Kontakte der Teams von Trump und Putin.

Das Ende der Geschichte ist bekannt: Mit Trump wurde ein Kandidat zum Präsidenten gewählt, der den Interessen des Kremls am dienlichsten war, der die NATO für „obsolet“ hielt, das außenpolitische Engagement der USA zurückfahren wollte und darüber hinaus Putin mit viel Lob bedachte.

Weiner läßt offen, ob er den heimlichen Angriff des Kremls als den entscheidenden Ausschlag für Trumps Wahl ansieht. Ebenso legt er sich nicht explizit fest, ob er Trump für einen russischen Einflußagenten hält.
Dennoch, Trump belastendes Material gibt es zuhauf. Doch sollte nicht außer Acht gelassen werden, daß Putins Trolle die politisch aufgeheizte Stimmung und die ihr zugrunde liegende jahrzehntelange Entwicklung gesellschaftlicher Spaltungen lediglich für ihre Zwecke instrumentalisieren, aber keineswegs lenken oder gar herbeiführen konnten. Es bleiben auch Zweifel an Trumps Nutzen für Russland, denn immerhin hat er sich gegen eines der wichtigsten Kreml-Projekte, die Erdgasverbindung Nord Stream 2, ausgesprochen. Dennoch, auch ohne den letzten Beweis muß unter der Last der Fakten Trumps Wahlsieg mindestens als kompromittiert angesehen werden.

Wäre Weiners Buch ein Politthriller, er wäre höchst unterhaltsam. Aber tatsächlich ist es ein beklemmendes Dokument, das auf eine für die westlichen Demokratien trübe Zukunft einstimmt, eine Zeit, in der es den Wählern immer schwerer fallen wird, die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden und dabei jede Sicherheit zu verlieren gehen droht, in ihren politischen Entscheidungen nicht Opfer einer perfiden Manipulation zu sein. Und die schlimmste Vorstellung daran: Die Marionettenspieler müssen noch nicht einmal im feindlichen Ausland sitzen – sie könnten auch aus dem eigenen Land kommen.

Tim Weiner
Macht und Wahn
Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945
2021; 352 Seiten; 26,- Euro

„Die Partei hat immer recht“

Angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wird auch das Welt- und Geschichtsbild Vladimir Putins näher in Augenschein genommen. Nach Ansicht des Osteuropahistorikers Alexander Brakel nimmt darin der sowjetische Diktator Josef Stalin (1878 – 1953) eine zentrale Rolle ein, als derjenige der die Sowjetunion zum Triumph über Nazi-Deutschland führte und sie in ihrer nationalen Stärke zur Supermacht formte (Die WELT vom 16.3.2022). Wie wenig Platz darin hingegen die Massenverbrechen Stalins einnehmen, machte das Verbot der Nichtregierungsorganisation Memorial, die sich der Aufarbeitung des Stalinismus widmete, vom vergangenen Dezember deutlich.

Die eiserne und grausame Hand Stalins umfasste nicht alleine die Sowjetunion, sondern auch ihre osteuropäischen Satellitenstaaten. Das Programm aus Gleichschaltung, Folter, Schauprozessen und Hinrichtungen bestimmte auch hier die politische Agenda. Eine Episode daraus bildet der Prager Slánský-Prozess von 1952 gegen eine angebliche Verschwörergruppe innerhalb der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Mit dem Meisterwerk „Das Geständnis“ (1970) setzte der griechische Regisseur Costa-Gavras diesem Prozess ein filmisches Denkmal.

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Mit Yves Montand (1921 – 1991) und seiner Gattin Simone Signoret (1921 – 1985) wurden die Hauptrollen mit zwei Ikonen aus der Hochzeit des französischen Kinos besetzt. Ihre Mitwirkung daran ist auch insofern bemerkenswert, da sich ihre beiden Vitae durch eine zunehmende Abwendung vom sie seit ihrer Jugend prägenden Kommunismus auszeichnet, die spätestens mit dem Prager Frühling 1968 zum endgültigen Bruch führte. Montands Weg führte noch weiter zu der antikommunistischen Rechten, auf deren Seite er gar den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan unterstützte.

Montand spielt Artur Ludvik, ein Veteran des Spanischen Bürgerkriegs und des französischen Widerstands gegen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg. In der Nachkriegszeit stieg er in der Tschechoslowakei zum stellvertretenden Außenminister auf. Durch „Kontaktschuld“ mit der Spionage verdächtigen Personen gerät er mit weiteren Veteranen in das Visier der Ermittlungen der Geheimpolizei, in deren Hintergrund sowjetische Berater auf Geheiß Stalins die Fäden ziehen. Der Festnahme folgen kafkaeske Verhöre, entwürdigende Haftbedingungen in totaler Abschirmung von der Außenwelt, Scheinhinrichtung inklusive. Auch wenn Ludvik monatelang dem zermürbenden Druck der Gehirnwäsche standhalten kann, bricht er am Ende zusammen und unterschreibt das ihm untergeschobene Geständnis. In seiner ausgezehrten, verwahrlosten Gestalt bietet Montand neben „Lohn der Angst“ hier eine seiner besten Vorstellungen.

Zur Strategie der Ermittler gehört auch der perfide Versuch, die Beziehung von Ludvik zu seiner Ehefrau Lise (Simone Signoret), denen jeder Kontakt verboten wird, zu zerbrechen. Einerseits von der Unschuld ihres Mannes überzeugt, hält sie dennoch treu zur Kommunistischen Partei in Erwartung, daß sich alles klären werde: „Die Partei hat immer recht“.

Der Schauprozeß vor dem Staatsgerichtshof gegen Ludvik und 13 weitere Angeklagte erhält durch die jüdische Herkunft von elf von ihnen eine starke antisemitische Tendenz, da Juden als „wurzellose Kosmopoliten“ als unzuverlässige Elemente gelten. Gegen elf Angeklagte wird die Todesstrafe verhängt und vollstreckt, ihre Asche zerstreut. Drei Angeklagte wiederum – darunter auch Ludvik – erhalten lebenslange Haftstrafen.

„Das Geständnis“ beruht auf dem Tatsachenbericht von Artur London, dem Vorbild von Artur Ludvik. London wurde 1956, dem Jahr in welchem der Stalin-Nachfolger Chruschtschow mit dem Stalinismus brach, freigelassen. Er emigrierte 1963 nach Frankreich, wo er 1968 sein Buch „Ich gestehe“ veröffentlichte. Das Buch und der Film konnten trotz des hohen Kritikerlobs die Linke nur zeitweise irritieren. Selbst Zweifel an seiner Authentizität wurde aus diesen Kreisen heraus geäußert. Man fühlt sich an das bereits 1946 auf Französisch veröffentlichte, 400.000fach verkaufte Buch „Sonnenfinsternis“ von Arthur Koestler erinnert, das die KPF zu hektischen Gegenmaßnahmen veranlaßte. Das alles ist nicht weiter verwunderlich, denn die Linke hat sich äußerst selten durch unangenehme Fakten in ihren utopischen Träumen einer Alternative zum Kapitalismus verwirren lassen. Da muß ein Film wie „Das Geständnis“ auf nicht wenige von ihnen wie eine extreme Zumutung wirken.

Das Geständnis
Mit Yves Montand, Simone Signoret
1970, Laufzeit: 2:19

Das einzige Wild, das zu jagen sich lohnt

Der im vergangenen Jahr im Alter von 88 Jahren verstorbene, französische Schauspieler Jean-Paul Belmondo zählte bereits zu den Superstars der Filmindustrie seines Landes und auch darüber hinaus, als er sich in den 1970er Jahren zu einem harten Imagewechsel entschied. Stand er bislang als Charakterdarsteller anspruchsvoller Filme vor der Kamera, wie in Goddards Meisterwerk „Außer Atem“ (1960), orientierte er sich um zum kommerziell ausgerichteten Actionfilm. Den Kritikern mißfiel der Schwenk, was Belmondos Karriere jedoch keinen Abbruch tat. Einer seiner besten Filme aus dieser Zeit ist „Der Greifer“ von 1976.

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Belmondo spielt darin Roger Pilard, einen früheren Großwildjäger. Doch statt im Löwen und Tiger stellt er im verdeckten Auftrag der französischen Justiz dem Organisierten Verbrechen nach. Seine Dienste werden gut honoriert, doch ist Geld nicht seine eigentliche Motivation: „Das einzige interessante Raubtier, das zu jagen sich lohnt, ist der Mensch. Er ist bösartig, unberechenbar und feige.“

Ein besonderes Wild, auf das diese Beschreibung zutrifft, ist ein nur „die Bestie“ genannter Verbrecher, der junge Herumtreiber aufliest und für seine Raubüberfälle zu Komplizen macht. Zeugen, die ihn wiedererkennen könnten, räumt er erbarmungslos aus dem Weg, auch seine naiven Mittäter. Pilards einzige Verbindung zur „Bestie“ ist Costa Valdez, dem einzigen Komplizen, der der Bestie entkommen konnte. Schweigend gegenüber der Polizei sitzt er in einem Hochsicherheitsgefängnis. Pilard muß ihn zum Reden bringen…

Belmondo brilliert als „der Greifer“ in seiner populärsten Paraderolle als sportlicher, harter Knochen, immer mit einem lockeren Spruch auf den Lippen. „Unnötige Härten“ bescheinigte ihm das Lexikon des Internationalen Films, was in der Rückschau selbst für die damalige Zeit reichlich übertrieben erscheint. Heute jedoch ist die Gewaltdarstellung im Film zu einer eigenen Kunstform erhoben.

Mit der von Bruno Cremer verkörperten „Bestie“ steht ihm ein Gegner gegenüber, der keinerlei Skrupel kennt. In seiner Performance bleibt Cremer auf Augenhöhe mit Belmondo, ohne ihn in den Schatten zu stellen. Nur in den 1970er Jahren war es wohl noch möglich, dieser Figur, die zur Bedienung aller Klischees auch noch ein Flugzeug-Steward ist, einen schwulen Touch zu geben.
Das Frankreich, in dem „Der Greifer“ spielt, könnte kaum kaputter sein: Ein auf allen Ebenen korruptes Land in Trostlosigkeit, deren Ausdruck noch verstärkt wird durch das Setting in der Herbstzeit, der baumlosen Weiten und der kalten Beton-Architektur, die die letzten heruntergekommenen Relikte der glorreichen Vergangenheit einzwängt.

Fast 50 Jahre später ist Belmondos „Greifer“ wie eine cineastische Zeitreise, als Frankreichs Kino noch stilgebend und bedeutsam war. Aber auch in einem Jahrzehnt, das vor ästhetischen Geschmacklosigkeiten wie Schlaghosen und häßlichen Krawattenmustern nur so strotzte. Aber vor allem als ein Denkmal für einen begnadeten Schauspieler, der nicht nur zu den besten von Frankreich, sondern ganz Europas zählt.

Der Greifer
Mit Jean-Paul Belmondo, Bruno Cremer
1976, Laufzeit 1:36

Dänemarks Eiserne Lady

Es ist heute kaum vorstellbar, daß ausgerechnet das kleine Dänemark im Spätmittelalter das Kernland eines ganz Skandinavien umfassenden Reiches war, das zu den bedeutendsten europäischen Regionalmächten seiner Zeit gehörte. Zu verdanken ist diese Leistung einer wahrhaft außergewöhnlichen Herrschergestalt. Hinter der Schaffung dieser Kalmarer Union genannten Verbindung stand kein Kriegsherr, sondern eine der bemerkenswertesten Herrscherinnen des Mittelalters, die dänische Königin Margarete I. (1353 – 1412).

 

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Als jüngste Tochter des berüchtigten Dänenkönigs Waldemar IV. „Atterdag“ gelang es ihr nach dem Tod des Vaters 1375, ihren gerade mal sechs Jahre alten Sohn Olaf auf den Thron zu setzen, womit ihr die Rolle der Regentin zufiel. Nach dem Tod ihres Gemahls König Hakoon VI. vier Jahre später übernahm sie zusätzlich die Herrschaft über dessen Königreich Norwegen.

Nach langen Verhandlungen mit dem schwedischen Adel gelang es Margarete, auch Schweden auf ihre Seite zu ziehen. Nachdem ihr Sohn Olaf im Alter von 17 Jahren verstarb, übernahm die Rolle des Thronfolgers ihr an Sohnes statt adoptierter Großneffe Erik. Seine Krönung 1397 zum schwedischen König war der Beginn der Kalmarer Union, einem nordeuropäischen Imperium, das immerhin bis 1523 von Grönland über Island herunter bis kurz vor Hamburg und weiter bis zur Ostsee reichte.

Aus dänischer Produktion ist dieser Tage der Film „Die Königin des Nordens“ (2021) erschienen, der die Herrschaft Margaretes in den Mittelpunkt stellt. Er setzt an bei einem heiklen diplomatischen Unterfangen, einem Heiratsbündnis mit England, zu besiegeln mit der Ehe zwischen Erik und der kindlichen Prinzessin Philippa. Mitten in die Verhandlungen platzt ein Fremder in zerlumpter Gestalt. Seine kühne Behauptung: Er sei Olaf, der totgeglaubte Sohn Margaretes.

Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Eine öffentliche Untersuchung versucht dem Anspruch des Fremden auf den Grund zu gehen. Von ihrem Ergebnis, wer „der einzig wahre König“ ist, hängt die Zukunft der Kalmarer Union und damit das Lebenswerk Margaretes ab.

Ein vielfaches Intrigenspiel beginnt. Hat der um die Herrschaft im Ostseeraum rivalisierende Deutsche Orden aus Preußen seine Finger mit im Spiel? Oder sind hier Adelige am Werk, die im Sinne ihrer selbstsüchtigen Interessen ihr eigenes Süppchen kochen? Das zersetzende Gift der Intrige beginnt zu wirken und droht, die fragile Union zu sprengen. Oder ist der Fremde tatsächlich Olaf? Margarete will nicht handeln wie eine Tyrannin: „Wir hängen niemanden, ohne zu wissen, wer er ist.“

Die preisgekrönte Schauspielerin Trine Dyrholm in der Hauptrolle der Margarete ist eine exzellente Besetzung, die perfekt eine Königin verkörpert, die hin- und hergerissen ist zwischen Staatsräson und Mutterliebe. Die Dramaturgie dieses düsteren Historiendramas um das zuweilen perfide Spiel der Macht wird verstärkt durch seine Einbettung in einer durchgehend im Low-Key aufgenommenen Atmosphäre, als ob im mittelalterlichen Nordreich Margaretes nie die Sonne scheint.

„Die Königin des Nordens“ ist einer der besten und sehenswertesten europäischen Produktionen der letzten Jahre, die sich kein Filmliebhaber entgehen lassen sollte. Das kleine Dänemark zeigt damit auf höchstem Niveau, wie Europa mit Hollywood mithalten kann.

Die Königin des Nordens
Mit Trine Dyrholm
2021; ca. 116 Minuten

Der Theranos-Skandal – oder wie man Schrott als den Heiligen Gral verkauft

„Wohin man bei dieser jungen Frau auch schaut, man sieht nichts als Reinheit. Ich glaube, sie versucht wirklich, die Welt besser zu machen, und das will sie damit erreichen.“
George Shultz (1920-2021), früherer US-Außenminister, über die Theranos-Gründerin Elisabeth Holmes

Es war einer der größten Betrugsskandale in der Startup-Szene des Sillicon Valley: Der spektakuläre Zusammenbruch des Biotech-Unternehmens Theranos, an dessen Spitze die zur Ikone aufgestiegene Elisabeth Holmes stand. Anfang dieses Jahres erfolgte in dem Verfahren vor einem kalifornischen Gericht der vorläufige Schlußpunkt in dem Prozeß gegen Holmes. Eine Jury sprach sie in vier der elf Anklagepunkte für schuldig. Die Verkündung des Strafmaßes wird für September erwartet. Ihr droht eine Gefängnisstrafe von mindestens 20 Jahren.

Wie konnte es soweit kommen? Das Verdienst um die Aufdeckung des gewaltigen Betrugs durch Theranos gebührt dem Wall-Street-Journalisten John Carreyrou, der mit seiner Aufdeckungsstory ein leuchtendes Beispiel dafür gab, was investigativer Journalismus zu leisten vermag. Sein Bericht „Bad Blood – Die wahre Geschichte des größten Betrugs im SILLICON VALLEY“ erzählt die ganze Historie von Theranos.

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Am Anfang steht eine junge Frau: Elisabeth Holmes, geboren 1984, entschließt sich mit gerade einmal 19 Jahren nach zwei Semestern ihr Chemieingenieur-Studium an der Stanford University abzubrechen, um mit der Gründung von Theranos eine Vision zu verwirklichen, die das Potential hat, die gesamte Analytik der medizinischen Labordiagnostik zu revolutionieren. Ihr Ziel ist die Entwicklung eines Gerätes, das mit wenigen Tropfen Blut aus einem Fingerstich in weniger als einer halben Stunde eine Vielzahl auch komplexer Parameter präzise und kostengünstig messen kann. Eine für viele Menschen unangenehme venöse Blutabnahme würde so überflüssig. Die Zielgröße dieses Analysators wurde so bemessen, daß ihn jeder zuhause hinstellen könnte. Die so ermittelten Werte könnten durch ein Netzwerk zum behandelnden Arzt weitergeleitet werden, der so beispielsweise die Dosierung von Medikamenten überwachen könnte. Grundlage dieser innovativen Idee war die Mikrofluidik, mit der sich bislang makroskopische Prozesse auf ein kleines Chip-Kartenformat reduzieren lassen. Was Holmes in Aussicht stellte, war nichts anderes als der Heilige Gral der medizinischen Analytik.

Das Problem jedoch bestand darin, daß die Technologie bei weitem nicht die Reife erreicht hat, eine derart anspruchsvolle Vision wie die von Holmes zu erfüllen. Dennoch setzte sie unbeirrt ihren Weg fort. Ihr großes Vorbild war die Hitech-Ikone Steve Jobs, der Apple zum Vorreiter der PC-Industrie machte. Deutlich dokumentierte sie dies durch optische Imitation, indem sie mit Vorliebe wie Jobs einen schwarzen Rollkragenpullover trug.

Carreyrous Recherchen ergaben bei Holmes das Profil einer Frau, die als smart beschrieben wurde, mit der Fähigkeit andere zu inspirieren und zu motivieren. Darüber hinaus ist sie eine brillante Verkäuferin. Doch auf der anderen Seite zeigten sich in ihrem Verhalten bedenkliche soziopathische Züge. Sie verlangte von ihren Mitarbeitern absolute Loyalität und zeigte einen Hang zu Paranoia innerhalb und außerhalb von Theranos. Als nicht weniger bedenklich erwies sich ihre Entscheidung, ihren wesentlich älteren und charakterlich problematischen Lebenspartner Sunny Balwani zum Geschäftsführer von Theranos zu machen. Entsprechend hoch war die personelle Fluktuation im Unternehmen. Abgänge wurden durch Schweigepflichtserklärungen geknebelt. Einem frustrierten Mitarbeiter kam es vor, „als würde Theranos seine Mitarbeiter allmählich ihrer Mitmenschlichkeit berauben“.

Obwohl Theranos weit davon entfernt war, einen arbeitsfähigen Prototyp vorzustellen, gelang es Holmes, in mehreren Runden Kapitalgeber zu finden, die bis zu dreistellige Millionenbeträge investierten, obgleich es auf deren Seite intern nicht an warnenden Stimmen mangelte, die aber fahrlässig beiseitegeschoben wurden. Holmes achtete darauf, nur solche Investoren heranzuziehen, die von der Materie keine Ahnung hatten. Zu ihnen zählten sogar namhafte Persönlichkeiten wie die früheren US-Außenminister Henry Kissinger und George Shultz. Gleichzeitig erweiterte sie ihr Netzwerk bis in die höchsten Stellen der Politik, was sie fast unantastbar machte. Holmes Träume schienen sich zumindest teilweise zu erfüllen: Sie erreichte nun eine Prominenz, die sie endlich auf eine Stufe mit ihrem Vorbild Jobs hob, während der Marktwert von Theranos auf sagenhafte neun Milliarden Dollar geschätzt wurde.

Gleichzeitig trat die technische Entwicklung jedoch auf der Stelle. Die Konstrukteure konnten die Erwartungen immer noch nicht erfüllen, so daß die bis dahin vorgenommenen Bestimmungen aus herkömmlichen Analysatoren ermittelt wurden. Kontrollbehörden führte man bei ihren Begehungen gezielt hinters Licht.

Die Stufe zum vorsätzlichen Betrug überschritt Theranos, als 2013 mangels eines funktionierenden Modells zur Erfüllung einer Partnerschaft mit der Supermarktkette Walgreen mit dem „Edison“ ein Gerät der älteren Generation in deren Filialen aufgestellt wurde. Der Edison arbeitete weder in der notwendigen Qualität noch verfügte er über eine behördliche Genehmigung. Die Werte, die er herausgab, waren schlicht wertlos und konnten im schlimmsten Fall die Gesundheit der Verbraucher gefährden, die sich auf ihn verließen.

Nur zwei Jahre später fiel das Kartenhaus, aus dem Theranos errichtet war, in sich zusammen. Durch Hinweise früherer Mitarbeiter aufmerksam gemacht, mündeten die langwierigen und aufwendigen Recherchen von Carreyrou in einen Artikel, der den Stein ins Rollen brachte, mit bekanntem Ende, das auch die renommiertesten und gewieftesten Anwälte, die Holmes ins Feld warf, nicht aufzuhalten vermochten.

Holmes bekannte einmal gegenüber ihren Mitarbeitern, sie wolle mit Theranos eine „neue Religion“ gründen. Wenn man als Beschäftigter mit einer solchen Firmenkultur konfrontiert wird, sollte man schnellstens die Flucht ergreifen. Eine weitere Lehre aus dem Betrugsskandal sollte die erhöhte Wachsamkeit von Risikokapitalgebern sein, vorsichtig zu sein, ob sie sich bei unbekanntem Terrain nicht auf zu dünnes Eis begeben. Holmes wird vermutlich nicht die letzte Blenderin sein, auf die auch die cleversten Manager hereinfallen werden.

Doch je näher man beim Lesen von Carreyrous Bericht dem Ende kommt, umso mehr wächst das Unbehagen über eine Wiederholung, bildet sich unwillkürlich vor dem geistigen Auge die Gestalt eines gewissen, in der Corona-Epidemie steil erfolgreichen Biotech-Unternehmers, nicht weniger viel versprechend wie es Holmes tat, nicht weniger gehypt durch die Medien und nicht weniger politisch gut vernetzt. Wir können nur hoffen, in solchen Analogien gänzlich falsch zu liegen.

UPDATE 19.11.2022:

Die einstige US-Vorzeigeunternehmerin Elizabeth Holmes ist wegen Betrugs zu einer Haftstrafe von mehr als elf Jahren verurteilt worden. Der zuständige Richter Edward Davila gab das Strafmaß von 135 Monaten am Freitag in San Jose bekannt. Holmes wollte mit ihrer Bluttest-Firma Theranos die Pharma- und Gesundheitsbranche revolutionieren – doch das Versprechen entpuppte sich als Bluff. Im Januar hatte eine Geschworenenjury die 38-Jährige schuldig gesprochen, Investoren gezielt getäuscht zu haben.

Theranos-Gründerin: Frühere US-Bluttest-Unternehmerin Holmes zu elf Jahren Haft verurteilt – WELT

John Carreyou
Bad Blood
Die wahre Geschichte des größten Betrugs im SILLICON VALLEY
400 Seiten; 24,- EURO

Der Stoff, mit dem Amerika talabwärts fährt

Für die bedeutendste Industrienation der Welt mit dem Anspruch auf globale Geltung ihrer Werte war die Nachricht ein beschämendes Debakel: Wie das Ärzteblatt in einer Meldung vom 30. Oktober 2019 berichtete, sank in den USA erstmals seit 1993 die Lebenserwartung. Ursache dieses Rückgangs ist die steigende Zahl von Opioid-Toten, Folge der seit rund 25 Jahren grassierenden Opioid-Krise, der allein 2018 rund 32.000 Menschen infolge von Überdosen, wie beispielsweise mit Fentanyl, zum Opfer fielen.

Der Medienkonzern Disney ist allgemein bekannt für sein seichtes Unterhaltungsprogramm. Doch zu den Perlen ernsthafterer Angebote zählt aktuell auf seinem Streaming-Kanal die Dramaserie „Dopesick“, die die Opioid-Krise einem breiten Publikum vermittelt. Hauptprotagonist ist der Hollywood-Schauspieler und Oscarpreisträger Michael Keaton („Batman“, „Birdman“) in der Rolle des Arztes Dr. Samuel Finnix, der seinen Patienten im Vertrauen auf die nicht süchtig machende Wirkung das Schmerzmittels OxyContin verschreibt. Doch „Oxy“ hält nicht das, was der Pharmakonzern Perdue verspricht; es macht hochgradig süchtig. Oxy wird der Auslöser für eine neue Drogenepidemie, der tragischerweise auch Dr. Finnix zum Opfer fällt.

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Grundlage der Serie ist das Buch „Dopesick – Wie Ärzte und die Pharmaindustrie uns süchtig machen“ der preisgekrönten Journalistin und Autorin Beth Macy. Darin geht sie der Historie der Opioid-Krise nach und interviewte dazu zahlreiche Betroffene wie Ärzte, Polizeiermittler, Juristen, Süchtige und ihre Familienangehörigen.

Ausgangspunkt war 1996 die Markteinführung von OxyContin durch den Pharmakonzern Perdue. Etwa zeitgleich zog eine neue Kultur der Schmerzbetrachtung ein, wonach Schmerz als „fünftes Vitalzeichen“ eine höhere medizinische Aufmerksamkeit erhielt. Genau hierauf zielte Perdues Marketingstrategie ab, das Medikament bereits bei Alltagsschmerzen anzuwenden. Das Suchtpotential wurde bewußt heruntergespielt mit der unbelegten Behauptung, durch seinen retardierenden – also verzögernden – Wirkungsmechanismus würden lediglich weniger als ein Prozent der Patienten süchtig werden!

Die Ärzte, Krankenschwestern und Apotheker wurden von Perdues Vertretern mit teuren Werbegeschenken korrumpiert, wozu sogar kostenlose Trips nach Florida gehörten. Die aufsichtführende Behörde FDA (Food and Drug Administration) erwies sich als Totalausfall. Perdue hat in einem Paradebeispiel für die von orthodoxen Ökonomen gerne negierte angebotsorientierte Marktwirtschaft einen eigenen Absatzmarkt für ein höchst bedenkliches Produkt geschaffen.

Der Ausgangspunkt der Krise waren sozial deprivierte Regionen wie die isolierten Appalachen, der Rust Belt im Mittleren Westen und das ländliche Maine, wo die ökonomische Hoffnungslosigkeit der beste Wachstumsboden für ein Suchtmittel wie Oxy bietet. Da ohnehin von der Politik abgeschrieben und die Vernetzungsmöglichkeiten des Internets noch in den Kinderschuhen steckten, dauerte es, bis das Ausmaß der Folgen des Oxy-Konsums sichtbar wurden. Die Beschaffungskriminalität grassierte, Oxy wurde zur Einstiegsdroge für Heroin und Fentanyl und die Zahl der Todesopfer von Überdosen schwoll bedenklich an. Die Verhinderung des „Turkeys“ oder „Dopesick“, also des schmerzhaften Entzugs der Droge, wurde zur obersten Priorität im Leben der Junkies. Oxy wurde so zu einer Seuche, die vor allem das weiße Amerika in seinen besten Jahren traf. Und der Weg dahin führte über ein verschreibungspflichtiges Medikament.

Geebnet wurde dieser Weg von Ärzten, die einerseits bestochen, andererseits vertrauend auf die von der FDA abgesicherten Versprechungen auf die scheinbaren Segnungen des Oxys zu Dealern wurden, während die Sacklers als Eigentümer von Perdue zu einer der reichsten Familien der USA aufstieg – ganz legale Drogenbarone, die sich nebenher als Kunstmäzene einen Namen machten.

Es hat lange gedauert, bis das Bewußtsein für die Krise einen Schwellenwert erreicht an, an dem endlich ihr Ausmaß begriffen wurde. Zu verdanken ist dies vor allem der unermüdlichen Arbeit von Basisgruppen, die direkt am Ort des Geschehens operierten. Ihre Bewältigung wird zu einer Daueraufgabe werden, denn Opioidabhängigkeit ist eine mit vielen Rückfällen behaftete lebenslange Erkrankung. Die ökonomischen und sozialen Folgen der Abwehrmaßnahmen gegen die Covid-Pandemie haben die Opioid-Krise sogar verstärkt. Erst langsam setzt sich in den USA die Erkenntnis durch, daß der beste Weg aus der Abhängigkeit durch die medikamentöse Substitutionstherapie erfolgt und nicht durch Askese, die das Problem eher verschlimmert. Dabei ist der Therapiebedarf größer als das Angebot. Erschwerend kommt hinzu, daß es in den USA kein wie in Deutschland verpflichtendes und vergleichbares Krankenversicherungssystem gibt.

Aktueller Stand der juristischen Aufarbeitung der Opioid-Krise ist ein im vorigen Jahr abgeschlossener Vergleich zwischen 15 Bundesstaaten und Perdue Pharma über eine Summe von 4,5 Milliarden Dollar. Mit einer Vergleichssumme von sogar 26 Milliarden Dollar wurden weitere Profiteure der Krise zur Kasse gebeten, drei Großhändler für Medikamente sowie der Pharma-Konzern Johnson & Johnson.

Noch in den 1980er Jahren konnte ein Mainstream-Magazin, wie „Der Spiegel“, Titel auf den Markt bringen, wonach die Pharmaindustrie weniger das Wohl der Patienten als vielmehr ihre eigenen Interessen der Gewinnmaximierung im Blick hat, und dabei zu verantwortungslosen Methoden greift. Heute, in den Hochzeiten von Corona und der Debatte über die Impfpflicht, wird dieselbe These in das Reich der Verschwörungsmythen verwiesen. OxyContin und Perdue sind aber der beste Beweis, daß darin mehr als ein Körnchen Wahrheit steckt. Ungeachtet der Frage, ob die Impfung das wirksamste Mittel gegen die Covid-Pandemie ist – aber wer will da noch Impfskeptikern und-verweigerern ihre kritische Haltung übelnehmen?

Beth Macy
Dopesick: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie uns süchtig machen
464 Seiten; 22,- EU

Mystische Klangreise

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de

04/22 / 21. Januar 2022

CD-Kritik: Emily D’Angelo – Enargeia
Mystische Klangreise
Daniel Körtel

Trotz ihres recht jungen Alters von gerade einmal 27 Jahren hat es die in Toronto geborene Sängerin Emily D’Angelo bereits in die bedeutendsten Konzerthäuser der Welt geschafft, nach New York, Paris, London, Zürich, Berlin, zuletzt auch an die Bayerische Staatsoper in München. 2019 erhielt sie den renommierten Leonard Bernstein Award des Schleswig-Holstein Musik Festival. Nun hat die aufstrebende Mezzosopranistin bei der Deutschen Grammophon ihr Debütalbum „Enargeia“ veröffentlicht.

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Die darin enthaltene Titelliste von zwölf Gesangsstücken schlägt einen weiten Bogen von der Äbtissin, Dichterin und Mystikerin des Mittelalters, Hildegard von Bingen, hin zu den Komponisten der modernen Klassik des 21. Jahrhunderts, für die Repräsentanten wie die Isländerin Hildur Gudnadóttir sowie die beiden US-Amerikannerinnen Sarah Kirkland und Missy Mazzoli stehen. Sie alle bilden zusammen das titelgebende philosophische Konzept der enargeia.

„Enargeia“ beschreibt die Fähigkeit eines Vortragenden, seinen Gegenstand mit einer derartigen Präsenz und Intensität zu erfüllen, daß er ihn zum Leben zu erwecken scheint und so dem Zuhörer „den (unerträglichen) Glanz des Seins vor Augen führt“. D’Angelo ist eine Meisterin darin, mit ihrer Stimme dieses Konzept in einer geradezu sakralen Atmosphäre zu erfüllen, so als ob sie die Transzendenz auf die Erde holt. Der überzeugendste Anspieltip: das überaus kraftvolle Schlußstück „The Lotus Eater“.

Emily D’Angelo Enargeia Grammophon, 2021 www.emilydangelo.com www.deutschegrammophon.com