Was gibt es da zu feiern?

„immer noch, nach den drei jahren, zittert unter den arbeitern, höre ich allgemein, die panik, verursacht durch die plünderungen und vergewaltigungen nach, die der eroberung von berlin folgten. … nach dem kampf durchzogen betrunkene horden die wohnungen, holten die frauen, schossen die widerstand leistenden frauen und männer nieder, vergewaltigten vor den augen von kindern, standen in schlangen an vor häusern usw.“- Bert Brecht

Selten zuvor standen die traditionellen Moskauer Feierlichkeiten zum 9. Mai, dem Gedenken zum Sieg Sowjetrusslands über Nazideutschland 1945, so im Interesse der Weltöffentlichkeit wie in diesem Jahr. Kreml-Astrologen suchten in der Rede Putins nach irgendwelchen Hinweisen über sein weiteres Vorgehen in der Ukraine oder gar nach versteckten Friedenshinweisen. Andere betonten den Propagandacharakter des Ereignisses, um das Russische Volk „in der Spur zu halten“ zur Fortsetzung des Krieges, mit dem Ziel der vermeintlichen „Entnazifizierung der Ukraine“, die in eine Linie mit dem „Großen Vaterländischen Krieg“ gestellt wird. Dieses Narrativ ist von besonderer Bedeutung, stellt doch der Große Vaterländische Krieg die Russen, wie zum Trost über die entsetzlichen Verheerungen des Stalinismus, auf die Seite der Guten.

Aber es gibt einen nicht unwesentlichen Aspekt in der Kriegsführung der Roten Armee, der dieses Narrativ in Frage stellt, und der angesichts der Gräueltaten russischer Soldaten in der Ukraine heute erneut von besonderer Aktualität ist: Die Massenvergewaltigung von Frauen durch Rotarmisten.

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Zuletzt war es 2013 ausgerechnet ein polnischer Kunststudent, der Danziger Jerzy Szumczyk, der mit seiner Skulptur „Frau, komm!“ die Empörung der russischen Regierung provozierte. Nur wenige Stunden in der Nacht, die die Skulptur ohne jede Genehmigung neben einem russischen Weltkriegs-Ehrenmal stand, reichten aus für eine weltweite Aufmerksamkeit. Nicht alleine deutsche Frauen waren die Opfer solcher Kriegsverbrechen; ebenso wurden solche in allen von der Roten Armee eroberten Länder Osteuropas verübt. Der russische Historiker Dmitrij Chmelnitzki schätzt aber allein die deutsche Opfergruppe als die größte auf etwa zwei Millionen.

Skandalskulptur „Frau, komm“ (Quelle: dailymail.co.uk)

Nicht allein in Russland, auch in Deutschland selbst wurde um das Thema ein Tabu errichtet. Auch hierzulande gilt der Sieg der Sowjetunion über Deutschland als „Befreiung von der Nazi-Diktatur“. Werden die Massenvergewaltigungen erwähnt, so werden diese üblicherweise mit Hinweis auf den deutschen Vernichtungskrieg gegenüber dem Osten relativiert.

Erst 2009 hatte der frühere Hamburger Wissenschaftssenator Ingo von Münch (* 1932) mit der Veröffentlichung seines Buches „‘Frau, komm!‘ Die Massenvergewaltigung deutscher Frauen und Mädchen“ für Furore beim Thema gesorgt. Als Angehöriger des etablierten Politikbereichs und der Erlebnisgeneration wurde sein tiefes Interesse durch die Bekanntschaft mit Opfern geweckt. Sein Buch dokumentiert ausgiebig zahlreiche authentische Berichte in teils grausigen Details über die erlebten Schändungen und die brutale Vorgehensweise der Rotarmisten. Widerstand war in der Regel zwecklos und konnte für das Opfer tödlich enden. Selbst anwesende Kinder waren kein Hindernisgrund und wurden oft genug ebenfalls vergewaltigt oder getötet.

Von Münch ging auch der Motivation der Rotarmisten auf den Grund. Naheliegend waren es Haß- und Rachegefühle, die die Männer antrieben sowie die Einstellung, eine Art „Volksgericht“ über den Feind und seine Zivilbevölkerung auszuüben. Auch wenn ein spezifischer offizieller Befehl, der diese Verbrechen legitimierte, nicht vorlag, so kommt von Münch zu der Feststellung, daß „die sowjetische politisch-psychologische Kriegsführung mit ihrer Hasspropaganda gegen die Deutschen (eben nicht nur gegen ‚die Faschisten‘ oder gegen ‚die deutschen Soldaten‘) den Boden die Gewalttaten bereitete“. Berühmt berüchtigt sind hier die mit Billigung der obersten Führung verbreiteten Tötungs- und Vergewaltigungsaufrufe eines Ilja Ehrenburgs. Daß sich damit auch der humanistische Anspruch der von den Sowjets vertretenen kommunistischen Ideologie restlos entwertete, sei hier nur am Rande bemerkt.

Das Schweigen darüber betraf Opfer- wie Täterseite. Die Verletzung des Intimbereichs, die persönliche und totale Demütigung – teils auch der eigenen Männer, die gezwungen waren, hilflos und ohnmächtig zuzusehen – waren derart traumatisch, daß vor tiefer Scham hiernach kaum ein Gespräch darüber geführt werden konnte. Erst der Erlebnisbericht „Eine Frau in Berlin“ der „Anonyma“ von 1954 gab den in Vergessenheit zu geratenen Opfern eine vielbeachtete Stimme. Es sollte bis 2008 dauern, bis es zur Verfilmung des Stoffes kam, bezeichnenderweise angereichert mit einer Schmonzette der Protagonistin mit einem Sowjet-Offizier, die in real nie stattfand.

Inhaltlich konnte gegen von Münchs Werk nichts entgegengesetzt werden. Seine Person ist als anerkannter Jurist und FDP-Politiker kaum in das revisionistische Lager einzuordnen. Kritik erhob sich vielfach, weil das Buch im österreichischen Ares Verlag erschien, der für seine rechtskonservativen Publikationen bekannt ist. Von Münch entgegnete dieser Kritik mit dem Hinweis, daß sich in Deutschland kein Verlag fand, der dieses „heiße Eisen“ anzufassen wagte. Auch heute noch müssen in aller Regel Erlebnisberichte aus dieser Zeit im Selbstverlag erscheinen.

Es war absehbar, daß die Wirkung von „Frau, komm!“ bei weitem nicht ausreichen würde, das Schicksal der Massenvergewaltigungen deutscher Frauen im kollektiven Gedächtnis und Gedenken der Deutschen zu verankern. Aber vielleicht werden die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine wenigstens bewirken, daß diesem Thema wieder eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteilwird. Denn es liegt sehr nahe, zwischen den russischen Verbrechen damals und heute ein gemeinsames Muster zu erkennen.

European Parliament accuses Russia of using rape as weapon of war

Ingo von Münch
Frau, komm!
Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45
208 Seiten, 2009,
19,90 Euro

Friedenslogik statt Sicherheitslogik?

Ein Schlaglicht auf die Stimmungslage in Deutschland in Bezug auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die Position Deutschlands darin warf vergangenen Sonntagnachmittag eine Vortragsveranstaltung in der Kasseler Kirche St. Familia. Zu Gast war Clemens Ronnefeldt, langjähriger Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des internationalen Versöhnungsbundes, wohnhaft in der Ukraine. Thema seines an rund 100 Zuhörer gerichteten Vortrags: „Der Ukraine-Krieg: Hintergründe und Perspektiven“. Die eigentliche thematische Stoßrichtung gab der frühere Dechant Harald Fischer in seiner Eröffnung vor, als er auf den Druck hinwies, den „die Zeitenwende in der jüngeren Geschichte“ auf die Friedensbewegung in Deutschland ausübt und sie in eine Position rücke, in der sie sich entschuldigen müsse. Fischer ist ein prominenter und keineswegs unumstrittener Aktivist der lokalen Friedensbewegung, der immer wieder als Wortführer gegen die nordhessische Rüstungsindustrie von sich reden machte.

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Zu Beginn gab Ronnefeldt einen historischen Überblick über das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine von den Kiewer Rus bis in die heutige Zeit. Seine informativen Ausführungen machten deutlich, wieso der Krieg, den Russland dort führt, keiner über Rohstoffe ist, sondern ein „Beziehungs- und Identitätskrieg“.

Über die unübersehbaren Spaltungstendenzen in der Ukraine in der Präsidentschaftswahl von 2004 habe Ronnefeldt nach eigenem Bekunden „die Luft angehalten“. Er habe der Ukraine die Rolle „eines Brückenlandes gewünscht, das seine Füße in beiden Lagern behält“. Doch vor die Wahl gestellt zwischen dem Westen und Russland mußte es zum Riss kommen.

In seinem Porträt des russischen Präsidenten Putin fand er seine christlich-orthodoxe Taufe auf Betreiben der Mutter bemerkenswert, von der der Vater – ein Kommunist und Atheist – nichts wissen durfte. Als eine wichtige Prägung erscheint sowohl der geglückte Bluff mit angeblichen Scharfschützen zum Schutz der Dresdner KGB-Filiale zur Abschreckung ostdeutscher Bürgerrechtsdemonstranten, als auch die etwa zeitgleiche Niederschlagung der chinesischen Bürgerrechtsbewegung durch das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.

Kritisch ging Ronnefeldt auf die bekannten Bilder ein, in denen sich Putin mit freiem Oberkörper in Machopose inszeniert und in denen er ihm ein Problem mit seiner Männlichkeit attestiert. Ohne die Überwindung des damit verbundenen patriarchalischen Denkens würde das Leiden der Menschen kein Ende finden.

Bei aller gebotenen Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands in der Ukraine sparte er die NATO von einer Mitverantwortung an der Entwicklung dahin nicht aus. Er begründete seinen Fokus auf die NATO dahingehend, daß hier die Seite liege, auf die man Einfluß habe. Nach dem mündlichen Versprechen an die Sowjetunion durch den damaligen Außenministers James Baker 1990, die Nato um „keinen Inch nach Osten“ zu erweitern, sah er seit 1992 mit den neoliberalen Wolfowitz, Friedman und Brzeziński eine gegenteilige amerikanische Politik am Wirken, die Russland nicht auf Augenhöhe begegnen wollte, sondern als künftigen potentiellen Konkurrenten niederzuhalten versuchte. Besonders bei Brzeziński, dem Verfasser des Bestsellers „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, konnte der Referent kaum seine Fassungslosigkeit verbergen, daß die westlichen Staaten nicht gegen seinen Einfluß opponiert haben.

Dagegen lobte Ronnefeldt die nach seiner Ansicht auf Ausgleich bedachte Politik der Regierung Merkel, während die USA diese immer wieder konterkariert habe. Als entscheidende Wegmarken hob Ronnefeldt die Münchener Sicherheitskonferenz von 2007 hervor, in der Putin explizit die Haltung Russlands gegenüber einer weiteren Runde der NATO-Osterweiterung vortrug, wie auch die völkerrechtswidrige Abtrennung des Kosovo 2007 mit westlicher Hilfe.

Mit großem Beifall goutierte das Publikum Ronnefeldts rhetorische Frage zu den Auswirkungen der amerikanischen Politik in der Ukraine: „Wieviel Blut wird fließen für höhere, übergeordnete Ziele?“

Reichlich naiv und von der Realität überholt wirken jedoch seine Alternativen zu einem bewaffneten Widerstand der Ukrainer gegen die russischen Invasoren, in denen er dem gewaltfreien Widerstand den Vorzug gab. Seine Berufung auf frühere Umfragen unter der ukrainischen Bevölkerung, die inzwischen allesamt Makulatur sein dürften, wirkte da reichlich irreal, was aber im Publikum niemanden aufzufallen schien. Ronnefeldt traf sich hier mit dem Aktivismus seines Gastgebers Fischer, indem er der deutschen Rüstungsindustrie vorhielt, ob es sie überhaupt interessiere, „was die Menschen dort denken?“

Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob es Ronnefeldt überhaupt für möglich halten könnte, daß die Ukrainer die Waffen aus deutscher Produktion geradezu herbeisehnen? Denn mit gewaltfreiem Widerstand und zivilgesellschaftlichen Ungehorsam lassen sich Massaker wie in Butscha wohl kaum verhindern.

Was können „wir“ tun, um den Krieg in der Ukraine zu beenden? Ronnefeldt problematisierte hier vor allem die deutsche Rüstungsindustrie, die über den Suchkopf auch Zulieferer für die türkische Drohne ist, die wiederum vertragswidrig von der Ukraine eingesetzt würde. An dem betreffenden Unternehmen hielte die Bundesrepublik eine Sperrminorität, die sie unter fadenscheinigen Begründungen nicht anwende. Ebenso kritisierte Ronnefeldt die durchaus bedenklichen Netzwerkverbindungen zwischen der Rüstungsindustrie und der Münchener Sicherheitskonferenz zu ihrem gegenseitigen materiellen Vorteil.

Weiterhin rief er gezielt in Richtung Publikum dazu auf: „Nehmen Sie Deserteure auf!“, ohne allerdings zu reflektieren, daß es durchaus einen Unterschied macht, ob ein Soldat der Aggressormacht oder der angegriffenen Seite fahnenflüchtig wird.

Ebenso riet er zum Erhalt der zivilgesellschaftlichen Kräfte, beispielsweise durch Städtepartnerschaften, so als ob die – mittlerweile auf Eis gelegte – Städtepartnerschaft Kassels mit dem russischen Jaroslaw irgendwie etwas geändert hätte.

Keinen leichten Stand hatte an dem Nachmittag der Kasseler Bundestagsabgeordnete der Grünen, Boris Mijatovic, der unter deutlichen Unmutsbekundungen aus dem Publikum von Fischer zu einer Stellungnahme nach vorne gebeten wurde. Besonders hörbar mit spöttischem Unterton fiel der Satz „Frieden schaffen mit schweren Waffen“, und das aus einem Milieu, in dem die Grünen einst Zuhause waren. Zwar stimme er Teilen des Vortrags zu (ohne zu sagen welchen), doch außer nichtssagenden Phrasen über Besonnenheit und rationales Handeln hatte Mijatovic nichts anzubieten.

In seinem Schlußwort betonte Ronnefeldt die weitere Notwendigkeit einer Friedensbewegung. An die Stelle der Sicherheitslogik müsse eine Friedenslogik treten, um die eigene Sicherheit nicht auf Kosten anderer zu sichern: „In einer vernetzten Welt kann es nur noch gemeinsame Sicherheitsinteressen geben.“

Fischer wiederum kritisierte die Lieferungen schwerer Waffen in die Ukraine, die für ihn eine moralische Glaubensfrage sei: „Es ist als teste der Westen aus, wo für Putin die Schmerzgrenze für den Atomwaffeneinsatz liegt.“
Es war, um einen ironischen Vergleich zur Militärsprache zu bemühen, ein Nachmittag, an dem es einem führenden Aktivisten der kirchlichen Friedensbewegung darum ging, die eigenen Truppen moralisch aufzubauen und zu stärken, nachdem der russische Angriff auch sie kalt erwischt hat.

Wenig überraschend war, daß während des Vortrags auch Flugblätter des marxistischen und kaum seriösen „Kasseler Friedensforum“ verteilt wurden. Und wenn Ronnefeldts Vortrag sich von einem thematisch ähnlichen im Café Buchoase unterschieden hätte, dann vor allem dadurch, daß er sehr deutlich gemacht hat, daß die Behauptung Russlands von der „Entnazifizierung der Ukraine“ eine reine Propagandalüge ist, um die Russen „bei der Stange zu halten, weil der Große Vaterländische Krieg [der Zweite Weltkrieg] der letzte gute gewesen ist“.

Daß die vom Bundeskanzler ausgerufene „Zeitenwende“ einhellig von der Bevölkerung nachvollzogen wurde, läßt sich hiernach jedenfalls nicht bestätigen, im Gegenteil. Wortmeldungen aus dem Publikum lassen ahnen, das die nicht nur in der Friedensbewegung traditionell gegen die Amerikaner gerichtete Vorbehalte – um nicht zu sagen: antiamerikanische Ressentiments – nach wie vor fest verankert sind. Die deutsche Front des politischen Krieges gegen Russland scheint vielleicht brüchiger zu sein, als es manchen Strategen in Berlin, Brüssel oder Washington lieb sein kann.

Russlands Tragödie: Gefangen in imperialen Träumen

„Das Unwissen über die Stalin-Zeit ist in Russland allgegenwärtig, es gibt keine Aufklärung über die Diktatur, wie wir sie kennen. Die Stalin-Zeit ist keine historische, sondern eine mythische Zeit. Man erinnert sich nicht an den Terror und den Horror, sondern an die Grösse und den Glanz eines untergegangenen Imperiums, an den Sieg im Grossen Vaterländischen Krieg, dessen Symbol Stalin ist. Nicht der Despot, der Terrorist und Gewalttäter wird besungen, sondern der Schöpfer und Bewahrer eines mächtigen Reiches. Vom Kommunismus ist am Ende nichts geblieben als die Erinnerung an das verlorengegangene Imperium.“ (Prof. Jörg Baberowski in der NZZ vom 04.04.2022)

Die Organisatoren des Literarischen Frühlings haben nach Eröffnung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine eine erfreuliche Flexibilität gezeigt, und ihr aktuelles Programm kurz vor dem Start noch einmal erweitert. Zusätzliche, den aktuellen Vorgängen verbundene Veranstaltungen wurden aufgezogen mit der georgischstämmigen Autorin Nino Haratischwili („Das mangelnde Licht“) und dem Stalin-Experten und Osteuropahistoriker Prof. Jörg Baberowski („Der tote Terror“, „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“).

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Am gestrigen Sonntagnachmittag trat Baberowski im Metzen Alter Kuhstall in Ellershausen vor das Publikum, unter der Moderation von Klaus Brill, der als thematischen Einstieg den von Wladimir Putin am Vorabend des Angriffs beschworenen Gründungsmythos der mittelalterlichen Kiewer Rus wählte. Die Taufe des Großfürsten Wladimir zum christlich-orthodoxen Glauben im Jahr 988 gilt als das Ursprungsdatum dieses Mythos, die Ukraine den Russen somit als russisches Kernland.

Links: Klaus Brill; rechts: Prof. Jörg Baberowski

Baberowski erklärte, daß er als Historiker nicht viel mit solchen Mythen anfangen könne, denn seine Aufgabe bestehe gerade in der Dekonstruktion solcher Mythen. Die in Stände hineingeborenen Menschen des Mittelalters konnten mit einer auf der Gleichheit Aller beruhenden Nationalidentität nichts anfangen. Die Nation sei ein emanzipatorisches Projekt der Moderne. Baberowski sieht die „Illusion“ der Nation unter Berufung auf Ernest Renan als „tägliches Plebiszit“, ihre Vergegenwärtigung finde in der Begegnung mit dem Anderen statt. Putin hingegen benutze Geschichte zur Rechtfertigung der Gegenwart.

Natürlich seien Nationen nicht vollkommen willkürlich konstruierbar. Der Überlieferungszusammenhang der Russen sei das Orthodoxe Christentum und die slawische Sprache. Wie wenig die russische Geschichte zur Begründung eines Nationalbewußtseins taugt, machte Baberowski deutlich an der Einführung der Leibeigenschaft der Bauern 1649, die dem Gleichheitsanspruch der Nation widerspreche. Die lokalen Eliten waren zur Hälfte Deutschbalten, während die Eliten noch bis in das 18. Jahrhundert überwiegend Französisch sprachen und die Zarin Katharina die Große war eine gebürtige Deutsche. Nationen, so Baberowski, seien gut begründete Lügen: „Man beschwört eine Zeit, die es eigentlich nicht gegeben hat.“

Angesprochen auf die Annektierung der Krim durch die Zarin Katharina im im Jahr 1783, was als Begründung russischer Gebietsansprüche herangezogen wird, fragte Baberowski, wie weit man zurückgehen solle: „Da läßt man die Geschichte besser aus dem Spiel.“

Erst im 18./19. Jahrhundert kam eine Nationalbewegung auf, allerdings als Elitenprojekt, das nicht das Interesse der Dörfler mit ihrem begrenzten Horizont fand. Interessanterweise stand die russische Regierung dem Projekt skeptisch gegenüber; ein Vielvölkerimperium wie Russland könne sich nicht auf der Idee der Nation gründen. Doch das, so Baberowski, „wollen Leute wie Putin nicht hören.“

Paradoxerweise seien die Kommunisten die eigentlichen Nationalgründer gewesen. Um ab 1922 „den Sozialismus ins Dorf zu bringen“, habe man wie am Reißbrett die Sowjetunion in Nationen überführt, die Bauern in ihren jeweiligen Nationalsprachen unterrichtet. Eine russische Nation wurde jedoch nicht gegründet; die Russen sollten sich mit dem Imperium der Sowjetunion identifizieren.

Als Folge der bolschewistischen Politik sei die Ukraine und ihre erste Staatlichkeit eine sowjetische Schöpfung. Dennoch sei diese nicht einfach ein künstliches Gebilde, denn in allen Sowjetrepubliken habe es nationale Erweckungsbewegungen gegeben.

Der ab 1928 einsetzende Terror Stalins habe die Ukraine mit dem „Holodomor“ am härtesten getroffen. Zu seiner Bewertung als „Genozid“ meinte Baberowski zurückhaltend, daß die Hungersnot Folge des Krieges der sowjetischen Regierung gegen das eigene Volk gewesen sei, der jeden traf. Er wies weiter auf die ebenfalls in einer Hungersnot umgekommenen zwei Millionen Kasachen hin, über die niemand spreche, „vielleicht weil es Muslime sind?“. Jedenfalls stehe es in der kasachischen Kultur nicht gut an, sich zum Opfer zu machen.

In Bezug auf Putin wollte Baberowski dem Publikum keine Hoffnung auf einen Wechsel mitgeben: „In der Krise sind alle Despoten im Vorteil, weil sich alles um sie schart. Fällt Putin, fallen sie alle.“ Wie Stalin habe er seine Gefolgschaft in seine Verbrechen involviert. Ebenso dämpfte er die Erwartung auf eine liberale Phase nach Putin. Die stärksten Parteien seien Kommunisten und Nationalisten; liberale Kräfte waren zuletzt auf den hintersten Plätzen.

Weiterhin warnte er vor einem Zusammenbruch Russlands, was Konsequenzen für die ganze asiatische Region habe. Baberowski mahnte zu einer verantwortungsethischen Politik, die das im Blick haben müsse: „Wie kann man mit Russland operieren, ohne in Feindschaft mit ihm zu geraten?“

Die Aufarbeitung des Stalinismus beschrieb Baberowski als komplexes Projekt. Es sei nicht leicht in einer solchen Aufarbeitung Täter und Opfer zu benennen. Die meisten Täter seien zudem selbst hingerichtet worden. In der Sowjetunion habe man den Terror wie eine Naturkatastrophe hingenommen. Zudem wirke bis heute der Große Vaterländische Krieg als tröstendes Narrativ, das die meisten dankbar angenommen hätten, um endlich als Sieger dazustehen. Für die anderen Völker gäbe es keine Empathie. Sie spielten keine Rolle im russischen Gedächtnis. Die große Tragödie sei, so Baberowski am Ende seines erkenntnisreichen, aber auch ernüchternden Vortrags: „Solange Russland keinen Weg findet aus der imperialen Vergangenheit, wird es gefangen bleiben in imperialen Träumen, statt auf die anderen Völker zuzugehen.“

Prof. Jörg Baberowski
Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt
2012; 606 Seiten; 29,95 Euro

Echo der Vergangenheit

Als die Organisatoren des „Literarischen Frühlings“ Anfang dieses Jahres ihr aktuelles Programm für 2022 herausgaben, konnten sie noch nicht wissen, wie die Entwicklungen in der Ukraine ihrer Top-Veranstaltung, dem Lesedinner mit der Schriftstellerin Katerina Poladjan, zu besonderer Aktualität verhelfen würden. Poladjan (51) ist gebürtige Russin und siedelte 1977 in die Bundesrepublik über. Ihre Romane erhielten zahlreiche Preise – zuletzt den mit 15.000 Euro dotierten Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund – und wurden vielfach in andere Sprachen übersetzt. Ihr aktueller Roman „Zukunftsmusik“, den Moderator Klaus Brill als ihren Durchbruch bezeichnete, stand im Mittelpunkt des vergangenen Freitagabends in Ellershausen nahe Frankenberg/Eder.

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Poladjan ist für die Institution des Literarischen Frühlings keine Unbekannte. Sie trat schön des Öfteren dort auf als Schreib-Dozentin, Vorleserin von Klassikern oder als Interpretin ihrer eigenen Werke. Ungewöhnlich der Standort, der die Karriere vom Kuhstall zum Kulturstall machte: „Zukunftsmusik“ stellte sie vor im „Metzen Alter Kuhstall“, der zwar überwiegend Landmaschinen beherbergt, aber auch so gebaut und umgestaltet wurde, daß er innerhalb kürzester Zeit für eine gehobene Dinner-Veranstaltung umfunktioniert werden kann.

„Metzen Alter Kuhstall“ in Ellershausen

Das Dinner selbst bestand dem Thema des Abends entsprechend aus einem Vier-Gänge-Menü osteuropäischer Spezialitäten wie Sibirische Teigtaschen und dem klassischen Borschtsch, einer Suppe aus Roter Bete. Die Organisation übernahm das Romantik Hotel Landhaus Bärenmühle.

„Zukunftsmusik“ ist ein Roman, der mit eine Antwort zu geben versucht, wie Russland wurde, was es heute ist. An diesem Abend trafen sich die Vergangenheit mit der Gegenwart, um einen Ausblick in die Zukunft zu versuchen. Die Handlung des Romans beginnt am 11. März 1985, einem historischen und schicksalsträchtigen Datum in der Sowjetunion. Der greise Generalsekretär Tschernenko war nach nur wenigen Monaten an der Macht am Vortag verstorben. Ihm folgte bereits einen Tag später Michail Gorbatschow ins Amt, der Mann, der sich an Reform und Rettung der Sowjetunion versuchte und in dieser – letztlich kläglich gescheiterten – Mission die Wiedervereinigung Deutschland ermöglichte.

Erster Gang: Pelmeni Sibirskie, Sibirische Teigtaschen gefüllt mit Rindfleisch und mit buntem Salat.

Der Schauplatz des Romans ist eine Kommunalka im tiefsten Sibirien. Die Kommunalka war in der Sowjetunion eine Wohnform, die der chronischen Wohnungsnot entgegenwirken sollte. Oftmals ehemalige Häuser des Adels und des Großbürgertums wurden von sechs bis sieben Mietparteien aus 40 – 50 Menschen bewohnt, Küche und Bad gemeinsam genutzt. Der zur Verfügung stehende Platz wurde so optimiert, daß man durch größere Zimmer einfach neue Wände zog. In der Regel stand jeder Mietpartei nur ein Zimmer zur Verfügung – die Kommunalka als ein Sinnbild für die Sowjetunion mit ihren vielen Nationalitäten.

Zweiter Gang: Borschtsch, Rote-Bete-Suppe

So auch der Familie von Janka, vier Frauen aus vier Generationen. Janka, mit Anfang 20 im besten Jugendalter, gehört dennoch einer verlorenen und vergessenen Generation an. Die weitgehende Abwesenheit der Männer in dem Plot ist dem Umstand geschuldet, daß diese in jener Epoche oft ein kurzes Leben führten. Der grassierende Wodka-Alkoholismus, der Tod an der Front im Zweiten Weltkrieg oder in Afghanistan ließ ihre Lebenserwartung drastisch sinken. Oder sie saßen einfach im Gefängnis oder Straflager.

Dritter Gang: Kotlety po-Kyjiwski, Hühnchen-Kotelett ohne Knochen, mit Butter gefüllt, Gemüse und Buchweizen-Blini

Ein solches Milieu eröffnet eine besondere Psychodynamik, die durch den ganzen Roman trägt. Die Kommunalka kennt keine Privatsphäre und bringt komplexe Beziehungsgeflechte hervor. Trotz der „heiteren Melancholie“ des Romans, ist es ein ideologisch geprägtes System, in dem sich Kollektiv und Individuum konträr gegenüberstehen.

Poladjan knüpft in ihrer Geschichte an verschiedene Stränge der russischen Literaturtradition an, so zum Beispiel an „Oblomow“, den Roman Iwan Gontscharow über einen in seiner Lethargie gefangenen Adligen. Auch in „Zukunftsmusik“ sind die Protagonisten in der Spätphase der Sowjetunion gleichermaßen in einer ausweglosen Trägheit gefangen: „Sehen Sie, man kann nichts tun.

Wo „Zukunftsmusik“ die Frage nach der Freiheit im damaligen Sowjet-Russland stellt, so ist die Antwort nach Poladjan, daß man in Freiheit sozialisiert werden muß, um Freiheit leben zu können. Unter den Bedingungen der Kommunalka ist das kaum möglich. Und wer in einem „System der Lüge“ lebt, fängt schließlich an, sich selbst zu mißtrauen.

Katerina Poladjan

Auf die Frage nach ihrer Identität bekennt Poladjan offen, daß ihr jeder Sinn für eine nationale Identität fehle, etwas was ihr in ihrem Elternhaus auch nicht vermittelt wurde. Sprache sei für sie „nicht Heimat, sondern das, was gesagt wird“. Zuletzt sei sie durch „Hier sind Löwen“, einem Roman über den türkischen Genozid an den Armeniern, als armenisch stämmige Immigratin eingeordnet worden. Sie jedoch sei eine deutsche Schriftstellerin, die in Russland geboren wurde.

Doch als was immer Katerina Poladjan ihre Identität sieht, die deutschsprachige Literatur kann sich glücklich schätzen, eine derart talentierte Schriftstellerin vorweisen zu können.

Katerina Poladjan
Zukunftsmusik
2022; 192 Seiten, 22,- Euro

Er formte in einem blutigen Bürgerkrieg aus einem Bundesstaat eine Nation

Das historische Porträt: Abraham Lincoln

„Könnte ich die Union retten, ohne auch nur einen Sklaven zu befreien, so würde ich es tun; könnte ich sie retten, indem ich alle Sklaven befreite, so würde ich es tun; und könnte ich die Union retten, indem ich einige Sklaven befreite und andere nicht, so würde ich auch das tun.“
Abraham Lincoln (1862)

Es war eine bemerkenswerte Szene: Im Gerichtsgebäude von Appomattox Court House in Virginia traf am Vormittag des 9. April 1865 der Konföderierten-General Robert E. Lee in tadelloser Uniform auf seinen Gegenspieler Ulysses S. Grant, um ihm die bedingungslose Kapitulation seiner ihm unterstellten und völlig entkräfteten Truppen zu unterbreiten. Richmond, die Hauptstadt der abtrünnigen Südstaaten, war erst wenige Tage zuvor gefallen. Es entspannte sich ein freundliches Gespräch zwischen zwei Gegnern, die sich vier Jahre lang einen äußerst zähen und blutigen Krieg geliefert hatten. Am Ende entließ der Sieger Grant in einer ehrenvollen Parade den unterlegenen Lee und seine Soldaten nach Hause gegen das Versprechen, die Waffen niederzulegen und die Kämpfe nicht wiederaufzunehmen. Entgegen den üblichen Konventionen durften sie sogar ihre Pferde behalten; diese würden für den Wiederaufbau ihrer Heimat gebraucht.

Der eigentliche Triumphator aus dem Sezessionskrieg saß jedoch rund 300 Kilometer nördlich, im Weißen Haus, dem Amtssitz des amerikanischen Präsidenten in Washington: Abraham Lincoln, dessen Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten 1860 als Auslöser der Abspaltung der Südstaaten und damit des 1861 beginnenden Sezessionskrieges gilt.

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Abraham Lincoln (1809-1865)

Lincoln hatte auf seinem Weg in das höchste Amt der USA einen bemerkenswerten Weg zurückgelegt, der an den berühmten amerikanischen Traum „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ erinnert. Am 12. Februar 1809 in einer Blockhütte in Kentucky geboren, wuchs er in den Frontiers des mittleren Westens heran. Seine Kindheit und Jugend waren geprägt von harter körperlicher Arbeit, in der ihm die Möglichkeiten höherer Bildung versagt blieben.

Erst als junger Mann erarbeitete sich Lincoln im Selbststudium das nötige Wissen, um ab 1838 als Anwalt praktizieren zu können. Gleichzeitig nahm er seine politische Karriere in Angriff, deren erste Station ihn in das Parlament des Bundesstaates Illinois führte, erst noch für die national-liberalen Whigs, die später in die neugegründeten Republikaner aufgingen. Neben seiner auffallenden hochgewachsenen, hageren Statur wurde sein Ruf als „honest Abe“, der ehrliche Abe, der es als Selfmademan aus den Frontiers in das Bürgertum geschafft hat, zu seinem Markenzeichen.

1842 folgte die Hochzeit mit Mary Todd. Ihre Herkunft aus einer wohlhabenden Familie von sklavenhaltenden Pflanzern war kein Hindernis; zumal Lincoln bis dahin nicht als radikaler Abolutionist aufgefallen ist. Aus ihrer Ehe sollten schließlich vier Söhne hervorgehen. Mary wurde auch zum antreibenden Motor seines politischen Ehrgeizes.

Mit seinem rhetorischen Talent, seinem Humor und seiner authentischen Volksverbundenheit konnte sich Lincoln zunehmend politisch profilieren. Im Klima der sich verschärfenden Zuspitzung der Gegensätze zwischen den Nord- und den Südstaaten in der Sklavenfrage stieg sein Stern immer weiter auf. Mit der geschickten Instrumentalisierung des republikanischen Parteiapparats gelang ihm schließlich im Mai 1860 die Nominierung als Präsidentschaftskandidat.

Zu diesem Zeitpunkt trieb der Streit zwischen Nord und Süd über die Sklaverei seinem Höhepunkt entgegen. Der Süden mit seiner Agrarwirtschaft wollte auf diese „besondere Institution“ um keinen Preis verzichten und betrieb ihre Ausdehnung auf die neuen Territorien, was der Norden wiederum zu verhindern suchte. Sämtliche Kompromisse, die ein Gleichgewicht herstellen sollten, hatten sich verbraucht. Es bleibt ein historisches Rätsel, warum der Süden unbeirrbar auf seinem Standpunkt beharrte. Konnte noch in der Antike Sklaverei selbstverständlich sein, da Freiheit nur von Wert war, wenn es daneben auch Unfreiheit gab, so konnte unter dem Einfluß der europäischen Aufklärung eine Freiheit nicht mehr auf den Knochen anderer Menschen gedeihen.

In seiner Kampagne setzt Lincoln vor allem auf industriellen Fortschritt, Schutzzollpolitik, den Ausbau der Infrastruktur und die Rechte der Einwanderer. In letzterem zeigte sich der zunehmende Einfluß der Immigration aus Deutschland, vor allem nach der gescheiterten Revolution von 1848. Diese Wählergruppe, zu der auch ein namhafter deutscher Exilant namens Carl Schurz – US-Innenminister von 1877-1881 – zählte, erwies sich als starke Stütze von Lincolns Kampagne.

Mit nur 40 Prozent der Stimmen, aber der überwältigenden Mehrheit der Wahlmännerstimmen, konnte Lincoln die Präsidentschaftswahl im November 1860 gegen drei Gegenkandidaten für sich entscheiden. Die fortschreitende Zersplitterung des Landes zeigte sich in dieser Wahl schon allein daran, daß es den Demokraten – zum Vorteil Lincolns – nicht gelang, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen.

Obwohl Lincolns Programm keineswegs die Abschaffung der Sklaverei vorsah, sondern vielmehr ihre Eindämmung, nahmen die Südstaaten seine Wahl wiederum zum Anlaß, aus der Union auszutreten und die Konföderierten Staaten von Amerika (CSA) zu konstituieren. Als Lincoln am 4. März 1861 in sein Amt eingeführt wurde, waren die USA faktisch ein geteiltes Land.

Lincoln konnte in seinem politischen Selbstverständnis diese Spaltung nicht hinnehmen, stellte sie doch den Erfolg des amerikanischen Experiments, als das die USA gegründet waren und dem er sich zutiefst verpflichtet fühlte, in Frage. Konnte eine demokratische Republik auf Dauer Bestand haben, wenn es der bei einer Abstimmung unterlegenen Minderheit gestattet war, aus dieser auszutreten? Lincoln nahm die Herausforderung des sich aus dieser Frage ergebenden Sezessionskrieges an. Es gab durchaus kritische Stimmen, die Zweifel hatten an dem „Erhalt einer Union allein auf der Macht der Bajonette“.

Den Rest der verbliebenen Union dennoch auf diesen Bürgerkrieg einzuschwören, war Lincolns erste herausragende Leistung als Präsident.
Bis dahin und auch danach wurde auf dem amerikanischen Doppelkontinent keine kriegerische Auseinandersetzung mit einer derartigen Totalität ausgefochten wie im vierjährigen Ringen des Sezessionskriegs. Sein Blutzoll belief sich auf weit über 500.000 Soldaten. In seinen Materialschlachten, in denen ganze Massenheere kämpften, und für die Namen wie Bull Run, Shilo, Vicksburg, Antietam und Gettysburg stehen, nahm er als erster moderner Volkskrieg das Grauen des Ersten Weltkriegs vorweg.

„Amerikas blutigster Tag“: Die Schlacht am Antietam (17. Sept. 1862), Kurz & Allison

Politisch sollte der Sezessionskrieg auch das Schwert werden, das den schier unlösbar erscheinenden Knoten der Sklavereifrage durchtrennte. Um die Südstaaten zu schwächen, die europäischen Mächte aus dem Konflikt herauszuhalten und der eigenen Seite eine höhere moralische Rechtfertigung zu geben, verfügte Lincoln für den 1. Januar 1863 die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten, als letzten Schritt vor ihrer endgültigen Abschaffung in der gesamten Union 1865.

Dabei muß festgehalten werden, daß Lincoln erst im Laufe seiner Amtszeit von gewissen früheren Positionen in der Frage der künftigen Stellung der Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft abrückte. Vertrat er zuvor noch die Ansicht, die Schwarzen könnten niemals gleichwertige Bürger werden und sollten im Rahmen eines Rekolonialisierungsprojektes wieder nach Afrika zurückgeführt werden, vollzog er als Präsident vor allem unter dem Einfluß des Aktivisten Frederick Douglass, einem früheren Sklaven, eine Wende, in der er ihre soziale Gleichheit mit den Weißen befürwortete.

Den Kipppunkt zum Sieg erreichten die Nordstaaten mit einem Strategiewechsel, indem sie den totalen Krieg auf eine neue Stufe hoben. Mit dem neuen Oberbefehlshaber Grant an der Spitze wurden die Kampfhandlungen an allen Fronten ausgedehnt. Und als besonders effektiv sollte sich die Einbeziehung der Zivilbevölkerung in den Südstaaten zeigen. „Sherman‘s Raid“, der Marsch des Nordstaaten-Generals William T. Sherman nach Savannah am Atlantik, in welchem er mit seiner Armee wie ein alles verschlingender Lindwurm eine Schneise der Verwüstung hinter sich herzog, trennte den Süden in zwei Hälften. Das von Unionssoldaten angesteckte Atlanta sollte für den Süden zum Fanal werden. Der Konföderation sollte ökonomisch endgültig das Genick gebrochen und ihrer Bevölkerung jeder Geschmack an einer Rebellion genommen werden.

Mit dem Ende des Sezessionskrieges hatte Lincoln seinen Platz als bedeutendster Präsident der USA sicher. Er rettete die Union vor ihrem Zerfall und damit die Idee der Demokratie. Er organisierte 1864 unter den Bedingungen eines auf eigenen Boden ausgetragenen Krieges eine Präsidentschaftswahl, die er gegen die gegenüber dem Süden kompromißbereiten Demokraten schließlich mit Bravour gewann. Und er beendete den Skandal der die Werte der amerikanischen Verfassung untergrabenden Sklaverei. Lincoln war der „konservative Revolutionär“, der aus einer Union von Einzelstaaten eine Nation formte und damit den „Grundstock für die ‚imperiale Präsidentschaft‘ des 20. Jahrhunderts“ legte (Jörg Nagler).

Doch auf der anderen Seite steht sein „laxer Umgang“ mit den Bürgerrechten, der ihm oft den Vorwurf des „Diktators“ einbrachte. Die Aufhebung des Habeas Corpus Acts, der willkürliche Verhaftungen ohne richterlichen Beschluß verbot, stellte keine Banalität dar und wurde nach dem Krieg vom Obersten Gericht einkassiert. Immerhin mußte für die Implementierung dieses Bürgerrechts im englischen Mutterland rund 200 Jahre zuvor ein König seinen Kopf rollen lassen.

Noch schwerer jedoch wiegt die Strategie der verbrannten Erde, mit der der Süden überzogen wurde, obwohl in Lincolns Regierung anfangs noch Grundsätze eines die Zivilbevölkerung schützenden, fortschrittlichen Kriegsrechts formuliert wurden.

In diesem Punkt geht der Lincoln-Biograph Jörg Nagler mit dem Präsidenten kritisch ins Gericht: „Inwieweit er über die Einzelheiten des Vernichtungsfeldzuges und seiner Auswirkungen informiert war, ist nicht bekannt. (…). Trotzdem muß Lincoln sie erkannt haben. Er hat die [verheerenden zivilen Konsequenzen] nicht nur toleriert, sondern Sherman nach deren ‚erfolgreichem‘ Abschluß seine ‚dankbare Anerkennung‘ ausgesprochen, was einen dunklen Fleck in der Beurteilung seiner Persönlichkeit und moralischen Integrität hinterlassen hat.

Den Triumph des Sieges konnte Lincoln nicht lange auskosten. Bereits sechs Tage später, am 15. April – einem Karfreitag -, erlag er einem Attentat des Südstaaten-Extremisten John Wilkes Booth, das dieser auf ihn während einer Theateraufführung im Beisein seiner Ehefrau Mary in Washington verübte. Ist Lincoln schon im Leben zu einzigartiger Größe aufgestiegen, so sollte ihm dieser Tod an einem Karfreitag unmittelbar nach dem Sieg noch eine die politische Kultur der USA kennzeichnende zivilreligiöse Weihe – ikonisch verstärkt mit den bekannten späten Porträts, in denen Lincoln die Last des Amtes regelrecht in sein Gesicht eingetrieben schien – zum bis heute wirksamen nationalen Märtyrer-Mythos geben.

Doch 150 Jahre nach seinem Tod hat die Strahlkraft von Lincolns Mythos spürbar nachgelassen. Amerikans Demokratie steht stärker unter Druck denn je. Spätestens zur Präsidentschaftswahl 2016 zwischen Hillary Clinton und Donald Trump wurde eine neue Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft offenbar, deren Gräben sich nicht geographisch einordnen lassen. Sie ziehen sich zwischen Generationen und Rassen, trennen liberale urbane Zentren von konservativen ländlichen Regionen, scheiden kosmopolitische Anywheres von verwurzelten Somewheres.

Es ist eine merkwürdige Volte der Geschichte, daß in diesem Kulturkampf der Furor der „woken“ Bewegung nicht allein die Denkmäler der konföderierten Kriegshelden wie Lee vom Sockel stürzt, sondern die Hand sogar an Lincolns Erbe legt: Aus San Franciso wurde der – letztlich aufgrund des Widerstands der Eltern gescheiterte – Versuch einer linksliberalen Schulbehörde bekannt, „im Namen der sozialen Gerechtigkeit“ Lincoln als Namensgeber von Lehranstalten zu streichen, aufgrund seiner gegenüber den Indianern ablehnenden Haltung.

Die USA befinden sich unbezweifelbar in einem „kalten Bürgerkrieg“ und die Angst, daß aus diesem ein heißer werden könnte, ist allgegenwärtig. Und ob Präsident Joe Biden das Talent und das Format besitzt, diese Gegensätze miteinander zu versöhnen und einen neuen Konsens herzustellen vermag, ist noch vollkommen offen.

 Jörg Nagler
Abraham Lincoln. Amerikas großer Präsident
2009; 464 Seiten
Ken Burns
Civil War – Der Amerikanische Bürgerkrieg [5 DVDs]
1990; 11 h:15 Min.
Günter Schomaekers
Der Bürgerkrieg in Nordamerika
1977; 160 Seiten
Torben Lütjen
Amerika im Kalten Bürgerkrieg – Wie ein Land seine Mitte verliert
2020; 208 Seiten, 20,- Euro

Putins Werk und Amerikas Beitrag

Der Krieg ist nicht nur der „Vater aller Dinge“ (Heraklit), sein Ausbruch selbst hat zumeist viele Väter. Mit anderen Worten, die Ursachen eines gewaltsamen Konfliktes zwischen Staaten und Nationen lassen sich in den seltensten Fällen monokausal erklären. Die Wurzeln seiner Genese lassen sich oft weit in die Vergangenheit zurückverfolgen, teilweise mit komplexen Verästelungen, in denen sich Ursache und Wirkung nur noch schwer voneinander unterscheiden lassen. Das gilt auch für den gegenwärtigen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Zwar ist Russland aufgrund seines im Februar erfolgten Angriffs nach wiederholter Lüge, es würde an seiner Grenze zur Ukraine lediglich Manöver abhalten, unzweifelhaft in der Rolle des Aggressors. Doch auch dieser Konflikt hat eine Vorgeschichte, die viel mit dem Verhalten des Westens gegenüber Russland tun hat.

Der amerikanische Journalist Tim Weiner ist in der Geheimdienst-Szene bestens vernetzt. International bekannt wurde er als Verfasser einer umfassenden Monographie über die Geschichte des US-Geheimdienstes CIA („CIA: Die ganze Geschichte“; 2007). In seinem letzten, 2021 auf Deutsch erschienenen Werk, – also noch vor Ausbruch des Ukraine-Krieges – beleuchtet er das 75jährige Ringen der USA und der Sowjetunion bzw. Russlands um die Weltherrschaft: „Macht und Wahn. Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945“.

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Weiner beginnt seine Darstellung mit dem berühmten „Langen Telegramm“ des amerikanischen Diplomaten George F. Kennan (1904 – 2005) von 1946, in dem er seiner Regierung im aufziehenden Kalten Krieg eine neue Strategie zur Eindämmung des Sowjetkommunismus unterbreitete. Dies war die Geburtsstunde des politischen Kampfes zwischen den beiden Weltmächten, der mit nichtmilitärischen Mitteln ausgetragen wurde. Seine Instrumente waren verdeckte Operationen, Fake News und Propaganda. Die Schauplätze waren die Länder der Dritten Welt und die osteuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion; ihre Akteure vor allem die Geheimdienste CIA und KGB.

Dabei war Amerika in der Wahl seiner Methoden keineswegs zimperlich. Wo es die US-Administration als notwendig für ihre Interessen erachtete, wurden wie im Iran oder Kongo mißliebige Regierungschefs weggeputscht oder gar liquidiert und die schlimmsten Potentaten hofiert: „Menschenrechte [spielten] in der amerikanischen Außenpolitik nur selten eine Rolle.“

Zu den größten amerikanischen Erfolgen im Informationskrieg im Kalten Krieg dürfte die Herbeischaffung und globale Verbreitung der Geheimrede von Chruschtschow vom 1956 sein, in der er mit seinem Vorgänger Stalin abrechnete.

Die sowjetische Seite wiederum konnte sich mit der Erfindung der Verschwörungstheorie „revanchieren“, wonach AIDS eine in amerikanischen Militärlabors gezüchtete Krankheit sei. Diese Mär hat über den Kalten Krieg hinaus bis heute in Millionen Köpfen überlebt.

Von besonderem Interesse ist die zweite Hälfte des Buches, in welchem Weiner die weitere Entwicklung nach dem Triumph der USA im Kalten Krieg beschreibt, und hier vor allem der Weg, den die USA mit der NATO-Osterweiterung eingeschlagen haben.

In den vergangenen Wochen und Monaten wurde in den deutschen Medien vielfach verbreitet, es sei ein Mythos gewesen, „dass sich die Nato mit der Osterweiterung schuldig gemacht habe, weil diese gegen Versprechen von Anfang der 90er verstoßen habe. (…) Dieses Narrativ sollte sich erledigt haben. (…) Die Regierung Jelzin aber akzeptierte das Selbstbestimmungsrecht der Warschauer-Pakt-Staaten und ehemaliger Sowjetrepubliken: Im Budapester Memorandum bestätigte Russland deren Souveränität – für den Verzicht auf Nuklearwaffen.“ (pars pro toto Mark-Christian von Busse in der HNA vom 15. März 2022). Jedoch, ganz so einfach stellt sich die Historie der NATO-Osterweiterung nicht dar.

Bereits US-Außenminister George Baker gab 1990 dem sowjetischen Staatschef Gorbatschow die „kategorische Zusicherung“: „Nicht einen Zoll weiter nach Osten.“ Vor einer Abkehr dieser Linie warnten auch hochrangige Militärs und Diplomaten, wonach „die Russen die Erweiterung der NATO als existenzielle Bedrohung betrachten würden“.

Gorbatschows Nachfolger Jelzin, den Weiner in entscheidenden Momenten als alkoholisiert beschreibt, ließ sich auf das „doppelzüngige Spiel“ des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton ein, der einerseits Jelzin unterstützte, andererseits das Projekt der NATO-Osterweiterung betrieb. Die Clinton-Administration hatte selbst nach Einschätzung ihrer eigenen Diplomaten die Russen in dieser Frage eindeutig hintergangen. Vize-Außenminister Strobe Talbott bekannte intern: „Die NATO-Erweiterung wird, wenn sie stattfindet, per definitionem Bestrafung oder ‚Neo-Containment‘ des bösen Bären sein“.

Talbott machte unumwunden deutlich, daß es zwischen den USA und Russland nicht um eine Begegnung auf Augenhöhe gehen könnte. Amerika wollte der Sieger des Kalten Kriegs sein. Es wollte seine Macht und seinen Einfluß weltweit ausdehnen und wiederholte damit den Fehler, der nach dem Zweiten Weltkrieg begangen wurde, als man es sträflich unterließ, den früheren Feind in eine seine Interessen berücksichtigende Friedensordnung einzubinden.

Das mit dem Budapester Memorandum verbundene Beitrittsangebot der NATO an Polen, Ungarn und die Tschechische Republik fasst Weiner in seiner Wirkung auf die russische Seite drastisch zusammen: „Dies verstärkte Russlands Gefühl, dass die Amerikaner den Bären nicht nur in einen Käfig sperren, sondern ihm auch noch die Augen ausstechen wollten.“

Das „große Spiel“ erfuhr 2000 eine bedeutende Wende, als Wladimir Putin von Jelzin das Amt des Russischen Staatspräsidenten erbte. Der frühere KGB-Agent Putin – „ein Tschekist bis ins Mark“ – , getrieben von seiner traumatischen, hautnahen Erfahrung des Untergangs der Sowjetunion, hatte zwei Ziele: Rache an Amerika und die Wiederherstellung der alten Größe Russlands. Umgehend wurde der Staatsapparat mit Geheimdienstagenten durchsetzt und so aus den Trümmern der Sowjetunion ein neuer Geheimdienststaat geschaffen, der den früheren politischen Krieg wiederaufnahm.

Der Informationskrieg wurde zu Putins stärkster Waffe, seine Instrumente Cyberangriffe, Medienmanipulation und psychologische Operationen, „die effizienteste politische Kriegsführung des 21. Jahrhunderts“. Die Cyberattacken auf Estland 2007 und der Hack in die IT-Wahlmaschinerie der Ukraine waren erste Kostproben der neosowjetischen Strategie Putins.

Besonderes Aufsehen erregte 2014 die Veröffentlichung eines von russischen Geheimagenten mitgeschnittenen Telefonats zwischen der hochrangigen US-Diplomatin Victoria Nuland und dem amerikanischen Botschafter in der Ukraine, das die tiefe amerikanischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes dokumentierte. Berühmt wurde dieses Telefonat wegen des darin enthaltenen Kraftausdrucks von Nuland, man könne „auf die EU scheißen“.

Doch das waren nur Gesellenstücke auf dem Weg zum großen Ziel: Die heimliche Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahl von 2016, dem großen Zweikampf der Kandidaten Hillary Clinton und Donald Trump.

Weiner legt ausführlich dar, wie Russland mithilfe seiner in Sankt Petersburg ansässigen Troll-Fabrik in den Wahlkampf eingriff, zugunsten des Kreml-Wunschkandidaten Trump. Kompromittierendes Material gegen Clinton wurde von den Servern der Demokratischen Partei gestohlen und WikiLeaks zugespielt, das Internet mit Fake News geflutet und aufgeheizt, während das amerikanische Programm von Russia Today eine massive Kampagne fuhr, um durch die Unterstützung einer linken Außenseiter-Kandidatin Clinton entscheidende Stimmen zu entziehen und die Wählerschaft der Demokraten zu spalten. Der Angriff traf die USA vollkommen unvorbereitet. Ebenso gab es zahlreiche vom FBI dokumentierte Kontakte der Teams von Trump und Putin.

Das Ende der Geschichte ist bekannt: Mit Trump wurde ein Kandidat zum Präsidenten gewählt, der den Interessen des Kremls am dienlichsten war, der die NATO für „obsolet“ hielt, das außenpolitische Engagement der USA zurückfahren wollte und darüber hinaus Putin mit viel Lob bedachte.

Weiner läßt offen, ob er den heimlichen Angriff des Kremls als den entscheidenden Ausschlag für Trumps Wahl ansieht. Ebenso legt er sich nicht explizit fest, ob er Trump für einen russischen Einflußagenten hält.
Dennoch, Trump belastendes Material gibt es zuhauf. Doch sollte nicht außer Acht gelassen werden, daß Putins Trolle die politisch aufgeheizte Stimmung und die ihr zugrunde liegende jahrzehntelange Entwicklung gesellschaftlicher Spaltungen lediglich für ihre Zwecke instrumentalisieren, aber keineswegs lenken oder gar herbeiführen konnten. Es bleiben auch Zweifel an Trumps Nutzen für Russland, denn immerhin hat er sich gegen eines der wichtigsten Kreml-Projekte, die Erdgasverbindung Nord Stream 2, ausgesprochen. Dennoch, auch ohne den letzten Beweis muß unter der Last der Fakten Trumps Wahlsieg mindestens als kompromittiert angesehen werden.

Wäre Weiners Buch ein Politthriller, er wäre höchst unterhaltsam. Aber tatsächlich ist es ein beklemmendes Dokument, das auf eine für die westlichen Demokratien trübe Zukunft einstimmt, eine Zeit, in der es den Wählern immer schwerer fallen wird, die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden und dabei jede Sicherheit zu verlieren gehen droht, in ihren politischen Entscheidungen nicht Opfer einer perfiden Manipulation zu sein. Und die schlimmste Vorstellung daran: Die Marionettenspieler müssen noch nicht einmal im feindlichen Ausland sitzen – sie könnten auch aus dem eigenen Land kommen.

Tim Weiner
Macht und Wahn
Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945
2021; 352 Seiten; 26,- Euro

„Die Partei hat immer recht“

Angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wird auch das Welt- und Geschichtsbild Vladimir Putins näher in Augenschein genommen. Nach Ansicht des Osteuropahistorikers Alexander Brakel nimmt darin der sowjetische Diktator Josef Stalin (1878 – 1953) eine zentrale Rolle ein, als derjenige der die Sowjetunion zum Triumph über Nazi-Deutschland führte und sie in ihrer nationalen Stärke zur Supermacht formte (Die WELT vom 16.3.2022). Wie wenig Platz darin hingegen die Massenverbrechen Stalins einnehmen, machte das Verbot der Nichtregierungsorganisation Memorial, die sich der Aufarbeitung des Stalinismus widmete, vom vergangenen Dezember deutlich.

Die eiserne und grausame Hand Stalins umfasste nicht alleine die Sowjetunion, sondern auch ihre osteuropäischen Satellitenstaaten. Das Programm aus Gleichschaltung, Folter, Schauprozessen und Hinrichtungen bestimmte auch hier die politische Agenda. Eine Episode daraus bildet der Prager Slánský-Prozess von 1952 gegen eine angebliche Verschwörergruppe innerhalb der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Mit dem Meisterwerk „Das Geständnis“ (1970) setzte der griechische Regisseur Costa-Gavras diesem Prozess ein filmisches Denkmal.

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Mit Yves Montand (1921 – 1991) und seiner Gattin Simone Signoret (1921 – 1985) wurden die Hauptrollen mit zwei Ikonen aus der Hochzeit des französischen Kinos besetzt. Ihre Mitwirkung daran ist auch insofern bemerkenswert, da sich ihre beiden Vitae durch eine zunehmende Abwendung vom sie seit ihrer Jugend prägenden Kommunismus auszeichnet, die spätestens mit dem Prager Frühling 1968 zum endgültigen Bruch führte. Montands Weg führte noch weiter zu der antikommunistischen Rechten, auf deren Seite er gar den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan unterstützte.

Montand spielt Artur Ludvik, ein Veteran des Spanischen Bürgerkriegs und des französischen Widerstands gegen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg. In der Nachkriegszeit stieg er in der Tschechoslowakei zum stellvertretenden Außenminister auf. Durch „Kontaktschuld“ mit der Spionage verdächtigen Personen gerät er mit weiteren Veteranen in das Visier der Ermittlungen der Geheimpolizei, in deren Hintergrund sowjetische Berater auf Geheiß Stalins die Fäden ziehen. Der Festnahme folgen kafkaeske Verhöre, entwürdigende Haftbedingungen in totaler Abschirmung von der Außenwelt, Scheinhinrichtung inklusive. Auch wenn Ludvik monatelang dem zermürbenden Druck der Gehirnwäsche standhalten kann, bricht er am Ende zusammen und unterschreibt das ihm untergeschobene Geständnis. In seiner ausgezehrten, verwahrlosten Gestalt bietet Montand neben „Lohn der Angst“ hier eine seiner besten Vorstellungen.

Zur Strategie der Ermittler gehört auch der perfide Versuch, die Beziehung von Ludvik zu seiner Ehefrau Lise (Simone Signoret), denen jeder Kontakt verboten wird, zu zerbrechen. Einerseits von der Unschuld ihres Mannes überzeugt, hält sie dennoch treu zur Kommunistischen Partei in Erwartung, daß sich alles klären werde: „Die Partei hat immer recht“.

Der Schauprozeß vor dem Staatsgerichtshof gegen Ludvik und 13 weitere Angeklagte erhält durch die jüdische Herkunft von elf von ihnen eine starke antisemitische Tendenz, da Juden als „wurzellose Kosmopoliten“ als unzuverlässige Elemente gelten. Gegen elf Angeklagte wird die Todesstrafe verhängt und vollstreckt, ihre Asche zerstreut. Drei Angeklagte wiederum – darunter auch Ludvik – erhalten lebenslange Haftstrafen.

„Das Geständnis“ beruht auf dem Tatsachenbericht von Artur London, dem Vorbild von Artur Ludvik. London wurde 1956, dem Jahr in welchem der Stalin-Nachfolger Chruschtschow mit dem Stalinismus brach, freigelassen. Er emigrierte 1963 nach Frankreich, wo er 1968 sein Buch „Ich gestehe“ veröffentlichte. Das Buch und der Film konnten trotz des hohen Kritikerlobs die Linke nur zeitweise irritieren. Selbst Zweifel an seiner Authentizität wurde aus diesen Kreisen heraus geäußert. Man fühlt sich an das bereits 1946 auf Französisch veröffentlichte, 400.000fach verkaufte Buch „Sonnenfinsternis“ von Arthur Koestler erinnert, das die KPF zu hektischen Gegenmaßnahmen veranlaßte. Das alles ist nicht weiter verwunderlich, denn die Linke hat sich äußerst selten durch unangenehme Fakten in ihren utopischen Träumen einer Alternative zum Kapitalismus verwirren lassen. Da muß ein Film wie „Das Geständnis“ auf nicht wenige von ihnen wie eine extreme Zumutung wirken.

Das Geständnis
Mit Yves Montand, Simone Signoret
1970, Laufzeit: 2:19

Der Liquidator der Römischen Republik

Das historische Porträt: Gaius Julius Cäsar

An warnenden Vorzeichen hatte es nicht gemangelt. Doch weder die düsteren Prophezeiungen seines Auguren Spurinna noch die Albträume seiner Gattin Calpurnia in der Vornacht konnten Gaius Julius Cäsar davon abhalten, die an den Iden des März, dem 15. März 44 v. Chr. anberaumte Senatssitzung aufzusuchen. Rund 60 Verschwörer aus der Senatsaristokratie – darunter auch sein mutmaßlicher Sohn Brutus – erwarteten ihn, die Dolche unter der Toga versteckt, um schließlich loszuschlagen. Am Ende zählte der von einer geballten Ladung leidenschaftlichen Hasses entstellte Körper des Opfers 23 Stiche. Cäsar starb 56jährig den Tod, den er sich immer gewünscht hat, den „plötzlichen und unerwarteten“.

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Der erst wenige Wochen zuvor nach einem Bürgerkrieg, aus dem er als Sieger hervorging, zum römischen Diktator auf Lebenszeit ernannte Cäsar war am Ende nicht nur auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Nie zuvor in der Geschichte Roms hat ein Mensch ein derart gewaltiges Imperium mit einer solchen Machtfülle regiert. Seine Feldzüge führten ihn von Britannien bis nach Ägypten. Seine Liaison mit der ägyptischen Königin Kleopatra bietet bis heute Stoff für Romantiker und Hollywood-Klischees.

Erst sein blutiges Ende machte Cäsar im historischen Sinne unsterblich. In seiner Bekanntheit dürfte dieses politische Attentat auf einer Stufe mit der Ermordung Kennedys stehen. Die sich daraus ergebende Faszination ist ungebrochen und schlägt sich in einer nicht enden wollenden Ausgabe von Biographien nieder.

Cäsars Weg an die Spitze zeichnete sich dadurch aus, daß ihm der Erfolg keineswegs, wie in dynastischen Erbfolgen üblich, in die Wiege gelegt wurde. Er mußte ihn sich hart erkämpfen. Die Adelsfamilie der Julier, in die er 100 v. Chr. hineingeboren wurde, verfügte nur über einen alten Namen, aber nicht über Reichtümer.

Die römische Republik seiner Zeit wurde auf dem Grundsatz gegründet, niemals die unumschränkte Herrschaft eines Einzelnen zuzulassen. Machtteilung und durch Wahlen vergebene Ämter auf Zeit waren die tragenden Säulen ihrer Verfassung. An der Spitze des Staates standen nach dem Kollegialitätsprinzip zwei auf ein Jahr gewählte Konsuln. Doch von Anfang an bestand das Problem, daß dieses System den gleichzeitig von der Tradition geförderten Ehrgeiz, im gegenseitigen Wettbewerb nach höchster Ehre zu streben, immer schwerer eindämmen konnte. „Gerade weil die Römer größeren Durst nach Ehre verspürten als jedes andere Volk auf der Welt, waren sie ihren Gefahren gegenüber stärker auf der Hut. Je süßer der Ruhm, desto größer die Gefahr der Vergiftung“ (Tom Holland). Und Ruhm erwarb der Römer vor allem durch militärische Erfolge, die die Grundlage für eine spätere politische Karriere legten. Ruhm war für die Römer wichtiger als Frieden und der eigentliche Motor ihrer Expansion, die in Cäsars Ära fast das gesamte Mittelmeer umfasste.

Zudem erschütterte die sich verschärfende Agrarkrise die römischen Kernlande, mit immer größeren Massen verarmter Bauern, die das Heer des urbanen Plebs vergrößerten. In der zunehmenden Polarisierung standen sich zwei Parteiungen gegenüber, die alteingesessene Senatsoligarchie der Optimaten, die starr auf dem Status quo bestand und die Popularen, die sich der Volksmassen als Machtbasis bedienten.

Aufgrund seiner Herkunft stand Cäsar den Popularen nahe. Sein Aufstieg über die Ämterlaufbahn war gekennzeichnet von Extravaganz und äußerster Freigiebigkeit, durch die er das Volk nach dem klassisch-römischen Prinzip „Brot und Spiel“ unterhielt und damit auf seine Seite zog. Sein Talent als politischer Überlebenskünstler bewies er dadurch, daß er unbeschadet durch die Catilinaische Verschwörung (63 v. Chr.) kam. Währenddessen wuchs seine Verschuldung an und brachte ihn in die Abhängigkeit der schwerreichen, grauen Eminenz Crassus. Weitere Stationen waren die Statthalterschaft in Hispanien und schließlich 60 v. Chr. das Konsulat, das er zusätzlich mit dem Ersten Triumvirat absicherte, ein informelles Bündnis mit Crassus und dem Feldherren Pompeius.

Seine Reformen zur Linderung der Agrarkrise und der Landzuteilungen für Armeeveteranen konnte er nur über Rechtsbrüche durchsetzen und brachte ihm die erbitterte Gegnerschaft der Optimaten ein. Um nach Ablauf des Konsulats weiterhin unter dem Schutz der juristischen Immunität zu stehen, nahm er in Gallien und Illyrien die Statthalterschaft an. Die Immunität war seine letzte Lebensversicherung und erhielt damit auch den Bestand der von ihm erlassenen Gesetze. Jetzt ergab sich die Ausgangsbasis für den Gallischen Krieg (58-51/50 v. Chr.), den er vom Zaun brach, mit zwei zwischenzeitlichen kurzen Sprüngen über den Ärmelkanal nach Britannien. Seine rücksichtslose Kriegsführung nahm die Ausmaße eines Genozids an, war aber eine effektive, ruhmreiche „politische PR“ für die heimischen Massen, bewältigte er doch auf diese Weise das kollektive Trauma von der barbarischen „Gefahr aus dem Norden“.

Doch Cäsars Machtzuwachs durch erfahrene, ihrem General loyal ergebene Legionen und seine nun schier unbegrenzten Mittel steigerten die Ängste seiner senatorischen Gegner vor dem autokratischen Staatsstreich. Das Triumvirat war inzwischen zerbrochen, nachdem Crassus 53 v. Chr. auf einem Feldzug im Orient fiel und Pompeius sich dem Senat wieder zuwandte. Statt der Aufforderung des Senats zur Auflösung seiner Legionen nachzukommen, überschritt der zum Staatsfeind erklärte Cäsar mit diesen im Januar 49 v. Chr. den Rubikon, einen kleinen Grenzfluß in Norditalien. Es war der Auftakt zum Bürgerkrieg.

Der Legende nach unterlegte Cäsar die Grenzüberschreitung mit dem zum geflügelten Wort gewordenen „alea iacta est – die Würfel sind gefallen“. Hier zeigt sich der Vabanque-Spieler, der den höchsten Einsatz – wenn nicht sogar dem des eigenen Lebens – riskiert. Es ist ein Bild, das seltsame Assoziationen zu aktuellen Vorgängen evoziert und damit Zweifel, ob die Bewunderungswürdigkeit „großer Männer“ der Vergangenheit heute noch angemessen ist.

Aus der Perspektive ihrer beschränkten militärischen Mittel durchaus nachvollziehbar, unterlief den Gegnern Cäsars ein psychologisch-politisch schwerer Fehler, als sie die italienische Halbinsel räumten und nach Griechenland auswichen. Denn nun standen Cäsar Rom und seinen Senat offen: „Indem er aus der Stadt floh, hatte sich der Senat von all denen getrennt – der großen Mehrheit der Bürger -, die es sich nicht leisten konnten, alles zusammenzupacken und ihre Heimstäte zu verlassen. Das Gemeinschaftsgefühl, das selbst die ärmsten Bürger mit den Idealen des Staates verbunden hatte, schien dadurch kompromittiert“ (Tom Holland).

Durch seine demonstrative Milde gegenüber seinen Gegnern, denen er habhaft wurde, nahm er dem Volk die Sorge vor einem Blutbad und damit weiter für sich ein. In den folgenden Kampagnen, die ihn von Hispanien über Griechenland, Ägypten – und hier in die Arme von Kleopatra – und Nordafrika führten, schaltete er nacheinander den Widerstand aus, während Pompeius zwischenzeitlich auf Befehl des ägyptischen König Ptolemaios ermordet wurde

Seine Alleinherrschaft sicherte sich Cäsar im Februar 44 v. Chr. so ab, daß seine Amtszeit als Diktator ein Amt, das gemäß der Verfassung eigentlich nur auf sechs Monate befristet war – nun von zehn Jahren auf unbegrenzte Dauer verlängert wurde. Die Republik Rom war damit am Ende. Die in offenkundigen Inszenierungen angetragene Königswürde lehnte er demonstrativ ab, was aber den tiefsitzenden Haß seiner Gegner nicht mildern konnte. So formierte sich mit dem bekannten Ende eine senatorische Verschwörung, um über die Leiche des Diktators hinweg die republikanische Freiheit wiederzubeleben.

Cäsars Lebensbilanz im war gewaltig, im Guten wie im Schlechten. Einerseits erkannte er den Reformbedarf der römischen Institutionen, die den Anforderungen eines Weltreichs nicht mehr angemessen waren. Die Liquidierung der Republik betrieb er deswegen, weil er erkannte, daß diese „so nicht mehr leben kann. Weder politisch, noch ökonomisch. Weil sich die Welt nicht länger von einigen noch nicht einmal 100 adligen Familien Roms ausplündern läßt“ (Wilhelm Hankel). So setzt er an die Stelle der unbeschränkten Ausplünderung der eroberten Provinzen auf ihre wirtschaftliche Entwicklung und schuf mit dem Aureus die erste Weltwährung, die immerhin 400 Jahre Bestand hatte. Und vielleicht dürften auch hier die eigentlichen Interessen liegen, die seine vorgeblich von idealistischen Motiven angetriebenen Mörder verletzt sahen. Noch längeren Bestand hatte seine Kalenderreform; der Julianische Kalender sollte teilweise noch bis in das 20. Jahrhundert Verwendung finden.

Auf der anderen Seite steht nicht allein sein brutales Kalkül, das auch vor Kriegstreiberei und Völkermord nicht zurückschreckte. „In Cäsars Energie war etwas Dämonisches und Erhabenes. Sie war geprägt von Kühnheit, Ausdauer und dem Verlangen danach, der Beste zu sein, und brachte den Geist der Republik in seiner begeisterndsten und tödlichsten Form zum Ausdruck.“ (Tom Holland)

Seine Mörder überlebten ihr Opfer nicht lange. Cäsars Gegenspieler Cicero, der in die Verschwörung nicht eingeweiht war, bescheinigte ihren Urhebern „Mannesmut, aber mit Kinderverstand“. Unfähig für die Zeit nach der Tat Vorkehrungen zu treffen, kamen sie allesamt in dem nachfolgenden Bürgerkrieg innerhalb von drei Jahren ums Leben. Schließlich vollendete Cäsars Neffe und Erbe Oktavian (63 v. Chr. – 14 n. Chr.), der spätere Augustus, was sein Adoptivvater begonnen hat. Das von ihm installierte Prinzipat bediente sich der republikanischen Institutionen, um das in Wahrheit monarchische System der Kaiserherrschaft zu kaschieren. Als Kaiser Augustus transformierte er den republikanischen Stadtstaat Rom in das römische Weltreich, das auch nach seinem Untergang für viele Nachfolger zu einem später mit christlichen Motiven angereicherten Sehnsuchtsbild eines universellen Friedensreiches werden sollte.

Doch der Preis, den die Römer dafür bezahlten, war hoch. Aus Bürgern wurden Untertanen, Freiheit tauschten sie für Ruhm aus, und waren dabei ausgeliefert der Willkür eines unumschränkten Autokraten. Diese konnte vom Falle der nachfolgenden als Cäsar (aus dem später der Titel „Kaiser“ wurde) bezeichneten Herrscher herausragende und prägende Persönlichkeiten wie Vespasian, Trajan oder Marc Aurel sein. Aber auch so bedenkliche, der absoluten Korrumpierung durch absolute Macht – in der Psychopathologie auch „Caesarenwahn“ genannt – erlegene Charaktere wie Nero, Domitian und Commodus.

Wilhelm Hankel
Caesar: Weltwirtschaft des Alten Rom
1987
Tom Holland
Rubikon: Triumph und Tragödie der Römischen Republik
464 Seiten; 18,-

Das einzige Wild, das zu jagen sich lohnt

Der im vergangenen Jahr im Alter von 88 Jahren verstorbene, französische Schauspieler Jean-Paul Belmondo zählte bereits zu den Superstars der Filmindustrie seines Landes und auch darüber hinaus, als er sich in den 1970er Jahren zu einem harten Imagewechsel entschied. Stand er bislang als Charakterdarsteller anspruchsvoller Filme vor der Kamera, wie in Goddards Meisterwerk „Außer Atem“ (1960), orientierte er sich um zum kommerziell ausgerichteten Actionfilm. Den Kritikern mißfiel der Schwenk, was Belmondos Karriere jedoch keinen Abbruch tat. Einer seiner besten Filme aus dieser Zeit ist „Der Greifer“ von 1976.

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Belmondo spielt darin Roger Pilard, einen früheren Großwildjäger. Doch statt im Löwen und Tiger stellt er im verdeckten Auftrag der französischen Justiz dem Organisierten Verbrechen nach. Seine Dienste werden gut honoriert, doch ist Geld nicht seine eigentliche Motivation: „Das einzige interessante Raubtier, das zu jagen sich lohnt, ist der Mensch. Er ist bösartig, unberechenbar und feige.“

Ein besonderes Wild, auf das diese Beschreibung zutrifft, ist ein nur „die Bestie“ genannter Verbrecher, der junge Herumtreiber aufliest und für seine Raubüberfälle zu Komplizen macht. Zeugen, die ihn wiedererkennen könnten, räumt er erbarmungslos aus dem Weg, auch seine naiven Mittäter. Pilards einzige Verbindung zur „Bestie“ ist Costa Valdez, dem einzigen Komplizen, der der Bestie entkommen konnte. Schweigend gegenüber der Polizei sitzt er in einem Hochsicherheitsgefängnis. Pilard muß ihn zum Reden bringen…

Belmondo brilliert als „der Greifer“ in seiner populärsten Paraderolle als sportlicher, harter Knochen, immer mit einem lockeren Spruch auf den Lippen. „Unnötige Härten“ bescheinigte ihm das Lexikon des Internationalen Films, was in der Rückschau selbst für die damalige Zeit reichlich übertrieben erscheint. Heute jedoch ist die Gewaltdarstellung im Film zu einer eigenen Kunstform erhoben.

Mit der von Bruno Cremer verkörperten „Bestie“ steht ihm ein Gegner gegenüber, der keinerlei Skrupel kennt. In seiner Performance bleibt Cremer auf Augenhöhe mit Belmondo, ohne ihn in den Schatten zu stellen. Nur in den 1970er Jahren war es wohl noch möglich, dieser Figur, die zur Bedienung aller Klischees auch noch ein Flugzeug-Steward ist, einen schwulen Touch zu geben.
Das Frankreich, in dem „Der Greifer“ spielt, könnte kaum kaputter sein: Ein auf allen Ebenen korruptes Land in Trostlosigkeit, deren Ausdruck noch verstärkt wird durch das Setting in der Herbstzeit, der baumlosen Weiten und der kalten Beton-Architektur, die die letzten heruntergekommenen Relikte der glorreichen Vergangenheit einzwängt.

Fast 50 Jahre später ist Belmondos „Greifer“ wie eine cineastische Zeitreise, als Frankreichs Kino noch stilgebend und bedeutsam war. Aber auch in einem Jahrzehnt, das vor ästhetischen Geschmacklosigkeiten wie Schlaghosen und häßlichen Krawattenmustern nur so strotzte. Aber vor allem als ein Denkmal für einen begnadeten Schauspieler, der nicht nur zu den besten von Frankreich, sondern ganz Europas zählt.

Der Greifer
Mit Jean-Paul Belmondo, Bruno Cremer
1976, Laufzeit 1:36

Botschafter zu den Sternen

Das historische Porträt: Pioneer 10

Die Überwindung dessen, was an Unbekannten jenseits des Horizonts liegt, gehörte schon immer zu den größten Antrieben des Menschen. Sie ließ ihn die höchsten Berge überwinden und endlos erscheinenden Ozeane überqueren. Doch irgendwann im 20. Jahrhundert war auch der letzte unbekannte Winkel der Erde ausgeforscht. Mit der Entwicklung der Raumfahrt neigte sich das menschliche Interesse den schier unendlichen Weiten des Weltraums zu. 1957 startete die Sowjetunion mit Sputnik den ersten künstlichen Trabant. 12 Jahre später vollzogen die konkurrierenden USA ihrerseits mit dem ersten Menschen auf dem Mond „einen großen Schritt für die Menschheit“ nach.

Nur drei Jahre nach der Landung der Apollo-Mission auf den Mond gingen die USA einen weiteren Schritt in der Weltraumfahrt. Am 3. März 1972 – heute vor genau 50 Jahren – startete vom Weltraumbahnhof Cape Canaveral auf einer Atlas-Centaur-Trägerrakete die Raumsonde Pioneer 10. Mit ihr sollte erstmals eine Raumsonde in den interstellaren Raum vorstoßen.

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Quelle: Nasa.gov

Mit am Bord befinden sich elf wissenschaftliche Instrumente, unter anderem ein Meteoriten-Detektor, verschiedene Messgeräte zu unterschiedlichen Strahlungsarten und zur Analyse des Jupiter, zu dem die Sonde im November 1973 vorstieß, um in einem Swingby-Manöver den letzten nötigen Schwung zum Weiterflug aus dem Sonnensystem heraus zu holen.

Doch der interessanteste Teil der Sonde gehört nicht zum naturwissenschaftlichen Programm, sondern ist ein Produkt kultureller Überlegungen. Die Planer der Sonde wollten diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen, ohne der Sonde eine Botschaft von ihren Erbauern mitzugeben, für den Fall, daß sie auf ihrer weiten Reise auf eine extraterrestrische Zivilisation stößt. Die Konzeption dieser „kosmischen Flaschenpost“ oblag den Astronomen Frank Drake (* 1930) und Carl Sagan (1934 – 1996). Aus der Überlegung, wie man einer von der Menschheit vollkommen verschiedenen außerirdischen Spezies unsere Natur und Herkunft vermittelt, entwickelten sie die Idee einer Plakette mit verschiedenen Zeichnungen.

Mit einer Fläche von 152 zu 229 Millimetern (kleiner als ein DIN A4-Blatt) und einer Dicke von 1,2 Millimetern ist die Größe der goldbeschichteten Aluminiumplatte, auf die die Zeichnungen eingeätzt wurden, recht bescheiden. An dem Antennenmast der Pioneer-Sonde wurde sie so angebracht, daß sie optimal gegen den Weltraumstaub geschützt ist.

Quelle: de.wikipedia.org

Auf der Plakette sieht der Betrachter in der linken Hälfte einen Punkt, von dem ein Strahlenbündel unterschiedlicher Länge ausgeht. Es symbolisiert die Position der Erde in Relation zu 14 sie umgebenden Pulsaren, also Radiostrahlen aussendende Neutronensterne. Ihre individuelle Radiofrequenz ist durch binäre Symbole neben dem jeweiligen Strahl wiedergegeben. Damit lassen sich sowohl der Ausgangspunkt der Sonde als auch ihr Startzeitpunkt genau ermitteln, denn die Radioimpulse eines Quasars nimmt gesetzmäßig ab.

Unterhalb der Plakette ist das Sonnensystem abgebildet, mit der Flugroute der Pioneer von der Erde zum Jupiter und darüber hinaus ins Weltall. Auch hier finden sich zu den Planeten (zu denen seinerzeit auch der Pluto gehörte, dem 2006 der Planetenstatus aberkannt wurde) Binärsymbole, die ihre relative Entfernung zur Sonne angeben.

Oben links finden sich zwei miteinander verbundene Kreise, das Symbol für ein strahlendes Wasserstoffatom. Wasserstoff ist das häufigste Element im Kosmos und seine Radiostrahlung und Schwingungsdauer sind überall gleich. Damit hat der Empfänger der „Flaschenpost“ ein universell verstehbares Maß zur Verfügung für die in der Botschaft verschlüsselten Längen- und Zeiteinheiten.

In der rechten Hälfte ist vor dem Hintergrund der schematischen Pioneer ein nacktes Menschenpaar in ihrem jeweiligen Größenverhältnis zueinander abgebildet, die rechte Hand des Mannes zum Gruß erhoben. Aber wird ein außerirdischer Betrachter die Bedeutung dieser zutiefst menschlichen Geste je verstehen und erfassen können? Es ist eine Sache, einer vernunftbegabten, technisierten Alien-Zivilisation mitzuteilen wo wir sind; eine andere ist es, ihr zu vermitteln, was wir sind.

Da wo sich die Botschaft der Plakette „menschlich“ zeigt, da offenbaren sich die Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen einander vollkommen unbekannten Absender und Adressaten. Wird der Empfänger die naturwissenschaftlichen Chiffren noch übersetzen können, wird ihm wohl jedes Verstehen des abgebildeten Menschenpaars abgehen. Doch auch auf der Erde fiel dieser Teil der Abbildung auf Unverständnis. Die Nacktheit und der Anthropozentrismus fanden nicht überall Gefallen. Bei den nachfolgenden Voyager-Sonden wurde dann auch auf jede Abbildung eines Menschen bewußt verzichtet.

Später erhob der britische Astrophysiker Stephen Hawking sogar grundsätzliche Kritik daran, daß Raumsonden Botschaften mitgegeben würde, die Außerirdischen unsere Existenz und Position im Weltall verraten würden. Denn vielleicht wären sie uns ähnlicher als uns lieb sein könnten, und nutzten die Informationen zur Invasion der Erde und zur Vernichtung der Menschheit.

Doch angesichts der gewaltigen Ausdehnung des Weltalls und der weiten Entfernung der darin befindlichen Objekte dürfte die Wahrscheinlichkeit, daß die Pioneer jemals auf intelligentes Leben treffen könnte, beliebig nahe gen Null tendieren. Die Erwägung dieser Möglichkeit eignet sich bestenfalls für Science-Fiction, so wie im Film „Star Trek V“, wo ein klingonischer Weltraumkrieger die Pioneer als Weltraumschrott für Schießübungen mit der Laserkanone mißbraucht.

Somit dürfte sich die Botschaft der Pioneer-Plakette eher in einem historischen Sinne an die nachfolgenden Generationen ihrer Erbauer richten, nicht allein als eines der bedeutendsten Dokumente in der Geschichte der Menschheit, sondern auch als Quellenmaterial darüber, welchen Blick wir zum Zeitpunkt ihrer Erstellung auf uns selbst hatten. Und dieser Blick dürfte sich in den vergangenen 50 Jahren erheblich geändert haben! Kann angesichts ausufernder „Identitätskrisen“ um LGBTQ und „postkolonialen Erwachens“ heute noch ein weißes, heteronormativ aussendendes, zweigeschlechtliches Menschenpaar noch die gesamte Menschheit repräsentieren? Niemals würde die woke Bewegung der Social Justice Warriors es noch einmal so weit kommen lassen, obwohl sich aus ihren Reihen nie ein Geist rekrutieren ließe, der es mit der Expertise und den Fähigkeiten jener heute von ihnen zutiefst verachteten „alten weißen Männer“ aufnehmen könnte, die die Pioneer damals entwickelten und ins All schickten.

Zum 50. Jahrestag ihres Flugs hat sich Pioneer 10 mehr als 19 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. Ihren Status als das am weitesten von der Erde entfernte vom Menschen geschaffene Objekt verlor sie 1998 an die 1977 gestartete Sonde Voyager 1, die sie bis dahin durch ihre höhere Geschwindigkeit überholte. Die letzte Kontaktaufnahme mit der Sonde erfolgte am 23. Januar 2003. Seitdem ist Pioneer 10 verstummt.

Helmut Höfling
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