R.I.P. Vangelis (1943 – 2022)

Der Grieche Evangelos Odysseas Papathanassiou wurde unter seinem Künstlernamen Vangelis weltberühmt als Komponist für die Soundtracks so bedeutender Filme wie „Chariots of Fire“, „Blade Runner“ oder „1492 – Die Eroberung des Paradieses“. Am 17. Mai ist Vangelis im Alter von 79 Jahren in Paris verstorben. Aus diesem Anlaß hier ein Beitrag über diesen Pionier der Elektronischen Musik, den ich 2016 für die JUNGE FREIHEIT geschrieben habe.

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© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/16 / 30. September 2016

Walzer tanzen auf Tschuri
Kosmisches Zusammenspiel: Die ESA beendet ihre Weltraummission der Rosetta-Sonde / Zeitgleich veröffentlicht der Erfolgskomponist Vangelis seine gleichnamige Sinfonie
Daniel Körtel

Sie ist eine der spektakulärsten Missionen der Europäischen Raumfahrtagentur ESA: die 2004 gestartete Raumsonde Rosetta zum Kometen Tschurjumow-Gerassimenko – Kurzform: „Tschuri“ –, auf dem im November 2014 die von ihr abgekoppelte Tochtersonde Philae landete. Drei Tage lieferte Philae Daten von dem eisigen Himmelskörper, dann brach wegen der nachlassenden Energieversorgung der Kontakt zu dem in einem Spalt festsitzenden Landemodul ab. Ein dauerhafter Kontakt konnte seitdem nicht mehr hergestellt werden.

Ein besonders aufmerksamer Beobachter der Mission war der Komponist Vangelis, auf den Astronomie und Weltraum seit jeher eine starke Faszination ausüben. Kurz vor dem geplanten Finale, wenn Rosetta aus seinem Orbit um „Tschuri“ in einem kontrollierten Sinkflug am 30. September auf die Oberfläche des Kometen treffen soll, veröffentlicht der Künstler in Kooperation mit der ESA mit der Sinfonie „Rosetta“ seine musikalischen Eindrücke dieses wissenschaftlichen Abenteuers.

In 13 Sätzen interpretiert Vangelis die einzelnen Phasen des kosmischen Zusammenspiels von Rosetta und „Tschuri“ und charakterisiert die einzelnen Protagonisten: ob von den ersten Takten an, die die Annäherung von Rosetta an den Kometen signalisieren, dem turbulenten „Philae’s Descent“, dem leichtfüßigen Walzer für Rosetta („Mission Accomplie“), der Dramatik im sonnennächsten Bahnpunkt des Kometen – dem „Perihelion“–, ein trauriges Klagelied für Rosettas Ende, bevor das geheimnisvolle „Return to the Void“ den Kometen mit seinen zwei verstummten Passagieren in die leeren Weiten des Alls verabschiedet – Gänsehautgefühle sind dem Zuhörer garantiert.

Doch wer ist der öffentlichkeitsscheue „Man of Mystery“ mit der ungeheuren physischen Präsenz und dem Rauschebart, der auf ein beachtliches künstlerisches Lebenswerk von mehr als fünfzig Jahren zurückblickt und dem zu Ehren passenderweise 1995 ein Asteroid benannt wurde? Vangelis wurde am 29. März 1943 in Velos an der griechischen Ostküste unter dem Namen Evangelos Odysseas Papathanassiou geboren. Bereits ab dem Alter von vier Jahren erwies er sich als ein musikalisches Wunderkind, das schon mit sechs Jahren vor großem Publikum seine eigenen Kompositionen vorstellte. Instinktiv entfaltete sich sein Naturtalent, das sich jedoch in keine Form pressen ließ.

Perfekte Symbiose von Film und Musik

In den sechziger Jahren machte er Griechenland mit der Popmusik vertraut. Dem Druck der griechischen Militärdiktatur ausweichend, ging Vangelis 1968 nach Frankreich, wo er gemeinsam mit seinem Landsmann Demis Roussos (1946–2015), dem späteren Schlagerstar, die Band Aphrodite’s Child gründete und mit Beat und Progressive Rock mit einem Schuß mediterranem Folk ersten internationalen Ruhm erntete. Kurz vor der Auflösung der Band 1972 setzte der Keyboarder mit seinen Kompositionen zu dem zum Kultalbum avancierten „666“ – eine epische Vertonung der Johannes-Apokalypse – neue Maßstäbe.

Aphrodite’s Child – The Four Horsemen (video)

Der Erfolg von Aphrodite’s Child beförderte Vangelis in die glückliche Lage, losgelöst vom engen Korsett der Plattenfirmen, die Musik zu kreieren, die ihm gefiel. Das optimale Instrument seiner Wahl war der Synthesizer, ein noch junges Werkzeug. Es folgten erste Instrumentalkompositionen für Konzept-Alben und Filmmusiken für Natur-Dokumentationen. Die siebziger Jahre sind das Jahrzehnt der elektronischen Musik, und Vangelis avanciert neben Tangerine Dream und Jean-Michel Jarre zu einem ihrer bedeutendsten Vertreter.

Zum internationalen Durchbruch verhalf Vangelis das Musikstück „Chariots of Fire“ für das Sportlerdrama „Die Stunde des Siegers“. Unerwartet erhielt der Komponist 1982 den Oscar für die beste Filmmusik. Die Melodie ist bis heute ein weltweit populärer Dauerläufer, der immer wieder zu sportlichen Anlässen gespielt wird. Hier zeigte sich der Künstler als Pionier, dem die perfekte Symbiose von Film und Musik gelang. Mit seinen Synthesizern erweiterte er die Grenzen, die den klassischen Orchestern gesetzt waren, mit denen Hollywood bislang traditionell arbeitete. Diesen Stil führte er fort mit seiner Arbeit zu Ridley Scotts „Blade Runner“ (1982), einem dystopischen Film noir, dessen düstere Atmosphäre Vangelis gelungen akzentuierte. Auch hier konnte der Soundtrack über cineastische Kreise hinaus bis heute eine außerordentliche Popularität entfalten.

Blade Runner • Main Theme • Vangelis

Doch mit dem zunehmenden Erfolg ging Vangelis immer deutlicher auf Distanz zur kommerziellen Musik-industrie, der er die Etablierung einer Massenkultur auf Kosten der Qualität vorhielt und deren Produkte er mit akustischer Umweltverschmutzung verglich. Entsprechend hielt er sich mit der Veröffentlichung von Soundtracks für den Musikmarkt zurück und schlug viele Angebote aus, um nicht als „Fabrik für Filmmusiken“ zu verkümmern.

Und doch war es wieder ein Soundtrack, der seine vermutlich beste Leistung wurde und sogar „Chariots of Fire“ übertraf. 1992 komponierte er wieder in Zusammenarbeit mit Ridley Scott für dessen Kolumbus-Biographie „1492 – Die Eroberung des Paradieses“ den Soundtrack, verwoben mit zahlreichen Einflüssen ethnischer Musik, eine Spezialität Vangelis’. Kurioserweise wurde der kommerzielle Erfolg des Soundtracks nachträglich drei Jahre später weit übertroffen, als der Boxweltmeister Henry Maske die Titelmelodie zu seiner Ring-Fanfare erwählte. Der Soundtrack stieg zum Millionenhit auf, der allein in Deutschland bis dahin von keinem anderen Titel übertroffen wurde!

1492: Conquest of Paradise • Main Theme • Vangelis

Aus seinem Synthesizer zaubert der „griechische Tasten-Magier“ kontemplative Harmonien bis sakral-mystische Klangräume, die ganze Kathedralen ausfüllen können. Ihnen gemeinsam ist die elektronische Signatur, die stets auf ihren herausragenden Schöpfer verweist.

Kein Mensch kommt als unbeschriebenes Blatt auf die Welt. Hochbegabungen wie die von Vangelis werden in die Wiege gelegt und können von keinem noch so progressiven Bildungssystem herangezogen werden. „Große Musiker sind nicht groß, weil sie studieren. Sie sind groß, weil sie groß sind!“ – so die Begründung des Autodidakten und Freigeistes Vangelis, warum er bereits als Kind jede formale Musikausbildung ablehnte. Noten lesen und schreiben kann Vangelis bis heute nicht.

Und doch hat Vangelis der modernen Musikwelt seinen prägenden Stempel aufgesetzt. Oft wird er mit dem Maler El Greco (1541–1614) verglichen. Seitdem dieser seine kretische Heimat verließ, um im Ausland seine Schaffenskraft zu entfalten, hat kein Grieche einen solchen kulturellen Einfluß ausgeübt wie der Musiker Vangelis.

Vangelis Rosetta Decca (Universal Music), 20 16 www.universal-music.de

Vangelis (1943 – 2022)

Was gibt es da zu feiern?

„immer noch, nach den drei jahren, zittert unter den arbeitern, höre ich allgemein, die panik, verursacht durch die plünderungen und vergewaltigungen nach, die der eroberung von berlin folgten. … nach dem kampf durchzogen betrunkene horden die wohnungen, holten die frauen, schossen die widerstand leistenden frauen und männer nieder, vergewaltigten vor den augen von kindern, standen in schlangen an vor häusern usw.“- Bert Brecht

Selten zuvor standen die traditionellen Moskauer Feierlichkeiten zum 9. Mai, dem Gedenken zum Sieg Sowjetrusslands über Nazideutschland 1945, so im Interesse der Weltöffentlichkeit wie in diesem Jahr. Kreml-Astrologen suchten in der Rede Putins nach irgendwelchen Hinweisen über sein weiteres Vorgehen in der Ukraine oder gar nach versteckten Friedenshinweisen. Andere betonten den Propagandacharakter des Ereignisses, um das Russische Volk „in der Spur zu halten“ zur Fortsetzung des Krieges, mit dem Ziel der vermeintlichen „Entnazifizierung der Ukraine“, die in eine Linie mit dem „Großen Vaterländischen Krieg“ gestellt wird. Dieses Narrativ ist von besonderer Bedeutung, stellt doch der Große Vaterländische Krieg die Russen, wie zum Trost über die entsetzlichen Verheerungen des Stalinismus, auf die Seite der Guten.

Aber es gibt einen nicht unwesentlichen Aspekt in der Kriegsführung der Roten Armee, der dieses Narrativ in Frage stellt, und der angesichts der Gräueltaten russischer Soldaten in der Ukraine heute erneut von besonderer Aktualität ist: Die Massenvergewaltigung von Frauen durch Rotarmisten.

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Zuletzt war es 2013 ausgerechnet ein polnischer Kunststudent, der Danziger Jerzy Szumczyk, der mit seiner Skulptur „Frau, komm!“ die Empörung der russischen Regierung provozierte. Nur wenige Stunden in der Nacht, die die Skulptur ohne jede Genehmigung neben einem russischen Weltkriegs-Ehrenmal stand, reichten aus für eine weltweite Aufmerksamkeit. Nicht alleine deutsche Frauen waren die Opfer solcher Kriegsverbrechen; ebenso wurden solche in allen von der Roten Armee eroberten Länder Osteuropas verübt. Der russische Historiker Dmitrij Chmelnitzki schätzt aber allein die deutsche Opfergruppe als die größte auf etwa zwei Millionen.

Skandalskulptur „Frau, komm“ (Quelle: dailymail.co.uk)

Nicht allein in Russland, auch in Deutschland selbst wurde um das Thema ein Tabu errichtet. Auch hierzulande gilt der Sieg der Sowjetunion über Deutschland als „Befreiung von der Nazi-Diktatur“. Werden die Massenvergewaltigungen erwähnt, so werden diese üblicherweise mit Hinweis auf den deutschen Vernichtungskrieg gegenüber dem Osten relativiert.

Erst 2009 hatte der frühere Hamburger Wissenschaftssenator Ingo von Münch (* 1932) mit der Veröffentlichung seines Buches „‘Frau, komm!‘ Die Massenvergewaltigung deutscher Frauen und Mädchen“ für Furore beim Thema gesorgt. Als Angehöriger des etablierten Politikbereichs und der Erlebnisgeneration wurde sein tiefes Interesse durch die Bekanntschaft mit Opfern geweckt. Sein Buch dokumentiert ausgiebig zahlreiche authentische Berichte in teils grausigen Details über die erlebten Schändungen und die brutale Vorgehensweise der Rotarmisten. Widerstand war in der Regel zwecklos und konnte für das Opfer tödlich enden. Selbst anwesende Kinder waren kein Hindernisgrund und wurden oft genug ebenfalls vergewaltigt oder getötet.

Von Münch ging auch der Motivation der Rotarmisten auf den Grund. Naheliegend waren es Haß- und Rachegefühle, die die Männer antrieben sowie die Einstellung, eine Art „Volksgericht“ über den Feind und seine Zivilbevölkerung auszuüben. Auch wenn ein spezifischer offizieller Befehl, der diese Verbrechen legitimierte, nicht vorlag, so kommt von Münch zu der Feststellung, daß „die sowjetische politisch-psychologische Kriegsführung mit ihrer Hasspropaganda gegen die Deutschen (eben nicht nur gegen ‚die Faschisten‘ oder gegen ‚die deutschen Soldaten‘) den Boden die Gewalttaten bereitete“. Berühmt berüchtigt sind hier die mit Billigung der obersten Führung verbreiteten Tötungs- und Vergewaltigungsaufrufe eines Ilja Ehrenburgs. Daß sich damit auch der humanistische Anspruch der von den Sowjets vertretenen kommunistischen Ideologie restlos entwertete, sei hier nur am Rande bemerkt.

Das Schweigen darüber betraf Opfer- wie Täterseite. Die Verletzung des Intimbereichs, die persönliche und totale Demütigung – teils auch der eigenen Männer, die gezwungen waren, hilflos und ohnmächtig zuzusehen – waren derart traumatisch, daß vor tiefer Scham hiernach kaum ein Gespräch darüber geführt werden konnte. Erst der Erlebnisbericht „Eine Frau in Berlin“ der „Anonyma“ von 1954 gab den in Vergessenheit zu geratenen Opfern eine vielbeachtete Stimme. Es sollte bis 2008 dauern, bis es zur Verfilmung des Stoffes kam, bezeichnenderweise angereichert mit einer Schmonzette der Protagonistin mit einem Sowjet-Offizier, die in real nie stattfand.

Inhaltlich konnte gegen von Münchs Werk nichts entgegengesetzt werden. Seine Person ist als anerkannter Jurist und FDP-Politiker kaum in das revisionistische Lager einzuordnen. Kritik erhob sich vielfach, weil das Buch im österreichischen Ares Verlag erschien, der für seine rechtskonservativen Publikationen bekannt ist. Von Münch entgegnete dieser Kritik mit dem Hinweis, daß sich in Deutschland kein Verlag fand, der dieses „heiße Eisen“ anzufassen wagte. Auch heute noch müssen in aller Regel Erlebnisberichte aus dieser Zeit im Selbstverlag erscheinen.

Es war absehbar, daß die Wirkung von „Frau, komm!“ bei weitem nicht ausreichen würde, das Schicksal der Massenvergewaltigungen deutscher Frauen im kollektiven Gedächtnis und Gedenken der Deutschen zu verankern. Aber vielleicht werden die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine wenigstens bewirken, daß diesem Thema wieder eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteilwird. Denn es liegt sehr nahe, zwischen den russischen Verbrechen damals und heute ein gemeinsames Muster zu erkennen.

European Parliament accuses Russia of using rape as weapon of war

Ingo von Münch
Frau, komm!
Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45
208 Seiten, 2009,
19,90 Euro

Alles Trans oder was?

Die Titelseite der HNA vom vergangenen Montag hat eindrucksvoll vorgeführt, welche inhaltliche Prioritätensetzung die Redaktion vornimmt: Ein großer Kasten mit Bild weist auf die Schauspielkarriere einer Kasseler „Transfrau“ hin, die auf der Folgeseite in einem ganzseitigen Interview ein herausragendes Forum findet. Worum geht es? Es scheint sich biologisch um eine Frau zu handeln, die sich nicht als normale Frau fühlt, die einen biologischen Mann spielt, der sich als Frau fühlt… man will sich das gar nicht vorstellen. Wie auch immer, da konnte ich gleich weiterblättern auf Seite 3, ohne mich auch nur länger als drei Sekunden auf der vorhergehenden mit dem Interview aufzuhalten.

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„Bäumchen wechsel dich“: Das neue „Normal“ in der HNA

Aber ganz ehrlich, es ist in den letzten Jahren viel gesagt worden über die Blase, in denen sich der deutsche Journalismus bewegt. Einer seiner Lieblingsthemen ist die aus den USA zu uns übergeschwappte „woke“ Subkultur vor allem sexueller Minderheiten, deren Größe weit über ihre tatsächliche Bedeutung hinaus aufgeblasen wird, in allen tiefschürfenden Details. Was früher als Persönlichkeitsstörung ein Fall für den Psychiater war, ist heute höchster Ausdruck eines neuen zivilreligiösen Kultes um „Diversity“, der von der „Rest“-Gesellschaft nicht nur Akzeptanz fordert, sondern Respekt für sein Anderssein, mit allen Ansprüchen auf Förderung. Der britische Publizist Douglas Murray hat dazu geschrieben: „Von dem ganzen Wahnsinn der Massen, den wir derzeit erleben, sticht Trans insofern hervor, als dass es eine Art Rammbock geworden ist – als ob es das letzte fehlende Stück wäre, um die große patriarchalische Mauer endgültig niederzureißen.“

Ein deprimierendes Ergebnis dieser zweifelhaften Entwicklung ist die erklärte Absicht der Ampel-Regierung, bereits 14jährigen die irreversible, einer Verstümmelung gleichkommende Geschlechtsumwandlung auf eigenen Wunsch hin auf Kosten der Krankenkasse zu erlauben! Es ist paradox: Sexuelle Devianz ist das neue „normal“. Wer laut Zweifel äußert, dem winkt die juristische Keule des „Hass-Verbrechens“.

In diesen Zeiten, wo uns Kriegsangst, Inflation, Covid-Panikmache und vieles andere von existenzieller Bedeutung umtreiben, den zahlenden Lesern einen solchen Mist vorzusetzen, kann man sich eben nicht anders erklären als mit dem besagten Blasendenken des journalistischen Milieus. Dort muss man derartige Themen wahnsinnig „hip“ finden, ohne auch nur einen kritischen Gedanken daran zu verschwenden. Daß die Mehrheit der Leser dem auch nur etwas abgewinnen kann, ist jedenfalls eine gewagte Annahme. Wer derart seine Zeitung gestaltet, der hat sich die Flucht der Leser redlich verdient.

Die geistigen Verheerungen „woker“ Kultur.
Douglas Murray
Wahnsinn der Massen: Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften
2020, 352 Seiten, 24,99 Euro

Der Herr Carl und die Pressefreiheit

Es konnte nicht ausbleiben, daß die HNA am vergangenen Montag gleich auf ihrer Titelseite den Tag der Pressefreiheit in seiner Bedeutung würdigte. In der Kolumne „Standpunkt“ zog Nachrichtenredakteur Jörg S. Carl den Bogen zu den russischen Verhältnissen, wo die Pressefreiheit nicht gegeben ist: „Das System Putin hat die Medien im Land gleichgeschaltet und der staatlichen Kontrolle unterworfen.“

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HNA-„Standpunkt“ vom 03. Mai 2022

Dem wiederum stellt er die Verhältnisse in Deutschland gegenüber, wo es „glücklicherweise keinen Mut [bedarf]“, um kritische Dinge zu schreiben, denn hier scheinen für die Pressefreiheit ideale Zustände zu herrschen: „Nur sie garantiert einen unabhängigen Journalismus, der die Fakten abbildet und der Wahrhaftigkeit verpflichtet ist. Als elementarer Bestandteil des demokratischen Systems ist die Pressefreiheit nicht hoch genug einzuschätzen, weil sie das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesens erst möglich macht. (…) Sie ist Voraussetzung für die Meinungsbildung, für die Freiheit der kritischen Rede und der kontroversen Debatte. Darum ist sie einer der zentralen Unterschiede zwischen Demokratie und totalitärem Staat.“- Platituden aus der Echokammer eines Mainstreamjournalisten.

Herr Carl schaut gen Osten und übersieht die keineswegs seinem Idealbild entsprechende Realität hierzulande. Gewiß, in Deutschland riskiert kein Journalist Lagerhaft, wenn er die Regierung kritisiert. Doch auch hier gibt es jenseits eines immer enger gewordenen Meinungskorridor toxische Tabus, die laut anzurühren, empfindliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Was würde einem Journalisten eines großen Pressemediums widerfahren, wenn er nur allein in der Redaktionskonferenz einen der folgenden K.O.-Sätze äußert:

  • Der Westen trägt eine Mitverantwortung am Ausbruch des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine
  • Fridays for Future ist eine Polit-Sekte
  • Gender Mainstreaming ist eine Pseudowissenschaft
  • Die Wirksamkeit der staatlichen Corona-Maßnahmen und der Impfungen auf das Pandemiegeschehen werden weit überschätzt
  • Die Gefahren des Klimawandels werden medial überhöht
  • […]

Belassen wir es bei diesen Punkten, denen wir noch viele weitere anhängen könnten. Wie auch immer, es sind Sätze, die ihren Sprecher sehr einsam werden lassen, zum Unberührbaren, zur Unperson, der für eine weitere Beschäftigung in den MSM zu ungenießbar geworden ist. Wer sich derart äußert, riskiert hierzulande zwar keine 15 Jahre Gefängnis, aber ein informelles Berufsverbot – und zwar lebenslänglich! Und auch Herr Carl hat in seinen Texten nie etwas anderes getan, als sich in den besagten Meinungskorridor zu bewegen und sich seiner Verengung geschmeidig anzupassen.

Es würde den Rahmen sprengen, an dieser Stelle die Ursachen der Glaubwürdigkeitskrise des heutigen Journalismus zu erörtern. Tatsache jedoch ist, daß sie besteht, von vielen Medienkonsumente als solche benannt wird („Lügenpresse“) und auch Thema zahlloser Fachartikel und -publikationen ist. Am deutlichen wurde dieser Mißstand zuletzt in der Coronapandemie, als sich die Mainstreammedien zu regierungsfrommen Verlautbarungsorganen erniedrigt haben, die jeden Zweifler zum „Schwurbler“ und „Querdenker“ diffamierten. Die HNA ist dabei keine Ausnahme, die sonst nichts anderes tut, als dem von den großen Pressehäusern vorgegebenen „Trend“ zu folgen, anstatt eigene Akzente zu setzen.

Eigentlich hätte es Herr Carl gar nicht so schwierig, sich Anschauungsmaterial zu besorgen, wie guter, kritischer Journalismus geht. Das nonkonforme und zunehmend populärere Magazin „Tichys Einblick“ wird in der hauseigenen Druckerei der HNA produziert.

Aber dennoch werden wir uns hüten zu behaupten, Herr Carl sei ein branchentypisches Beispiel dafür, daß man auch trotz abgeschlossenem Studium der Politikwissenschaften und mit jahrzehntelanger Berufserfahrung als Lohnschreiber einer Provinz-Journaille nur über eine beschränkte Sicht verfügen kann – auf sich selbst, seinen Beruf und die Welt insgesamt.

Friedenslogik statt Sicherheitslogik?

Ein Schlaglicht auf die Stimmungslage in Deutschland in Bezug auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die Position Deutschlands darin warf vergangenen Sonntagnachmittag eine Vortragsveranstaltung in der Kasseler Kirche St. Familia. Zu Gast war Clemens Ronnefeldt, langjähriger Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des internationalen Versöhnungsbundes, wohnhaft in der Ukraine. Thema seines an rund 100 Zuhörer gerichteten Vortrags: „Der Ukraine-Krieg: Hintergründe und Perspektiven“. Die eigentliche thematische Stoßrichtung gab der frühere Dechant Harald Fischer in seiner Eröffnung vor, als er auf den Druck hinwies, den „die Zeitenwende in der jüngeren Geschichte“ auf die Friedensbewegung in Deutschland ausübt und sie in eine Position rücke, in der sie sich entschuldigen müsse. Fischer ist ein prominenter und keineswegs unumstrittener Aktivist der lokalen Friedensbewegung, der immer wieder als Wortführer gegen die nordhessische Rüstungsindustrie von sich reden machte.

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Zu Beginn gab Ronnefeldt einen historischen Überblick über das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine von den Kiewer Rus bis in die heutige Zeit. Seine informativen Ausführungen machten deutlich, wieso der Krieg, den Russland dort führt, keiner über Rohstoffe ist, sondern ein „Beziehungs- und Identitätskrieg“.

Über die unübersehbaren Spaltungstendenzen in der Ukraine in der Präsidentschaftswahl von 2004 habe Ronnefeldt nach eigenem Bekunden „die Luft angehalten“. Er habe der Ukraine die Rolle „eines Brückenlandes gewünscht, das seine Füße in beiden Lagern behält“. Doch vor die Wahl gestellt zwischen dem Westen und Russland mußte es zum Riss kommen.

In seinem Porträt des russischen Präsidenten Putin fand er seine christlich-orthodoxe Taufe auf Betreiben der Mutter bemerkenswert, von der der Vater – ein Kommunist und Atheist – nichts wissen durfte. Als eine wichtige Prägung erscheint sowohl der geglückte Bluff mit angeblichen Scharfschützen zum Schutz der Dresdner KGB-Filiale zur Abschreckung ostdeutscher Bürgerrechtsdemonstranten, als auch die etwa zeitgleiche Niederschlagung der chinesischen Bürgerrechtsbewegung durch das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.

Kritisch ging Ronnefeldt auf die bekannten Bilder ein, in denen sich Putin mit freiem Oberkörper in Machopose inszeniert und in denen er ihm ein Problem mit seiner Männlichkeit attestiert. Ohne die Überwindung des damit verbundenen patriarchalischen Denkens würde das Leiden der Menschen kein Ende finden.

Bei aller gebotenen Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands in der Ukraine sparte er die NATO von einer Mitverantwortung an der Entwicklung dahin nicht aus. Er begründete seinen Fokus auf die NATO dahingehend, daß hier die Seite liege, auf die man Einfluß habe. Nach dem mündlichen Versprechen an die Sowjetunion durch den damaligen Außenministers James Baker 1990, die Nato um „keinen Inch nach Osten“ zu erweitern, sah er seit 1992 mit den neoliberalen Wolfowitz, Friedman und Brzeziński eine gegenteilige amerikanische Politik am Wirken, die Russland nicht auf Augenhöhe begegnen wollte, sondern als künftigen potentiellen Konkurrenten niederzuhalten versuchte. Besonders bei Brzeziński, dem Verfasser des Bestsellers „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, konnte der Referent kaum seine Fassungslosigkeit verbergen, daß die westlichen Staaten nicht gegen seinen Einfluß opponiert haben.

Dagegen lobte Ronnefeldt die nach seiner Ansicht auf Ausgleich bedachte Politik der Regierung Merkel, während die USA diese immer wieder konterkariert habe. Als entscheidende Wegmarken hob Ronnefeldt die Münchener Sicherheitskonferenz von 2007 hervor, in der Putin explizit die Haltung Russlands gegenüber einer weiteren Runde der NATO-Osterweiterung vortrug, wie auch die völkerrechtswidrige Abtrennung des Kosovo 2007 mit westlicher Hilfe.

Mit großem Beifall goutierte das Publikum Ronnefeldts rhetorische Frage zu den Auswirkungen der amerikanischen Politik in der Ukraine: „Wieviel Blut wird fließen für höhere, übergeordnete Ziele?“

Reichlich naiv und von der Realität überholt wirken jedoch seine Alternativen zu einem bewaffneten Widerstand der Ukrainer gegen die russischen Invasoren, in denen er dem gewaltfreien Widerstand den Vorzug gab. Seine Berufung auf frühere Umfragen unter der ukrainischen Bevölkerung, die inzwischen allesamt Makulatur sein dürften, wirkte da reichlich irreal, was aber im Publikum niemanden aufzufallen schien. Ronnefeldt traf sich hier mit dem Aktivismus seines Gastgebers Fischer, indem er der deutschen Rüstungsindustrie vorhielt, ob es sie überhaupt interessiere, „was die Menschen dort denken?“

Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob es Ronnefeldt überhaupt für möglich halten könnte, daß die Ukrainer die Waffen aus deutscher Produktion geradezu herbeisehnen? Denn mit gewaltfreiem Widerstand und zivilgesellschaftlichen Ungehorsam lassen sich Massaker wie in Butscha wohl kaum verhindern.

Was können „wir“ tun, um den Krieg in der Ukraine zu beenden? Ronnefeldt problematisierte hier vor allem die deutsche Rüstungsindustrie, die über den Suchkopf auch Zulieferer für die türkische Drohne ist, die wiederum vertragswidrig von der Ukraine eingesetzt würde. An dem betreffenden Unternehmen hielte die Bundesrepublik eine Sperrminorität, die sie unter fadenscheinigen Begründungen nicht anwende. Ebenso kritisierte Ronnefeldt die durchaus bedenklichen Netzwerkverbindungen zwischen der Rüstungsindustrie und der Münchener Sicherheitskonferenz zu ihrem gegenseitigen materiellen Vorteil.

Weiterhin rief er gezielt in Richtung Publikum dazu auf: „Nehmen Sie Deserteure auf!“, ohne allerdings zu reflektieren, daß es durchaus einen Unterschied macht, ob ein Soldat der Aggressormacht oder der angegriffenen Seite fahnenflüchtig wird.

Ebenso riet er zum Erhalt der zivilgesellschaftlichen Kräfte, beispielsweise durch Städtepartnerschaften, so als ob die – mittlerweile auf Eis gelegte – Städtepartnerschaft Kassels mit dem russischen Jaroslaw irgendwie etwas geändert hätte.

Keinen leichten Stand hatte an dem Nachmittag der Kasseler Bundestagsabgeordnete der Grünen, Boris Mijatovic, der unter deutlichen Unmutsbekundungen aus dem Publikum von Fischer zu einer Stellungnahme nach vorne gebeten wurde. Besonders hörbar mit spöttischem Unterton fiel der Satz „Frieden schaffen mit schweren Waffen“, und das aus einem Milieu, in dem die Grünen einst Zuhause waren. Zwar stimme er Teilen des Vortrags zu (ohne zu sagen welchen), doch außer nichtssagenden Phrasen über Besonnenheit und rationales Handeln hatte Mijatovic nichts anzubieten.

In seinem Schlußwort betonte Ronnefeldt die weitere Notwendigkeit einer Friedensbewegung. An die Stelle der Sicherheitslogik müsse eine Friedenslogik treten, um die eigene Sicherheit nicht auf Kosten anderer zu sichern: „In einer vernetzten Welt kann es nur noch gemeinsame Sicherheitsinteressen geben.“

Fischer wiederum kritisierte die Lieferungen schwerer Waffen in die Ukraine, die für ihn eine moralische Glaubensfrage sei: „Es ist als teste der Westen aus, wo für Putin die Schmerzgrenze für den Atomwaffeneinsatz liegt.“
Es war, um einen ironischen Vergleich zur Militärsprache zu bemühen, ein Nachmittag, an dem es einem führenden Aktivisten der kirchlichen Friedensbewegung darum ging, die eigenen Truppen moralisch aufzubauen und zu stärken, nachdem der russische Angriff auch sie kalt erwischt hat.

Wenig überraschend war, daß während des Vortrags auch Flugblätter des marxistischen und kaum seriösen „Kasseler Friedensforum“ verteilt wurden. Und wenn Ronnefeldts Vortrag sich von einem thematisch ähnlichen im Café Buchoase unterschieden hätte, dann vor allem dadurch, daß er sehr deutlich gemacht hat, daß die Behauptung Russlands von der „Entnazifizierung der Ukraine“ eine reine Propagandalüge ist, um die Russen „bei der Stange zu halten, weil der Große Vaterländische Krieg [der Zweite Weltkrieg] der letzte gute gewesen ist“.

Daß die vom Bundeskanzler ausgerufene „Zeitenwende“ einhellig von der Bevölkerung nachvollzogen wurde, läßt sich hiernach jedenfalls nicht bestätigen, im Gegenteil. Wortmeldungen aus dem Publikum lassen ahnen, das die nicht nur in der Friedensbewegung traditionell gegen die Amerikaner gerichtete Vorbehalte – um nicht zu sagen: antiamerikanische Ressentiments – nach wie vor fest verankert sind. Die deutsche Front des politischen Krieges gegen Russland scheint vielleicht brüchiger zu sein, als es manchen Strategen in Berlin, Brüssel oder Washington lieb sein kann.

Zwischen „Hosianna“ und „Kreuzige ihn“

Aus der christlichen Tradition kommt die Spruchweisheit, daß nur ein kurzer Weg zwischen „Hosianna“ und „Kreuzige ihn“ besteht. Damit bezieht sie sich auf jene Phase der Evangelien, in denen Jesus Christus am Ende seines Lebensweges unter den Hosianna-Rufen (Hosianna: „Hilf doch!“, „Hilf bitte!“) des Volkes in Jerusalem einzieht und nur wenige Tage später auf Zuruf des gleichen Volkes dem Henker überantwortet wird, der ihn ans Kreuz schlägt. Die höhnische Aufschrift über ihm: „Jesus von Nazareth – König der Juden“.

Gewiß, der SPD-Politiker Karl Lauterbach ist von den Medien nicht zum Messias erhoben worden, aber doch zu einer Art Erlösergestalt, die uns aus der Krise der Corona-Pandemie führen soll. Nach jahrelangem Dasein als einfacher Bundestagsabgeordneter hatte er nach der Bundestagswahl endlich den Höhepunkt seiner politischen Karriere erreicht: Im Kabinett der von Olaf Scholz geführten Bundesregierung nahm er den Posten des Gesundheitsministers ein.

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Die Medien waren voll des Lobes für Lauterbachs Aufstieg. Geradezu hymnische Lobgesänge kamen aus den den strengen Corona-Kurs stützenden Mainstreammedien. Auch die nordhessische Monopolzeitung HNA (Hessische/Niedersächsische Allgemeine) bot in einem peinlich zu lesendem Elaborat geradezu schleimige Stilblüten. Nach nur wenigen Wochen im Amt urteilte offenbar in Abwesenheit eines kritischen Sachverstandes am 10. Januar der Leiter des Kasseler Lokalredaktion Florian Hagemann:

Lauterbach hat es in wenigen Wochen im Amt längst zu King Karl geschafft… Lauterbach ist omnipräsent, er ist Karl Überall. (…) Das ist insofern erstaunlich, als dass es diese Art von Politiker bisher eigentlich gar nicht gab. Lauterbach ist nämlich immer noch in erster Linie Professor, der die Dinge versucht, mit seinem Hintergrund als Wissenschaftler zu erklären – untermauert mit dem Hinweis auf diese und jene Studie. Seine Vergangenheit verleiht dem Mediziner dabei die nötige Glaubwürdigkeit. (…)

Dass sehr viele Menschen Lauterbachs Art honorieren und sie sich nach genau einem solchen Fachmann im Amt sehnen, ist ein gutes Zeichen. Die hervorragenden Umfragewerte für einen wie Lauterbach könnten die Besetzung von Ministerposten schließlich nachhaltig verändern – und damit auch den politischen Stil an sich. Der kraftprotzende Machtpolitiker vom Schlage Schröder ist heute sowieso längst Außenseiter und wirkt von vorgestern. Olaf Scholz hat es nicht mit Wumms ins Kanzleramt geschafft, sondern als eine Art zweite Angela Merkel. Vizekanzler Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner fallen eher durch ihre smarte Art auf als durch Gebrüll – der philosophierende Welterklärer Habeck freilich mehr als der temperamentvollere Lindner. Die Beliebtheitswerte von Karl Lauterbach erreichen aber auch sie nicht. Womöglich aus einem einfachen Grund: Weil Karl Lauterbach sich nicht verstellen muss, um einfach Karl Lauterbach zu sein.

HNA vom 10. Januar 2022

Warnende Vorbilder für derart medial gehypte Höhenflüge, die wie Ikarus nach zu starker Annäherung an die Sonne schnell und schmerzhaft auf den Boden der Tatsachen fallen, gab es bis dahin genug: Karl-Theodor zu Guttenberg, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere wegen einer gefälschten Dissertation aus dem Amt des Verteidigungsministers flog, und Matthias Platzek, der mit viel Vorschußlorbeeren aus den Medien bedachte SPD-Vorsitzende, der aber nach nur einem halben Jahr der Überforderung aus dem Amt floh, sind nur zwei prominente Beispiele.

Denn inzwischen dreht sich der Wind aus der Wissenschaft und den dem Mainstreammedien gegen Lauterbach. Seine fortlaufende Masche, apokalyptische Sirenengesänge vorzutragen über die unvorhersehbaren und rein spekulativen Gefahren aus der Zukunft, in der sich das Coronavirus zu einer „Killervariante“ entwickeln würde, haben offenbar bei nicht wenigen Experten den Geduldsfaden reißen lassen. Und das erstaunliche ist: Aus den Mainstreammedien stellt sich kaum einer schützend vor den Minister.

In der HNA vom 20. April waren nun in der „Standpunkt“-Kolumne aus der Feder von Ulrich Riedler folgende erstaunliche Worte zu lesen:

Das Gesundheitsministerium zählt gewiss nicht zu den einfachsten Ressorts der Bundespolitik. (…) Und es erweist sich erst recht in Krisenzeiten mitunter als halsbrecherisch. Zuletzt stürzte ein Hoffnungsträger der Christdemokraten darüber. Dessen SPD-Kollege und Nachfolger Karl Lauterbach ist nun auf dem besten Wege, es Jens Spahn gleich zu tun. (…)

Seither hat sich Lauterbach Mühe gegeben, in der Welt der Realpolitik zu reüssieren, doch einiges mutet bislang befremdlich an. Erst ließ er sich beim Thema des Endes der Corona-Isolationspflicht im Kabinett die Butter vom Brot nehmen, um diese Lockerung wenig später wieder zu kassieren – im Fernsehen. Nun warnt er in der „Bild“-Zeitung vor Killerviren im Herbst, was ihm erneut massive Kritik einbringt.

Wie ministrabel ist Lauterbach überhaupt? Noch immer tut er sich schwer damit, dass man genau abwägen muss, wo man sich in welcher Form äußert. Auftritte in Talk-Shows und Interviews für die Boulevard-Presse sind eher hinderlich, wenn es um Strategien der Pandemie-Bekämpfung geht.

Ein Politiker unterscheidet sich vom Wissenschaftler nicht nur durch Dickfelligkeit, sondern auch durch Pragmatismus und das Gespür für richtiges Timing. All dies fehlt dem Experten Lauterbach noch. Er täte gut daran, es schnell zu lernen.

HNA vom 20. April 2022

Gerade einmal 101 Tage liegen zwischen den beiden vollkommen konträren „Standpunkt“-Kolumnen Hagemanns, der Lauterbach zum König krönte, und Riedlers, der ihn entzauberte. Noch ruft niemand nach Entlassung des Ministers, aber es sieht ganz danach aus, als ob der als Adler gestartete Lauterbach gerade dabei ist, seinen Sinkflug zum Bettvorleger hinzulegen. Von „König Karl“ wie HNA-Redakteur Hagemann oder gar „Karl der Große“ (DIE ZEIT) will niemand mehr reden.

Inzwischen dürfen wir uns verwundert die Augen reiben, wenn uns auf WELT Online die Journalistin Anna Scheider eröffnet, daß Karl Lauterbach in der Bundestagsfraktion der SPD alles andere als beliebt ist. Man beginnt zu ahnen, welch vergiftetes ausgerechnet von jenen auf die Oppositionsbänken verbannten Unionspolitikern kam, die Lauterbach als Idealbesetzung für das Gesundheitsressort empfahlen, so als ginge es ihnen in Wahrheit darum, den „Laden“ von innen her aufzulösen.

Es lichten sich also zunehmend die Schleier und offenbaren uns das Bild eines Mannes, der allein durch seine Talkshowpräsenz als Endzeitprediger und Angsttrompeter glänzte, aber nie als kompetenter Experte, der fähig wäre, ein Ressort wie das Gesundheitsministerium zu leiten, geschweige denn, eine Krankheit wie Covid-19 realistisch einzuschätzen. In seinem Auftreten gab Lauterbach lediglich den Komplementär für die in ihn gesteckten Erwartungen der Medien, mehr aber auch nicht.

Wagen wir zum Abschluß zwei Prognosen:

Karl Lauterbach wird sein Amt nicht bis zum Ende der Legislaturperiode ausüben. Sein Ende als Minister wird alles andere als rühmlich sein.

Und die Mainstreammedien, denen wir seinen irrealen Aufstieg zu verdanken haben, werden dann als allerletzten in sich gehen und selbstkritisch fragen, welchen Beitrag sie zu diesem absehbaren Desaster geleistet haben.

HNA unser…

Es ist schon einige Jahre her, genaugenommen 2013, da hat ein Nutzer des HNA-Forum namens kloogschieter ein bemerkenswert satirisches Gedicht auf die HNA dort gepostet. Wenig erstaunlich, daß es sehr rasch von der Moderation gelöscht wurde. Glücklicherweise konnte es vorher noch rechtzeitig gesichert werden. Da hinter jenem Vers aber ein kreativer Kopf steckt, ist er es durchaus wert, bei dieser Gelegenheit hier ausgestellt zu werden.

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kloogschieter, 08. September 2013, 05:41 PM

HNA unser in Kassel,
die du da bist im online,
geheiligt werde deine Recherche,
unsere tägliche Nazistory gib uns heute,
und erinnere uns an unsere Schuld,
wie auch wir ständig für diese Zahlung leisten,
und führe uns nicht in Versuchung aufzubegehren
gegen das neue Versailles,
sondern erlöse uns von unserem Stolz,
denn wir sind ja so böse,
und dein ist die Meinungshoheit,
und die Kraft und Herrlichkeit in Ewigkeit!
Amen

http://www.hna.de/kassel/12000-dokumente-zeigen-terror-3097972.html#comment-1033424857

Russlands Tragödie: Gefangen in imperialen Träumen

„Das Unwissen über die Stalin-Zeit ist in Russland allgegenwärtig, es gibt keine Aufklärung über die Diktatur, wie wir sie kennen. Die Stalin-Zeit ist keine historische, sondern eine mythische Zeit. Man erinnert sich nicht an den Terror und den Horror, sondern an die Grösse und den Glanz eines untergegangenen Imperiums, an den Sieg im Grossen Vaterländischen Krieg, dessen Symbol Stalin ist. Nicht der Despot, der Terrorist und Gewalttäter wird besungen, sondern der Schöpfer und Bewahrer eines mächtigen Reiches. Vom Kommunismus ist am Ende nichts geblieben als die Erinnerung an das verlorengegangene Imperium.“ (Prof. Jörg Baberowski in der NZZ vom 04.04.2022)

Die Organisatoren des Literarischen Frühlings haben nach Eröffnung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine eine erfreuliche Flexibilität gezeigt, und ihr aktuelles Programm kurz vor dem Start noch einmal erweitert. Zusätzliche, den aktuellen Vorgängen verbundene Veranstaltungen wurden aufgezogen mit der georgischstämmigen Autorin Nino Haratischwili („Das mangelnde Licht“) und dem Stalin-Experten und Osteuropahistoriker Prof. Jörg Baberowski („Der tote Terror“, „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“).

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Am gestrigen Sonntagnachmittag trat Baberowski im Metzen Alter Kuhstall in Ellershausen vor das Publikum, unter der Moderation von Klaus Brill, der als thematischen Einstieg den von Wladimir Putin am Vorabend des Angriffs beschworenen Gründungsmythos der mittelalterlichen Kiewer Rus wählte. Die Taufe des Großfürsten Wladimir zum christlich-orthodoxen Glauben im Jahr 988 gilt als das Ursprungsdatum dieses Mythos, die Ukraine den Russen somit als russisches Kernland.

Links: Klaus Brill; rechts: Prof. Jörg Baberowski

Baberowski erklärte, daß er als Historiker nicht viel mit solchen Mythen anfangen könne, denn seine Aufgabe bestehe gerade in der Dekonstruktion solcher Mythen. Die in Stände hineingeborenen Menschen des Mittelalters konnten mit einer auf der Gleichheit Aller beruhenden Nationalidentität nichts anfangen. Die Nation sei ein emanzipatorisches Projekt der Moderne. Baberowski sieht die „Illusion“ der Nation unter Berufung auf Ernest Renan als „tägliches Plebiszit“, ihre Vergegenwärtigung finde in der Begegnung mit dem Anderen statt. Putin hingegen benutze Geschichte zur Rechtfertigung der Gegenwart.

Natürlich seien Nationen nicht vollkommen willkürlich konstruierbar. Der Überlieferungszusammenhang der Russen sei das Orthodoxe Christentum und die slawische Sprache. Wie wenig die russische Geschichte zur Begründung eines Nationalbewußtseins taugt, machte Baberowski deutlich an der Einführung der Leibeigenschaft der Bauern 1649, die dem Gleichheitsanspruch der Nation widerspreche. Die lokalen Eliten waren zur Hälfte Deutschbalten, während die Eliten noch bis in das 18. Jahrhundert überwiegend Französisch sprachen und die Zarin Katharina die Große war eine gebürtige Deutsche. Nationen, so Baberowski, seien gut begründete Lügen: „Man beschwört eine Zeit, die es eigentlich nicht gegeben hat.“

Angesprochen auf die Annektierung der Krim durch die Zarin Katharina im im Jahr 1783, was als Begründung russischer Gebietsansprüche herangezogen wird, fragte Baberowski, wie weit man zurückgehen solle: „Da läßt man die Geschichte besser aus dem Spiel.“

Erst im 18./19. Jahrhundert kam eine Nationalbewegung auf, allerdings als Elitenprojekt, das nicht das Interesse der Dörfler mit ihrem begrenzten Horizont fand. Interessanterweise stand die russische Regierung dem Projekt skeptisch gegenüber; ein Vielvölkerimperium wie Russland könne sich nicht auf der Idee der Nation gründen. Doch das, so Baberowski, „wollen Leute wie Putin nicht hören.“

Paradoxerweise seien die Kommunisten die eigentlichen Nationalgründer gewesen. Um ab 1922 „den Sozialismus ins Dorf zu bringen“, habe man wie am Reißbrett die Sowjetunion in Nationen überführt, die Bauern in ihren jeweiligen Nationalsprachen unterrichtet. Eine russische Nation wurde jedoch nicht gegründet; die Russen sollten sich mit dem Imperium der Sowjetunion identifizieren.

Als Folge der bolschewistischen Politik sei die Ukraine und ihre erste Staatlichkeit eine sowjetische Schöpfung. Dennoch sei diese nicht einfach ein künstliches Gebilde, denn in allen Sowjetrepubliken habe es nationale Erweckungsbewegungen gegeben.

Der ab 1928 einsetzende Terror Stalins habe die Ukraine mit dem „Holodomor“ am härtesten getroffen. Zu seiner Bewertung als „Genozid“ meinte Baberowski zurückhaltend, daß die Hungersnot Folge des Krieges der sowjetischen Regierung gegen das eigene Volk gewesen sei, der jeden traf. Er wies weiter auf die ebenfalls in einer Hungersnot umgekommenen zwei Millionen Kasachen hin, über die niemand spreche, „vielleicht weil es Muslime sind?“. Jedenfalls stehe es in der kasachischen Kultur nicht gut an, sich zum Opfer zu machen.

In Bezug auf Putin wollte Baberowski dem Publikum keine Hoffnung auf einen Wechsel mitgeben: „In der Krise sind alle Despoten im Vorteil, weil sich alles um sie schart. Fällt Putin, fallen sie alle.“ Wie Stalin habe er seine Gefolgschaft in seine Verbrechen involviert. Ebenso dämpfte er die Erwartung auf eine liberale Phase nach Putin. Die stärksten Parteien seien Kommunisten und Nationalisten; liberale Kräfte waren zuletzt auf den hintersten Plätzen.

Weiterhin warnte er vor einem Zusammenbruch Russlands, was Konsequenzen für die ganze asiatische Region habe. Baberowski mahnte zu einer verantwortungsethischen Politik, die das im Blick haben müsse: „Wie kann man mit Russland operieren, ohne in Feindschaft mit ihm zu geraten?“

Die Aufarbeitung des Stalinismus beschrieb Baberowski als komplexes Projekt. Es sei nicht leicht in einer solchen Aufarbeitung Täter und Opfer zu benennen. Die meisten Täter seien zudem selbst hingerichtet worden. In der Sowjetunion habe man den Terror wie eine Naturkatastrophe hingenommen. Zudem wirke bis heute der Große Vaterländische Krieg als tröstendes Narrativ, das die meisten dankbar angenommen hätten, um endlich als Sieger dazustehen. Für die anderen Völker gäbe es keine Empathie. Sie spielten keine Rolle im russischen Gedächtnis. Die große Tragödie sei, so Baberowski am Ende seines erkenntnisreichen, aber auch ernüchternden Vortrags: „Solange Russland keinen Weg findet aus der imperialen Vergangenheit, wird es gefangen bleiben in imperialen Träumen, statt auf die anderen Völker zuzugehen.“

Prof. Jörg Baberowski
Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt
2012; 606 Seiten; 29,95 Euro

Echo der Vergangenheit

Als die Organisatoren des „Literarischen Frühlings“ Anfang dieses Jahres ihr aktuelles Programm für 2022 herausgaben, konnten sie noch nicht wissen, wie die Entwicklungen in der Ukraine ihrer Top-Veranstaltung, dem Lesedinner mit der Schriftstellerin Katerina Poladjan, zu besonderer Aktualität verhelfen würden. Poladjan (51) ist gebürtige Russin und siedelte 1977 in die Bundesrepublik über. Ihre Romane erhielten zahlreiche Preise – zuletzt den mit 15.000 Euro dotierten Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund – und wurden vielfach in andere Sprachen übersetzt. Ihr aktueller Roman „Zukunftsmusik“, den Moderator Klaus Brill als ihren Durchbruch bezeichnete, stand im Mittelpunkt des vergangenen Freitagabends in Ellershausen nahe Frankenberg/Eder.

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Poladjan ist für die Institution des Literarischen Frühlings keine Unbekannte. Sie trat schön des Öfteren dort auf als Schreib-Dozentin, Vorleserin von Klassikern oder als Interpretin ihrer eigenen Werke. Ungewöhnlich der Standort, der die Karriere vom Kuhstall zum Kulturstall machte: „Zukunftsmusik“ stellte sie vor im „Metzen Alter Kuhstall“, der zwar überwiegend Landmaschinen beherbergt, aber auch so gebaut und umgestaltet wurde, daß er innerhalb kürzester Zeit für eine gehobene Dinner-Veranstaltung umfunktioniert werden kann.

„Metzen Alter Kuhstall“ in Ellershausen

Das Dinner selbst bestand dem Thema des Abends entsprechend aus einem Vier-Gänge-Menü osteuropäischer Spezialitäten wie Sibirische Teigtaschen und dem klassischen Borschtsch, einer Suppe aus Roter Bete. Die Organisation übernahm das Romantik Hotel Landhaus Bärenmühle.

„Zukunftsmusik“ ist ein Roman, der mit eine Antwort zu geben versucht, wie Russland wurde, was es heute ist. An diesem Abend trafen sich die Vergangenheit mit der Gegenwart, um einen Ausblick in die Zukunft zu versuchen. Die Handlung des Romans beginnt am 11. März 1985, einem historischen und schicksalsträchtigen Datum in der Sowjetunion. Der greise Generalsekretär Tschernenko war nach nur wenigen Monaten an der Macht am Vortag verstorben. Ihm folgte bereits einen Tag später Michail Gorbatschow ins Amt, der Mann, der sich an Reform und Rettung der Sowjetunion versuchte und in dieser – letztlich kläglich gescheiterten – Mission die Wiedervereinigung Deutschland ermöglichte.

Erster Gang: Pelmeni Sibirskie, Sibirische Teigtaschen gefüllt mit Rindfleisch und mit buntem Salat.

Der Schauplatz des Romans ist eine Kommunalka im tiefsten Sibirien. Die Kommunalka war in der Sowjetunion eine Wohnform, die der chronischen Wohnungsnot entgegenwirken sollte. Oftmals ehemalige Häuser des Adels und des Großbürgertums wurden von sechs bis sieben Mietparteien aus 40 – 50 Menschen bewohnt, Küche und Bad gemeinsam genutzt. Der zur Verfügung stehende Platz wurde so optimiert, daß man durch größere Zimmer einfach neue Wände zog. In der Regel stand jeder Mietpartei nur ein Zimmer zur Verfügung – die Kommunalka als ein Sinnbild für die Sowjetunion mit ihren vielen Nationalitäten.

Zweiter Gang: Borschtsch, Rote-Bete-Suppe

So auch der Familie von Janka, vier Frauen aus vier Generationen. Janka, mit Anfang 20 im besten Jugendalter, gehört dennoch einer verlorenen und vergessenen Generation an. Die weitgehende Abwesenheit der Männer in dem Plot ist dem Umstand geschuldet, daß diese in jener Epoche oft ein kurzes Leben führten. Der grassierende Wodka-Alkoholismus, der Tod an der Front im Zweiten Weltkrieg oder in Afghanistan ließ ihre Lebenserwartung drastisch sinken. Oder sie saßen einfach im Gefängnis oder Straflager.

Dritter Gang: Kotlety po-Kyjiwski, Hühnchen-Kotelett ohne Knochen, mit Butter gefüllt, Gemüse und Buchweizen-Blini

Ein solches Milieu eröffnet eine besondere Psychodynamik, die durch den ganzen Roman trägt. Die Kommunalka kennt keine Privatsphäre und bringt komplexe Beziehungsgeflechte hervor. Trotz der „heiteren Melancholie“ des Romans, ist es ein ideologisch geprägtes System, in dem sich Kollektiv und Individuum konträr gegenüberstehen.

Poladjan knüpft in ihrer Geschichte an verschiedene Stränge der russischen Literaturtradition an, so zum Beispiel an „Oblomow“, den Roman Iwan Gontscharow über einen in seiner Lethargie gefangenen Adligen. Auch in „Zukunftsmusik“ sind die Protagonisten in der Spätphase der Sowjetunion gleichermaßen in einer ausweglosen Trägheit gefangen: „Sehen Sie, man kann nichts tun.

Wo „Zukunftsmusik“ die Frage nach der Freiheit im damaligen Sowjet-Russland stellt, so ist die Antwort nach Poladjan, daß man in Freiheit sozialisiert werden muß, um Freiheit leben zu können. Unter den Bedingungen der Kommunalka ist das kaum möglich. Und wer in einem „System der Lüge“ lebt, fängt schließlich an, sich selbst zu mißtrauen.

Katerina Poladjan

Auf die Frage nach ihrer Identität bekennt Poladjan offen, daß ihr jeder Sinn für eine nationale Identität fehle, etwas was ihr in ihrem Elternhaus auch nicht vermittelt wurde. Sprache sei für sie „nicht Heimat, sondern das, was gesagt wird“. Zuletzt sei sie durch „Hier sind Löwen“, einem Roman über den türkischen Genozid an den Armeniern, als armenisch stämmige Immigratin eingeordnet worden. Sie jedoch sei eine deutsche Schriftstellerin, die in Russland geboren wurde.

Doch als was immer Katerina Poladjan ihre Identität sieht, die deutschsprachige Literatur kann sich glücklich schätzen, eine derart talentierte Schriftstellerin vorweisen zu können.

Katerina Poladjan
Zukunftsmusik
2022; 192 Seiten, 22,- Euro

Er formte in einem blutigen Bürgerkrieg aus einem Bundesstaat eine Nation

Das historische Porträt: Abraham Lincoln

„Könnte ich die Union retten, ohne auch nur einen Sklaven zu befreien, so würde ich es tun; könnte ich sie retten, indem ich alle Sklaven befreite, so würde ich es tun; und könnte ich die Union retten, indem ich einige Sklaven befreite und andere nicht, so würde ich auch das tun.“
Abraham Lincoln (1862)

Es war eine bemerkenswerte Szene: Im Gerichtsgebäude von Appomattox Court House in Virginia traf am Vormittag des 9. April 1865 der Konföderierten-General Robert E. Lee in tadelloser Uniform auf seinen Gegenspieler Ulysses S. Grant, um ihm die bedingungslose Kapitulation seiner ihm unterstellten und völlig entkräfteten Truppen zu unterbreiten. Richmond, die Hauptstadt der abtrünnigen Südstaaten, war erst wenige Tage zuvor gefallen. Es entspannte sich ein freundliches Gespräch zwischen zwei Gegnern, die sich vier Jahre lang einen äußerst zähen und blutigen Krieg geliefert hatten. Am Ende entließ der Sieger Grant in einer ehrenvollen Parade den unterlegenen Lee und seine Soldaten nach Hause gegen das Versprechen, die Waffen niederzulegen und die Kämpfe nicht wiederaufzunehmen. Entgegen den üblichen Konventionen durften sie sogar ihre Pferde behalten; diese würden für den Wiederaufbau ihrer Heimat gebraucht.

Der eigentliche Triumphator aus dem Sezessionskrieg saß jedoch rund 300 Kilometer nördlich, im Weißen Haus, dem Amtssitz des amerikanischen Präsidenten in Washington: Abraham Lincoln, dessen Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten 1860 als Auslöser der Abspaltung der Südstaaten und damit des 1861 beginnenden Sezessionskrieges gilt.

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Abraham Lincoln (1809-1865)

Lincoln hatte auf seinem Weg in das höchste Amt der USA einen bemerkenswerten Weg zurückgelegt, der an den berühmten amerikanischen Traum „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ erinnert. Am 12. Februar 1809 in einer Blockhütte in Kentucky geboren, wuchs er in den Frontiers des mittleren Westens heran. Seine Kindheit und Jugend waren geprägt von harter körperlicher Arbeit, in der ihm die Möglichkeiten höherer Bildung versagt blieben.

Erst als junger Mann erarbeitete sich Lincoln im Selbststudium das nötige Wissen, um ab 1838 als Anwalt praktizieren zu können. Gleichzeitig nahm er seine politische Karriere in Angriff, deren erste Station ihn in das Parlament des Bundesstaates Illinois führte, erst noch für die national-liberalen Whigs, die später in die neugegründeten Republikaner aufgingen. Neben seiner auffallenden hochgewachsenen, hageren Statur wurde sein Ruf als „honest Abe“, der ehrliche Abe, der es als Selfmademan aus den Frontiers in das Bürgertum geschafft hat, zu seinem Markenzeichen.

1842 folgte die Hochzeit mit Mary Todd. Ihre Herkunft aus einer wohlhabenden Familie von sklavenhaltenden Pflanzern war kein Hindernis; zumal Lincoln bis dahin nicht als radikaler Abolutionist aufgefallen ist. Aus ihrer Ehe sollten schließlich vier Söhne hervorgehen. Mary wurde auch zum antreibenden Motor seines politischen Ehrgeizes.

Mit seinem rhetorischen Talent, seinem Humor und seiner authentischen Volksverbundenheit konnte sich Lincoln zunehmend politisch profilieren. Im Klima der sich verschärfenden Zuspitzung der Gegensätze zwischen den Nord- und den Südstaaten in der Sklavenfrage stieg sein Stern immer weiter auf. Mit der geschickten Instrumentalisierung des republikanischen Parteiapparats gelang ihm schließlich im Mai 1860 die Nominierung als Präsidentschaftskandidat.

Zu diesem Zeitpunkt trieb der Streit zwischen Nord und Süd über die Sklaverei seinem Höhepunkt entgegen. Der Süden mit seiner Agrarwirtschaft wollte auf diese „besondere Institution“ um keinen Preis verzichten und betrieb ihre Ausdehnung auf die neuen Territorien, was der Norden wiederum zu verhindern suchte. Sämtliche Kompromisse, die ein Gleichgewicht herstellen sollten, hatten sich verbraucht. Es bleibt ein historisches Rätsel, warum der Süden unbeirrbar auf seinem Standpunkt beharrte. Konnte noch in der Antike Sklaverei selbstverständlich sein, da Freiheit nur von Wert war, wenn es daneben auch Unfreiheit gab, so konnte unter dem Einfluß der europäischen Aufklärung eine Freiheit nicht mehr auf den Knochen anderer Menschen gedeihen.

In seiner Kampagne setzt Lincoln vor allem auf industriellen Fortschritt, Schutzzollpolitik, den Ausbau der Infrastruktur und die Rechte der Einwanderer. In letzterem zeigte sich der zunehmende Einfluß der Immigration aus Deutschland, vor allem nach der gescheiterten Revolution von 1848. Diese Wählergruppe, zu der auch ein namhafter deutscher Exilant namens Carl Schurz – US-Innenminister von 1877-1881 – zählte, erwies sich als starke Stütze von Lincolns Kampagne.

Mit nur 40 Prozent der Stimmen, aber der überwältigenden Mehrheit der Wahlmännerstimmen, konnte Lincoln die Präsidentschaftswahl im November 1860 gegen drei Gegenkandidaten für sich entscheiden. Die fortschreitende Zersplitterung des Landes zeigte sich in dieser Wahl schon allein daran, daß es den Demokraten – zum Vorteil Lincolns – nicht gelang, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen.

Obwohl Lincolns Programm keineswegs die Abschaffung der Sklaverei vorsah, sondern vielmehr ihre Eindämmung, nahmen die Südstaaten seine Wahl wiederum zum Anlaß, aus der Union auszutreten und die Konföderierten Staaten von Amerika (CSA) zu konstituieren. Als Lincoln am 4. März 1861 in sein Amt eingeführt wurde, waren die USA faktisch ein geteiltes Land.

Lincoln konnte in seinem politischen Selbstverständnis diese Spaltung nicht hinnehmen, stellte sie doch den Erfolg des amerikanischen Experiments, als das die USA gegründet waren und dem er sich zutiefst verpflichtet fühlte, in Frage. Konnte eine demokratische Republik auf Dauer Bestand haben, wenn es der bei einer Abstimmung unterlegenen Minderheit gestattet war, aus dieser auszutreten? Lincoln nahm die Herausforderung des sich aus dieser Frage ergebenden Sezessionskrieges an. Es gab durchaus kritische Stimmen, die Zweifel hatten an dem „Erhalt einer Union allein auf der Macht der Bajonette“.

Den Rest der verbliebenen Union dennoch auf diesen Bürgerkrieg einzuschwören, war Lincolns erste herausragende Leistung als Präsident.
Bis dahin und auch danach wurde auf dem amerikanischen Doppelkontinent keine kriegerische Auseinandersetzung mit einer derartigen Totalität ausgefochten wie im vierjährigen Ringen des Sezessionskriegs. Sein Blutzoll belief sich auf weit über 500.000 Soldaten. In seinen Materialschlachten, in denen ganze Massenheere kämpften, und für die Namen wie Bull Run, Shilo, Vicksburg, Antietam und Gettysburg stehen, nahm er als erster moderner Volkskrieg das Grauen des Ersten Weltkriegs vorweg.

„Amerikas blutigster Tag“: Die Schlacht am Antietam (17. Sept. 1862), Kurz & Allison

Politisch sollte der Sezessionskrieg auch das Schwert werden, das den schier unlösbar erscheinenden Knoten der Sklavereifrage durchtrennte. Um die Südstaaten zu schwächen, die europäischen Mächte aus dem Konflikt herauszuhalten und der eigenen Seite eine höhere moralische Rechtfertigung zu geben, verfügte Lincoln für den 1. Januar 1863 die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten, als letzten Schritt vor ihrer endgültigen Abschaffung in der gesamten Union 1865.

Dabei muß festgehalten werden, daß Lincoln erst im Laufe seiner Amtszeit von gewissen früheren Positionen in der Frage der künftigen Stellung der Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft abrückte. Vertrat er zuvor noch die Ansicht, die Schwarzen könnten niemals gleichwertige Bürger werden und sollten im Rahmen eines Rekolonialisierungsprojektes wieder nach Afrika zurückgeführt werden, vollzog er als Präsident vor allem unter dem Einfluß des Aktivisten Frederick Douglass, einem früheren Sklaven, eine Wende, in der er ihre soziale Gleichheit mit den Weißen befürwortete.

Den Kipppunkt zum Sieg erreichten die Nordstaaten mit einem Strategiewechsel, indem sie den totalen Krieg auf eine neue Stufe hoben. Mit dem neuen Oberbefehlshaber Grant an der Spitze wurden die Kampfhandlungen an allen Fronten ausgedehnt. Und als besonders effektiv sollte sich die Einbeziehung der Zivilbevölkerung in den Südstaaten zeigen. „Sherman‘s Raid“, der Marsch des Nordstaaten-Generals William T. Sherman nach Savannah am Atlantik, in welchem er mit seiner Armee wie ein alles verschlingender Lindwurm eine Schneise der Verwüstung hinter sich herzog, trennte den Süden in zwei Hälften. Das von Unionssoldaten angesteckte Atlanta sollte für den Süden zum Fanal werden. Der Konföderation sollte ökonomisch endgültig das Genick gebrochen und ihrer Bevölkerung jeder Geschmack an einer Rebellion genommen werden.

Mit dem Ende des Sezessionskrieges hatte Lincoln seinen Platz als bedeutendster Präsident der USA sicher. Er rettete die Union vor ihrem Zerfall und damit die Idee der Demokratie. Er organisierte 1864 unter den Bedingungen eines auf eigenen Boden ausgetragenen Krieges eine Präsidentschaftswahl, die er gegen die gegenüber dem Süden kompromißbereiten Demokraten schließlich mit Bravour gewann. Und er beendete den Skandal der die Werte der amerikanischen Verfassung untergrabenden Sklaverei. Lincoln war der „konservative Revolutionär“, der aus einer Union von Einzelstaaten eine Nation formte und damit den „Grundstock für die ‚imperiale Präsidentschaft‘ des 20. Jahrhunderts“ legte (Jörg Nagler).

Doch auf der anderen Seite steht sein „laxer Umgang“ mit den Bürgerrechten, der ihm oft den Vorwurf des „Diktators“ einbrachte. Die Aufhebung des Habeas Corpus Acts, der willkürliche Verhaftungen ohne richterlichen Beschluß verbot, stellte keine Banalität dar und wurde nach dem Krieg vom Obersten Gericht einkassiert. Immerhin mußte für die Implementierung dieses Bürgerrechts im englischen Mutterland rund 200 Jahre zuvor ein König seinen Kopf rollen lassen.

Noch schwerer jedoch wiegt die Strategie der verbrannten Erde, mit der der Süden überzogen wurde, obwohl in Lincolns Regierung anfangs noch Grundsätze eines die Zivilbevölkerung schützenden, fortschrittlichen Kriegsrechts formuliert wurden.

In diesem Punkt geht der Lincoln-Biograph Jörg Nagler mit dem Präsidenten kritisch ins Gericht: „Inwieweit er über die Einzelheiten des Vernichtungsfeldzuges und seiner Auswirkungen informiert war, ist nicht bekannt. (…). Trotzdem muß Lincoln sie erkannt haben. Er hat die [verheerenden zivilen Konsequenzen] nicht nur toleriert, sondern Sherman nach deren ‚erfolgreichem‘ Abschluß seine ‚dankbare Anerkennung‘ ausgesprochen, was einen dunklen Fleck in der Beurteilung seiner Persönlichkeit und moralischen Integrität hinterlassen hat.

Den Triumph des Sieges konnte Lincoln nicht lange auskosten. Bereits sechs Tage später, am 15. April – einem Karfreitag -, erlag er einem Attentat des Südstaaten-Extremisten John Wilkes Booth, das dieser auf ihn während einer Theateraufführung im Beisein seiner Ehefrau Mary in Washington verübte. Ist Lincoln schon im Leben zu einzigartiger Größe aufgestiegen, so sollte ihm dieser Tod an einem Karfreitag unmittelbar nach dem Sieg noch eine die politische Kultur der USA kennzeichnende zivilreligiöse Weihe – ikonisch verstärkt mit den bekannten späten Porträts, in denen Lincoln die Last des Amtes regelrecht in sein Gesicht eingetrieben schien – zum bis heute wirksamen nationalen Märtyrer-Mythos geben.

Doch 150 Jahre nach seinem Tod hat die Strahlkraft von Lincolns Mythos spürbar nachgelassen. Amerikans Demokratie steht stärker unter Druck denn je. Spätestens zur Präsidentschaftswahl 2016 zwischen Hillary Clinton und Donald Trump wurde eine neue Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft offenbar, deren Gräben sich nicht geographisch einordnen lassen. Sie ziehen sich zwischen Generationen und Rassen, trennen liberale urbane Zentren von konservativen ländlichen Regionen, scheiden kosmopolitische Anywheres von verwurzelten Somewheres.

Es ist eine merkwürdige Volte der Geschichte, daß in diesem Kulturkampf der Furor der „woken“ Bewegung nicht allein die Denkmäler der konföderierten Kriegshelden wie Lee vom Sockel stürzt, sondern die Hand sogar an Lincolns Erbe legt: Aus San Franciso wurde der – letztlich aufgrund des Widerstands der Eltern gescheiterte – Versuch einer linksliberalen Schulbehörde bekannt, „im Namen der sozialen Gerechtigkeit“ Lincoln als Namensgeber von Lehranstalten zu streichen, aufgrund seiner gegenüber den Indianern ablehnenden Haltung.

Die USA befinden sich unbezweifelbar in einem „kalten Bürgerkrieg“ und die Angst, daß aus diesem ein heißer werden könnte, ist allgegenwärtig. Und ob Präsident Joe Biden das Talent und das Format besitzt, diese Gegensätze miteinander zu versöhnen und einen neuen Konsens herzustellen vermag, ist noch vollkommen offen.

 Jörg Nagler
Abraham Lincoln. Amerikas großer Präsident
2009; 464 Seiten
Ken Burns
Civil War – Der Amerikanische Bürgerkrieg [5 DVDs]
1990; 11 h:15 Min.
Günter Schomaekers
Der Bürgerkrieg in Nordamerika
1977; 160 Seiten
Torben Lütjen
Amerika im Kalten Bürgerkrieg – Wie ein Land seine Mitte verliert
2020; 208 Seiten, 20,- Euro