Die Echokammer im Gartensaal

Seit „9-11“ sind Verschwörungstheorien geradezu Massenerzählungen geworden. Zwar sind sie bis in das Mittelalter zurückzuführen, als die Mär die Runde machte, die Pest sei auf die Brunnen vergiftenden Juden zurückzuführen, aber erst in unserer Zeit hat die Vielzahl an Krisen eine Fülle von Überlegungen hervorgebracht, ihre verborgenen Ursachen und Nutznießer zu identifizieren. Aber sie betreffen nicht nur echte Krisen; auch die Abgasströme von Flugzeugen sind mit der Chemtrail-Verschwörung Inhalt recht amüsant-bizarrer Erklärungsversuche, die von ihren Vertretern vollkommen ernst gemeint sind. Daneben findet sich „9-11“ als Inszenierung amerikanischer Geheimdienste, zum bis heute ungeklärten Mord an JF Kennedy von 1963 oder dem umstrittenen Engagement sogenannter „Philanthropen“ wie George Soros und Bill Gates, letzterer im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.

Am vergangenen Wochenende vom 15.-17.9.2023 versuchte an der Evangelischen Akademie Hofgeismar ein interaktiver Workshop – NARRATIVE GEHEIMER WELTVERSCHWÖRUNGEN – der Natur der Verschwörungstheorien auf den Grund zu gehen und den Teilnehmern Hilfestellungen mitzugeben für den Umgang mit solchen Erzählungen in ihrem Umfeld. Um es vorweg zu sagen: Das Konzept wies einige inhaltliche Schwächen auf.

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Die von der Sozialpsychologin Jana Schneider (cultures interactive e.V.) geleitete und dem Studienleiter Michael Nann verantwortete Veranstaltung im Gartensaal des Schlösschens Schönburg war als Stuhlkreisrunde mit hoher Selbsteinbringung der Teilnehmer konzipiert. Die inhaltliche Vermittlung erfolgte durch interaktive Spiele mittels Multiple Choice oder auch in Rollenspielen. Die rund 20 Teilnehmer waren von mittlerem bis ins höhere Alter und teilweise nach Eigenaussage durch persönliche Erlebnisse im privaten Umfeld für das Thema sensibilisiert.

Schlösschen Schönburg (Evangelische Akademie Hofgeismar) /
© Daniel Körtel

Die erste Übung am Freitagabend offenbarte auch das erste inhaltliche Defizit der Veranstaltung: Die in Dreiergruppen von jedem vorgestellte, auf sich selbstbezogene einfache Sachaussage wie beispielsweise „Ich habe eine Katze“ sollte dem jeweiligen als Fake oder Fakt identifiziert werden. An dieser Stelle hätte eine Definition und Erörterung der Begrifflichkeiten „Fake und Fakt“, „Wahrheit und Lüge“ stehen müssen! Das wäre natürlich nicht ohne Risiko gewesen. Denn gerade die Corona-Pandemie hat deutlich aufgezeigt, wie schnell scheinbare Gewissheiten, die gegen alle Kritik abgeschirmt und absolut gesetzt wurden, sich eben als Fake entpuppten, sei es die Wirksamkeit der Masken, die angebliche „Tyrannei der Ungeimpften“ oder die selbst von Karl Lauterbach als nebenwirkungsfrei angepriesenen mRNA-Impfstoffe. Jakob Hayner griff hierzu in der WELT 18.3.2023 ein recht treffendes Bonmot der Querdenkerszene auf: „Was ist der Unterschied zwischen einer Verschwörungstheorie und der Wahrheit? Ungefähr zwölf Monate.“

Das Problem läßt sich auch auf andere Bereiche ausweiten: Wie viele Geschlechter gibt es? Ist ein als Frau verkleideter Mann, der sich als Frau identifiziert, tatsächlich eine Frau? Die „falsche“ Antwort kann einem teuer zu stehen kommen und sogar Karrieren ruinieren.

Doch genau diese kritische Art der Auseinandersetzung erfolgte in Hofgeismar nicht und wäre, was im weiteren Verlauf noch deutlicher wird, auch kaum erwünscht gewesen.

Teilweise fragwürdig und holzschnittartig war die Einordnung konkreter Sachverhalte in das Schema der Verschwörungstheorie. Immerhin wies man im Publikum auch auf die fragwürdigen Seiten des Finanzspekulanten George Soros, der mit seinen üblen Spekulationen ganze Währungen ins Wanken brachte, und auf den Microsoft-Begründer Bill Gates, der u.a. dem „Spiegel“ viel Geld spendete, hin. Als klassisch wurden hierzu auch die Verschwörungserzählungen um Corona gezählt, wie auch der gegenwärtige Krieg Russlands gegen die Ukraine, dessen Einordnung als Angriffskrieg durchaus zutreffend ist, aber in der stereotypen und fast schon dogmatischen Verwendung dieses Begriffs zu einer Ausblendung der komplexen Vorgeschichte und der westlichen Einmischung führt.

Mit den letzten beiden Beispielen kann auch aufgezeigt werden, daß Verschwörungserzählungen neben den von der Referentin Schneider aufgeführten zwei Funktionen auch noch eine dritte einnehmen können. Richtig ist, daß Verschwörungserzählungen zum einen der Stabilisierung des Selbstbildes ihres Verfechters dienen. Zum anderen aber auch genutzt werden zur Verfolgung wirtschaftlicher Interessen, indem die „Gurus“ der Szene die Verschwörungsgläubigen abschröpfen. Verschwörungserzählungen haben aber noch eine dritte, weitgehend unbeleuchtete Funktion, nämlich als Kampfbegriff, um sich im Sinne eines gedankenbeendenden Klischees gegen unangenehme Kritik zu immunisieren.

In gemeinsamer Runde wurden den Verschwörungsgläubigen anhand von Studien bestimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben. So seien sie pessimistischer, seien sie durch persönlich schwierige und stressige Umstände empfänglicher für Verschwörungserzählungen und kritischer gegenüber Machtstrukturen und staatliche Einrichtungen. Sie erfahren Armut oder Marginalisierung und suchen die Ursache in Einzelpersonen und nicht im System. Ein besonderer Risikofaktor sei das Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein, ein Merkmal, das allerdings nicht weniger auf die im weit linken und woken Bereich stehenden Social Justice Worriors zutrifft, die allerdings im Gegensatz zu den in der Regel rechts verorteten Verschwörungsgläubigen kaum Problematisierung erfahren.

Doch sehr fragwürdig ist die weitere Etikettierung als „wissenschaftsfeindlich“. Auch wenn Studienleiter Nann das Gegenteil behauptete, so war die Corona-Zeit durchzogen mit einer von oben bestimmten, einseitigen Schein-Debatte, in der auch mit Hilfe einer willfährigen Presse kritische Stimmen regelrecht marginalisiert und ausgegrenzt wurden.

Und noch am Morgen des gleichen Tages konnte der Berichterstatter in der WELT lesen, wie mit einseitigen, apokalyptischen Klimastudien Politik betrieben wird. Es gibt in unserer Zeit nichts dümmeres als die Parole „Folge der Wissenschaft“, besonders wenn man nicht verinnerlicht hat, daß jede wissenschaftliche Erkenntnis generell als vorläufig bis zu ihrer Verifizierung bzw. Falsifizierung anzusehen ist und selbst danach noch durch neue Methoden oder Erkenntnisse verändert werden kann.

Oder um ein polemisches Bild zu verwenden: Vor 500 Jahren war die Ansicht, die Sonne drehe sich um die Erde – und nicht umgekehrt – wissenschaftlicher Konsens, obwohl es damals durchaus Astronomen gab, die es besser wußten und aus Angst schwiegen. Und die katholische Kirche hätte mit den modernen Methoden des „false Balance“ Kopernikus besser erledigen können als mit der Drohung des Scheiterhaufens.

Doch letztlich mache die Mehrheit der Verschwörungsgläubigen bei Kundgebungen wie der Kasseler Corona-Demo vom März 2021 nur aus einem Grund mit: „Hauptsache dagegen!“ Das mag sein, doch haben die Veranstalter hier die Ambiguität übersehen. Denn genauso gut läßt sich kritisch nach der Motivation der Masse derer fragen, die dem gängigen Corona-Diskurs und den Impf-Aufforderungen folgten. Es wäre wohl kaum eine Überraschung, wenn hier die meisten von ihnen Antworten geben würden wie „Ich wollte meine Ruhe haben“ oder gar den Klassiker des autoritätshörigen Mitläufertums: „Die da oben werden es schon wissen.“

Geradezu erstaunlich ging es in der Statistik der Verschwörungsgläubigen zu. Rund jeder zweite Deutsche hat eine Neigung, solchen Erklärungsmodellen anzuhängen. Parteipolitisch fallen Anhänger der AfD dabei besonders auf (52,9 Prozent), während hingegen die Grünen-Anhänger mit nur 6,3 Prozent angeblich am unempfindlichsten sind! Das ist insofern erstaunlich, weil gerade die Grünen bei jedem Gegenwind, der ihnen entgegen bläst, eine rechte Verschwörung wittern und überhaupt die Republik gegen jede Realität kurz vor dem Kippen nach rechts sehen, einer „fossilen Lobby“ die Bekämpfung des Klimaschutzes unterstellen und sogar soweit gehen, den deutschen Sprachkundlern des 19. Jahrhunderts durch die Festlegung auf das generische Maskulinum eine Verschwörung zur Marginalisierung des weiblichen Geschlechtes zuzuschreiben. Aber wahrscheinlich wurde in den entsprechenden Studien nicht nach solchen Verschwörungsnarrativen gefragt.

Zu guter Letzt wurde in einem Rollenspiel der Umgang mit den Verfechtern von Verschwörungserzählungen geübt. Eigene Grenzen setzen, sich empathisch geben, statt das Gegenüber unter Druck zu setzen, nicht mit Fakten auf der inhaltlichen Ebene argumentieren – schnell ist man auch nach dem Eindruck mancher Teilnehmer hier in der als unangenehm empfundenen Rolle des Therapeuten. Die Vorgaben des Rollenspiels trieften geradezu vor Klischees:

„Vor dir sitzen Peter (59), Lastkraftwagenfahrer aus Sachsen, und seine Tochter Annika (26), Kunststudentin in Düsseldorf. Früher haben die beiden in der familiären Werkstatt jeden Sonntag Metallfiguren gebastelt und geschweißt. Seit Annika zum Studium weggezogen ist, haben die beiden sich merklich entfremdet, sowohl in Alltagsfragen als auch in ihren Weltanschauungen. Beide wünschen sich, dass sich ihre Beziehung wieder verbessert und sind belastet durch die aktuelle Situation. (….)“

Und der Abschluss der Veranstaltung machte den Eindruck, womit man es in diesem interaktiven Workshop eigentlich zu tun hatte, endgültig rund: In der Auflistung der Anlaufstellen, wo man sich wegen Verschwörungstheorien hinwenden kann, standen auch die „Faktenchecker“ von Correctiv wie auch die Amadeu-Antonio-Stiftung.

Verschwörungstheorien zur Welterklärung können durchaus einen problematischen Charakter annehmen, vor allem wenn sie vollkommen absurden Inhaltes sind und zum tragenden Element für das eigene Selbstbild werden und den Betreffenden in eine Tunnelperspektive führen, mit durchaus beträchtlichen negativen Auswirkungen für das soziale Leben. Hierfür stehen beispielhaft fundamentalistische Sekten wie die Zeugen Jehovas, für die Verschwörungstheorien konstitutiv sind. Auch schreiben die Verfechter von Verschwörungstheorien den jeweiligen Akteuren eine derart außerordentliche Macht die Dinge zu lenken zu, die der Komplexität des Lebens regelrecht widerspricht. Jedoch sind Verschwörungstheorien oft identisch mit tatsächlichen Verschwörungen, wenn sie sich als wahr erweisen. Die Grenze ist fließend und kann sich bei neuen Erkenntnissen verschieben.

Das beste Beispiel hierfür ist Corona, wo sich Referentin, Tagungsleiter wie Teilnehmer des Workshops offenbar noch in den ausgetretenen Bahnen eines längst überholten Diskurses bewegten. So war eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Verschwörungstheorie und wer solchen Erzählungen aus welchen Motiven anhängt, nicht zu erwarten. Da konnte der Gartensaal des Schlösschens Schönburg zwangsläufig nur zur Echokammer werden.

Gesundbrunnen (Evangelische Akademie Hofgeismar) / © Daniel Körtel

Der Städte Niedergang ist auch der des Menschen

„Da waren die Städte, Mikrokosmen des menschlichen Gemeinwesens, riesige Wesen von sehr stark individuellem Charakter, die ihre Bewohner durch Gewohnheit, durch Liebe und durch die unsichtbaren Fäden an sich banden, die auch die ersten Menschen aneinandergebunden hatten, denn außerhalb der Wärme des vom Feuer beleuchteten Kreises herrschte Dunkelheit und beobachtete sie das Unbekannte mit wölfischen Augen“ („Die letzten Städte der Erde“, C.J. Cherryh)

Menschliche Zivilisation ist nicht denkbar ohne Urbanisation. Erst mit der Gründung von Städten kulminierten die schöpferischen und sozialen Potentiale des Menschen derart, daß ohne sie kein technologischer Fortschritt, kein Wohlstand denkbar wären. Hier vollzog sich vielfältigster Austausch und Wandel auf engstem Raum und strahlte wiederum aus auf andere Städte. Über die meisten der ersten Stadtgründungen wie Ur und Babylon legt sich schon lange der Staub. Und doch ist einigen von ihnen schon eine lange Lebensdauer beschert und wir blicken inzwischen zurück auf eine lange und rumreiche Vergangenheit.

1981 wagte die amerikanische Science-Fiction-Schriftstellerin C.J. Cherryh einen literarischen Blick in die Zukunft einiger der berühmtesten und bedeutendsten Kapitalen der Menschheit. „Die letzten Städte der Erde“ – 1985 in deutscher Übersetzung im Heyne Verlag erschienen – vereinigt sechs Erzählungen über die Metropolen Paris, London, Moskau, New York, Peking.

Aus dem umfangreichen Opus von Cherryh sticht dieses Buch insofern heraus, daß es sich nicht eindeutig der Science-Fiction zuordnen läßt. Seit sie 1976 mit „Brüder der Erde“ ihren Durchbruch feierte – zu einer Zeit, als dieses Genre fast eine reine Männer-Domäne war -, blieb sie innerhalb des Rahmens der Space Opera bzw. der Hard-Science-Fiction. In „Die letzten Städte der Erde“ sind jedoch mit dem Auftreten von Geistern auch Elemente der Fantasy enthalten. Zudem steht es als Einzelwerk für sich alleine, denn üblicherweise überspannen Cherryhs Romane ganze Zyklen wie den der „Chanur“ oder den „Alliance-Union-Zyklus“.

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Cherryhs „Die letzten Städte der Erde“ liest sich wie ein Trauerlied. Dazu passt schon die Einbettung in eine künftige, sehr weit entfernte Epoche, in der „die Sonne matt geworden war und von Krankheiten befallen, bevor der Mond glühend und riesig am Himmel hing, in den Raumhäfen die Schiffe von den Sternen weniger geworden waren und der Gründe für Ambitionen noch weniger.“ Von Hyper-Technologie ist darin keine Spur, im Gegenteil, atavistische Tendenzen, also Rückschläge in vergangene Muster, haben sich eingestellt.

Die erste Erzählung „Der einzige Tod in der Stadt“ ist Paris gewidmet. Sie wuchs derart in Breite und Höhe, so daß sie nun den Fluß „Sin“, die einstige Seine, umschloß. Das Leben ist gezeichnet in dem Zyklus von Tod und Wiedergeburt. Es ist die Geschichte von Jade Alain und Onyx Ermine, die jeweils verschiedenen bedeutenden Häusern angehören. Alains Liebe zu Ermine erwidert diese mit einer zynischen Wette. Sie wird ihn heiraten, jedoch: „Du wirst nach diesem vierten Jahr den Tod erleiden, und ich werde im nächsten Leben nichts mit dir zu tun haben.“ Aber der Tod wird bei dieser Wette noch ein Wort mitreden…

Die vielleicht beste Erzählung ist „Der Spukturm“, angesiedelt in London. Der am Themseufer stehende Tower scheint die Konstante dieser Stadt sein. Die einst im Mittelalter errichtete Festung findet in dieser weit entfernten Zukunft wieder zurück zu ihrer früheren Bestimmung, als Gefängnis für bedeutende Personen. Dieses Mal trifft es Bettine Maunfry, die Geliebte des Bürgermeisters, die unwissentlich zum Spielball einer Intrige um dessen korrupte Machenschaften gerät und dabei zum Auslöser einer Revolution gegen seine Herrschaft wird. Doch vorher trifft sie in ihrem Verlies auf die Geister von Richard und Edward, jene zwei kleinen Prinzen, die vermutlich an ebendiesem Ort einem durch ihren Onkel, den englischen König Richard III. (1452 – 1485), in Auftrag gegebenen Mord zum Opfer fielen. Ebenso lernt sie den Geist von Marcus Atilius Regulus kennen, ein Legionär, der während der römischen Zeit Britanniens zu Tode kam und sich Bettine als Psycho-Pomp, ihren Seelenführer in das Jenseits, anbietet.

„Eis“ ist der Moskau gewidmete Titel und passt auch hervorragend in das Sujet dieser Stadt, die schon durch ihre geographische Lage besonders den winterlichen Härten ausgesetzt ist. Andreij Gorodin ist der Protagonist dieser Erzählung, der auf seinem Pony reitend, bewaffnet mit einem Bogen, außerhalb der Mauern dieser Stadt sein Jagdglück versucht. Dem eisigen Winter zum Trotz bietet der Anblick der Stadt etwas Erhabenes: „Nur die Schönheit existierte, die über Moskva lag und die die Stadt umgab. Sie würde ihm den Geist rauben oder ihn das Augenlicht kosten.“ Doch er ist nicht allein auf der Suche nach Beute. Auch die Wölfe sind auf seiner Spur.

Rom, auch die „Ewige Stadt“ genannt, wird aus dem Lotuspalast heraus regiert von Elio DCCLII (dem 752.), einem zwölfjährigen Tyrannen, „bockig, verdorben, gefährlich.“ Die Dekadenz, der diese Stadt – wie auch die übrige Erde – verfallen ist, zeichnet sich durch die Sucht nach Vergnügungen und Träumen aus; Träume, denen ein Apparat realistische Nähe verleiht. Der Inhalt dieser Träume ist die Menschenjagd – „Nächtliche Spiele“. Und wehe, wenn der Tyrann kein Vergnügen an seinen Träumen findet…

Einzig die Hommage auf New York – „Der Highliner“ – wirkt futuristisch. Es ist eine Parabel auf die wohl unausrottbare Korruption, unter der die Stadt traditionell leidet. Johnny Tallfeather gehört zur Gruppe der Highliner, die in den oberen Bereichen der gigantischen Wolkenkratzer Wartungs- und Reparaturarbeiten vornehmen. Es ist eine harte und sehr gefährliche Arbeit, der er und seine Schwester Sarah mit entsprechendem Selbstbewußtsein nachgehen. Eine Betreibergesellschaft setzt ihn und seine Mannschaft unter Druck, für ein Schmiergeld im entscheidenden Moment wegzusehen. Widerwillig läßt sich Johnny auf den Deal ein. Doch die Gegenseite spielt falsch, und seine Schwester erleidet einen tödlichen Unfall. Johnny sinnt auf Rache…

In „Der General“ wiederholt Cherryh das historische Muster, daß dem chinesischen Peking in seiner Geschichte oft widerfahren ist, die blutige Eroberung durch Usurpatoren und Invasoren. Wie im Mittelalter ist die Stadt bedroht durch einen Barbarenhäuptling, der seine Karriere mit dieser besonderen Beute krönen will. Die Bewohner der „Stadt des Himmels“ wirken hilflos im Angesicht der Gefahr, die sich aus den Weiten des Westens kommend vor den Mauern der blühenden Verbotenen Stadt aufbaut. Selbst ihre Soldaten haben das Kämpfen verlernt. Peking „liebte ihr Alter. Sie fand das Leben schön. Sie wußte kein großes Ziel mehr für sich, denn ihr letzter Zug nach draußen lag schon lange zurück; sie ruhte am Ende der Tage.“ Doch was treibt Yilan Baba, Vater Schlange, wie der Barbaren-General von seinen Männern genannt wird, wirklich nach Peking? Ist sein Eroberungszug nur eine Inszenierung, hinter der er tatsächlich etwas ganz anderes verbirgt?

Fantasy trifft Science-Fiction trifft Historik – die Geschichten der „Letzten Städte der Erde“ sind Tragödien des Niedergangs, von Cherryh formuliert in einer außerordentlich poetischen Sprache. Das Buch ist dabei aber durchaus auch tagespolitisch zu verstehen durch das darin enthaltene tragende Motiv des zwangsläufigen Niedergangs der Zivilisation durch die Dekadenz ihrer Menschen. Hier bricht deutlich die weitgereiste Altphilologin in ihr durch, die vor ihrer preisgekrönten Karriere als freie Schriftstellerin Alte Geschichte unterrichtete. Letztlich ragt das Buch wie ein Kleinod heraus aus dem Gesamtwerk einer der außergewöhnlichsten Autorinnen der Science-Fiction. Es ist ein Klassiker, den jeder Liebhaber der Scifi gelesen haben sollte.

Am 1. September 1942 in St. Louis / Missouri geboren, feiert C.J. Cherryh (eigtl. Caroline Janice Cherry) heute ihren 81. Geburtstag.

C.J. Cherryh
Die letzten Städte der Erde

236 Seiten
Heyne, 1985
Nur noch antiquarisch erhältlich

Eine perverse Hymne auf die Verbindung von Sex, Gewalt und Technologie

„Vaughan entfaltete seine ganze Obsession für mich, besessen von der mysteriösen Erotik der Wunden: die perverse Logik von im Blut schwimmenden Armaturenbrettern, exkrementverschmierten Sicherheitsgurten, mit Hirnmasse gezierten Sonnenblenden. Bei Vaughan löste jeder Unfallwagen ein Zucken der Erregung aus, die komplexe Geometrie eines eingedrückten Kotflügels, die unerwarteten Varianten eines zerquetschten Kühlergrills, die groteske Position eines verborgenen Armaturenbretts, das über die Genitalien eines Fahrers ragte wie in einem wohlbemessenen Akt maschineller Fellatio. Die Intimität von Zeit und Raum eines einzelnen Menschenwesens war in diesem Gewebe aus verchromten Messern und mattiertem Glas für die Ewigkeit erstarrt.“ (JG Ballard, „Crash“)

Als 1973 „Crash“ erschien, war der Brite James Graham Ballard (1930 – 2009) bereits ein etablierter Schriftsteller. Mit in der Science-Fiction angesiedelten Romanen wie „Karneval der Alligatoren“ oder auch „Welt in Flammen“ schuf er die Vorläufer dessen, was man heute in der Literatur Climate Fiction nennt. Doch ging es ihm nie um die Warnung vor den Folgen eines Klimawandels, der seinerzeit noch lange kein Thema war. Ballards Frühwerke sind „Literatur der psychologischen Erfüllung“. Seine Protagonisten sind darin Einzelgänger, die den Weg ihrer Erfüllung durch impressionistische Extrem-Landschaften suchten.

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„Crash“ stellte jedoch gegenüber all seinen Vorgängern ein radikales Wagnis dar, letztlich sogar ein Risiko für seinen Autoren. Darin findet sich eine seltsame Gruppe zusammen, die eine bizarre Besessenheit verbindet: Die Sucht nach dem Kick, den ein Autofahrer im simultanen Zusammentreffen von sexuellem Höhepunkt und Verkehrsunfall empfindet. Sein Ich-Erzähler, dem er seinen eigenen Namen gab, kommt nach einem schweren Zusammenstoß mit einem anderen Wagen, dessen Fahrer dabei verstirbt, auf den Geschmack. Im Krankenhaus trifft er erstmals auf Vaughan, die „Antichrist-Figur“ des Romans, der ihm zu einer Art Mentor für diese neue Leidenschaft wird. Es wird für Ballard zu „einer langen Strafexpedition in mein eigenes Nervensystem“. Angeleitet von Vaughan ersinnen beide immer bizarrere Formen von Autounfällen mit kopulierenden Insassen: „Die deviante Technologie des Autounfalls bewilligte jeden denkbaren Akt der Perversion.“

Gemeinsam fahren sie durch die Gegend, zwei Voyeure auf der Suche nach Autounfällen. Der Kreis erweitert sich durch Catherine, die Ehefrau des Erzählers, sowie Helen Remington, der Ehefrau des bei dessen Unfall verunglückten Mannes, die auch noch als Beifahrerin mitbeteiligt war. Vaughans größter Traum ist der automobile Zusammenstoß mit der Filmschauspielerin Elisabeth Taylor, bei dem beide ums Leben kommen.

Explizite Beschreibungen von sexuellen Akten während Autofahrten in allen Details ziehen sich durch den Plot, daß man das Gefühl bekommt, man hielte einen Porno in den Händen, aus dessen Seiten Sperma und Vaginalsekret nur so tropfen. Doch „Crash“ läßt auch die Lesart einer radikalen, übersteigerten Zivilisationskritik zu. Es gehört mit Ballards nachfolgenden Romanen „Die Betoninsel“ (1974) und „Der Block“ (1975) zu einem literarischen Triptychon, perfekt eingepasst in den Zukunftspessimismus der 1970er Jahre. Erstmals wurde damals die Frage aufgeworfen, ob die Menschheit den negativen Auswirkungen des technologischen Fortschritts noch gewachsen sei. Das Versprechen der automobilen Gesellschaft hat die Landschaft mit Straßen voller stinkender Fahrzeuge planiert und zergliedert. Das Auto als auch sexuelle Attraktivität ausstrahlendes Statussymbol fordert von seinen Besitzern immer größere finanzielle Opfer und erzwingt geradezu eine Entwicklung zu immer größeren Modellen, an deren Spitze heute die als SUV (Sport Utility Vehicle) bekannten Stadtpanzer stehen. Und unweigerlich kommt einem bei „Crash“ der Gedanke an die illegalen Autorennen mit oftmals tödlichem Ausgang, die ohne die Virilität der testosterongeschwängerten Fahrer nicht zu denken sind. Ballards Idee der Verbindung von Sex und Technologie ist von der Realität gar nicht so weit entfernt.

„Crash“ ist ein extrem harter, provozierender und herausfordernder Stoff. Kaum verwunderlich, daß die Reaktionen darauf nicht gerade euphorisch ausfielen. Der Autor und Scifi-Experte Charles Platt berichtete nach einem Interview mit Ballard:

„[Crash] war ein ausnehmend perverser, verstörender und gestörter Vorstoß in die Bereiche von Sadismus und Tod, und ich weiß noch, wie er glücklich lachte, als er mir erzählte, dass eine Frau, die das Buch für den Verlag gelesen hatte, erklärt hatte, dem Verfasser sei ‚medizinisch nicht mehr zu helfen.‘“

Kurioserweise erlitt Ballard zwei Wochen nach Veröffentlichung von „Crash“ selbst einen schweren Unfall. Im Nachhinein vermutete er, „wäre ich bei dem Unfall uns Leben gekommen, hätte man das wahrscheinlich als Vorsatz interpretiert, jedenfalls auf der unterbewussten Ebene, als Kapitulation vor den dunklen Mächten, die den Roman hervorgebracht haben.“

Die Inspiration für die in „Crash“ vertretene „Hypothese über die unbewusste Verbindung zwischen Sex und Autounfällen“ bezog der Autor in einer von ihm 1970 organisierten Kunstausstellung im New Arts Laboratory in London. Für einen Monat wurden dort drei auf Schrottplätzen gekaufte Unfallwagen ausgestellt. Kameras nahmen die Besucher bei ihrem Rundgang auf, den sie auf Monitoren selbst ansehen konnten. Eine junge Frau sollte die Besucher nackt nach ihren Empfindungen fragen. Nachdem ihr nach anfänglicher Zustimmung Bedenken kamen, trat sie nur oben ohne auf. So wie die Ausstellung bei der Eröffnung zu entgleiten drohte, schien sie Ballards Hypothese akkurat zu bestätigen. Ballard schrieb hierzu in seiner Autobiographie „Wunder des Lebens“:

Ich bestellte eine erhebliche Menge Alkohol und ließ den ersten Abend wie eine Galerieeröffnung ablaufen, zu der ich verschiedene Schriftsteller und Journalisten eingeladen hatte. Ich habe noch nie erlebt, dass sich Besucher einer Kunstgalerie so schnell betrunken haben. Es lag eine ungeheure Spannung in der Luft, als wären alle durch eine innere Alarmglocke aufgeschreckt worden. Hätten sie draußen auf der Straße geparkt, hätte niemand die Automobile bemerkt, aber im grellen Licht der Galerie schienen die verwüsteten Karosserien zu provozieren und zu beunruhigen. Wein wurde auf die Autos geschüttet, Scheiben eingeschlagen, das Oben-ohne-Mädchen um ein Haar auf dem Rücksitz des Pontiac vergewaltigt (behauptete sie jedenfalls; später schrieb sie eine vernichtende Rezension unter dem Titel »Ballard Crashes« in der Undergroundzeitschrift Frendz). Eine Journalistin von New Society begann in dem Durcheinander ein Interview mit mir, wurde aber derart von ihrer Entrüstung (von der die Zeitschrift einen grenzenlosen Vorrat besaß) übermannt, dass man sie festhalten musste, damit sie sich nicht auf mich stürzt.

Es sollte noch fast 25 Jahre dauern, bis „Crash“ verfilmt wurde. Erst in den 1990er Jahren war die Zeit hierfür reif genug. Der Erfolgsregisseur David Cronenberg („Die Fliege“, „Naked Lunch“) nahm sich 1996 des Stoffs an und führte die Hollywoodschauspieler James Spader („Stargate“, „The Blacklist“), die Oscar-Preisträgerin Holly Hunter („Das Piano“), Elias Koteas, Deborah Kara Unger sowie Rosanna Arquette zu einem eindrucksvollen Cast zusammen, das gewährleistete, daß „Crash“ nicht zu einem verunglückten Softporno missriet. Seltsamerweise geriet der Film in Ballards Heimat zu einem ausgewachsenen Skandal, als konservative Politiker zum Sturm gegen ihn bliesen. Die Veröffentlichung des Romans selbst zog seinerzeit bei weitem keine vergleichbaren Reaktionen nach sich. Hingegen feierte der Film in Frankreich, wo man mit „Die Marquise von O.“ bereits auf eine gewisse Erfahrung mit provozierenden Filmen zurückblicken konnte, geradezu euphorische Erfolge.

US-Trailer CRASH

Cronenberg sagte zu seinem Film: „Ich denke, wenn man CRASH gesehen hat, und danach einen intensiven, emotionalen Zustand empfindet, den man aber nicht klar benennen kann, dann hat der Film richtig funktioniert.“ Weder für das Buch noch den Film gibt es eine Garantie, daß dieser Zustand beim Zuschauer bzw. Leser eintritt. „Crash“ ist härtester Stoff, auf den man sich einlassen muß. Und trotzdem werden nicht wenige Leser dem vernichtenden Urteil über den Autor, dem „medizinisch nicht zu helfen“ sei, nicht widersprechen wollen. Ballard hat diese scharfe Kritik humorvoll an sich abperlen lassen. Denn ihm ist mit „Crash“ das gelungen, was sich vermutlich nicht wenige Schriftsteller wünschen: Ein enigmatisches Werk zu schaffen, das seinen Verfasser noch lange überdauert.

James Graham Ballard
Crash
Diaphanes
2019, 240 Seiten, 20,- Euro
CRASH
Regisseur: David Cronenberg
Mit James Spader, Holly Hunter, Elias Koteas, Deborah Kara Unger, Rosanna Arquette
1996
1h:40 Min.

Der Prometheus, der Amerika das nukleare Feuer brachte

„Jetzt bin ich zum Tod geworden, zum Zerstörer der Welten.“
J. Robert Oppenheimer, die „Bhagavad Gita“ zitierend, eine der zentralen heiligen Schriften des Hinduismus

Am 16. Juli 1945 brach für die Menschheit eine neue Ära an. Mit der in der Wüste von New Mexico erfolgreich gezündeten Atombombe, der ersten ihrer Art, verlief der abschließende „Trinity-Test“ erfolgreich. Es war der Eintritt der Menschheit in das nukleare Zeitalter. Im nachfolgenden August radierten die USA mit zwei weiteren Kernwaffen die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki aus. Damit gingen die USA nicht allein als unbestreitbare Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervor, sondern als unbestreitbar dominierende Weltmacht. Nie zuvor verfügte die Menschheit über eine Waffe von derartiger Zerstörungskraft, die über das Potential der Vernichtung der ganzen Welt verfügte. Erst drei Jahre zuvor hatten die USA im Manhattan-Projekt in Los Alamos unter größter Geheimhaltung mit der Entwicklung dieser Waffen begonnen, in einem imaginierten Wettlauf mit Nazi-Deutschland. Der Leiter dieses Projektes war der geniale Physiker J. Robert Oppenheimer (1904 – 1967).

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Fast 70 Jahre nach „Trinity“ sorgt Meisterregisseur Christopher Nolan („Batman“, „Inception“) für den größten Wurf des Kinojahrs 2023: „Oppenheimer“ ist das epische Biopic des Vaters der Atombombe. Die Hauptrolle besetzte er mit Cillian Murphy („Peaky Blinders“), der damit vermutlich Colin Farrell und Liam Neeson als die berühmtesten und bedeutendsten Hollywood-Schauspieler aus Irland überholt haben dürfte. Denn so wie Leslie R. Groves – im Film verkörpert von Matt Damon – als militärischer Leiter des Manhattan-Projektes keine klügere Entscheidung treffen konnte, als Oppenheimer für die wissenschaftliche Leitung auszuwählen, so erging es Nolan mit Murphy, mit dem er bereits in früheren Produktionen tragende Nebenrollen besetzt hatte.

Die Irish Times hob in Murphys Auftreten seinen „saphirblauen Blick und die gewundene Intensität“ hervor, die ihn mit einem Millionenpublikum vertraut machten. Über seine Rolle im neuen Nolan-Blockbuster sagte er: „Ich liebe es, mit meinem Körper darzustellen, und Oppenheimer hatte eine sehr deutliche Körperlichkeit und Silhouette, die ich richtig wiedergeben wollte.“ Murphy verlor zur Vorbereitung auf die Rolle massiv an Gewicht, um Oppenheimers dürre Figur zu erreichen, angeblich aß er dazu nur eine Mandel am Tag.

Doch nicht nur die äußere Gestalt Oppenheimers vermochte Murphy perfekt darzustellen, auch seine innere Zerrissenheit, seine privaten Tragödien, seine plagenden ethischen Zweifel über den Einsatz der Bombe und wie er nach Ende des Zweiten Weltkriegs bemüht war, den mit ihr verbundenen Ungeist unter Kontrolle zu halten. In Murphys Schauspielkarriere ist „Oppenheimer“ seine bislang größte Rolle, und es dürfte keine Überraschung sein, wenn sie ihm den Oscar einbrächte.

Nolans Erzählweise ist keine linear-chronische. Die verschiedenen Abschnitte aus Oppenheimers Lebens wechseln übergangslos mit Rückblenden ab. Dazu in Schwarz-weiß jene Szenen, die von Oppenheimers heimlichem Gegenspieler Lewis Strauss bestimmt sind, einem Geschäftsmann und Politiker, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus kleinlicher Rachsucht einen intriganten Feldzug gegen Oppenheimer führte, der dann am Ende doch auf ihn selbst zurückfiel. In der Rolle von Strauss, kaum wiederzuerkennen, sorgte Robert Downey Jr. für eine der Überraschungen des Films.

Auch auf die Gefahr hin zu spoilern: Die Zündung der Trinity-Bombe, der inszenatorische Höhepunkt in dem ansonsten für Nolan-Verhältnisse an Spezialeffekten eher armen Film, haut das Publikum geradezu in die Sitze. Doch weniger diese Szene sollte dem Zuschauer in Erinnerung bleiben, als die, in denen das komplexe und konfliktträchtige Wirkungsverhältnis zwischen Wissenschaftler, Politikern und Militärs zum Tragen kommt, bei dem letztlich die Ethik auf der Strecke geblieben ist. Geradezu verblüffend, aber auch beklemmend, wirkt die Anwendung des uns heute so vertrauten Machtinstruments der Kontaktschuld, wenn es darum ging, Wissenschaftler wie Oppenheimer bloßzustellen. Wie sich die Dinge ändern und doch alles gleich bleibt: Ging es damals um Verbindungen zu Kommunisten – gerade im akademischen Umfeld der damaligen Zeit alles andere als ungewöhnlich – so kann heute der Kontakt zu allem und jedem, was „rechts“ ist, zum existenzbedrohenden Vorwurf gemacht werden. Die Führungselite des Landes, das er so sehr liebte, machte ihn noch zum Sündenbock für den damals ohnehin absehbaren nuklearen Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion und den Verlust des atomaren Monopols durch einen unter Oppenheimer in Los Alamos arbeitenden Sowjetspion. Am Ende steht die bittere Erkenntnis: Selbst in einer Demokratie, wie in den USA, war Oppenheimer nicht davor geschützt, vorgeblich aus Gründen der nationalen Sicherheit regelrecht zersetzt zu werden.

Kino-Trailer „Oppenheimer“

Nolans Grundlage für seinen „Oppenheimer“ war die 2010 erschienen Biographie von Kai Bird und Martin J. Sherwin. In ihrem Vorwort schrieben sie:

„Der rebellische Halbgott Prometheus stahl Zeus das Feuer und brachte es den Menschen: Oppenheimer brachte uns das atomare Feuer. Als er jedoch nach Möglichkeiten suchte, es zu beherrschen, als er versuchte, uns vor dessen fürchterlichen Gefahren zu warnen, erhoben sich die Mächtigen – wie weiland der zornige Zeus -, um den modernen Prometheus zu strafen.“

Heute, mehr als ein Jahr nach Beginn eines bis dahin nicht für möglich gehaltenen Kriegs in Europa, in welchen eine der führenden Atommächte mit dem weltweit größten Kernwaffenarsenal der Welt direkt verwickelt ist und die größte Atommacht der westlichen Welt indirekt, sind Oppenheimers Warnungen aktueller denn je. Der (Un)Geist, den Oppenheimer aus der Flasche ließ, wird man wohl nicht dahin zurückbekommen. Es bleibt nur die Hoffnung, daß er unter Kontrolle bleibt.

Kai Bird, Martin J. Sherwin
J. Robert Oppenheimer: Die Biographie
2010, 704 Seiten
16,99 EU

Ein neuer Adam

Der Vormarsch der Ökologiebewegung und ihres politischen Arms, den Grünen, hat auch auf dem Feld der Ernährung zu einem Kulturkrieg geführt. Deutlich wurde es zuletzt mit der Anordnung aus dem von dem Grünen Cem Özdemir geführten Bundesministeriums für Ernährung, bei offiziellen Empfängen nur noch vegetarische Gerichte aus ökologischem Anbau zu servieren. WELT ONLINE titelte: „Der Kampf um den Speiseplan wird wie ein Religionskrieg geführt“. Der Veggieday, also der eine Tag in der Woche, an dem in Kantinen nur fleischlose Ernährung angeboten werden soll, ist aus Gründen des Natur- und Tierschutzes das angestrebte Ziel und wie bei solchen Bewegungen üblich, wird es dabei kaum bleiben.

Der Kampf um die Ernährung ist so alt wie die Ökologiebewegung selbst, die – angelegt in der Gegenkultur der 1960er Jahre – ihren Aufschwung in den 1970er Jahren nahm. Entscheidende Pushs erhielt sie unter anderem durch die von dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ (1972) des Club of Rome befeuerte Zukunftsangst vor dem ökologischen Kollaps. Ihre politische Formierung als die Partei „Die Grünen“ Ende der 1970er war eine schon zwingende Folge, ebenso wie ihr Marsch in die Parlamente und Institutionen.

Umso erstaunlicher ist es, daß sich bereits in der Anfangszeit dieser Bewegung kritische Stimmen gegen sie erhoben. Eine von ihnen war die des amerikanischen Schriftstellers D. Keith Mano (1942 – 2016), der die ökologische Bewegung 1973 in seiner dystopischen Satire „Die Brücke“ aufs Korn nahm. 1980 erschien sie in der bekannten Science-Fiction-Taschenbuchreihe des Heyne Verlags. Buch wie Autor sind heute leider in Vergessenheit geraten. Doch der Furor, den die Grünen in der Regierungsverantwortung der gegenwärtigen Ampelregierung entfachen, wo sie einen bislang nicht für möglich gehaltenen Schaden anrichten, verhilft Manos 50 Jahre alte Geschichte zu einem vollkommen neuen Reiz.

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Bereits die ersten zwei Sätze des Klappentextes stimmen in ihrer drastischen Deutlichkeit den Leser ein: „Man schreibt das Jahr 2035. Nach vierzig Jahren der Diktatur der Grünen ist die Menschheit am Ende.“ Die Grüne Ökologische Bewegung hat nach einem Krieg mit der alten Ordnung vollständig gesiegt. Die einstige Zivilisation und ihre Industriegesellschaft existieren nicht mehr. Die Bevölkerung ist drastisch reduziert. Die Natur wuchert über Ruinenstädte. Statt Kleidung tragen die Menschen enganliegende, schwarze Plastikanzüge. Die Verständigung erfolgt über Fingersprache. An die Stelle gewöhnlicher Nahrung tritt die Öko-Diät, ein nicht definiertes Gebräu, das seinen Nutzer zu einem langsamen, scheußlichen Sterben verurteilt:

Krebs war neben den üblichen Infektionen die zweithäufigste Todesursache. Öko-Diät zerstörte und veränderte die Zellwandstruktur von Magen und Darm. Geschwülste wurden zu selbstständigen Lebensformen erklärt, deren Existenzrecht ebenso hoch eingeschätzt wurde, wie das ihrer Wirte. Hinzu kam, daß die Ärzte nur wenig dagegen ausrichten konnten: Medikamente, Röntgenaufnahmen und chirurgische Eingriffe waren verboten, da all diese Maßnahmen die Vernichtung einer großen Anzahl von Bakterien bedeutet hätte.

Es ist nicht weiter verwunderlich, daß in diesem System selbst die Tötung von Insekten einem Kapitalverbrechen gleichkommt.

Das verfallene New Yorker Yankee Stadion wurde umfunktioniert zu einem Gefängnis. Hier sitzt Dominick Priest ein. Sein Vergehen: Er hat „im Zorn gesprochen“.

Doch von einem Tag auf den anderen werden alle Insassen freigelassen. Nicht wegen einer Amnestie, sondern um sich auf das ultimative Ende der Menschheit vorzubereiten:

EINSTIMMIGER BESCHLUSS DES OBERSTEN RATES
Von 7. Juli 2035

Da vom Fachausschuß für Fragen der menschlichen Atmung unwiderlegbar festgestellt wurde, daß der Atmungsprozeß von jeher und auch in Zukunft unzählige Formen mikrobiologischen Lebens in ihrer Funktion lähmt und zerstört, haben wir, vom Obersten Rat, vollzählig und einstimmig beschlossen, daß der Mensch als vernunftbegabtes Wesen diese mutwillige Vernichtung anderer Lebewesen, die dasselbe Existenzrecht wie er besitzen, nicht länger hinnehmen kann. Es wird somit angeordnet, daß jedermann aus freien Stücken und innerer Zerknirschung das Aussterben seiner Art herbeiführt.

Diese Verordnung tritt für alle Zivilpersonen und Bürger am 20. Juli 2035, für alle Offiziere und Beamte des Rates am 1. August 2035 in Kraft.

Damit ist zugleich die Hoffnung verbunden, liebe Mitbürger, daß jeder seinen vergänglichen Leib der Erde in einer Haltung wiederschenkt, durch welche die abscheulichen Verbrechen und Schandtaten, die unsere Art im Laufe der Geschichte an der Natur begangen hat, wenigstens zu einem kleinen Teil wiedergutgemacht werden.

Gehet hin in Frieden und Liebe!

Nach Aushändigung der Todespille wird Priest noch einmal die Gelegenheit eingeräumt, ein letztes Mal Frau und Kind wiederzusehen. Sein weiter Weg nach Norden, nach New Loch, seinem Geburtsort, führt ihn durch albtraumhafte, von Moskitos beherrschte Landschaften. Zwei Ereignisse auf seinem Weg werden zu entscheidenden Initialzündungen für eine außergewöhnliche Transformation Priests. Zum einen die Tötung zweier Grüner Gardisten in Notwehr. Zum anderen die Begegnung mit dem uralten Xavier Paul, dem letzten christlichen Priester, dem Vertreter einer Religion, die für das Prinzip des Lebens steht:

„Jesus Christus gab sein Fleisch und sein Blut für uns. (…) Deshalb haben sie auch unsere Kirchen geschlossen. Sie meinten, das Ganze sei Kannibalismus. Außerdem konnten wir sowieso keine Messen halten… Es gab weder Brot, noch Wein. Öko-Diät hat nichts mit Christi Blut zu tun. Es steckt kein Leben drin. Das ist tote Materie.“

In Priest erwachen uralte, zutiefst menschliche Instinkte. Die groteske Inszenierung seiner Taufe transformiert Priest in einen neuen Adam, aus dem die Menschheit von neuem entsteht.

Der aus einer christlichen Perspektive schreibende Konservative Mano erkannte in der Ökologiebewegung einen antihumanistischen Kern, dem er in „Die Brücke“ eine drastisch übersteigerte Form gab und aufzeigte, wohin er in allerletzter Konsequenz führt. Schon zu Lebzeiten durfte er sich mit dem Blick allein auf den Forderungskatalog der Tierrechtsorganisation PETA ebenso bestätigt fühlen, wie bei den Vorstellungen von Philosophen wie Peter Singer, der bei Tier und Mensch keinen Unterschied sieht. Daß sich das Umfeld der Tierrechtler eine zweifelhafte Moral zu eigen macht, die andere Menschen als Bedrohung empfinden, daraus machen viele von ihnen selbst keinen Hehl.

Zwischen Manos Buch und heute liegen genau 50 Jahre. Es wundert nicht, daß an ihrem Anfang seine Warnungen vor der grünen Utopie angesichts der Wirkmächtigkeit des Zeitgeistes kein Gehör finden konnten, zumal in dieser Form einer derart radikalen Satire, die auf viele Rezensenten und Leser zu abstoßen wirkte, um verstanden zu werden. Die Hoffnung bleibt, daß an ihrem Ende die Umsetzung dieser Utopie und praktische Regierungspolitik bei den Wählern einen späten, aber heilsamen Schock auslöst, der in der Fortführung ihrer Umsetzung einen baldigen und endgültigen Abbruch erteilt.

D. Keith Mano
Die Brücke

Heyne
192 Seiten, 1980
Nur noch antiquarisch erhältlich

Musik über den Tag hinaus

I start to drift with the tide
Maybe I’ll reach, I’ll reach the beach
My heart is sealed watertight
Maybe I’ll reach, I’ll reach the beach
(Refrain aus „Reach the Beach“; THE FIXX; 1983)

Kürzlich war in einem Beitrag auf WELT ONLINE zu lesen, die Rockmusik der 1980er Jahre sei scheußlich gewesen. Sein Verfasser, der Schriftsteller und Experte für Populärmusik Frank Schäfer, sollte es als Jahrgang 1966 Geborener eigentlich besser wissen. Im Gegenteil, die 1980er Jahre waren das letzte Jahrzehnt echter Kreativität, bevor Castingshows und derselbe Klangbrei aus der elektronischen Konserve den Auswahlprozess übernahmen. Einiges davon mag dem ökonomischen Druck geschuldet sein, dem die Musiklabels vor allem durch die freie, und damit weitgehend kostenlose Verfügbarkeit unterliegen. Aber es sagt einiges aus, wenn jemand wie Phil Collins feststellt, mit seinem Gesicht hätte er in unserer heutigen Musikwelt keinen Plattenvertrag mehr bekommen. Die führenden Künstler der damaligen Zeit standen für Originale und nicht für ein künstliches Produkt. Und so ist es vermutlich auch kein Zufall, daß Mottoparties der 80er Jahre mit ebendiesem Sound sich nach wie vor bleibender Beliebtheit erfreuen. Zu der Musikwelt dieser Zeit gehört auch die Gruppe the FIXX, deren größtes Erfolgsalbum „Reach the Beach“ in diesem Monat sein 40jährigstes Jubiläum feiert (Release-Datum: 13.05.1983).

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Die 1979 in England gegründete Band hatte bereits 1982 mit dem Album „Shuttered Room“ und den Hitsingles „Stand or Fall“ und „Red Skies“ einen ersten Achtungserfolg, als ihnen zwei Jahre später mit „Reach the Beach“ der Durchbruch in die amerikanischen Charts gelingen sollte. Die zehn anspruchsvollen Songs darauf zeichneten sich durch Klangfarbe, Vielseitigkeit und gute Texte aus. Die daraus ausgekoppelte Single „One Thing Leads to Another“ sollte mit Position Nr. 4 in den amerikanischen Charts der erfolgreichste Hit der Band werden.

Das Album selbst heimste Platinstatus ein. Ein wesentlicher Teil dieses Erfolges dürfte Rupert Hines (1947 – 2020), dem genialen Produzenten aus England, zuzuschreiben sein, der auch für andere Interpreten wie Chris de Burgh, Tina Turner und Stevie Nicks arbeitete. The FIXX wurden auch für andere interessant; für The Police wurden sie Tour-Support, Tina Turner nahm sie als Konzertband in Anspruch.

Der kommerzielle Erfolg ließ in den nachfolgenden Jahren deutlich nach, obwohl der kreative Output in den Alben „Phantoms“ (1985) und vor allem „Walkabout“ (1986) noch einmal neue Höhen erklomm. Letzteres Album hätte es durchaus verdient, auch in die offiziellen Rankings der besten Produktionen des Jahrzehnts gezählt zu werden. Zu dem Kultfilm „Straßen in Flammen“ (1984) steuerten sie mit „Deeper and Deeper“ eines der stärksten Stücke zum Soundtrack bei. Es bleibt auch rätselhaft, warum der Erfolg der Band weitgehend nur auf die USA und Kanada beschränkt blieb und nicht einmal einen Nachhall in der englischen Heimat erzeugte. Dennoch, „Reach the Beach“ sollte die Grundlage dafür bilden, daß the FIXX bis heute mit einer treuen Fangemeinde aktiv sind. Zwar boten die FIXX-Produktionen nach 1991 bis 2003 nichts Aufregendes, das der Erwähnung wert wäre. Doch 2012 kam mit „Beautiful Friction“ ein Album heraus, das technisch, konzeptionell und künstlerisch an die besten Zeiten der Band anknüpfte. Auch das aufwendig gedrehte Video zu der Single-Auskopplung „Anyone Else“ konnte sich im besten Sinne sehen lassen, als eine Art Reminiszenz auf den Musiksender MTV, der dieses Format als neue Kunstform populär machte.

Vier Jahre später erhielt der Berichterstatter auf die an den Facebook-Account der Band gerichtete Frage, wann es denn ein neues Album gebe, noch die kryptische Antwort: „When you least expect it – Wenn du es am wenigsten erwartest“. Die Geduld für vier weitere Jahre hat sich indes gelohnt. Denn mit „Every Five Seconds“ kam 2022 ein Werk, welches das Niveau seines Vorgängers halten konnte.

Die Musikwelt der 1980er Jahre sah viele Erfolgsgeschichten, die nicht von Dauer waren, wie ein Meteor eine helle Leuchtspur erzeugten und doch schnell verglühten. Doch immerhin, einige kamen mit einem Nachhall, der bis heute wirksam ist. Die zähe Lebendigkeit von the FIXX zeigt sich nicht allein in der kontinuierlichen Besetzung der Band, deren harter Kern um Sänger Cy Curnin, ergänzt um Rupert Greenall (Keyboards), Jamie West-Oram (Gitarre), Dan K. Brown (Bass) und Adam Woods (Drums) bis heute weitgehend stabil geblieben ist. Auch geht die Band nach wie vor in den USA auf Tour.

Liveauftritte in Europa, gar in Deutschland, befinden sich nicht mehr in der Planung. Hier muß man von ihrem legendären Auftritt im Rockpalast (1985) auf Youtube zehren oder von dem im der Frankfurter Batschkapp, der das Live-Album „Real Time Stood Still“ (1997) zur Folge hatte. Immerhin, sie kamen im Dezember 1990 sogar zu einem Konzert nach Kassel, in das „Musik-Theater“, das inzwischen Geschichte ist. Dem Urteil des HNA-Kritikers Ralph-Michael Krum (heute Bandleader der NEW PONY), wonach die Band einen im Großen und Ganzen überzeugenden Auftritt absolviert habe, kann der Berichterstatter, der noch beste Erinnerungen an diesen Abend hat, sich nur anschließen. Aber wer weiß, vielleicht kommen sie wieder nach Deutschland, möglicherweise sogar nach Kassel – dann, wenn man es am wenigsten erwartet…?

The FIXX: Rupert Grenall, Dan K. Brown, Cy Curnin, Adam Woods, Jamie West-Oram (von li.; Quelle: Facebook)
the FIXX
REACH THE BEACH
MCA RECORDS
1983

Die Freiheit zurückerobern

„COVID-19 ist ein Anfang. Es ist nicht die erste weltumspannende Epidemie, auch nicht die schlimmste und gewiss nicht die letzte. Dennoch markiert die Krise den Beginn einer neuen Zeit: die Welt ist so eng, die Technologie so wirkmächtig, die Angebote an Wissen, an Möglichem, und an Deutung sind überwältigend geworden und schwanken so, dass unser Denken oft nicht mehr hinterherkommt und unser Handeln seinen Kompass zu verlieren droht. Die bereits bekannten Kollateralschäden sind selbstmordgefährdete Kinder, eine Verrohung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die weitere Verelendung der Elenden in der Welt. Die Krankheit unserer Zellen erweist sich als Erkrankung des Geistes, des Gewissens, der Gesellschaft.“

Ole Döring, „Wie kommen wir vor die Welle?“ (aus: Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“, Hrsg. Sandra Kostner und Tanya Lieske)

Keine andere Krise der vergangenen Jahrzehnte seit Ende des Zweiten Weltkriegs war mit derartigen Freiheitseinschränkungen verbunden wie die Corona-Pandemie. Um das Virus an seiner weiteren Ausbreitung zu hindern und damit die Zahl der tödlichen Krankheitsverläufe zu reduzieren, übernahmen fast alle Staaten der westlichen Welt die Methoden aus dem totalitären China, aus der das Virus stammte. Doch es sollte nicht bei den Lockdowns des öffentlichen Lebens bis hin zum Verbot, auf einer Parkbank sitzend ein Buch zu lesen, bleiben.

Bis dahin sollte keine andere Maßnahme tiefer in das medizinische Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen eingreifen, wie die von zahlreichen Medien durch moralisierende Narrative flankierte Impfpflicht, mit der alle Menschen durch einen bis dahin kaum erprobten Impfstoff gegen das Corona-Virus immunisiert werden sollten.

Letztendlich blieb es nur bei der Absicht und die Impfpflicht wurde nur bestimmten Berufsgruppen auferlegt. Doch die bizarren Wortmeldungen eines Boris Palmer nach Beugehaft und Rentenkürzungen für Impfverweigerer, für die er im Gegensatz zu seiner aktuellen „Neger“-Äußerung keine Konsequenzen tragen mußte, lassen erahnen, wie sehr sich durch Corona in unserer politischen Klasse die totalitäre Versuchung ausgeprägt hat.

Nach dem Abflauen der Pandemie stellt sich nun heraus, die Impfung war keineswegs ein „Game-Changer“ und schon gar nicht nebenwirkungsfrei. Die Zuschreibung der Ungeimpften als unsolidarische Pandemietreiber hatte eine reine Sündenbock-Funktion. Immens waren die durch die teilweise rechtswidrigen Maßnahmen angerichteten sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kollateralschäden. Über die als „Schwurbler“, „Covidioten“ und „Coronaleugner“ verunglimpfte Gruppe der Maßnahmenkritiker hinaus sind sich immer mehr Menschen unsicher geworden: War diese Pandemie diesen Verlust an Freiheit wert?

Freiheit für einen selbst oder Sicherheit für alle anderen? [Netzfund]

Diese Frage stellten sich auch 2022 die Publizistin Tanya Lieske und die Historikerin Sandra Kostner. Noch in der Endphase der Pandemie sammelten sie 15 Essays, die sie in dem Band „Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“ zusammenfassten, der im Herbst desselben Jahres erschien.

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Der Untertitel verspricht eine „interdisziplinäre Essaysammlung“, ein Anspruch, der leider nur eingeschränkt eingehalten wird. Zwar verfügen die Autoren über jeweils beachtliche professionelle Hintergründe aus den Geisteswissenschaften. Doch einen Fachmann mit medizinisch-naturwissenschaftlichem Background, vielleicht sogar aus der Epidemiologie oder Virologie sucht man darunter leider vergebens. Doch das schmälert den Wert der Beiträge keineswegs. Auf allgemeinverständliche Art wird die staatliche Pandemiebekämpfung unter den Aspekten der Freiheit und den Möglichkeiten einer Versöhnung der durch die Pandemie gespaltenen Gesellschaft beurteilt. Ein auffallendes und auch gravierendes Defizit ist das Fehlen eines Beitrags, der sich explizit mit dem politisch-medialen Komplex beschäftigt, der die entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der Coronamaßnahmen wie auch bei der Vermittlung des Krisenbildes hatte, in der Regel ohne diese kritisch zu hinterfragen.

Die Wissenschaft galt vorgeblich immer als Richtschnur in der Pandemiebekämpfung und überschritt dabei immer wieder ihre Grenzen, z.B. wenn sie „sich anmaßt, über den Grundrechten zu stehen und darüber zu entscheiden, wem diese zukommen und wem nicht“. Der Philosoph Michael Esfeld konstatiert daraus in seinem Essay „Freiheit und Wissenschaft“ die „Selbstzerstörung von Wissenschaft“, verbunden mit der fatalen Gefahr einer Abkehr der Menschen von derselben. Esfeld rät zur Rückkehr zum Respekt für der Vorrang der Selbstbestimmung und der Grundrechte der Menschen. Das Interesse der Wissenschaft, nach Esfeld, ist „Erkenntnisse zu gewinnen und Wahrheit über Tatsachen zu gewinnen“.

Bereits der lange Titel des von dem Psychologen Boris Kotchoubey eingereichten Essays – „Von ‚Wissenschaft und Religion‘ und ‚Wissenschaft gegen Religion‘ zu ‚Wissenschaft als Religion‘“ – läßt keine Fragen über sein Thema offen. Kotchoubey zeigt auf, wie schmal in unserer Zeit der Grat zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft geworden und selbst Wissenschaftler die Grenzen wie auch die Begrenztheit ihrer Aussagen oftmals nicht mehr zu erkennen vermögen:

Wer nicht mehr den Unterschied zwischen Glauben und Wissen begreift, nimmt seine Annahmen nicht mehr als Annahmen, d.h. als etwas nur Geglaubtes. „Wer nicht weiß, dass er glaubt, der glaubt, dass er weiß.“ Damit wird die wichtigste Eigenschaft eingebüßt, die einen Experten von einem Laien unterscheidet, nämlich das klare Bewusstsein für die Grenzen seiner Expertise. Daher kommt das typische Phänomen der letzten Jahre: der fanatische Glaube der Wissenschaftler an ihre Modelle. Das säkularisierte Hirn ist unfähig einzusehen, dass ein mathematisches oder physikalisches Modell immer auf Annahmen beruht, und dass, wenn nur eine dieser zugrunde liegenden Annahmen falsch ist, das Modell keinen Pfennig mehr wert ist, egal wie gut es berechnet wurde: „garbage in, garbage out.“

Den Mißbrauch des Begriffes „Solidarität“, mit dem Regierungsvertreter für die Akzeptanz der Freiheitseinschränkungen warben, prangert die Islamwissenschaftlerin Agnes Imhof an („Solidarität und Menschenwürde. Autoritarismus entlarvt durch sein Menschenbild“). Diese Solidarität wurde nicht freiwillig erbeten, sondern – was Imhof problematisiert – „mittels Sanktionen eingefordert“ und warnt: „Wo das Gemeinwohl dem Einzelnen übergeordnet wird, läßt sich prinzipiell jede Grausamkeit rechtfertigen.“ Ihr Fazit des die Grundrechte des Individuums und damit seine Menschenwürde negierenden Staates fällt drastisch aus:

„Wer Solidarität also gegen Menschenwürde ausspielt, verlässt das Territorium freiheitlich-demokratischer Anthropologie. Denn Solidarität ist nur unter freien Individuen möglich. Alles andere nennt man nicht Solidarität. Sondern Sklaverei.“

Herausgeberin Sandra Kostner dürfte unter allen Beiträgern am bekanntesten sein. Zu ihrer Vita zählen die Zusammenarbeit mit dem Migrationsforscher Stefan Luft, der dem Konsens seines Faches einer „Bereicherung durch Migration“ teilweise kritisch gegenübersteht, sowie ihrer Mitgliedschaft in dem von ihr gegründeten „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, das gegen die Instrumentalisierung und Vereinnahmung durch ideologische Interessen streitet. Auch vor einem Auftritt in der vom Mainstream argwöhnisch und mit gewissem Neid beäugten Sendung „Talk im Hangar-7“ des Senders Servus-TV schreckt sie nicht zurück. All das ist mehr als ausreichend, sie in den Augen des Mainstreams „höchst verdächtig“ zu machen, eine Vorstufe vor dem Label „umstritten“.

Sandra Kostner in „Talk im Hangar-7“

In „Droht ein gesellschaftliches Long Covid?“ fragt die Historikerin nach den langfristigen gesellschaftlichen Folgen über die Pandemiezeit hinaus durch eine Sündenbock-Politik, die Ungeimpften in einer teils drastischen und affektgeladenen Rhetorik („Tyrannei der Ungeimpften“) ihre Rechte absprach:

Zwei Jahre, in denen Politiker, unterstützt von Medien, Institutionenvertretern und Wissenschaftlern, leichtfertig die Geister „Ausgrenzung und Verunglimpfung Andersdenkender“ und „Allgemeinwohlideen schlagen individuelle Freiheitsrechte“ aus der Flasche ließen, haben zu beträchtlichen sozialen Verwerfungen geführt. Mit anderen Worten: Es wurde der Boden für ein gesellschaftliches Long Covid bereitet.

Der Geist ist aus der Flasche, wie bekommen wir ihn wieder hinein, wie sind die gesellschaftlichen Gräben zu überwinden? Hier spielt der Begriff der Versöhnung hinein, mit dem sich der Philosoph Henning Nörenberg beschäftigt („Die Spaltung der Gesellschaft in Zeiten von COVID-19. Worin sie besteht und wo Ansätze zu ihrer Überwindung liegen“). Er empfiehlt die Suche nach Gemeinsamkeiten – z.B. die Ohnmachtserfahrungen in dieser Zeit – zwischen zwei Lagern, die keineswegs so homogen und damit voneinander verschieden sind, wie es auf dem ersten Blick erscheint. Doch bis jetzt sieht es eher danach aus, als ob die Zeit der Pandemie unter den Tisch gekehrt werden soll, Nörenbergs Wunsch nach Versöhnung nur ein frommer Wunsch bleibt, denn vor allem die politisch verantwortlichen Akteure zeigen wenig Interesse daran, daß das Thema weiterhin im öffentlichen Bewußtsein bleibt. Eindeutigstes Indiz dafür ist die Ablehnung eines AfD-Antrags auf Einrichtung eines Corona-Untersuchungsausschusses im Bundestag im vergangenen April.

Geradezu verblüffende historische Analogien zeigt der Osteuropa-Historiker Klaus Buchenau auf. Die Einführung neuer Formen in der Liturgie führte in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu einer Abspaltung der Altgläubigen von der Russisch-Orthodoxen Kirche. Verlauf und Entwicklung dieser Bewegung sowie ihr Verhältnis zum religiösen Mainstream weisen interessante Ähnlichkeiten zu der zeitlich wesentlich geraffteren Pandemie auf („Roskol – Spaltung auf Russisch. Corona im Spiegel eines historischen Beispiels“).

Mit dem weiteren Abklingen der Corona-Pandemie verlieren die Beiträge aus „Pandemiepolitik“ keineswegs an Wert – im Gegenteil: Auch für die Abwehr künftiger „Zumutungen“ (Robert Habeck) bieten die Beiträge in „Pandemiepolitik“ einen gewaltigen Fundus an Argumenten, so auch in der Betrachtung von Worst-Case-Szenarien, dem Wert der Bildungspolitik und der Monofokalität, also der Verengung des Blickwinkels.

Die Übergriffigkeiten staatlicher wie nichts-staatlicher Akteure haben Pflöcke eingeschlagen, die für die Zukunft nichts Gutes erwarten lassen. Schon während der Pandemie wurde deutlich kommuniziert, daß die sogenannte, medial gehypte „Klimakrise“ sich als weiteres Betätigungsfeld zur Zwangsbeglückung der Bürger und damit einem weiteren Freiheitsentzug anbietet. Die irrationale Energiewende der Ampel-Regierung und damit verbunden vor allem die teuren Gesetzesvorschläge aus dem Hause des Wirtschaftsministers Habeck zum verpflichtenden Heizungsaustausch sind das erste drohende Wetterleuchten dieser unangenehmen Wahrheit.

Sandra Kostner, Tanya Lieske (Hrsg.]
Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?:
Eine interdisziplinäre Essaysammlung
(Klartext. Schriften zu Politik und Gesellschaft)
ibidem
Oktober 2022
210 Seiten; 24,- Euro

 

 

Wenn Science-Fiction zur Realität wird

LONDON BEREITET SICH AM JAHRESTAG DES MEDIKATIONSGESETZES AUF MASSENPROTESTE VOR

Zum neunzehnten Jahrestag der Einführung des Medikationsgesetzes wurden in der Hauptstadt die Sicherheitsvorkehrungen verdoppelt. Groß angelegte Demonstrationen zugunsten des Rechts von über Siebzigjährigen auf Antibiotika werden überall im ganzen Land erwartet. Im vergangenen Jahr haben sich mehr als eine Millionen Menschen zu „Die-ins“ vor Krankenhäusern, Verkehrsknotenpunkten und Regierungsgebäuden zusammengefunden, in deren Zuge mehrere Städte lahmgelegt wurden.

Das umstrittene Medikationsgesetz, das als Notverordnung während der Großen Krise verabschiedet worden war, hatte zum Ziel, das exponentielle Wachstum von Antibiotikaresistenzen einzudämmen und die Dauer der Einsatzfähigkeit neuer Medikamente zu verlängern. Es stützte sich auf die Ergebnisse von Reihenuntersuchungen, die darauf hinwiesen, dass ältere Patienten wegen der längeren Verwendung von Antibiotika und ihrer erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten vermehrt zu antimikrobiellen Resistenzen neigen. Aktivisten zweifeln diese Studien an und erklären, sie seien nicht mehr glaubhaft und dienten lediglich als pseudowissenschaftlich untermauerter Vorwand. Sie behaupten, dass die wahren Motive damals finanzieller Natur waren – und es immer noch sind.

„Der Genozid an Senioren muss aufhören“, sagt die achtundsechzigjährige Organisatorin der Demonstration, Tessa Beecham. „Wir alle haben ein Anrecht auf Behandlung, egal, wie alt wir sind. Die Medikamente sind verfügbar, die Regierung will nur nicht für sie bezahlen. Wir werden nicht ruhen, bis sie dieses unmenschliche und unnötige Gesetz aufheben.“

Aus: „Der letzte Weg“; Eve Smith

Gute Science-Fiction vermag gegenwärtige Trends aufzuspüren und ihre Entwicklung in der Zukunft vorauszuschauen. Ein perfektes Beispiel hierfür ist „Das Heerlager der Heiligen“ des Franzosen Jean Raspail, der bereits 1973 geradezu visionär die heutige Massenmigration aus der Dritten Welt nach Europa literarisch vorwegnahm. Doch es kann auch der Fall eintreten, daß ein Science-Fiction-Roman, kaum auf dem Markt, von der Dynamik einer Entwicklung, die er prognostiziert, überrollt wird. Ein derartiger Fall liegt mit „Der letzte Weg“ der Britin Eve Smith vor.

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Wir alle kennen die segensreiche Wirkung von Antibiotika. 1928 entdeckte der britische Bakteriologe Alexander Fleming die bakterizide Wirkung des Schimmelpilzes Penicillin, was eine regelrechte Revolution in der Medizin auslöste. Von da an ging von alltäglichen Infektionen, der so viele Menschen zum Opfer fielen, kein Schrecken mehr aus. Fleming warnte jedoch bereits vor einer Zeit, in der die Antibiotika drastisch an Wirksamkeit verlieren könnten, weil Bakterien im Laufe der Zeit Resistenzen entwickeln würden. Die Gefahr ist mit dem Auftreten multiresistenter Keime bereits real geworden, gleichwohl in der ärztlichen Praxis gerade noch beherrschbar.

Smith jedoch führt in eine gar nicht so ferne Zukunft, in der sämtliche Antibiotika in der „Großen Krise“ wirkungslos geworden sind. Mitverantwortlich hierfür ist die massenhafte Anwendung der Antibiotika, auch in der Mastzucht, aus der sich resistente Keimstämme entwickeln können. Infektionen greifen um sich und führen zu Massensterben. Selbst die kleinste Entzündung, die scheinbar harmloseste Schnittverletzung wird zur tödlichen Gefahr. Erkrankte werden zwecks Eindämmung isoliert. Die Lebenserwartung sinkt rapide. Der überwunden geglaubte Schrecken vergangener Tage ist wieder präsent.

Damit einhergehend erfährt auch die Gesellschaft einen Wandel. Jahrzehnte später errichtet der Staat im Rahmen der Infektionskontrolle ein die individuellen Freiheiten drastisch einschränkendes Kontrollregime. Haustiere sind inzwischen fast ausnahmslos als potentielle Krankheitsüberträger gekeult worden. Für über 70jährige gibt es nur noch eingeschränkte medizinische Hilfe. Die Lebenserwartung ist rapide gesunken. Sterbehilfe in Krankenhäusern ist normale Praxis, gleichwohl von der Bevölkerung nicht uneingeschränkt akzeptiert. Überhaupt regt sich zunehmend Widerstand gegen das Gesundheitsregime. Doch immerhin, ein Gutes hat diese Zeit: Die Viehwirtschaft wurde auf Bioproduktion umgestellt, was Fleisch aber zur raren und teuren Ware macht.

In dieses Szenario bettet Smith die Geschichte von Mary/Lily und Kate ein. Kate ist eine Krankenschwester, die aber weniger in der Pflege als in der Sterbebegleitung eingesetzt wird. Sie ist auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie kurz vor ihrer Geburt zur Adoption freigab. Ihre Mutter Mary wiederum lebt in einem britischen Seniorenheim. Zu ihrem Schutz gab sie sich eine neue Identität als Lily. Denn sie ist verwickelt in politische Aktivitäten während der Zeit des Ausbruchs der „Großen Krise“, als die Regierung ihre Rolle in einem Medizin-Skandal vertuschte. Und genau deswegen sind noch andere als ihre Tochter Kate auf der Suche nach ihr.

Smiths Debütroman erschien 2020 (deutsche Erstausgabe 2022), mitten im Beginn der Corona-Pandemie, die die Welt rund drei Jahre in Atem halten sollte; eine geradezu kuriose Koinzidenz. Allzu vertraut erscheint daher dem Leser der Plot von der „Großen Krise“ und der Atmosphäre jener Zeit, die ihr folgt. Ihr Roman enthält im Grunde genommen fast alles, was wir auch in der Corona-Pandemie kennenlernen durften. Tatsächlich ist in Großbritannien auf dem Höhepunkt der Pandemie selbst die Tötung aller Hauskatzen erwogen worden! Aber ist das dann noch Science-Fiction?

Auf der deskriptiven Ebene leistet Eve Smith solide Arbeit. Die detaillierte Szene zu Beginn, in der sie Marys Assistenz einer Sterbehilfe-Zeremonie schildert, der lebensmüde Patient, die verzweifelten Angehörigen und das formelle Prozedere wirken beklemmend authentisch. Sofort denkt der kundige Leser und Kineast an eine ähnliche Szene aus dem Kultfilm „Soylent Green“ (1973). Dennoch wirkt Smiths Darstellung keineswegs wie eine Kopie.

Daher ist die Lektüre von „der letzte Weg“ eine gewisse Herausforderung, da Smith auf eine lineare Erzählweise verzichtet, und stattdessen auf verschiedenen Zeitebenen, in denen die Protagonisten gleichberechtigt auftreten, munter hin und her springt, bevor am Ende alle Fäden wieder zusammenfinden.

Als inhaltliches Defizit muß der Mangel an Tiefenschärfe genannt werden. Die verpasste Chance, die Implikationen eines Gesundheitsregimes wie in ihrem Buch in Bezug auf dessen Menschenbild, ein politisches Herrschaftsverständnis und ein umfassenderes Bild der Gesellschaft auszuloten, ließ die Autorin leider ungenutzt. Über das Niveau eines mittelmäßig spannenden Thrillers kommt die Geschichte somit leider nicht hinaus.

Eve Smith
Der letzte Weg
Heyne
448 Seiten; 15,- Euro

Roncesvalles: Die Hybris des Königs

Für die Geschichte des Abendlandes ist der fränkische König Karl (747/48 – 814) von weit herausragender Bedeutung. Durch seine Eroberungszüge, in denen er Langobarden und Sachsen unterwarf, schuf er ein gewaltiges Imperium. Den Höhepunkt seiner Herrschaft erreichte er Weihnachten 800 mit der Kaiserkrönung durch den Papst in Rom. Aus dem fränkischen König Karl wurde der römische Kaiser Karl der Große. Damit hatte seit seinem Untergang 476 n. Chr. das Weströmische Reich endlich einen Nachfolger gefunden. Doch nicht allein das, Karls Reich wurde zur Keimzelle von Frankreich und Deutschland. Es ist der Beginn jener als Mittelalter bezeichneten Epoche, die aus den Trümmern der in den Stürmen der Völkerwanderung versunkenen Antike entstand.

Über die Zeiten hinweg wurden vor allem Karls Verdienste betont. Doch auf der anderen Seite stehen die Brutalität, die Verschlagenheit und die Machtgier des Franken, die in dem „Blutgericht von Verden“ im Jahr 782, wo angeblich rund 4 000 aufständische Sachsen hingerichtet wurden, einen entsetzlichen Höhepunkt fand. Das Volk der Sachsen selbst wurde durch Zwangstaufe gebrochen. In der Ausbreitung seines Königreichs und der Verbreitung des christlichen Glaubens ging Karl stets mit dem Schwert in der Hand zu Werk.

Karls dunkle und gewalttätige Natur blieben in der Bewertung späterer Generationen in Anbetracht seiner Leistungen deutlich unterbelichtet. Dem gegenüber setzt jetzt der Splitter Verlag mit dem im April veröffentlichten Abschlußband der zweiteiligen Comicserie „Die Chroniken von Roncesvalles“ – in Lizenz des französischen Comic-Riesen Dargaud – einen Kontrapunkt zu diesem Bild des Frankenherrschers. „Munjoie!“ – der Schlachtruf der fränkischen Krieger – ist der Titel dieses zweiten Bandes nach dem Eröffnungstitel „Die Legende von Roland“, die von dem spanisch-baskischen Zeichner Juan Luis Landa kreiert wurden.

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Es ist das Jahr 777. Mitten in einem seiner Kriegszüge in das Land der Sachsen erreicht Karl eine Abordnung aus dem muslimischen Spanien. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist fast die gesamte Halbinsel als Al-Andalus dem grünen Banner des Propheten unterworfen. Doch die muslimischen Besatzer sind uneins. Suleiman Ben Yaqzan Ibn Al-Arabi versucht eine Intrige gegen die Umayyaden-Statthalter. Um seine Besitzungen im Norden von Al-Andalus zu erhalten, will er sich ausgerechnet dem christlichen Frankenkönig Karl unterwerfen.

Ausschnitt „Roncesvalles“ #1

Karl ist von den sich scheinbar daraus ergebenden Aussichten begeistert. Anstatt sich zufrieden zu geben, daß die innermuslimischen Rivalitäten jede Bedrohung für sein Reich neutralisieren, brennt sein Ehrgeiz darauf, mit der Errichtung einer neuen südlichen Mark, jenseits der Pyrenäen einen lang gehegten Traum zu verwirklichen. Im Folgejahr bricht Karl mit einem Heereszug auf und unterwirft auf seinem Weg nach Saragossa die von den Muslimen unabhängigen Vasconen, die Vorläufer der Basken. Doch am Ziel erfährt er eine unangenehme Überraschung. Saragossa, das sich inzwischen von Suleiman abgesetzt und den Umayyaden zugewandt hat, denkt gar nicht an Übergabe. An seinen starken Befestigungen droht Karls Ehrgeiz zu zerbrechen.

Gegen ihn richten sich von da an nicht nur die von Muslimen bemannten Mauern Saragossas, die christlichen Vasconen und die Hitze Spaniens. Seine mangelnde Umsicht, mit der Karl sich zu viele Feinde geschaffen hat, ruft auch ein versteckt lebendes, uraltes und im Heidentum verwurzeltes Volk auf den Plan. Hier drohen nicht allein die hochfahrenden Pläne Karls kolossal zu scheitern; es erfüllt sich am Ende in der Schlacht von Roncesvalles auch das Schicksal seines tapfersten Ritters Roland, dem eine sterbende sächsische Priesterin seiner Greuel gegen die Sachsen wegen den baldigen Tod vorausgesagt hat.

Als Baske ist Landa nahe an einem historischen Stoff, dessen künstlerische Umsetzung ihm perfekt gelingt. Mit seiner Interpretation des Rolandlieds setzt er vollkommen neue Akzente, bleibt dabei nahe am überlieferten Geschehen, über das die fränkischen Chroniken allerdings nur spärlich Auskunft geben. Kaum verwunderlich, denn über die Mißerfolge der großen Herrscher schrieb man damals nur ungern. So benötigt Landa auch nur ein Panel, um plausibel darzulegen, wie effizient die Großen der damaligen Zeit das Bild über ihre Person unter Kontrolle halten konnten.

Ausschnitt „Roncesvalles“ #2

Meisterhaft sind Landas Szenarien der Schlachten, mit denen der Leser in den außergewöhnlichsten Perspektiven über das Geschehen fesselt, so wie seine Darstellung der Erstürmung Saragossas.

Ausschnitt „Roncesvalles“ #2

In die vor Karls Kriegern in das schützende Saragossa fliehenden Zivilisten, die Geißeln der Vasconen, die er in seinem Zorn hinrichten läßt – mit all dem gelingt Landa etwas sehr Ungewöhnliches: Die Schaffung eines Narrativs über den in Hybris – der gefährlichen Selbstüberschätzung und Realitätsverweigerung der Mächtigen – verfallenen Frankenkönig Karl, das selbst in dem hartnäckigsten „Islamophoben“ Sympathien für die von ihm bedrängten Muslime aufkommen läßt.

Vom ausschließlich positiv besetzten Bild Karls des Großen als „Vater und Baumeister Europas“, den die Kirche sogar heiliggesprochen hat, hat sich die moderne Geschichtswissenschaft spätestens 2014 – dem 1200. Jahrestag seines Todes – verabschiedet. Gleichwohl, populär hat sich diese überkommene Vorstellung immer noch gehalten. Juan Luis Landa wird es zu verdanken sein, daß mit „Roncesvalles“ diese so scheinbar überragende Figur auch im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit realistischer dargestellt wird.

Juan Luis Landa
Die Chroniken von Roncesvalles
Band 1: Das Lied von Roland
Splitter Verlag
64 Seiten, 2022, 17,- Euro
Juan Luis Landa
Die Chroniken von Roncesvalles
Band 2: Munjoie!
Splitter Verlag
56 Seiten, 2023, 16,- Euro

John Dutton darf nicht sterben

Kaum eine TV-Serie feiert derzeit weltweit und vor allem in den USA einen so großen Erfolg wie „Yellowstone“. Angesiedelt im heutigen Montana läuft die moderne Westernserie seit 2018 bereits über fünf Staffeln. Die Hauptrolle des John Dutton spielt Kevin Costner, der 1990 schon mit einem Mega-Western seinen Durchbruch feierte, als „Der Mann, der mit dem Wolf tanzt“. John Dutton ist der Patriarch der Duttons, einer Familie, die die größte Ranch in Montana besitzt. Ihre Welt ist nicht allein bedroht durch die harten Bedingungen ihres Geschäfts, durch Viehdiebe und Indianerhäuptlinge, die nicht mit Federschmuck, sondern im Anzug Rache an den weißen Landräubern nehmen wollen. Ihre Heimat Montana ist auch zur potentiellen Goldgrube geworden für Projektentwickler und Investoren, die aus dem Image des nur dünn besiedelten Montanas als Sehnsuchtsort vieler Amerikaner nach ursprünglicher Natur ihren Profit schlagen wollen. Profit, dem die Existenz ihrer Ranch im Wege steht. Schießereien wie im „Wilden Westen“ spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Vorrangig dominieren interne Familienfehden und fiese Intrigen, wie wir sie aus früheren Erfolgsserien wie „Dallas“ oder „Denver-Clan“ kennen.

Kevin Costner als John Dutton
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Costners Verkörperung des John Dutton dürfte viel zum Erfolg der Serie beigetragen haben. Und um es vorwegzunehmen, er spielt einen Charakter, für den sich in Deutschland kein Drehbuchschreiber oder Produzent finden ließe. Doch in Amerika sind sich die Studiobosse im Klaren darüber, daß der konservative Teil der Zuschauerschaft zu groß ist, um ihn „links“ liegen zu lassen oder zu enttäuschen. Inzwischen wurde das „Yellowstone“-Epos mit den Prequels „1883“ und „1923“ (mit Harrison Ford und Helen Mirren) noch erweitert.

John Dutton bildet das Ideal eines konservativen Patriarchen, der ausgestattet mit Charisma und Cleverness, die ur-amerikanischsten Werte der Frontiers hochhält, jener Pioniere, die in den Anfängen der USA die Weiten des Kontinents erschlossen. Seine Weste bleibt dabei keineswegs lupenrein sauber, denn wo sie bestimmte Grenzen überschreiten, läßt er seine Feinde auch durchaus über die Klinge springen.

Um den Erfolg der Serie in den USA zu verstehen, helfen vielleicht drei markante Szenen. Da ist zum einen sein Zusammentreffen mit einer chinesischen Reisegruppe, die sich fahrlässig und unerlaubt auf seinem Grund einem gefährlichen Grizzly nähern. Hier wurde bewußt eine Spiegelung des amerikanisch-chinesischen Gegensatzes, der in der Politik in den letzten Jahren an Schärfe zunahm, inszeniert. Seinen Anspruch auf das Land wird von den Chinesen in Abrede gestellt. Nach ein paar Warnschüssen aus seiner Winchester stellt Dutton unmißverständlich klar:

„This is America. We don’t share land here – das ist Amerika. Wir teilen unser Land nicht.“

Die nächste Szene ist das Aufeinandertreffen von Dutton mit einer jungen Tierschutz-Aktivistin, nachdem sie im Zuge einer Protestaktion gegen die Fleischwirtschaft festgenommen wurde:

„Haben Sie je ein Feld gepflügt, um Kimea anzubauen oder Hirse oder was auch immer Sie sonst so essen? Sie töten alles am Boden oder auch darunter. Sie töten jede Schlange, jeden Frosch, jede Maus, jeden Maulwurf, jeden Wurm. Sie töten sie alle.

Die einzig wahre Frage ist: Wie niedlich muß ein Tier sein, damit Sie es nicht töten wollen, um sich zu ernähren…?“

Solche Sätze sind Albträume für jeden woken Aktivisten und jeden Social Justice Warrior. Und wie um den Trigger noch zu steigern, landet die Aktivistin am Ende auch noch in Duttons Bett.

Duttons Bewerbungsrede um das Amt des Gouverneurs von Montana ist geradezu ein Manifest gegen den linksliberalen Zeitgeist:

„Man sieht es nicht auf dem Weg zur Arbeit, in den Bergen, in den Feldern, aber da draußen führen sie Krieg gegen unsere Art zu leben. Sie werden viele Gründe anführen, warum unsere Art zu leben schlecht für Montana sei. Schlecht für das Land und schlecht für unsere Zukunft. Daß es unmoralisch sei, hier zu leben, hier zu arbeiten, hier ihre Nahrungsmittel anzubauen. Sie werden es so oft wiederholen, daß auch Sie daran glauben, daß Sie infrage stellen, was Sie tun und wer Sie sind. Sie werden Ihnen sagen, daß die einzige Hoffnung für dieses Land darin besteht, daß sie es verwalten. Die unschöne Wahrheit ist: sie wollen das Land. Und falls sie es kriegen, wird es nie wieder wie unser Land aussehen.
Das ist ‚Fortschritt‘ wie man ihn heute versteht. Wenn Sie also Fortschritt wollen, dann wählen Sie mich nicht. Ich bin das Gegenteil von Fortschritt. Ich bin die Mauer, an die er prallt, und ich werde nicht nachgeben und daran zerbrechen.“


Es sind Sätze, die sich ohne weiteres auch auf die Situation in anderen westlichen Ländern übertragen lassen. Auch in Deutschland tobt sich der woke Furor aus, verlangt Gestaltungsmacht und ist mit seinem politischen Arm, den Grünen, gerade eifrig dabei, sehr tief in unser aller Leben einzugreifen. Wie sehr wäre auch hier das Auftreten einer Gegenkraft zu wünschen, die dem Einhalt gebietet, nicht in Gestalt eines sich in Nationalromantik verlierenden Björn Höcke und erst recht nicht durch Friedrich Merz, der vor jedem Shitstorm in Deckung geht, noch bevor der überhaupt ausgebrochen ist.

Über der Zukunft von „Yellowstone“ tauchen dunkle Wolken auf. Irritierend ist für viele Fans der Serie, daß die deutsch synchronisierte Fassung der fünften Staffel auf dem Streamingkanal Paramount+ weiter auf sich warten läßt. Doch am meisten beunruhigt das in verschiedenen Medien verbreitete Gerücht, wonach Costner im Streit aus der Serie auszusteigen droht. Es wäre ein entsetzlicher Verlust, der kaum aufzufangen wäre und der mit Sicherheit das Ende von „Yellowstone“ bedeuten würde. John Dutton darf einfach nicht sterben.