Letzte Siege der Weimarer Republik über ihre Feinde

Mit dem Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs hat 2014 ein enger Reigen 100jähriger Jahrestage der deutschen Geschichte begonnen. Es folgten unter anderem vier Jahre später der Jahrestag des Waffenstillstands und das Ende des Kaiserreiches und damit die Ausrufung der deutschen Republik. Für das nächste Jahr ist ein weiterer Höhepunkt abzusehen: die Krise der Weimarer Republik von 1923 mit der Ruhrbesetzung und der Hyperinflation und damit verbunden dem letztlich gescheiterten Versuch eines damals noch unbedeutenden Rechtsextremisten namens Adolf Hitler, mit seinem Münchner Marsch vom 9. November des Jahres sich in Nachahmung seines italienischen Vorbildes Mussolini in Bayern an die Macht zu putschen. Kuriosität am Rande, wie sehr Zufälle den Lauf der Geschichte bestimmen: Zu seiner Linken nur wenige Zentimeter von Hitler entfernt wurde sein Parteigenosse Max Erwin von Scheubner-Richter von einer Kugel tödlich getroffen. Welchen Weg hätte die Geschichte genommen, wenn das Geschoß stattdessen ihn selbst getroffen hätte?

Der Buchmarkt läuft sich bereits warm im Hinblick auf das Gedenken an 1923. Zahlreiche historische Titel liegen bereits hierzu auf den Tischen der Buchhandlungen. Einer davon, „1923 – Ein deutsches Trauma“ von Mark Jones, verdient dabei eine besondere Aufmerksamkeit.

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Der irische Historiker Jones (* 1981) setzt seine Darstellung beim Vertrag von Rapallo an (April 1922), mit dem das international isolierte und durch das Diktat von Versailles geschwächte Deutschland die Annäherung an das bolschewistische Russland besiegelte, zum Verdruß der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, vor allem von Frankreich als der größte Gläubiger Russlands. Trotz des Erfolgs, der verhinderte, daß die Westmächte Deutschland auch noch die Kriegs- und Vorkriegsschulden des zaristischen Russlands aufbürdeten, fiel wenige Monate später mit Außenminister Walther Rathenau der Architekt der Einigung einem Attentat der rechtsextremen „Organisation Consul“ zum Opfer.

Zu Beginn des Jahres 1923 nahm Frankreich unter Ministerpräsident Raymond Poincaré (1860 – 1934) die nicht vollständig von Deutschland erfüllten Reparationsforderungen zum Anlaß, gemeinsam mit belgischen Truppen das Ruhrgebiet, neben Oberschlesien die industrielle Herzkammer des Reichs, zu besetzen.

An dieser Stelle muß ein ergänzender Hinweis zu Poincaré eingeschoben werden, der dessen sinistere Rolle in der Geschichte erhellt. Poincaré stand bereit 1914 als Staatspräsident an Frankreichs Spitze. 2016 stellte der deutsche Historiker Rainer F. Schmidt die gut begründete These auf, daß dieser durch sein Taktieren entscheidend den Ausbruch des Ersten Weltkrieg zu verantworten habe. Ihm ging es vor allem um Rache für den Verlust von Elsass-Lothringen, aus dem seine Familie nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870-71) vertrieben worden war.

Doch der Sieg über Deutschland im Ersten Weltkrieg war dem ausgewiesenen Deutschenhasser Poincaré nicht genug. In der Ruhrbesetzung ging es nur vordergründig um Reparationen. Sie bot vor allem den Hebel für die Umsetzung des alten französischen Traums, Deutschland so zu zersplittern, daß der ungeliebte Nachbar und „Erbfeind“ als Konkurrent auf Dauer ausfiel und Frankreich so den europäischen Kontinent dominieren konnte.

Für die wehrlos gemachten Deutschen wiederum mußte die Ruhrbesetzung wie ein Hohn erscheinen auf die Versprechungen der Sieger, eine Friedensordnung auf der Basis des Rechts zu begründen. Frankreich nahm sich aus eigener Macht das heraus, was es ihm zuzugestehen meinte, während Großbritannien dabei tatenlos zusah und sich auch die Amerikaner in der Ferne vornehm zurückhielten. Was Deutschland in diesen Tagen widerfuhr, war nicht die Herrschaft des Völkerrechts, sondern die Willkür des Siegers.

Die Deutschen bedienten sich des einzigen Mittels, das ihnen zur Verfügung stand: Der Weg des passiven Widerstands, ausgerufen von der Reichsregierung. Den Besatzern wurde jegliche Kooperation verweigert, die Arbeiterschaft des Ruhrgebiets ging in den Streik.

Ausführlich beschreibt Jones das Leiden der Bevölkerung unter der Besatzung, in einer Deutlichkeit wie es nur ein auswärtiger Historiker vermag, wo seine deutschen Kollegen mit Scheuklappen beschränkt sind. Übergriffe französischer Soldaten auf Zivilisten waren an der Tagesordnung. Wer nicht spurte, wurde in das unbesetzte Reichsgebiet ausgewiesen. Besonders zu leiden hatten die Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen durch Soldaten wurden:

„Das Muster sexueller Gewalt entsprach dem Muster anderer Gewaltakte, darunter die Tötung deutscher Zivilisten durch französisches und belgisches Militär. Vergewaltigung war Bestandteil der allgemeinen Gewaltkultur der Besatzungstruppen gegen die zivile Bevölkerung des Ruhrgebiets“.

Diese Demütigung wurde als besonders schwer empfunden, wenn sie von Soldaten aus den Kolonien verübt wurde. Die Ahndung solcher Verbrechen durch die Armeeführung war allenfalls lasch. Jones konstatiert: „Insgesamt kam die überwältigende Mehrheit der Soldaten mit ihren Verbrechen davon.“

Die Reichsregierung zu Berlin kompensierte den Lohnausfall der Ruhr-Arbeiter durch das verhängnisvolle Anwerfen der Gelddruckerpresse. Das Ergebnis war eine historisch beispielslose Hyperinflation, die die Sparguthaben restlos entwertete und das Wirtschaftsgefüge und die Staatsfinanzen zerrüttete, ohne daß sich ein Abzug der Besatzer abzeichnete.

Zum passiven Widerstand kam der vom Staatsapparat insgeheim geförderte aktive Widerstand. Aktivisten verübten vor allem auf die Bahnverbindungen des Ruhrgebietes Sprengstoffanschläge. Todesopfer waren dabei nicht beabsichtigt, kamen aber vor. Die repressive Antwort der Besatzer bestand in Deportationen und den Mißbrauch von Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Berühmt wurde der Fall des Stoßtruppführers Albert Leo Schlageter (1894 – 1923), an dem die Franzosen in einem kurzen Prozeß ein Exempel statuierten und zum Tode verurteilten. Seine Hinrichtung, aus der später im Dritten Reich ein nationaler Heldenmythos gewoben wurde, geriet für die Besatzer zum „kolossalen Eigentor“, brachte sie die Bevölkerung doch nur noch mehr gegen sie auf.

Gleichzeitig eskalierte die politische Polarisierung zwischen Links- und Rechtsextremisten im übrigen Reichsgebiet. Separatisten machten gemeinsame Sache mit den Besatzern, was letztlich mangels Unterstützung aus dem Volk scheiterte. Antisemitische Übergriffe auf Juden erreichten ein zuvor nicht gekanntes Ausmaß. Ende Oktober probte die moskauhörige KPD in Hamburg und Schleswig-Holstein den bewaffneten Aufstand. Dem gescheiterten Auftakt für eine deutsche Oktoberrevolution kostete am Ende 24 Kommunisten und 17 Polizisten das Leben. Etwa gleichzeitig beendete die Reichswehr in Mitteldeutschland gewaltsame revolutionäre Umtriebe. Der eingangs erwähnte Hitlerputsch mit dem Fall seines Initiators war der letzte Höhepunkt der Krise.

Letztlich mußte sich die Reichsregierung geschlagen geben. Im September 1923 gab Reichskanzler Cuno das Ende des Ruhrkampfes bekannt und schlug einen Kurs der Stabilisierung ein. Doch für die Besatzer war das kein Anlaß, sich als Gewinner zu fühlen:

„Als die Hyperinflation im Spätsommer 1923 ihren Höhepunkt erreichte, war klar, daß sie für alle Seiten ein Desaster war. Nach zehn Monaten hatten die Franzosen weniger Koks und Kohle bekommen als in den letzten Tagen vor der Besatzung; und für die Weimarer Republik waren die Kosten für die Finanzierung des passiven Widerstands höher als die Ausgaben für die Reparationszahlungen.“

Es folgten eine Währungsreform, die der Hyperinflation erfolgreich Einhalt gebot. Eine Neuverhandlung der Reparationen führte zum Abschluß des für Deutschland günstigeren Dawes-Plans, durch den Frankreich in seinen weitreichenden Zielen zurückstecken mußte und schließlich im Sommer 1925 seine Truppen abzog. Frankreich, so Jones, hatte sich „verzockt“.

Im Ergebnis des Ausgangs aus der Ruhrkrise zieht Jones ein positives Fazit und erinnert daran, „dass die Geschichte des Jahres 1923 nicht nur von Radikalisierung und Gewalt handelt; sie ist auch eine Geschichte des Sieges der deutschen Demokraten über ihre Widersacher.“ Doch war es nicht eher ein Pyrrhussieg? Jones nennt das Jahr 1923 „ein deutsches Trauma“. Traumata haben die unangenehme Eigenschaft, selbst auf lange Zeit nicht von allein zu verschwinden. Die Erfahrung der Wehrlosigkeit, des Ausgeliefertseins, der Demütigung und der Entrechtung wird in den Köpfen vieler Deutscher damals noch lange präsent gewesen sein und mit den Boden bereitet haben für den Aufstieg eines vermeintlichen Erlösers in Gestalt des „Führers“.

Es besteht eine merkwürdige Koinzidenz zum 100. Jahrestag der Ruhrkrise der Weimarer Republik und der gegenwärtigen Krise, die die Bundesrepublik gerade durchmacht und die voraussichtlich im kommenden Jahr auf ihren Höhepunkt zusteuert. Analogien sind kaum vorhanden. Zwar sind die aktuell rund 10 Prozent Inflation kein Vergleich zur Hyperinflation, wecken aber doch unangenehme Erinnerungen an damals. Und die Ausgabenpolitik der Ampelkoalition ist keineswegs geeignet, das Gespenst der Inflation auf mittlerer Sicht wieder einzufangen. Auch ist Deutschland in Westeuropa keineswegs isoliert, aber vor allem durch seine gesinnungsethische und desaströse Migrationspolitik sowie seine Energiewende ein Solitär unter seinen Verbündeten. Putins Anwendung der russischen Energielieferungen als Waffe gegen den Westen hat nur die inhärenten Mängel einer vollkommen unausgegorenen Energiewende aufgedeckt. Es steht allen offiziellen Bekundungen zum Trotz der Feind im Inneren heute keineswegs „rechts“, im Gegenteil; mit den weit links angesiedelten und von ideologischen Beglückungsutopien durchdrungenen Grünen haben wir „die heuchlerischste, abgehobenste, verlogenste, inkompetenteste und gemessen an dem Schaden, den sie verursachen, derzeit auch die gefährlichste Partei, die wir aktuell im Bundestag haben“ (Sarah Wagenknecht) und sogar in entscheidenden Schlüsselressorts der Bundesregierung!

Aber wenn beide Krisen etwas gemeinsam haben, dann daß damals wie heute die Existenz Deutschlands als modernes Industrieland mit funktionierender Währung auf dem Spiel stand beziehungsweise wieder auf dem Spiel steht. 1923 konnte diese Gefahr noch abgebogen werden. Doch, daß wir dieses mal wieder so viel Glück haben werden, dafür gibt es allein bei dem Personal unserer politischen Elite mehr als berechtigte Zweifel.

 

Mark Jones
1923 – Ein deutsches Trauma
Propyläen
384 Seiten; 26,- Euro

Der endgültige Sieg des Gekreuzigten

Das historische Porträt: Konstantin der Große (zwischen 270 / 288 – 337 n. Chr.)

Bis heute bleibt es ein Rätsel, welche Gründe Maxentius veranlaßt haben, am Morgen des 28. Oktober 312 n. Chr. mit seinen Truppen das von seinem Rivalen Konstantin belagerte Rom zu verlassen, um die Entscheidungsschlacht zu suchen. Innerhalb der sicheren Mauern Roms und durch volle Vorratslager bestens versorgt, hätte er die Belagerung lange aussitzen können, bis der Feind spätestens im Winter zum Rückzug gezwungen gewesen wäre. Doch offenbar geriet ihm der Boden in Rom zu heiß, wurden ihm die Vorhaltungen ob seiner Passivität zu viel und verlor dadurch vielleicht die Nerven.

Er konnte Konstantin keinen größeren Gefallen tun. Zwar war Maxentius, der mit Konstantin sogar verwägert war, mit seinen Truppen denen des Feindes weit überlegen, doch machte Konstantin das mit seinen bereits in jungen Jahren erworbenen militärischen Erfahrungen und soldatischem Eifer mehr als wett. Doch auf seine in vielen Feldzügen gegen die „Barbaren“ erworbenen Fähigkeiten allein wollte sich Konstantin nicht verlassen. Denn der Legende nach war es göttlicher Beistand, den Konstantin letztlich für sich verbuchen konnte. Durch einen Traum vor der Schlacht eingegeben, befahl er seinen Soldaten auf ihren Schildern das Christusmonogramm Chi-Rho – das von einem X durchkreuzte P – als „magisches Symbol“ auf ihre Schilde aufzutragen. Damals wie heute sind es vor allem Symbole, die Menschen und Armeen in Bewegung setzten.

Die zahlenmäßige Überlegenheit konnte von Maxentius in dem ungünstigen Gelände nicht entfaltet werden. Konstantin nutzte die Gelegenheit und brach an der Spitze seiner Reiterei in die gegnerische Flanke ein. Mit dem Rücken zum angeschwollenen Tiber geriet die Front der Truppen Maxentius ins Schwanken. Mit der ausbrechenden Panik begann ihre Auflösung. Der nahe der abgebrochenen steinernen Milvischen Brücke errichtete Behelfsübergang konnte die zurückweichenden Soldaten nicht mehr tragen und brach ein. Mit ihnen begrub er auch Maxentius, der ertrank.

Die Schlacht an der Milvischen Brücke war ein historischer Sieg. Sie stellte nicht allein die wichtigste Etappe dar auf Konstantins Weg zur Alleinherrschaft im Römischen Reich. Sie zerschlug endgültig das von dem früheren Kaiser Diokletian (zwischen 236 und 245 – ca. 312 n. Chr.) errichtete System der Tetrarchie, mit dem der durch Verteilung der Macht auf vier Amtsträger der endlosen Abfolge von Usurpationen und Bürgerkriegen ein Ende bereiten wollte. Mit Konstantins Herrschaft, die ihm den Beinamen „der Große“ einbringen sollte, sind zwei einschneidende welthistorische Weichenstellungen verbunden.

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Da ist zum einen Konstantins Entscheidung, das am Bosporus gelegene Byzantion zu seiner neuen Kaiserresidenz auszubauen. Dieses „Nova Roma“, das neue Rom, sollte unter dem Namen Konstantinopel bis zu seiner Eroberung durch die Osmanen im Jahr 1453 Hauptstadt des über lange Zeit mächtigen Oströmischen Reiches sein und damit das Zentrum des griechisch-orthodoxen Christentums. Doch am bedeutendsten ist die durch ihn eingeleitete „Konstantinische Wende“, mit der erst das Christentum die traditionellen Kulte der Antike verdrängen und so in den Rang einer Weltreligion aufsteigen konnte.

In den 300 Jahren nach der Kreuzigung des Jesus Christus war das aus ihm und seinen Nachfolgern hervorgegangene Christentum eine im Römischen Reich mehr geduldete als akzeptierte Religion gewesen. Phasen teilweise brutaler Verfolgung konnten ihr nichts anhaben, im Gegenteil. Das Beispiel ihrer selbst im Angesicht des Todes furchtlosen als Märtyrer bekannten Blutzeugen führte ihr nur noch mehr Anhänger zu, während die Verfolger sich selbst dadurch nur moralisch korrumpierten. Diokletian versuchte als letzter Kaiser in einem neuen Höhepunkt der Verfolgung der Kirche ein Ende zu bereiten, letztlich ohne Erfolg.

Das genaue Geburtsdatum Konstantins ist unbekannt und dürfte zwischen den Jahren 270 und 288 n. Chr. liegen. Sein Vater war der Militär Constantin Chlorus, einer der Tetrarchen, der als Unterkaiser über den westlichen Reichsteil eingesetzt war. Ihre Herkunft aus dem Illyricum im heutigen westlichen Balkan belegt die Integrationskraft des Römischen Imperiums. Aufgewachsen in einem soldatischen Umfeld und als Geisel am Hofe Diokletians aufgewachsen wurde er bestens vertraut mit der politischen Macht, die das Römische Reich ausmachte. Seine Ambitionen und sein Ehrgeiz wurden offenbar, als er in Mißachtung des Systems der Tetrarchie allein seinem eigenen Willen heraus die Nachfolge seines verstorbenen Vaters antrat – eine klare Usurpation, die von der Gegenseite zähneknirschend hingenommen wurde. Aus den nach dem Zerfall der Tetrarchie ausgebrochenen Machtkämpfen ging er schließlich 324 n. Chr. als Alleinherrscher hervor.

Seine Hinwendung zum Christentum war ein lebenslanger, stetiger Prozeß, der erst auf dem Sterbebett mit der Taufe endete (337 n. Chr.). Das war damals keineswegs ungewöhnlich, wollte man doch bewußt die Lebensspanne kurz halten, nachdem das Taufritual alle vorherigen Sünden wegwusch. Zuerst war Konstantin dem Sol Invictus, dem unbesiegbaren römischen Sonnengott, verpflichtet. Da dieser bereits monotheistische Züge hatte, war der Weg zum Christengott fast schon vorgezeichnet. Obgleich das Christentum reichsweit noch eine Minderheitenreligion war, sah er in ihr das Potential eines einigenden Bandes für das Reich. Möglicherwiese dürfte ihn auch die Todesverachtung der Christen besonders beeindruckt haben. Aber vielleicht war einfach die Zeit reif für eine universalistische Religion für ein universalistisches Reich.

Nur wenige Monate nach seinem Sieg an der Milvischen Brücke eröffnete Konstantin zusammen mit dem Ostkaiser Licinius dem Christentum eine vollkommen neue Perspektive. Mit dem Toleranzedikt von Mailand (313 n. Chr.) gewährten beide Kaiser dem Christentum volle Religionsfreiheit und restituierten alle Schäden, die die Kirche und ihre Anhänger in der Verfolgung erlitten hatten. Konstantin privilegierte die neue Religion, wo er nur konnte. Die Erziehung seiner drei Söhne mit seiner Frau Fausta im christlichen Glauben markierte deutlich die weitere Richtung.

Von hier ab sollte es nur noch wenige Jahrzehnte dauern, bis Kaiser Theodosius I. das Christentum 392 n. Chr. zur Staatsreligion im Römischen Reich erhob. Es war der Beginn der zuweilen unheilvollen und unheiligen Allianz zwischen Kirche und Staat, Thron und Altar, welche die europäische Geschichte fortan für sehr lange Zeit prägen sollte, und die im Guten wie im Schlechten grundlegend für die Herausbildung des Abendlandes war:

„Die Schaffung einer reichen, machtvollen und intoleranten Kirche war das primäre Erbe der Bekehrung Konstantins. Noch besser, daß er ein Heide geblieben war, der religiöser Verfolgung begegnete, während er der christlichen Vielfalt erlaubte zu florieren.“ (Rodney Stark)

Jenseits aller theologischen Überlegungen vom Kreuzestod Christi und seiner Rolle als Erlöser und Überwinder des Todes kann ohne Zweifel festgestellt werden, daß mit der Konstantinischen Wende 300 Jahre nach seiner Hinrichtung Jesus Christus endgültig den Sieg über seine Henker und Häscher davongetragen hat.

Konstantins Hoffnung auf ein stabilisierendes Wirken der Kirche auf Staat und Gesellschaft sollte jedenfalls rasch enttäuscht werden. Einmal vom äußeren Druck befreit, versanken ihre unterschiedlichen Gruppen gegeneinander in teilweise hasserfüllte, gewalttätige Auseinandersetzungen über doktrinäre Grundlagen. Gemäß seinem Amtsverständnis griff der Kaiser ein und versuchte mit dem Konzil von Nicäa (325 n. Chr.), dem ersten seiner Art, die Spaltungstendenzen unter seinem Vorsitz zu überwinden und ein verbindliches Glaubensbekenntnis zu formulieren.

Das in der kirchlichen Hagiographie verklärte Bild des Kaisers als gottgefälliger Herrscher weist durchaus viele dunkle Flecken auf. In seiner persönlichen Lebensführung konnte die christliche Ethik der Mäßigung offenbar keine Wurzeln schlagen. Seine Ehefrau Fausta und seinen ältesten Sohn Crispus – ihren Stiefsohn – ließ er kurz hintereinander grausam töten. Über die Gründe hierfür hüllen sich die Quellen weitgehend im Schweigen, doch legt zumindest eine den beiden den gemeinsamen Ehebruch zur Last.

Das Vorbild dieser brutalen Rücksichtslosigkeit sollte auch unmittelbar nach dem Ableben des Kaisers zum Tragen kommen. Um die Nachfolge der drei Konstantin-Söhne vor jeglicher Konkurrenz zu schützen, kam es zu einer Säuberungsaktion im familiären Umfeld des Kaisers, der zahlreiche männliche Verwandte und auch einige Zivilbeamte zum Opfer fielen. Ironie der Geschichte: der durch sein jugendliches Alter geschützte Konstantin-Neffe Julian (331/332 – 363 n. Chr.) versuchte rund 25 Jahre später als Kaiser Julian „Apostata“ („der Abtrünnige“), der über seinen Onkel ein schroffes Urteil fällte, wie in einem Akt der Rache eine schließlich gescheiterte Wiederbelebung der heidnischen Kulte.

Klaus Rosen
Konstantin der Große: Kaiser zwischen Machtpolitik und Religion
2013; 495 Seiten; 30,- Euro

Als über Pompeji die Hölle hereinbrach

Zuerst war es ein Erdbeben, das das eigentliche Drama ankündigte. Dann, am 24. August 79 n. Chr. (andere sagen, es war am 24. Oktober), schlug der Vesuv zu: Aus dem Schlot des Vulkans an der Küste Kampaniens, am südwestlichen Ende der italienischen Halbinsel im Golf von Neapel, bricht das Inferno los. Eine gewaltige Säule aus Magma, Gas und Wasserdampf schießt wie eine Stichflamme mit Überschallgeschwindigkeit aus dem Berg in den Himmel. Diese weithin sichtbare Eruptionssäule senkt sich nach Abkühlung ab und ergießt sich in einem tödlichen Regen aus Lava, Asche und Bimsstein über die Umgebung, der sie acht Meter tief begräbt. Wer nicht bereits beim Erdbeben geflohen ist, fällt dieser Apokalypse unweigerlich zum Opfer. Innerhalb von wenigen Stunden ist die römische Kleinstadt Pompeji zusammen mit ein paar kleineren Orten ein Friedhof.

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Dank des Augenzeugenberichtes des Naturforschers Plinius des Jüngeren (61/62 – 113 oder 115 n. Chr.), der das Geschehen aus sicherer Entfernung beobachtete, ist der Vulkanausbruch von Pompeji die am besten dokumentierte Naturkatastrophe der Antike. Er ist auch der Neffe von Plinius des Älteren, Admiral der vor Miseum stationierten Flotte, der an Bord seiner Schiffe zu einer – letztlich erfolglosen – Rettungsmission ausrückte, bei der er auch sein Leben verlor. Doch nicht allein Plinius‘ Zeugnis gibt Aufschluß über diese Tragödie. Ebenso haben die archäologischen Grabungen seit Mitte des 18. Jahrhundert eine Fülle von teils spektakulären Funden hervorgebracht, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Es ist, als habe der Vulkanausbruch das römische Leben in der Antike regelrecht in seiner ganzen Fülle in einem Augenblick für die Nachwelt eingefroren.

Im Museumspark Kalkriese, wo seit 2000 die Funde zur Schlacht im Teutoburger Wald (9 n. Chr.) ausgestellt sind, widmet man sich in diesem Jahr in einer Sonderausstellung der Katastrophe von Pompeji. Gemessen an der Masse der Funde mag die Zahl der Exponate bescheiden sein, doch bieten sie einen eindrucksvollen und manchmal auch einzigartigen Einblick in das römische Leben vor rund 2000 Jahren, mit teils überraschenden Erkenntnissen.

Luxus, Pracht und Alltag: Da ist der unangetastete Brotlaib einer Bäckerei, der aufzeigt, wie plötzlich und unerwartet die Katastrophe über die Bewohner Pompejis hereinbrach. Und so, wie die Bäckereien heute ihre Waren mit den Labels ihres Betriebes auf den Verpackungstüten vermarkten, so haben damals ihrerseits die Bäcker ihre Brote mit einem heute noch erkennbaren Stempel gekennzeichnet.

Für die hohe Kunstfertigkeit des Handwerks im römischen Reich und der globalen Herkunft ihrer Motive steht zum einen der gewundene Armreif in Schlangenform, der auf orientalische Vorbilder zurückgeht.

Wiederum aus Ägypten stammt der Skyphos, ein meisterhaft gestalteter Trinkbecher aus Obsidian mit beidseitigen Henkelgriffen, auf dem in typisch alexandrinischem Stil eine bunte Opferszene abgebildet ist.

Römische Goldmünzen in Indien bezeugen die weitreichenden Handelsbeziehungen. Aus Indien kam dafür bis Pompeji die Statuette der indischen Göttin Lakshmi, ein außerordentlich schönes und filigranes Werk aus Elfenbein, das kaum in einem kultischen Gebrauch war, sondern vermutlich zu dem ganz profanen Zweck als Griff für ein Körperpflege-Utensil.

Hätten wir ohne Pompeji Kenntnis von diesem Alltagsgegenstand? Mit dem tragbaren, aus Bronze gefertigten Kohlebecken auf drei Beinen auf Löwenpfoten konnte nicht nur geheizt, sondern auch Speisen erwärmt werden. Befeuert wurde es mit Holzkohle.

Leider kam aus seiner Öffnung nur Wasser und kein Wein: Sinn fürs Detail und in gewisser Weise auch Humor beweist der Brunnenmund in Form eines Weinschlauchs, auf dem ein Satyr aus dem Gefolge des Weingottes Dionysos sitzt.

Ausgestellt sind auch die Marmorbüsten zweier führender Repräsentanten dieser Zeit, zum einen die des Kaisers Tiberius (42 v. Chr. – 37 n. Chr.), der sehr viel Zeit am Golf von Neapel verbrachte, seines späteren Nachfolgers Vespasian (9 – 79 n. Chr.) sowie des Flottenadmirals Plinius des Älteren (23/24 – 79 n. Chr.). Jedes Porträt erlaubt in seiner Stilistik Rückschlüsse auf das jeweilige Selbstverständnis, was der Dargestellte über sich der Umwelt mitzuteilen gedenkt. War es bei Tiberius vor allem der tatkräftige Charakter des auch im hohen Alter jugendlich erscheinenden Kriegshelden, so stellt das etwas derbe und ehrliche Bildnis Vespasians seine Volksverbundenheit heraus.

Zum Ende des Rundgangs verabschiedet den Besucher die schauerliche Szenerie zweier Gipsausgüsse von in Pompeji umgekommenen Opfern. Die von der Asche umschlossenen Körper bildeten Hohlräume, die später seit den 1870er Jahren von Ausgräbern mit Gips ausgegossen wurden. Selten erschienen die Menschen der Antike der modernen Nachwelt näher als in diesem Zustand zum Zeitpunkt ihres Todes.

So grausig der Untergang von Pompeji selbst nach 2000 Jahren auf die Nachwelt wirkt, diese Tragödie erwies sich in dem unter der Lava und der Asche verschütteten Vermächtnis als einzigartiger Glücksfall für die Wissenschaft. Ihre Erforschung ist noch lange nicht abgeschlossen.

Die Sonderausstellung „Pompeji – Pracht und Tod unter dem Vulkan“ ist noch bis zum 6. November 2022 im Museumspark Kalkriese zu besichtigen.

Pompeji – Pracht und Tod unter dem Vulkan – Kalkriese Varusschlacht (kalkriese-varusschlacht.de)

Pompeji – Pracht und Tod unter dem Vulkan
Katalog zur Sonderausstellung im Museumspark Kalkriese
2022; 177 Seiten; 16,- Euro

Der Blick in Russlands Zukunft richtet sich in seine Vergangenheit

„Ich entdeckte den Park wie einen fremden Erdteil. Er hatte seinen eigenen Dschungel, seine Höhlen, seine geheimnisvollen Meere, seine rätselhaften Schlösser, wilde Eingeborene und freundliche Unbekannte. Und die Zukunft sah so aus: ein weißes, luftiges, zerbrechliches Versprechen.“
Juri Trifonow über den Gorki-Park, GEO 10/1979

Mit dem Beginn seines Angriffskrieges gegen die Ukraine ist Russland in eine neue historische Phase eingetreten. Doch statt der von Putin angestrebten Erneuerung des russisch/sowjetischen Imperiums zeigt nun der Weg des Landes mit der größten Landmasse der Welt nur in eine Richtung: Rückwärts in die Vergangenheit.

Symptomatisch hierfür ist der Versuch der russischen Führung, nach dem Rückzug des französischen Autobauers Renault aus dem Land die Fertigungsstätten umzurüsten auf die Wiederbelebung einer Marke, die aus der Sowjet-Ära noch gut bekannt ist, den Moskwitsch. Doch da die vorhandene Technik eine reine Endfertigung ist und Russland aufgrund der Wirtschaftssanktionen von Zulieferungen und Technologietransfers aus dem Westen weitgehend abgeschnitten ist, spricht wenig dafür, daß der „neue Moskwitsch“ auch nur annähernd mit westlichen Modellen mithalten kann, ebenso wenig wie es seine sowjetischen Vorgänger konnten, falls es bei diesem Projekt nicht ohnehin um ein „Potemkinsches Dorf“ handelt.

Russland ist also auf dem besten Weg zurück in eine Zeit, die nur unter dem größten Einsatz von Propaganda strahlend erscheint. Bis an die Zähne atomar bewaffnet, aber mit der Versorgung der eigenen Bevölkerung heillos überfordert, technologisch dem Westen immer weiter hinterherhinkend, jede Eigeninitiative und Freigeist durch ein diktatorisches System erstickend. „Obervolta mit Atomraketen“ höhnte einst Bundeskanzler Helmut Schmidt. Anlaß für Schadenfreude bieten diese trüben Aussichten für Russland keineswegs, denn noch ist nicht ausgemacht, ob die Kollateralschäden der westlichen Russland-Sanktionen aus Deutschland nicht eine gigantische Industrieruine machen.

Die imperiale Sehnsucht vieler Russen ist eine gefährliche Nostalgie, die verkennt, wie sich unter der Stagnation der Zerfall vorbereitete, der am Ende die Sowjetunion kollabieren ließ. In jüngster Zeit hat die in Moskau geborene und nach Deutschland ausgewanderte Schriftstellerin Katerina Poladjan in „Zukunftsmusik“ (2022) einen literarischen Rückblick in die triste Lebenswirklichkeit der russischen Provinz Mitte der 1980er Jahre gegeben. Doch noch interessanter ist der Griff zu Klassikern aus der Zeit des Kalten Krieges, die uns einen ungleich dichteren Bezug liefern. Dem amerikanischen Schriftsteller Martin Cruz Smith (*1942) ist 1981 mit dem Thriller „Gorki Park“ ein Weltbestseller gelungen, dem kurz darauf mit „Gorky Park“ die nicht weniger erfolgreiche Hollywood-Verfilmung folgte.

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In einer typisch kalten Winternacht werden im Moskauer Gorki Park die drei mit Schnee überdeckten Leichen zweier Männer und einer Frau entdeckt. Ihre Gesichtshaut wurde fachmännisch abgezogen, sämtliche Fingerkuppen abgeschnitten, was ihre Identifizierung zur damaligen Zeit unmöglich macht. Der KGB lehnt alle weiteren Ermittlungen ab, die er der Miliz überläßt. Dem Leitenden Ermittler Arkadi Renko ist nicht wohl dabei. Gleichwohl setzt er seine Arbeit fort und stößt durch die Schlittschuhe des weiblichen Opfers auf eine junge Frau, Irina Asanova, die mit den Toten offenbar in näherer Verbindung steht und mit der er bald eine tragische Liebesbeziehung eingeht. Zeitgleich macht Renko die keineswegs zufällige Bekanntschaft mit dem Amerikaner Jack Osborne, einem umtriebigen und habgierigen Geschäftsmann mit dunkler Vergangenheit, der bestens mit dem FBI und dem KGB vernetzt ist. Doch auch Irina und Osborne sind einander nicht unbekannt. Zu spät erkennt Renko, daß er nur Spielball ist in einem mörderischen Komplott um eines der wichtigsten Wirtschaftsgüter, auf das die Sowjetunion noch ein Monopol hat: den lukrativen Handel mit äußerst wertvollen Zobelpelzen.

Buch und Film trafen seinerzeit einen Nerv in der Leserschaft. Der Kalte Krieg erreichte nach der Entspannungspolitik der 1970er Jahre mit dem Präsidentschaftsantritt von Ronald Reagan einen neuen Höhepunkt. Reagan erklärte die Sowjetunion umgehend zum „Reich des Bösen“ und fachte den Rüstungswettlauf an. Die inneren Verhältnisse Sowjet-Russlands harrten unter Leonid Breschnew und seinen greisen Nachfolgern Andropow und Tschernjenko weiterhin in Erstarrung.

Martin Cruz Smith vermittelt in seinem „Gorki Park“ das Bild eines Landes, das von Rückständigkeit geprägt und von Korruption zerfressen ist. Selbst einfache Haushaltsgeräte im Neuzustand funktionieren nicht. Schwarzmarkthändler führen ein parasitäres Leben auf Kosten der Allgemeinheit. Wie ein Krake hält der KGB seine Finger über das Land. Antisemitische Vorurteile sind selbst in den Kreisen der Elite virulent. Die Wirklichkeit wird den Bedürfnissen des Staates angepasst:

„Angenommen ein verdienter Künstler bittet seine Frau eines Nachts, aus dem Auto zu steigen, um Glasscherben von der Straße zu räumen, und überfährt sie dabei. Eine junge Frau, die bald heiraten will, bringt ihre Großeltern ins Bett, schließt das Fenster und dreht das Gas auf, bevor sie abends ausgeht. Ein fleißiger Landwirt, ein angesehener Kolchosbauer, erwürgt ein Flittchen aus Moskau. Das sind Dinge, die offiziell nicht passieren dürfen, aber sie sind die Wahrheit: Ein Mann, der sich eine Geliebte und ein Auto leisten kann; eine junge Frau, die mit ihrem Ehemann im selben Zimmer mit den Großeltern hausen muss; ein Bauerntölpel, der dumpf ahnt, dass er sein Leben lang nicht aus seinem erbärmlichen Nest am Ende der Welt rauskommen wird. Solche Dinge erscheinen nicht in unseren Berichten, aber wir wissen darüber Bescheid. Deshalb müssen wir das Recht haben, die Wahrheit zu verändern.“

Es ist ein System, in dem „wir keinem trauen dürfen“. In diesem Umfeld wirkt der gradlinige Ermittler Renko wie ein trotziger Solitär, dem insgeheim Verachtung ob seines „Moralismus“ entgegengebracht wird. Alles in allem keine Eigenschaften, die ihren Träger zu einer Karriere empfehlen.

Smith kannte die Sowjetunion zwar nur aus der Anschauung einer einmaligen Pauschalreise, recherchierte darüber hinaus aber umfangreich durch Befragungen bei russischen Immigranten. Wie gut seine Recherchen seinen Blick auf Russland geschärft haben, zeigt schon die Wahl des Gorki Park als zentralen Ausgangspunkt seines Plots. Der im 19. Jahrhundert angelegte Park, dessen Benennung übrigens nicht auf den russischen Schriftsteller Maxim Gorki (1868 – 1936) zurückgeht, ist für die Moskauer Kultur von zentraler Bedeutung. Er ist nicht alleine Freizeitpark und Sportstätte. Hier trifft man sich nicht nur zum Spazieren gehen oder zum Schachspiel, versammelten sich die Veteranen des „großen vaterländischen Krieg“. Oder eben wie die drei Mordopfer aus Cruz‘ Roman zum winterlichen Schlittschuhlaufen unter donnernder Musik.

Mit Arkadi Renko begründete Smith eine bis heute erfolgreiche Serie, die parallel zur aktuellen Entwicklung Russlands Schritt hält. Zuletzt erschien 2021 mit „Der Spur des Bären“ die neueste Folge, in der sein altersloser Held wider Willen zum Instrument einer Intrige des Kremls gegen einen politisch zu ehrgeizigen Oligarchen wird.

Die Verfilmung von 1983 bietet noch den zusätzlichen Reiz eines Wiedersehens mit einer alten Garde Hollywoods, die inzwischen fast vollständig abgetreten ist. William Hurt in der Rolle des Arkadi Renko ist erst im März verstorben. Brian Dennehey in der Rolle des amerikanischen Polizisten William Kirwill, dem Bruder eines der drei Mordopfer, starb zwei Jahre zuvor. Für die Hollywood-Legende Lee Marvin als Jack Osborne war es eine seiner letzten Filmrollen († 1986). Ein Wiedererkennen dürfte es für Star-Wars-Enthusiasten in der Rolle des leicht exzentrischen Anthropologen Andreev geben, der mit seinem ausgeklügelten Verfahren aus den Totenschädeln der Mordopfer ihr ursprüngliches Aussehen wiederherstellt; ihn verkörpert der Schotte Ian McDiarmid, besser bekannt als der Imperator Palpatine / Darth Sidious. Das in der Verfilmung dargestellte Rekonstruktionsverfahren hat übrigens einen realen Hintergrund und war für Smith der Auslöser für die Idee des „Gorki Park“.

Nicht unerwähnt bleiben sollte der Einsatz des noch jungen Filmkomponisten James Horner(1953 – 2015), der gerade seinen Durchbruch in Hollywood feierte, und dessen Soundtrack dem „Gorky Park“ den dramatischen Feinschliff verpasste.

Main Titel – Gorky Park OST (James Horner)

Dem Erfolg des „Gorki Park“ im Westen stand wiederum der Verriss in der sowjetischen Literaturkritik gegenüber, die darin ihr Land verunglimpft sah, obwohl sich Cruz manch kritische Seitenhiebe auf seine Heimat nicht verkniff. Doch das letzte, was man Cruz‘ Werk vorwerfen kann, ist daß es das Produkt eines „kalten Kriegers“ ist. Kaum verwunderlich, daß die Verfilmung des Romans nicht an den Originalschauplätzen stattfand, sondern in Finnland. Zu dem damaligen Zeitpunkt hätte es wohl kaum jemand für möglich gehalten, daß der „Wind of Change“ bald für eine vollkommene Umdrehung der Verhältnisse sorgen würde. 1985 leitete Michail Gorbatschow als neuer sowjetischer Generalsekretär mit Glasnost und Perestrojka jene Wende ein, die zum Fall des „Eisernen Vorhangs“ und dem Untergang der Sowjetunion führte. Schon bereits 1989 konnte mit „Das Russland-Haus“ (in den Hauptrollen Sean Connery und Michelle Pfeiffer) der gleichnamige Agententhriller von John Le Carré mit offizieller Genehmigung in Moskau und Leningrad gedreht werden.

War „Gorki Park“ das Abbild der russisch-sowjetischen Misere, so reflektierte „Das Russland-Haus“ alle Hoffnungen auf einen globalen Frieden, die allzu schnell in bitterer Enttäuschung endeten. Wie lange wird es wohl dieses Mal dauern, bis wieder Hoffnung keimen kann?

 Martin Cruz Smith
Gorki Park
Neuauflage 2015
416 Seiten; 9,99 Euro
Gorky Park
Mit William Hurt, Brian Dennehy, Joanna Pacula, Lee Marvin
2 Stunden und 3 Minuten

Der standhafte Verfemte

Es gibt zwei Dinge in diesem Land, die nicht zusammenpassen. Da ist zum einen die immer wieder erhobene Behauptung von Vertretern der politischen und medialen Elite, „im besten Deutschland aller Zeiten zu leben“ (u.a. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier). Dem gegenüber steht ein demoskopisch gut abgesichertes Unbehagen weiter Teile der Bevölkerung, man könne nicht mehr frei und ungehindert seine Meinung sagen. Meinungsfreiheit – gilt die noch in Deutschland?

Einer der sich auf das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit beruft, ist der Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp. Doch seine konträr zum Mainstream stehenden kritischen Ansichten zur Flüchtlingspolitik hatten für ihn unangenehme Konsequenzen. Nicht alleine sein Verlag Suhrkamp distanzierte sich von ihm. Dem einst für seinen Roman „Der Turm“ gefeierten Romancier haftet seitdem das Etikett „umstritten“ an, was Tellkamp wiederum als Auszeichnung empfindet. Aus dem Schriftsteller Tellkamp wurde der „Fall Tellkamp“.

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Auffallend ist, dass sein aktueller Roman „Der Schlaf in den Uhren“ – die Fortsetzung des „Turm“ – von den Feuilletons der Mainstreammedien ausnahmslos mit teils heftigen Verrissen bedacht wurde, so als wolle man dem weitverbreiteten Eindruck der Leserschaft eines engen Meinungskorridors unbedingt Bestätigung verschaffen. Dem Erfolg des Buches tat das keinen Abbruch, im Gegenteil: Es bestätigte sich wieder einmal die Regel, daß einhellige Verrisse der Literaturkritik oft die besten Kaufempfehlungen sind.

Am vergangenen Sonntag nutzte Tellkamp die Gelegenheit, im Rahmen der Ettersburger Gespräche seinen Roman „Der Schlaf in den Uhren“ vorzustellen. Man muß das Buch vor allem als ein Wagnis bezeichnen. Ein Umfang von 900 Seiten voller surrealistischer Allegorien machen den Titel nicht gerade zu einem leichtflüssig zu lesendem Schmöker. Zwei Zeitebenen von der Wende bis zur Migrationskrise 2015 – verlagert in den fiktiven Staat Trevia – umfassen einen Plot, in dem sich der bereits im „Turm“ auftauchende Protagonist des Chronisten Fabian Hoffmann bewegt, der dabei keineswegs ein Alter Ego seines Schöpfers ist.

Es dürfte sich derzeit wohl kaum ein komplexeres Werk im aktuellen Buchhandel finden als „Der Schlaf in den Uhren“. Doch die Kritik hielt sich nicht an diesen Formalien fest, sondern an dem Plot, der beim Leser unschöne Assoziationen weckt zwischen der heutigen Bundesrepublik und der DDR: „Jetzt wagt er sich über die Bundesrepublik zu schreiben“, so Tellkamp die Kritik paraphrasierend im Gespräch mit Dr. Peter Krause, dem Direktor von Schloss Ettersburg.

Uwe Tellkamp (li.) im Gespräch mit Dr. Peter Krause / © Daniel Körtel

Tellkamp warf der Kritik vor, nicht das Buch zu rezensieren, sondern den Autoren: „Man schließt von der politischen Einstellung auf das Kunstwerk.“ Tellkamps Absicht sei es gewesen, einen Zeitroman zu schreiben und keinen Gesellschaftsroman. Offenkundig sind die Inspirationen durch Tomas Manns „Zauberberg“, aber vor allem erklärtermaßen durch „Jahrestage“ von Uwe Johnson. Ihm ginge es um den Sprachgebrauch der Politikerzählung, ihrer Sprachbühne und -theater. „Mit dem klassischen Erzählen“, so Tellkamp, „erfassen Sie nur Teile unserer Zeit.“

Wie ist das zu verstehen? Tellkamp erläuterte das an dem Terminus „Operative Vorgänge“, mit dem die DDR-Staatssicherheit ihre Zersetzungsmaßnahmen umschrieb und den Tellkamp in seinem Buch von seiner seinerzeitigen Begrifflichkeit zu lösen versuchte, „um von der Staatssicherheit das Konkrete herauszuarbeiten und in die Ewigkeit zu übertragen“.

War es hintergründige, boshafte Ironie, als Tellkamp auf Nachfrage aus dem Publikum mit einem vielsagenden Lächeln die Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag mit „gut – trotz Irritationen“ kommentierte? Das neue Buch sei, so Tellkamp, ein typisches Suhrkamp-Buch. Tellkamp fragte zurück, wo denn das Buch stattdessen hätte erscheinen sollen? Die Antwort: „Jedenfalls nicht im Fischer Verlag“, hingegen keineswegs ironisch auf den Rauswurf von Monika Maron aus jenem Verlag anspielend.

„Die Bücher haben ihr eigenes Schicksal“, so Tellkamp zur Rezeption seiner Werke. „Der Turm“ sei im Westen besser aufgenommen worden als im Osten, während es beim „Der Schlaf in den Uhren“ genau umgekehrt sei, was beide Bücher wie zu Zwillingen mache.

Doch wie steht es um die Meinungsfreiheit in Deutschland und wie verhält sich dazu der „Fall Tellkamp“? „Meine Meinung darf ich sagen“, so Tellkamp: „Interessant wird es, was hinterher passiert…“ Der Autor beklagte, daß er über die vielen Rechtfertigungen keine Arbeitsruhe mehr habe. Geradezu ernüchternd und schockierend seien die Vorkommnisse anläßlich seiner Lesungen im Westen, wo beispielsweise über Fake-Accounts versucht wurde, den Kartenvorverkauf zu sabotieren. Doch wie einen Hoffnungsschimmer habe es auch Beispiele zivilcouragierter Unterstützung gegeben.

Dem gegenüber stellte Tellkamp den ostdeutschen Schriftsteller Ingo Schulze, für den es kein Problem darstelle für „Die Linke“ zu kandidieren, „aber wie ein Fürst zu leben“.

Am Ende spannte Tellkamp unter dem anhaltenden Beifall der mit rund 130 Gästen ausverkauften Veranstaltung im Gewehrsaal des Weimarer Schlosses Ettersburg mit einem bemerkenswerten Satz den Bogen von seinen persönlichen Erfahrungen in der DDR zu heute: „Uwe, du hast den falschen Klassenstandpunkt.“

Schloss Ettersburg / © Daniel Körtel
Uwe Tellkamp
Der Schlaf in den Uhren
Suhrkamp Verlag
2022, 904 Seiten, 32,- Euro

„Was bleibt noch heil, wenn Rom untergeht?“

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

„Was bleibt noch heil, wenn Rom untergeht?“
Ausstellung: Drei Museen in Trier beleuchten das Ende des Römischen Reiches
Daniel Körtel

In weniger als 150 Jahren, nachdem Konstantin der Große nach der langen Krisenphase der Soldatenkaiser das Römische Reich noch einmal zu imperialer Größe trieb, setzte der germanische Warlord Odoaker 476 n. Chr. den letzten weströmischen Kaiser Romulus Augustulus ab. Dem vorausgegangen war ein langer Abstieg in Agonie. Demographische Veränderungen, Bürgerkriege und wirtschaftlicher Verfall führten in eine selbstzerstörerische Abwärtsspirale, der die schwindende kaiserliche Zentralgewalt nichts mehr entgegenzusetzen wußte. Damit war das Römische Reich nach rund 1.200 Jahren in seiner Westhälfte zusammengebrochen.

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Über den Kreis der Historiker hinaus geht auch nach mehr als 1.500 Jahren von diesem Ende eine ungebrochene Faszination aus, versucht jede Generation neue Antworten auf die Frage nach den tieferen Ursachen zu finden und vor allem, ob sich Parallelen zur Gegenwart finden lassen. Als Hauptursachen wurden wie Moden und Projektionen ihrer Zeit vor allem der Aufstieg des Christentums erhoben, der Einfall der Barbaren in der Völkerwanderung und vor allem die Dekadenz der späten Römer. Zuletzt rückte Kyle Harper in „Fatum“ (2020) die gravierenden Auswirkungen der spätantiken Klimaverschlechterung und Epidemien in den Mittelpunkt.

Wenn es eine Stadt in Deutschland gibt, die eng mit dieser schicksalsträchtigen Phase verbunden ist, dann ist es die Moselstadt Trier. Um die Zeitenwende als Augusta Treverorum aus einer römischen Stadtgründung hervorgegangen, war sie im vierten nachchristlichen Jahrhundert aufgrund ihrer strategischen Nähe zu der bedrohten Nordgrenze kaiserliche Residenzstadt. Von dieser Blütezeit zeugen die imposante Konstantinbasilika, die Ruinen der Kaiserthermen und vor allem die berühmte Porta Nigra.

Passend zu ihrer historischen Rolle im Römischen Reich findet derzeit in Trier bis zum 27. November die Sonderausstellung „Der Untergang des Römischen Reiches“ statt. Den thematischen Umfang der Schau machen schon die nackten Zahlen deutlich: Gezeigt werden an drei Standorten in rund 30 Ausstellungssälen auf einer Fläche von 2.000 Quadratmetern etwa 700 Exponate aus 130 Museen und 20 Ländern. Am Stadtmuseum Simeonstift bekommt der Besucher in „Das Erbe Roms“ die Nachwirkungen des Untergangs Roms auf die spätere Kunst vermittelt. Ausgestellt sind dort vor allem Gemälde, darunter das Hauptwerk des französischen Malers Thomas Couture, „Die Römer der Verfallszeit“ (1847). Ebenfalls beeindruckend sind Joseph-Noël Sylvestres knapp zwei Meter hohes Ölbild „Plünderung Roms durch die Barbaren 410“ (1890) und „Die Lieblinge des Kaisers Honorius“ (1883) des italienisch-britischen Malers John William Waterhouse, letzteres eine weit angereiste Leihgabe der Art Gallery of South Australia.

Das Museum am Dom widmet sich unter dem Titel „Im Zeichen des Kreuzes“ vor allem der archäologischen Auswertung der Trierer Nekropole St. Maximin und dem steigenden Einfluß des Christentums. Prunkstücke hier sind unter anderem ein Elfenbeinrelief mit der Darstellung einer Reliquienprozession sowie eine Goldscheibenfibel aus dem 7. Jahrhundert. Doch der Schwerpunkt findet sich mit der Hauptausstellung im Rheinischen Landesmuseum.

Hier führt die Ausstellung über die Zeit der Tetrarchie am Ende des dritten Jahrhunderts, als Kaiser Diokletian mit grundlegenden Reformen dem krisengeschüttelten Reich wieder Stabilität verleihen konnte. Unter den vielen beeindruckenden Exponaten fällt gleich der „Prachthelm von Berkasovo“ (Novi Sad) aus vergoldetem Silberblech ins Auge, ein eindrucksvoller Beleg des noch vorhandenen Reichtums dieser Zeit. Dem gegenüber evozieren die stark mit Patina überzogenen Hortfunde von Mittelstrimmig mit den materiell minderwertigen Folles genannten Münzen schon zwangsläufig den Bogen zur aktuellen Inflationserfahrung. Passend dazu folgt gleich darauf das in einem Papyrus festgehaltene Insidergeschäft eines Beamten, der der angekündigten Geldentwertung seines Kaisers durch Kaufanweisungen an einen Untergebenen entgegenwirken will: „Aber laß dir ja keine Schurkerei einfallen.“

Umfrage: „Steht uns heute wieder ein Untergang bevor?“

Dennoch, für Trier waren diese Zeiten gut, was nicht alleine die eingangs erwähnten Bauwerke beweisen. Seine weitreichende Attraktivität belegt auch der Grabstein des Azizos, der vom fernen Syrien aus nach Trier gezogen und dort auch gestorben ist. Dargestellt wird er als ein Beispiel antiker Migrationserfahrung, die aber in diesem Fall eigentlich eine Binnenwanderung ist.

Düstere Musik und dunkle Räume führen durch einen Vorhang zum Schlußakt, den 410 n. Chr. die Plünderung Roms durch die einst als Söldner aufgenommenen Goten einleitet. „Was bleibt noch heil, wenn Rom untergeht?“, wird der Kirchenvater Hieronymus zitiert. Auch hier zeigt sich der folgende Einschnitt in den Exponaten. Die hochwertige Glasproduktion geht zurück, Holz tritt an die Stelle von Ziegel und Stein, die einzigartige Trinkwasserversorgung bricht zusammen.

Der umfangreiche Katalog der Ausstellung umfaßt auch eine Reihe von Fachbeiträgen, die nicht allein die bis heute anhaltende Kontroverse über die Ursachen des Untergangs dokumentieren, sondern ebenso die keineswegs abgeschlossene Debatte, ob man anstelle eines „Untergangs“ nicht eher von einer Transformation sprechen müsse. Für die verschiedenen Pole steht zum einen der Althistoriker Roland Steinacher, der innerrömische Zerfallsprozesse für ausschlaggebend sieht, in denen die alten Eliten zu ihrem eigenen Vorteil die loyalistischen Bindungen zur Zentralmacht auflösten, zugunsten der germanischen Heerführer und so die Regionalisierung des Reiches vorantrieben. Dem wiederum entgegen hält Peter Heather die verschiedenen Wellen von Barbareneinfällen in der Völkerwanderung für entscheidend, die vertraglich als Föderaten angesiedelt, die Einheit des Reiches unterminierten, statt es zu stabilisieren.

1.500 Jahre nach dem Ende des Römischen Reiches: „Steht uns heute wieder ein Untergang bevor?“, fragt die Ausstellung im Simeonstift am Ausgang den Besucher, der hierüber mit einem Aufkleber Antwort geben kann. Progressive Geschichtspolitiker und -pädagogen muß es beunruhigen, daß bis Mitte Juli rund drei Wochen nach Beginn der Ausstellung die Mehrheit hierüber mit einem deutlichen „Ja“ abgestimmt hat.

Die Ausstellung „Der Untergang des Römischen Reiches“ ist bis zum 27. November in Trier im Rheinischen Landesmuseum, Weimarer Allee 1, im Museum am Dom, Bischof-Stein-Platz 1, und im Stadtmuseum Simeonstift, Simeonstraße 60, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der Katalog mit 465 Seiten und über 500 Abbildungen kostet in den Museen 29,90 Euro.

Telefon: 06 51 / 97 74 0

https://untergang-rom-ausstellung.de

Der Kaiser, der Rom schützende Grenzen setzte

Das historische Porträt: Kaiser Hadrian (76 – 138 n.Chr.)

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort: In der Nachfolge römischer Kaiser hat es sich für die Prätendenten bisweilen als vorteilhaft erwiesen, zum Zeitpunkt des Ablebens des Amtsträgers in dessen Nähe zu sein. Als Kaiser Trajan auf dem Rückweg von einem Krieg gegen die persischen Parther nach schwerer Krankheit in Kilikien am 8. August 117 n. Chr. an der heutigen türkischen Südküste verstarb, erklärte dessen Gattin Plotina, der Verstorbene habe kurz zuvor noch auf dem Totenbett seinen Adoptivsohn Publius Aelius Hadrianus zum Nachfolger erklärt. Die syrischen Legionen, denen er als Befehlshaber vorstand, gaben den nötigen Nachdruck. Sicherheitshalber ließ Hadrian unmittelbar zur Absicherung seines Machtantritts einige Senatoren hinrichten, was ihn die Feindschaft dieser Kreise eintrug. Dennoch konnte er in den folgenden rund 20 Jahren seiner Herrschaft dem römischen Imperium relativ ungestört seinen prägenden Stempel aufdrücken und zu seinem Tod am 10. Juli 138 n. Chr. zu einem seiner bedeutendsten Kaiser aufsteigen.

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Geboren am 24. Januar 76 n. Chr. im spanischen Italica als Abkömmling römischer Kolonisten erfuhr er die frühzeitige Förderung durch seinen Vormund Trajan, einem Cousin seines Vaters. Erfahrungen auf zivilem und militärischem Gebiet sammelte er durch die übliche Ämterlaufbahn, während die Heirat mit einer Großnichte Trajans ihn enger an das Kaiserhaus band.

Nach geglückter Machtübernahme vollzog er aus seiner Erkenntnis, daß das Imperium in seiner bis dahin größten Ausdehnung die Grenzen seines Wachstums erreicht hat, eine historische Wende: „Hadrian gab Trajans Eroberungen im Osten – Armenien, Mesopotamien und Assyrien – wieder auf und konzentrierte sich darauf, das Reich zu einer lebensfähigen, gesicherten und blühenden Einheit zu machen.“ (Anthony Birley)

Die Phase militärischer Expansion war damit für Rom abgeschlossen. Konsolidierung war angesagt. Zumal es sich zeigte, daß es auch noch innerhalb des Reiches schwelende Zonen gab, die sich dem Zugriff der römischen Autorität zu entziehen suchten. So wuchs sich der zum Jüdischen Krieg ausgewachsene Bar-Kochba-Aufstand von 132 – 136 n. Chr. zu einem Konflikt aus, den der Kaiser nur unter größten Mühen zu seinen Gunsten beenden konnte. Ihm vorausgegangen war die verhängnisvolle Entscheidung Hadrians, auf den Trümmern des jüdischen Tempels in Jerusalem ausgerechnet ein Zeus-Heiligtum zu errichten; für die glaubensstarken Juden ein Frevel ohnegleichen.

Hadrian zeichnete sich auch durch eine Vorliebe für griechische Kultur und Philosophie aus, die er nach außen hin durch seinen Philosophenbart verdeutlichte. Anderen Quellen zufolge sollte der Bart, den er als erster Kaiser überhaupt trug, seine Gesichtsnarben verdecken. Seine Vorliebe für gutaussehende, junge Knaben fügte sich ebenfalls gut in die hellenistischen Traditionen ein. Schwer traf ihn der Verlust seines Favoriten Antinoos, der 130 n. Chr. im Nil ertrank.

In der Abfolge der Adoptivkaiser stand er an dritter Stelle; eine Einrichtung, die weniger eine Abkehr vom dynastischen Prinzip war als dem Fehlen kaiserlichen Nachwuchses. Er stand damit zusammen mit Trajan am Beginn einer bis zum Tod des Marc Aurel 180 n. Chr. andauernden Phase des Römischen Reiches, die der britische Historiker Edward Gibbon „ein goldenes Zeitalter“ nannte. Golden insofern, weil der Weisheit und zur Mäßigung verpflichtete Herrscher nach dem Wohl des Staates trachteten und sich so von der Tyrannis von Scheusalen wie Caligula, Nero oder Commodus abhoben.

Das Reich bereiste er wie vor ihm kein anderer Kaiser. Trotz des Friedens legte Hadrian großen Wert auf Drill und Disziplin der römischen Truppen. Da er alle Strapazen mit ihnen teilte, war ihm die Sympathie der Legionäre sicher. Seine Inspektionsreisen führten ihn nach Nordafrika, Griechenland, Ägypten, Germanien bis hinauf nach Britannien.

Auch als Baumeister machte er sich einen Namen, dessen Erbe bis in unsere Zeit überdauert. Die Ruinen seiner Residenz in der Nähe von Rom zeugen noch heute von üppiger Prachtentfaltung. Sein Mausoleum ging als Engelsburg zur schützenden Fluchtburg der Päpste über. Doch sein bedeutendstes Bauwerk ist zweifellos der Hadrianswall.

Im Zuge seiner Inspektionsreise nach Britannien zur Grenze des Reiches nach Kaledonien, dem heutigen Schottland, gab der Kaiser eine mehrere Meter hohe steinerne Mauer- oder Wallanlage in Auftrag – „um die Barbaren von den Römern zu trennen“ -, deren Bau von den dort stationierten Legionären 122 n. Chr. begonnen – kostengünstig, da ohnehin vom Staat besoldet – und nach zehn Jahren beendet wurde. Der Wall umfasst von der Nordsee an der Mündung des Tyne bis zur Irischen See am Solway Firth eine Länge von 118 Kilometern und sollte dem Dauerproblem der Übergriffe durch die Pikten ein Ende bereiten, „ein beeindruckendes Hindernis für jede unerlaubte Bewegung“ (Adrian Goldsworthy).

Die Anlage schirmte die Nordgrenze in Britannien für die nächsten 300 Jahre effektiv ab, bis die Römer von der Insel abzogen. Seine Funktion erfuhr von 142 n. Chr. an für 20 Jahre eine Unterbrechung, als Hadrians Nachfolger Antonius Pius die Grenze um rund 160 Kilometer nach Norden an die engste Stelle der britischen Insel zum Antoniuswall verschob. Der Hadrianswall bildete das zentrale Element eines engmaschigen Netzwerkes aus Kastellen und Lagern, von denen Vindolanda in der Nähe von Hexham das heute am besten erhaltene ist. In deren Umfeld entstanden zivile Siedlungen zur Unterstützung der Versorgung. Gesicherte Übergänge gaben den Römern die Möglichkeit operativer Eingriffe im Feindesland, das sie weit überblicken konnten.

Für die Archäologie stellt der Wall einen Glücksfall ohnegleichen dar. Bis heute fördern die Grabungskampagnen neue Funde ans Tageslicht. Zu den bedeutendsten zählen die Vindolanda-Tafeln, Schriftstücke auf Wachstafeln, die einen einzigartigen Einblick in den Alltag an der Grenze liefern.

Doch auch für den Tourismus auf der britischen Insel ist der Hadrianswall, der seit 1987 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, von höchstem Wert, der jährlich Tausende von Besuchern anzieht. In diesem Jahr feiert der Wall den Jahrestag seines 1900jährigen Bestehens. Ein Anlaß, der von den zuständigen öffentlichen Institutionen mit einem umfangreichen Programm gewürdigt wird.

In den heutigen Zeiten unkontrollierter Massenmigration wird zuweilen die Behauptung erhoben, Grenzen wären ohne Bedeutung und könnten auch nicht geschützt werden. Gewiss sind Grenzen nicht unüberwindbar. Doch die Römer haben mit dem Hadrianswall unter Beweis gestellt, daß Grenzen durchaus erfolgreich gesichert werden können – vorausgesetzt dahinter steht eine Macht und ein Wille, dies überhaupt zu wollen.

Home – Hadrian’s Wall 1900 (hadrianswallcountry.co.uk)

Adrian Goldsworthy
Hadrian’s Wall
192 Seiten, 2018, engl.

Der Vater der „Climate Fiction“ und die Apokalypse des Feuers

Es ist ein Sommer der Extreme. Fast nahtlos reiht sich auch 2022 in die Abfolge von Jahren ein, die nicht allein in Europa von extremer Trockenheit und Hitzewellen geprägt sind. Selbst das für sein gemäßigtes Klima bekannte Großbritannien meldete erstmals das Überschreiten der Temperatur von 40 Grad Celsius. Das benachbarte Irland hat mit 33,1 Grad den heißesten Tag seit Beginn der Aufzeichnungen vor 135 Jahren bekannt gegeben.

Die negativen Auswirkungen dieses Extremwetters sind neben den gesundheitlichen Auswirkungen auf den Menschen die Gefahren von Ernteausfällen und Großbränden. „Europa in Flammen“ überschreibt DIE WELT einen traurigen Rekord, „den Europa in diesem Jahr zu verzeichnen hat: Waldbrände haben innerhalb der Europäischen Union seit Jahresbeginn schon mehr vernichtet als im gesamten Jahr zuvor.“

Ob man nun an den menschengemachten Klimawandel „glauben“ will oder nicht, im klimatischen Gefüge unserer Welt zeichnet sich deutlich die Tendenz einer Änderung zum Schlechteren ab. Kaum verwunderlich, daß sich diese Entwicklung auch in der Literatur niederschlägt. Dystopien einer vom Klimawandel verheerten Welt haben Konjunktur. „Climate-Fiction“ ist der neue Name dieses der Literaturgattung der Science-Fiction untergeordneten Genres, in dem sich die Ängste und Gefahren des global warming widerspiegeln.

Aktuell finden sich entsprechende Titel wie „Die Erinnerung an unbekannte Städte“ von Simone Weinmann oder „Milchzähne“ von Helene Bukowski.
Doch so neu ist diese Form der Literatur nicht. In den 1960er Jahren setzte damit der Brite James Graham Ballard (1930 – 2009) den Grundstein für eine Karriere, die ihn zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes und darüber hinaus machte.

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Der Sturm aus dem Nichts“ (Storm-Wind, 1961) bildete den Anfang eines Reigens der Extreme, in denen er die Urgewalten als globale Katastrophen auftreten läßt: Ein wie aus dem Nichts entfesselter Supersturm zerstört die menschliche Zivilisation, die kein Entkommen findet. Ihm folgte „Karneval der Alligatoren“ (The Drowned World, 1962), in Deutschland einer der erfolgreichsten Roman Ballards, über eine in den Fluten einer globalen Schneeschmelze versunkene Welt. Danach erschien „Welt in Flammen“ (The Drought, 1965), in der die Menschheit in einer überhitzten Welt zugrunde geht. Für den Abschluß steht „Kristallwelt“ (The Crystal World, 1966), wo ausgelöst durch eine kosmische Quantenverschränkung vom westafrikanischen Dschungel aus sich alle Materie – egal ob leblos oder belebt – langsam in eine kristalline Struktur transformiert.

Alle vier Romane stehen für die Vier-Elemente-Lehre der griechischen Naturphilosophie, als die Stoffe, aus denen die Welt bestehen sollte: Luft, Wasser, Feuer und Erde.

Der Schweizer Verlag Diaphanes, der bereits seit einigen Jahren das Werk Ballards nach und nach neu aufgelegt hat, hat für Ende Oktober die Neuerscheinung von Ballards „Welt in Flammen“ unter dem Titel „Die Dürre“ angekündigt. Es ist ein Roman zur rechten Zeit.

„Welt in Flammen“ / „Die Dürre“ führt in eine Zukunft, in der durch die Umweltverschmutzung sich ein hauchdünner, aber unzerstörbarer Polymerfilm über die gesamten Wasseroberflächen gelegt hat, der die Verdunstung des Wassers unterbindet. Die Folgen sind desaströs. Der Wasserkreislauf ist unterbrochen; es fällt kein Regen mehr. Die Atmosphäre ist erfüllt von Trockenheit und Hitze:

„Regen! Ransom versuchte sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was dieses Wort einmal bedeutet hatte und sah dabei zum Himmel auf. Die Sonne hing wie eine glühende Kugel über ihm, deren unerträglicher Glanz weder durch Wolken- noch durch Wasserdampfschleier gemildert wurde. Die ausgetrockneten Felder und Wiesen an beiden Ufern des Flusses lagen unter dem gleichen unbarmherzigen Licht wie unter einer riesigen Hitzeglocke, die alles zur Bewegungslosigkeit erstarren ließ.“

Die letzten Überlebenden fliehen zum Meer, wo sie sich Kühlung erhoffen. Auf dem dünnen Streifen zwischen Meer und Land dicht gedrängt richten sie sich mit Anlagen zur Wasserdestillation auf ein kümmerliches Überleben ein. Sand, Staub und Flugasche bedecken währenddessen die verlassenen Relikte der untergegangenen Zivilisation.

Der Plot des Romans begleitet Ballards Protagonisten Charles Ransom auf seinem Weg in dieser dystopischen Welt. Der Mediziner versucht so lange wie möglich in seinem Wohnboot an den Ufern eines verschlammten Flusses auszuharren. Marodeure suchen die Gegend heim. Seine Frau hat sich von ihm getrennt. Auch er macht sich schließlich gemeinsam mit vier weiteren Begleitern auf den langen Weg zur Küste durch eine von der Apokalypse des Feuers verzehrten Welt:

„Eine Stunde später gingen sie nebeneinander das ausgetrocknete Flussbett entlang, über das der Gluthauch der zahlreichen Feuer am Ufer wie ein heißer Wüstenwind hinwegblies. Der gesamte Horizont stand in Flammen, denn in den Außenbezirken der Stadt wüteten unvorstellbare Großfeuer. Larchmont brannte am Fluß, und das Feuer hatte auch die Bootshäuser erfaßt. Hoch über ihren Köpfen segelten Myriaden von glühenden Holzstückchen wie Glühwürmer vorbei und blieben auf den Feldern im Süden liegen, als sei der ausgetrocknete Boden jetzt ebenfalls in Brand geraten.“

Die surrealen Beschreibungen der von Hitze und Feuer verwandelten Landschaften, ihre Ursache in einer vom Menschen verursachten Umweltkatastrophe – all das legt den Schluß nahe, Ballard hätte mit „Welt in Flammen“ eine Warnschrift vor dem ökologischen Kollaps vorlegen wollen. Doch nichts lag ihm ferner, auch wenn in der Zeit der Entstehung des Romans erste Ängste vor den Folgen der Umweltzerstörung aufkamen, und Ballards Romane lassen durchaus eine Lesart zu, in der sich ein stückweit diese Ängste widerspiegeln.

Jedoch ging es ihm weniger um die gefährdete Ökologie unseres Planeten. Ballard war tief beeinflußt von den Surrealisten sowie den Psychoanalytikern Sigmund Freud und C. G. Jung, so daß

„keineswegs die abenteuerliche Bewältigung der diversen Katastrophen im Mittelpunkt [steht], sondern ein besonderes Mensch-Natur-Verhältnis, das vor diesem Hintergrund Ballards spezifische Vorstellungen einer individuellen, gesellschaftlichen und kosmisch-irdischen Devolution beleuchtet. Diese Naturkatastrophen liefern gleichsam das Bühnenbild, vor dem sich das folgende Drama entwickeln kann.“ (Klaus W. Pietrek)

Allen vier Romanen ist gemeinsam, daß es darin keine Rückkehr zu den alten Zuständen gibt. Doch überraschenderweise wehrte sich Ballard stets dagegen, daß seine Romane Geschichten von globalen Katastrophen ohne Happy Ends enthielten:

„Die Helden nehmen die besonderen Wandlungen freudig auf, wofür sie ihre eigenen psychologischen Gründe haben. Das sind Geschichten von ungeheuren psychischen Transformationen (…) und ich verwende diese äußere Transformation der Landschaft, um die innere Wandlung zu reflektieren und sie mit ihr zu verbinden, nämlich die psychologische Wandlung der Charaktere. Das ist das Thema dieser Romane: es sind Geschichten von Verwandlungen anstatt Katastrophengeschichten.“

Als diese vier Romane Ballards erschienen, befand sich die Science-Fiction in einer Krise. Trotz ihres visionären Gehalts konnte auch er ihr damit keine Impulse geben. Ballard blieb ein Solitär in diesem Genre, allerdings ein sehr erfolgreicher, der in den 1970er Jahren mit den als Einheit zu verstehenden, provokativen Romanen „Crash“ (1996 von David Cronenberg verfilmt), „Die Betoninsel“ und „Der Block“ (2015 unter dem Titel „High-Rise“ in den Hauptrollen mit Tom Hiddleston und Jeremy Irons verfilmt) noch mal für Furore sorgte.

Auch fast 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung ist „Welt in Flammen“ ein Roman, der keineswegs an Reiz verloren hat und den die Klimafrage aktueller denn je macht. Vielleicht kann seine Neuauflage in der heutigen Science-Fiction eine Rückbesinnung herbeiführen auf Stoffe, die uns mehr zu erzählen haben, jenseits der modernen Weltraummythen von Star Wars und Star Trek.

J.G. Ballard
Welt in Flammen
Heyne Verlag

175 Seiten, 1978
J.G. Ballard
Die Dürre

Diaphanes
VÖ 27.10.2022, 224 Seiten

18,- Euro

Wehe uns, wenn man der Moderne den Stecker zieht

Steht uns in Deutschland ein Winter des Missvergnügens bevor? Das durch den Ukraine-Krieg ausgelöste Zusammenspiel von Sanktionen gegen den Aggressor Russland und seinem Erpressungspotential läßt uns ängstlich auf die entscheidende Achillesferse unserer modernen Industriegesellschaft blicken: unsere ausreichende Versorgung mit bezahlbarer Energie. In weniger als einem halben Jahr klopft der Winter an unsere Tür, und niemand vermag heute zu sagen, ob bis dahin die Gasspeicher wieder gefüllt sein werden, geschweige denn, ob ihr Inhalt noch für breite Bevölkerungsschichten bezahlbar sein wird.

Was sich hier anzukündigen droht, ist ein Albtraumszenario. Die von den Grünen und ihrer Gefolgschaft in den Mainstreammedien befeuerte Debatte um den angeblichen Klimakollaps hat in den vergangenen Jahren eine Energiewende befördert, die uns in direkte und gefährliche Abhängigkeit eines einzelnen Lieferanten von Erdgas beförderte, weil andere fossile Energieträger wie Kohle zur Absicherung unsicherer Lasten aus Wind und Sonne für unerwünscht erklärt wurden.

Doch wie könnte sich dieses Szenario in Real ausgestalten? Im Genre des Techno-Thrillers war es der Österreicher Marc Elsberg, der hierzu eines der überzeugendsten Ergebnisse abgeliefert hat: „Blackout – Morgen ist es zu spät“. Auch zehn Jahre nach seinem Erscheinen ist es auf dem Buchmarkt ein Bestseller in Millionenauflage, dem die aktuelle Krise eine unerwartete Aktualität beschert hat.

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Es ist November in Europa. Ohne Vorwarnung bricht in Westeuropa das gesamte Stromnetz zusammen. Niemand kann sich auf die Ursache einen Reim machen. Bis der freischaffende Programmierer und Hacker Piero Manzano in den Smart Metern, der inzwischen trotz Bedenken von Datenschützern als Standard verbauten Stromzählern, merkwürdige Steuerungsbefehle entdeckt, die dort nicht hineingehören. Ein Verdacht keimt auf: Ist es das Werk von Terroristen? Oder probt hier eine auswärtige Macht einen Cyberangriff in einer bislang nie dagewesenen Dimension?

Während Ermittler von Interpol und der Polizeibehörden den Tätern hinterherspüren, sind die Behörden am Rande ihrer Möglichkeiten, die öffentliche Ordnung und Versorgung mit den notwendigsten Gütern aufrecht zu erhalten. Kassensysteme sind tot, Geldautomaten spucken kein Geld aus, selbst die Benzinförderung an Tankstellen ist nicht mehr möglich, weil auch sie nur über Strom funktioniert. Ellsbergs drastische, aber gut recherchierte Schilderungen lassen den Leser in tiefe Abgründe blicken:

„Gerade bei der Milchproduktion stehen wir in den kommenden Tagen vor einer wahren Katastrophe., die wir nur bedingt aufhalten können. Wer von Ihnen auf dem Land aufgewachsen ist oder einmal mit seinen Kindern Urlaub auf dem Bauernhof gemacht hat, kennt vielleicht das Muhen der Kühe am Morgen, wenn ihre Euter voll sind und gemolken werden wollen. Genau das tun sie in all jenen Ställen mittlerweile, die nicht mehr mit Energie versorgt werden. Diese Kühe sind zum Milchproduzieren gezüchtet, sie geben bis zu vierzig Liter am Tag. Stellen Sie sich die Euter dazu vor. Und vergegenwärtigen Sie sich als nächstes, dass diese Euter seit zwei Tagen nicht gemolken wurden. Die Landwirte können nur einen kleinen Bruchteil von ihnen mit den Händen erleichtern. Alle anderen leiden unter übervollen Drüsen. Selbst wenn wir die betroffenen Unternehmen in den kommenden Stunden mit Notstromgeneratoren ausrüsten, wird die Hilfe für viele zu spät kommen. Millionen werden an ihren geschwollenen Eutern unter ohrenbetäubendem Brüllen qualvoll sterben. Denn für Notschlachtungen in diesem Ausmaß fehlen uns Mittel und Personal.“

Doch dabei bleibt es nicht. Leiser, aber für die Nahrungsmittelproduktion nicht weniger gefährlich, ist der Systemausfall in der industrialisierten Gemüse- und Obstzucht. Ebenso vom Ausfall betroffen sind die Trinkwasserversorgung und die Entsorgung des anfallenden Abwassers:

Stellen Sie sich ein Hochhaus vor, in dem niemand mehr seine Toilette benutzen kann, aber es trotzdem tun muss.“

Die Gefahr von Seuchen steigt, auch weil Müll nicht entsorgt wird. Besonders prekär wird die Situation für die Schwächsten der Gesellschaft, Krankenhauspatienten und die wie in einer „Todesfalle“ sitzenden Bewohner von Alten- und Pflegeheimen:

„Künstliche Ernährung funktioniert nicht, wie auch alle anderen Geräte, etwa zur künstlichen Lebensverlängerung. Die Küche fällt aus, die Versorgung mit Lebensmitteln insgesamt, ebenso die mit Wasser. Reinigung von Pyjamas und Bettwäsche wird unmöglich, die hygienischen Zustände werden auch hier schnell untragbar. Die Heizungen fallen aus, und binnen weniger Stunden erkalten die Räume. Viele der Insassen können sich nicht mehr von allein bewegen. Auch hier funktionieren die Fahrstühle nicht mehr, eine Verlegung wird kompliziert. Wie die Ärzte können Teile des Personals ihren Arbeitsplatz nicht erreichen. Die Verbliebenen sind völlig überfordert.“

Und dabei bleibt es noch lange nicht! Die Story erfährt eine dramatische Zuspitzung, nachdem die von langer Hand manipulierte Steuerungssoftware etliche Kraftwerke am Hochfahren hindert. Aber auch im heruntergefahrenen Zustand sind Atomkraftwerke auf die ständige Kühlung ihres Brennstoffs angewiesen, um eine Kernschmelze zu verhindern. Zwar verfügen diese hierfür über dieselbetriebene Notfallsysteme, doch der Nachschub fällt im sich ausbreitenden Chaos aus. Einer der daraus resultierenden Störfälle hat die radioaktive Verseuchung des französischen Rhone-Tals zur Folge.

In weniger als 14 Tagen sind in Elsbergs Plot die staatlichen Ordnungen Europas reif für den Zusammenbruch. Die Menschen fallen in anarchische Zustände, in denen sie sich am Gut anderer selbstbedienen. Recht und Gesetz werden seitens der wie abwesenden Staatsmacht nicht mehr durchgesetzt.

Als Urheber des Cyber-Angriffs läßt Elsberg eine Terrorgruppe von postmodernen Fanatikern und Anarchisten auftreten, die ihre Utopie einer neuen, antikapitalistischen Ordnung auf den Trümmern und Leichenbergen der alten Welt Wirklichkeit werden lassen wollen. Hierin ist Ellsberg wirklich sehr vorausschauend gewesen. Denn wer wollte ausschließen, daß die Jünger der Klimasekte aus „Bündnis Letzte Generation“ und „Fridays for Future“ zu noch ganz anderen Mitteln greifen werden, wenn sie mit ihren infantilen Exzessen aus Klima-Hüpfen und Festkleben auf Fahrbahnen nicht mehr weiterkommen?

Allein der Computerwurm Stuxnet (2010) und die russischen Cyberangriffe auf Estland 2007 haben die Verwundbarkeit technischer Netzwerke spektakulär vorgeführt. Und wie bereits lokale Katastrophen einen Zivilisationskollaps auslösen können, kann eingehend am Wirbelsturm Katrina (2005) studiert werden. Insofern ist Ellsbergs „Blackout“ auch in der unwahrscheinlichen Zuspitzung eines annähernd globalen Ereignisses näher an den Realitäten als uns lieb sein kann. Doch es sollte dabei keineswegs außer Acht gelassen werden, daß es allein schon die sogenannte Energiewende ist, die unsere Versorgungssysteme für Störungen anfällig werden lassen.

Elsberg traf mit seinem Thriller offenbar einen Nerv, selbst sogar in Fachkreisen, mit denen er darüber immer wieder ins Gespräch kommt. Der Autor selbst machte bislang aus seiner Enttäuschung keinen Hehl, wenig mehr bewegt zu haben als ein Bewußtsein für die Thematik geschaffen zu haben.

Dem geweckten Bewußtsein sollten andere Taten folgen, als den staatlichen Institutionen blind zu vertrauen, mit den Herausforderungen einer teils selbst geschaffenen Energiekrise fertig zu werden. Schaffen Sie sich Notfallvorräte an, wie Kerzen und Zündhölzer, ebenso einen großen Kanister voll Wasser für die Klospülung. Auch ein Kurbel-Radio kann dann bessere Dienste leisten als jedes Smartphone. Und vor allem: Lesen Sie Marc Elsbergs „Blackout“.

Marc Elsberg
Blackout – Morgen ist es zu spät
2012; 832 Seiten; 12,00 Euro

R.I.P. Vangelis (1943 – 2022)

Der Grieche Evangelos Odysseas Papathanassiou wurde unter seinem Künstlernamen Vangelis weltberühmt als Komponist für die Soundtracks so bedeutender Filme wie „Chariots of Fire“, „Blade Runner“ oder „1492 – Die Eroberung des Paradieses“. Am 17. Mai ist Vangelis im Alter von 79 Jahren in Paris verstorben. Aus diesem Anlaß hier ein Beitrag über diesen Pionier der Elektronischen Musik, den ich 2016 für die JUNGE FREIHEIT geschrieben habe.

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© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/16 / 30. September 2016

Walzer tanzen auf Tschuri
Kosmisches Zusammenspiel: Die ESA beendet ihre Weltraummission der Rosetta-Sonde / Zeitgleich veröffentlicht der Erfolgskomponist Vangelis seine gleichnamige Sinfonie
Daniel Körtel

Sie ist eine der spektakulärsten Missionen der Europäischen Raumfahrtagentur ESA: die 2004 gestartete Raumsonde Rosetta zum Kometen Tschurjumow-Gerassimenko – Kurzform: „Tschuri“ –, auf dem im November 2014 die von ihr abgekoppelte Tochtersonde Philae landete. Drei Tage lieferte Philae Daten von dem eisigen Himmelskörper, dann brach wegen der nachlassenden Energieversorgung der Kontakt zu dem in einem Spalt festsitzenden Landemodul ab. Ein dauerhafter Kontakt konnte seitdem nicht mehr hergestellt werden.

Ein besonders aufmerksamer Beobachter der Mission war der Komponist Vangelis, auf den Astronomie und Weltraum seit jeher eine starke Faszination ausüben. Kurz vor dem geplanten Finale, wenn Rosetta aus seinem Orbit um „Tschuri“ in einem kontrollierten Sinkflug am 30. September auf die Oberfläche des Kometen treffen soll, veröffentlicht der Künstler in Kooperation mit der ESA mit der Sinfonie „Rosetta“ seine musikalischen Eindrücke dieses wissenschaftlichen Abenteuers.

In 13 Sätzen interpretiert Vangelis die einzelnen Phasen des kosmischen Zusammenspiels von Rosetta und „Tschuri“ und charakterisiert die einzelnen Protagonisten: ob von den ersten Takten an, die die Annäherung von Rosetta an den Kometen signalisieren, dem turbulenten „Philae’s Descent“, dem leichtfüßigen Walzer für Rosetta („Mission Accomplie“), der Dramatik im sonnennächsten Bahnpunkt des Kometen – dem „Perihelion“–, ein trauriges Klagelied für Rosettas Ende, bevor das geheimnisvolle „Return to the Void“ den Kometen mit seinen zwei verstummten Passagieren in die leeren Weiten des Alls verabschiedet – Gänsehautgefühle sind dem Zuhörer garantiert.

Doch wer ist der öffentlichkeitsscheue „Man of Mystery“ mit der ungeheuren physischen Präsenz und dem Rauschebart, der auf ein beachtliches künstlerisches Lebenswerk von mehr als fünfzig Jahren zurückblickt und dem zu Ehren passenderweise 1995 ein Asteroid benannt wurde? Vangelis wurde am 29. März 1943 in Velos an der griechischen Ostküste unter dem Namen Evangelos Odysseas Papathanassiou geboren. Bereits ab dem Alter von vier Jahren erwies er sich als ein musikalisches Wunderkind, das schon mit sechs Jahren vor großem Publikum seine eigenen Kompositionen vorstellte. Instinktiv entfaltete sich sein Naturtalent, das sich jedoch in keine Form pressen ließ.

Perfekte Symbiose von Film und Musik

In den sechziger Jahren machte er Griechenland mit der Popmusik vertraut. Dem Druck der griechischen Militärdiktatur ausweichend, ging Vangelis 1968 nach Frankreich, wo er gemeinsam mit seinem Landsmann Demis Roussos (1946–2015), dem späteren Schlagerstar, die Band Aphrodite’s Child gründete und mit Beat und Progressive Rock mit einem Schuß mediterranem Folk ersten internationalen Ruhm erntete. Kurz vor der Auflösung der Band 1972 setzte der Keyboarder mit seinen Kompositionen zu dem zum Kultalbum avancierten „666“ – eine epische Vertonung der Johannes-Apokalypse – neue Maßstäbe.

Aphrodite’s Child – The Four Horsemen (video)

Der Erfolg von Aphrodite’s Child beförderte Vangelis in die glückliche Lage, losgelöst vom engen Korsett der Plattenfirmen, die Musik zu kreieren, die ihm gefiel. Das optimale Instrument seiner Wahl war der Synthesizer, ein noch junges Werkzeug. Es folgten erste Instrumentalkompositionen für Konzept-Alben und Filmmusiken für Natur-Dokumentationen. Die siebziger Jahre sind das Jahrzehnt der elektronischen Musik, und Vangelis avanciert neben Tangerine Dream und Jean-Michel Jarre zu einem ihrer bedeutendsten Vertreter.

Zum internationalen Durchbruch verhalf Vangelis das Musikstück „Chariots of Fire“ für das Sportlerdrama „Die Stunde des Siegers“. Unerwartet erhielt der Komponist 1982 den Oscar für die beste Filmmusik. Die Melodie ist bis heute ein weltweit populärer Dauerläufer, der immer wieder zu sportlichen Anlässen gespielt wird. Hier zeigte sich der Künstler als Pionier, dem die perfekte Symbiose von Film und Musik gelang. Mit seinen Synthesizern erweiterte er die Grenzen, die den klassischen Orchestern gesetzt waren, mit denen Hollywood bislang traditionell arbeitete. Diesen Stil führte er fort mit seiner Arbeit zu Ridley Scotts „Blade Runner“ (1982), einem dystopischen Film noir, dessen düstere Atmosphäre Vangelis gelungen akzentuierte. Auch hier konnte der Soundtrack über cineastische Kreise hinaus bis heute eine außerordentliche Popularität entfalten.

Blade Runner • Main Theme • Vangelis

Doch mit dem zunehmenden Erfolg ging Vangelis immer deutlicher auf Distanz zur kommerziellen Musik-industrie, der er die Etablierung einer Massenkultur auf Kosten der Qualität vorhielt und deren Produkte er mit akustischer Umweltverschmutzung verglich. Entsprechend hielt er sich mit der Veröffentlichung von Soundtracks für den Musikmarkt zurück und schlug viele Angebote aus, um nicht als „Fabrik für Filmmusiken“ zu verkümmern.

Und doch war es wieder ein Soundtrack, der seine vermutlich beste Leistung wurde und sogar „Chariots of Fire“ übertraf. 1992 komponierte er wieder in Zusammenarbeit mit Ridley Scott für dessen Kolumbus-Biographie „1492 – Die Eroberung des Paradieses“ den Soundtrack, verwoben mit zahlreichen Einflüssen ethnischer Musik, eine Spezialität Vangelis’. Kurioserweise wurde der kommerzielle Erfolg des Soundtracks nachträglich drei Jahre später weit übertroffen, als der Boxweltmeister Henry Maske die Titelmelodie zu seiner Ring-Fanfare erwählte. Der Soundtrack stieg zum Millionenhit auf, der allein in Deutschland bis dahin von keinem anderen Titel übertroffen wurde!

1492: Conquest of Paradise • Main Theme • Vangelis

Aus seinem Synthesizer zaubert der „griechische Tasten-Magier“ kontemplative Harmonien bis sakral-mystische Klangräume, die ganze Kathedralen ausfüllen können. Ihnen gemeinsam ist die elektronische Signatur, die stets auf ihren herausragenden Schöpfer verweist.

Kein Mensch kommt als unbeschriebenes Blatt auf die Welt. Hochbegabungen wie die von Vangelis werden in die Wiege gelegt und können von keinem noch so progressiven Bildungssystem herangezogen werden. „Große Musiker sind nicht groß, weil sie studieren. Sie sind groß, weil sie groß sind!“ – so die Begründung des Autodidakten und Freigeistes Vangelis, warum er bereits als Kind jede formale Musikausbildung ablehnte. Noten lesen und schreiben kann Vangelis bis heute nicht.

Und doch hat Vangelis der modernen Musikwelt seinen prägenden Stempel aufgesetzt. Oft wird er mit dem Maler El Greco (1541–1614) verglichen. Seitdem dieser seine kretische Heimat verließ, um im Ausland seine Schaffenskraft zu entfalten, hat kein Grieche einen solchen kulturellen Einfluß ausgeübt wie der Musiker Vangelis.

Vangelis Rosetta Decca (Universal Music), 20 16 www.universal-music.de

Vangelis (1943 – 2022)