Das Herbstrascheln im Blätterwald

Im Herbst raschelt in Südniedersachsen nicht nur das Herbstlaub, auch der Blätterwald gerät in Bewegung. Dann ist im Oktober die Zeit gekommen für den Göttinger Literaturherbst, eine seit über 30 Jahren bestehende Kulturinstitution. Auch in diesem Jahr bot das Programm den Auftritt zahlreicher Schriftsteller, die ihre aktuellen Werke und ihr Schaffen insgesamt vorstellen. Aus dem Programm von 2023 sollen hier drei von ihnen näher vorgestellt werden.

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Andrej Kurkow: Der russischsprachige Ukrainer

Erstaunlich gering war das Interesse für Andrej Kurkow. Der 1961 in Leningrad geborene Ukrainer zählt sich zur russischsprachigen Minderheit der Ukraine und hat sich mit Romanen wie „Picknick auf dem Eis“ (1999) und „Graue Bienen“ (2019) erfolgreich international als Schriftsteller etabliert. Doch nicht nur Romane, auch Kinder-Bilderbücher wie das von Tania Goryushina illustrierte „Warum den Igel keiner streichelt“ gehören zu seinen Werken. Trotz des Ukrainekrieges, den er mit seinem „Tagebuch einer Invasion“ (2022) beobachtete, war am Freitagabend des 27. Oktober das Alte Rathaus bestenfalls zu einem Viertel mit Zuschauern belegt. Ein Zeichen dafür, daß das deutsche Publikum dieses Krieges überdrüssig ist?

Andrej Kurkow / © D. Körtel

Kurkov jedenfalls hatte sein neues Buch „Samson und das gestohlene Herz“ mit im Gepäck, aus dem der polyglotte Ukrainer mit russischer Muttersprache in einwandfreiem Deutsch vorlas. Es ist der Folgeband von „Samson und Nadjeschda“, einer Kriminalgeschichte aus dem Kiew von 1919, aus der Phase des Bürgerkriegs, die sich der bolschewistischen Revolution von 1917 anschloß. Obwohl es der Titel nahelegt, ist der Hintergrund der Geschichte keine Romanze, sondern spielt im Fleischgewerbe Kiews. Sein Held, der Ermittler Samson, hat nichts mit seinem biblischen Namensvetter gemeinsam, sondern versucht einfach nur zu überleben.

Auf das Thema des Krieges in der Ukraine wurde natürlich auch eingegangen. Kurkow gab einen kritischen Hieb auf die russische Literatur, die im Gegensatz zur ukrainischen vollkommen humorlos sei: „Dostojewski“, der große russische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, „ist nicht lustig.“

Als Folge des Krieges sieht er die russische Sprache in der Ukraine im Niedergang. Viele Jüngere wollten sie nicht mehr sprechen. Auch physisch werde es immer weniger Russischsprechende geben: „Die russische Kultur und Sprache wird künftig keine Rolle mehr in der Ukraine spielen“, so Kurkov ohne jedes Bedauern in der Stimme.

Die militärische Situation sieht er als konsolidiert an: „Es gibt Hoffnung.“ Im Gegensatz zum Bürgerkrieg, als sechs Armeen um die Macht in Kiew kämpften, stehe die Ukraine nur noch einem Feind gegenüber.

Hoffnung darauf, daß sich negative Einstellungen ändern können, schöpft Kurkow aus der Erfahrung, als er mit elf Jahren es ablehnte, in der Schule das Fach Deutsch zu lernen: Weil die Deutschen im Zweiten Weltkrieg seinen Großvater umbrachten. Doch immerhin, mit 36 Jahren änderte er seine Meinung.

Richard Ford: Das letzte Kapitel im Leben des Frank Bascombe

Zu den Stargästen des diesjährigen Literaturherbstes zählt zweifellos Richard Ford. Der US-Amerikaner aus New Jersey feiert vor allem mit seiner Romanreihe über das Leben seines Protagonisten Frank Bascombe weltweit Erfolge. Aktuell ist das fünfte und letzte Buch erschienen, „Valentinstag“, in dem der gealterte Frank Bascombe an eben jenem Feiertag mit seinem todkranken Sohn eine Reise zum Mount Rushmore unternimmt, jenem ikonischen Denkmal im US-Bundesstaat South Dakota, das in gigantischer Form die Köpfe der US-Präsidenten George Washington, Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt und Abraham Lincoln ziert. Auf ihrer besonderen Reise vertauschen Vater und Sohn oft die Rollen, eine Beziehung voller Urgefühle.

Die NDR-Journalistin Margarete von Schwarzkopf suchte am Sonntagabend des 29. Oktober in der restlos ausverkauften Sheddachhale das Gespräch mit Ford, unterstützt von dem Schauspieler Benno Führmann („Babylon“), der Textpassagen aus „Valentinstag“ vortrug. Alle drei ergaben ein sich perfekt ergänzendes Ensemble, das nicht nur seinen Spaß miteinander hatte, sondern diesen auch in das Publikum vermitteln konnte. Naheliegend galt ihr Interesse vor allem dem Protagonisten Bascombe, in dem man ein Alter Ego seines Schöpfers vermuten könnte. Denn beide sind fast gleich alt – Bascombe 74, Ford 79 – und Ford war zeitweise – wie Bascombe – Sportreporter, bevor er hauptberuflich Schriftsteller wurde. Bascombe, so Ford, ist eine spezielle Figur, kein Durchschnitts-Amerikaner, wie vielleicht viele Leser vermuten würden. Diese Vorstellung eines Durchschnitts-Amerikaners sieht Ford auch als abwegig an. „Valentinstag“ ist trotz des traurigen Hintergrunds auch eine Geschichte über Glück, denn: „Glück ist, wenn man Unglück hinter sich läßt.“ Seine Ehefrau, so Ford, sagte ihm: „Schreib über glückliche Menschen.“ Und vielleicht ist das der verborgene Kern von „Valentinstag“, daß man sich Frank Bascombe als einen solchen glücklichen Menschen vorstellen muß. Und so war es diese Stelle aus dem Prolog von „Valentinstag“, die Führmann mit so viel Eleganz vortrug, die die Zuhörer wohl am meisten berührte:

Wozu nicht mehr viel zu sagen ist. Wie kommt es, dass eine lange schlafende Idee wieder zum Leben erwacht und als komplett erneuertes Ziel ihr strahlend helles Lebensbanner schwenkt? Glücklich sein – bevor der graue Vorhang fällt. Oder zumindest drüber nachdenken, warum du es nicht bist, wenn du es nicht bist. Und ob es überhaupt was bringt, sich darum zu scheren. Was ich behaupten würde. Es bringt was, sich darum zu scheren – mehr Sicherheiten habe ich allerdings auch nicht anzubieten. Aber wer zur Tür hinausgeht (das wusste meine Mutter, das »wusste« sogar Pug Minokur, falls er überhaupt etwas wusste) und sich nicht darum schert, ob er glücklich ist, der zollt dem Leben weniger als den vollen Tribut. Was doch schließlich unser Daseinsgrund ist. Dem Leben seinen vollen Tribut zu zollen, egal wer wir sind. Oder etwa nicht?

Natürlich vermittelt „Valentinstag“ auch einen Eindruck über „die Lage des Landes“ (so wie der gleichnamige dritte Titel der Bascombe-Reihe). Mit dem Mount Rushmore verbindet Ford ein Erlebnis, als er zur gleichen Zeit dort war wie US-Präsident Donald Trump, dessen Blick auf das kolossale Monument ihm erschien, als wolle jener auch sein Abbild dort sehen.

Die Fahrt von Minnesota zum Mount Rushmore folgt einer korrupten amerikanischen Tradition, in der sich die Nation von Ost nach West bewegte, dabei alles unter ihr ruinierend. Amerika sei heute ein gefährdetes und gefährliches Land. Dennoch sagt Ford von sich: „I am an american patriot, even today – ich bin ein amerikanischer Patriot, selbst heute.“

Richard Ford / © D. Körtel

Seinen Weg zum Schriftsteller beschreibt Ford als einen mit Brüchen. Auf zwei erfolglose Bücher in den 1970ern folgte eine Phase als Sportreporter, bevor er in den 1980er Jahren zum Durchbruch fand. Sein Schreibprozeß bringt in dem, was seine Figuren tun, immer wieder Überraschungen hervor; die Rollen sind nicht vorgeschrieben. In all seinen Büchern suche er nach der Gelegenheit, daß jemand sagt: Ich liebe dich. Schreiben selbst sei nicht hart. Er sei darin aufgegangen. Und wie mit einem Augenzwinkern: Auch müsse er aufgrund seines Alters keine Rücksicht auf die political correctness nehmen.

Frank Bascombe ist am letzten Kapitel seines Lebens angelangt. Doch damit ist sein Schöpfer Richard Ford noch lange nicht am Ende. Zwar fühle er sich nach jedem Buch leer. So zog er das rote Notizbuch aus seinem Jackett, in dem er immer die Ideen für neue Geschichten hineinschreibt, die ihm unterwegs einfallen. Der alte weiße Mann aus New Jersey wird uns bestimmt noch was zu erzählen haben. Das Publikum wird es mit Beruhigung aufgenommen haben.

Richard G. Kratz: Gottes Wort aus der Höhle

Was 1947 Beduinen zufällig in einer Höhle am Toten Meer entdeckten, sollte sich als der bedeutendste Fund aus der Antike erweisen. Die darin vorgefundenen Tonkrüge enthielten Schriftrollen mit den ältesten Niederschriften der hebräischen Bibel, des Alten Testament. Die Schriftrollen von Khirbet Qumran wurden zur Sensation über die Fachwelt hinaus. Erst 1991 wurde ihr Inhalt vollständig freigegeben.

Wenn es einen deutschen Experten für Qumran gibt, dann Reinhard G. Kratz. Der Professor für Altes Testament an der Georg-August-Universität Göttingen ist auch Leiter der Qumran-Forschungsstelle der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Am 1. November stellte er im Gespräch mit Jonas Maatsch, Generalsekretär der Akademie, in der Alten Mensa sein 2022 erschienenes Fachbuch „Qumran“ mit dem aktuellen Erkenntnisstand vor.
Obgleich anspruchsvolles Fachbuch, so versicherte Kratz zu Beginn, daß das Lektorat des Verlags Beck auf gute Lesbarkeit geachtet hätte. Auch konnte ein Hinweis auf die aktuellen Vorgänge über den Ausbruch antisemitischer Ressentiments nicht ausbleiben.

Richard G. Kratz (re.) / © D. Körtel

Die in Qumran vorgefundenen Handschriften enthalten alle Bücher der Hebräischen Bibel, bis auf das Buch Ester, zuzüglich parabiblische Texte wie apokryphe Psalmen, die nicht in den biblischen Kanon kamen. Hinzu kommen auch – anonyme – Texte der in Qumran siedelnden Gruppe selbst. Ein kurioses Detail: Auch in kryptischer Schrift verfasste Texte sind aufgefunden worden, deren Inhalt sich nach ihrer Entschlüsselung allerdings als banal erwiesen. Warum sie dennoch verschlüsselt worden sind, sei ein Rätsel, so Kratz.

Die in Quamran aktive Gemeinschaft hält Kratz nicht identisch mit der fundamentalistischen Bewegung der Essener, auch wenn Schnittmengen durchaus erkennbar seien. Ehelosigkeit wie bei den Essenern wurde dort nicht praktiziert. Auch sei Qumran kein Zentrum gewesen. Seine Lage an einer belebten Straße mache es nicht zu einem Rückzugsort. Hier sei so etwas wie ein „Club“, der über mehrere Niederlassungen verfüge, aktiv gewesen, eine Bewegung frommer Zellen, die sich nach dem Vorbild antiker griechischer Vereine organisiert habe. Ihre Mitglieder standen zueinander in Gütergemeinschaft, „geistige Aussteiger“ mit Familien und in normalen Berufen tätig, deren subversive Ideologie sie abgeschirmt habe von der Versammlung der „Männer des Frevels“, also ein radikales Gegenbild des „wahren Israel / Juda“. Kratz beschrieb weiter die inneren Verhältnisse der Qumran-Gemeinschaft als die eines Kultes, in dem üblicherweise die Verstöße gegen die Gemeinschaftsordnung am härtesten bestraft wurden, in der Regel mit – temporärem – Gemeinschaftsentzug.

Die populäre Selbstbezeichnung der heutigen Klimabewegung aufgreifend, nannte Kratz die Gemeinschaft von Qumran aufgrund ihres eschatologischen – also eine nahe Endzeit des göttlichen Eingreifens erwartenden – Charakters die „Letzte Generation“. Und in gewisser Weise war sie es auch, bis sie im Zuge der römischen Niederwerfung des jüdischen Aufstands (66 – 70 n. Chr.) ausgelöscht wurde.

Die bemerkenswerteste Erkenntnis fiel zum Ende. Die in Qumran vorgefundenen Texte sind durchaus nicht identisch und weisen gewisse Abweichungen zueinander auf, was die Gültigkeit heutiger Fassungen eigentlich in Frage stellen sollte. Für die Zeit damals jedoch waren diese Abweichungen kein Problem, das die Heiligkeit der Texte in Frage stellen sollte, denn diese -so Kratz – lag nicht in ihren Buchstaben. Denn nach dem Verständnis ihrer Schreiber war der eigentliche Autor immer Gott.

In Ishmaels Haus

Derzeit schreibt die Hamas am nächsten blutigen Kapitel in der komplexen Geschichte des Zusammenlebens zwischen Juden und Muslimen. Der britische Historiker Martin Gilbert hat diese Historie in seinem Standardwerk „In Ishmael’s House“ eingehend dargestellt. Vor zwei Jahren hatte ich dieses Buch für die Junge Freiheit rezensiert. Aus Anlaß der aktuellen Ereignisse in Nahost stelle ich den entsprechenden Beitrag wieder voran:

Leben unter Vorbehalt – die Juden unter muslimischer Herrschaft – DIE BÜCHERWAND (die-buecherwand.de)

Vereint, doch einander fremd

„Und sie sagte zu mir: ‚Wissen Sie, das ist ja sehr schön, daß Sie heute Abend hergekommen sind, und ich merke natürlich auch, wie aufgeschlossen Sie sind für alles was hier vorgeht und was uns umtreibt und beschäftigt. Aber ich bleibe dabei, die Fremdheit zwischen Ost und West ist ein Faktor, der auch 30 Jahre nach dem Mauerfall nicht zu bestreiten ist. Und das ist eure Schuld! Das ist die Schuld des Westens, das ist die Schuld der Wessis.‘“ (Der Historiker Karlheinz Weißmann über einen Besuch bei einer jungen Akademikerin in Schwerin im Jahr 2020)

Am heutigen 3. Oktober 2023 feiert Deutschland den 33. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung. Nur noch wenige Jahre und das wiedervereinigte Deutschland ist älter als die DDR, die mit dem 3. Oktober 1990 aufhörte als Staat zu existieren. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, brachte der frühere Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) die Euphorie der damaligen Zeit in einem berühmt gewordenen Satz zum Ausdruck. Deutschland war in diesen Tagen ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer. Schon ein Jahr später trat Ernüchterung ein und die Fahnen verschwanden selbst zu diesem Anlaß. Der „Aufbau Ost“ -und mit ihm der „Wohlstand für alle“ – ließ auf sich warten, und die ehemaligen Bewohner fragten sich, ob sie lediglich Verfügungsmasse eines „Anschlußgebietes“ waren.

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Verwittertes Wahlplakat der CDU zur Volkskammerwahl 1990,
aufgenommen in Westerhausen ca. 1994 / © Daniel Körtel

Auch mehr als drei Jahrzehnte konnten die durch 40 Jahre Teilung entstandenen Gräben nicht überwinden. Zwar hat sich die ökonomische Situation gebessert, aber mental bestehen Unterschiede zwischen West und Ost, die am deutlichsten im Wahlverhalten zutage treten. Nur in der ehemaligen DDR ist die im Westen gegründete AfD Volkspartei. Hier tritt eine außerordentliche Renitenz gegen die vermeintlichen Segnungen progressiven Strebens zutage, die ihr Ventil nicht nur gegen „die da oben“ sucht, sondern auch gegen die „Scheiß-Wessis“. Wächst in Wahrheit auseinander, was einstmals zusammengehörte…?

„Abbruch Ost“, aufgenommen in Sonneberg im November 2004 / © Daniel Körtel

Es sind zwei Bücher, die in diesem Jahr als Bestseller zum Thema herausragen. Da ist zum einen „Diesseits der Mauer“ der in der Vorwendezeit im Osten geborenen, heutigen Wahlbritin Katja Hoyer, die die Geschichte der DDR aus einer ungewöhnlichen Perspektive erzählt. Zum anderen die Streitschrift „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ des 1967 in Gera geborenen Germanisten Prof. Dr. Dirk Oschmann. Anläßlich dieses heutigen Feiertages sollen beide Bücher hier näher vorgestellt werden.

Mehr als nur Mauer und Stacheldraht?

Bisherige historische Darstellungen nahmen vor allem die Opfer des DDR-Repressionsapparats in den Fokus, vor allem die Staatssicherheit – kurz „Stasi“ – auch bekannt als „Schild und Schwert“ der SED. Einen neuen und ungewohnten Ansatz verfolgt die Historikerin Katja Hoyer mit ihrer umfangreichen Monographie „Diesseits der Mauer: Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990“.

Sie beginnt mit der Ankunft der künftigen kommunistischen Elite unmittelbar nach der sowjetischen Einnahme von Berlin. Es ist eine Gruppe deutscher Kommunisten mit Walter Ulbricht – dem künftigen Staatsratsvorsitzenden der DDR – an der Spitze, an denen sie ein markantes Merkmal hervorhebt: Sie alle haben die stalinistischen Säuberungen „durch die Abkehr jeglicher Moral überlebt“. Hoyers deutliche Schilderungen der sowjetischen Übergriffe wie die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen, die Raubzüge der Rotarmisten und ihre Rückwirkungen auf die Deutschen sowie die zunehmende politische Unterdrückung durch die Besatzer lassen jedenfalls keinen Spielraum für die Annahme, es hätte irgendein Einvernehmen zwischen den Bewohnern der DDR und ihren sowjetischen Besatzern gegeben, das die heutige angebliche Putin- und Russlandsympathie in Ostdeutschland erklären könnte.

Obgleich Stalins Vorstellungen zur Zukunft Deutschlands sehr diffus waren, und er durchaus Offenheit zeigte für einen Fortbestand Deutschlands als einheitlicher, neutraler Staat mit Armee, zementierte der anbrechende Ost-West-Konflikt die Teilung in eine mit den westlichen Demokratien eng verbundene Bundesrepublik und eine am sowjetischen Modell orientierte DDR. Letztere nennt Hoyer „eher ein deutsches als sowjetisches Projekt“, dessen dauerhafte Existenz als SED-Staat gleichwohl – wie das Ende des Aufstandes von 17. Juni 1953 wie umgekehrt auch die Ereignisse von 1989 belegen – einzig auf der Macht der Bajonette der Roten Armee beruhte.

Nicht allein die ideologische Wirtschaftspolitik war das große Manko im Wiederaufbau der DDR nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges. Ebenso wirkten sich hemmend aus das Fehlen eines industriellen Kerns, der Mangel an effektiven Energieträgern (es gab nur die minderwertige Braunkohle), die Folgen der Reparationen, der Zwangslieferungen in die Sowjetunion und ebenso die Wirkungen der Hallstein-Doktrin der Bundesrepublik, die die DDR international isolieren sollte.

Dennoch nahmen sich Hoyer zufolge die DDR-Bürger der Aufgabe des Wiederaufbaus Ostdeutschlands als sozialistischen Staats mit Stolz, Begeisterung und Hingabe an. Nach den unersprießlichen Jahren der Weimarer Republik und NS-Regimes boten sich den Arbeitern erstmals die Chancen auf Aufstieg, Statusgewinn und Wohlstand:

„So breit der Aufstand von 1953 auch gewesen war, so sehr hatte er auch viele Menschen landauf, landab aufgeschreckt. Zehntausende junge Menschen aus dem Arbeitermilieu wurden zum Studium ermutigt, in Führungspositionen befördert und erhielten Stipendien. Ein signifikanter Teil dieser Bevölkerung sah in Ulbrichts Regime die Inkarnation eines Deutschlands, das für sie kämpfte.“

Sogar ein Apparatschik wie Ulbricht zeigte sich durchaus offen für andere Ansätze in der Wirtschaftspolitik als die des dogmatischen Kommunismus. Die 1960er Jahre boten so die besten Aussichten auf „eine stabile und prosperierende Gesellschaft“, in der „die rigorose Repression der späten 1950er-Jahre allmählich einer Neuorientierung der Beziehungen zwischen der regierenden SED und der Bevölkerung [wich]“.

Dem stand auch nicht der Bau der Mauer entgegen. Hoyer über die Zeit nach dem Mauerbau:

„Das bedeutete, dass Mittelschicht und Facharbeiter einen Weg finden mussten, mit der Situation zu leben, während der Rest der Gesellschaft aufhörte, sich um den Mangel an Ärzten, Zahnärzten, Wissenschaftlern und Bauarbeitern zu sorgen. Es gab bemerkenswerte Ausnahmen, aber im Großen und Ganzen war es so, als ob das Land kollektiv mit den Schultern zuckte und zurück zur Arbeit ging.“

Aktion der „Jungen Konservativen“ zum Gedenken an den Mauerbau;
Brandenburger Tor, August 2002 / © Daniel Körtel

Vorzeigeprojekte dieser Zeit waren das Neubaugebiet Halle-Neustadt und die Neugestaltung des Ostberliner Alexanderplatzes mit seiner berühmten Weltzeituhr, wenngleich – was Hoyer nicht erwähnt – solche Maßnahmen auf Kosten der Provinz gingen, die in Folge allmählich dem Verfall preisgegeben wurde. Dennoch mag man sich durchaus vorstellen, daß beide Orte damals ein sehr viel besseres Bild lieferten als heute, wo sie zu regelrechten Shitholes verkommen sind. Und das ist keineswegs als Kompliment an die damalige DDR-Staatsführung gemeint. Wer kann da den Ostdeutschen schon ihre Verbitterung verdenken darüber, wie die wertvollsten Früchte ihrer Arbeit nach der Wende derart verdarben?

Halle-Neustadt, aufgenommen im August 2023 / Quelle: N.N.

Auf Ulbricht folgte anfangs der 1970er-Jahre der konservativ-dogmatische Honecker und mit ihm eine Verhärtung der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse. An die Stelle der Aufbruchstimmung trat Normalität, aber auch Langeweile und damit auch die sklerotische Erstarrung des Systems – eine „komfortable, jedoch perspektivlose Lethargie“. Vor allem die Jugend kehrte sich ab. Honeckers Versuch, die Bevölkerung durch die Steigerung des Konsums zu gewinnen, überforderte die wirtschaftlichen Möglichkeiten derart, daß Mitte der 1980er-Jahre nur noch der ausgerechnet über den westdeutschen, „erzreaktionären“ CSU-Politiker und bayrischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß eingefädelte Milliardenkredit bei der Bundesrepublik die DDR vor dem Bankrott retten konnte.

Die ökonomischen Randbedingungen verschlechterten sich zunehmend – vor allem durch den Bruch des sowjetischen Versprechens auf billige Öllieferungen -, während Honecker wiederum sich auf dem außenpolitischen Parkett von dem sowjetischen „Bruderstaat“ zu emanzipieren suchte – durchaus mit gewissen Erfolg -, um sich die Reformpolitik Gorbatschows vom Hals zu halten. Dieser wiederum ließ ihn dann im Wendeherbst 1989, der das Endspiel für die DDR einleitete, fallen wie eine heiße Kartoffel.

Hoyer hat schon durch ihre Herkunft – 1985 geboren im brandenburgischen Guben– eine naturgegebene Verbindung zu der Thematik der Geschichte der DDR. Die deutsche Historikerin lebt seit zwölf Jahren in Großbritannien, wo sie mit „Blood and Iron: The Rise and Fall of the German Empire 1871–1918“ bereits einen Bestseller schrieb, dem nun mit „Diesseits der Mauer“ eine deutschsprachige Veröffentlichung folgte.

Die Reaktionen auf ihr neues Buch fielen sehr breit aus. Während die Presse „Diesseits der Mauer“ fast schon euphorisch lobte, fiel die Fachkritik drastisch ins Negative aus. Die Publizistin Ines Geipel warf der Autorin einen „unverhohlenen Revisionskurs“ vor, während der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ihr Verzerrungen und Auslassungen vorhielt.

„Aktion Festigung“: Im Oktober 1961 vertrieb die DDR-Staatsmacht angeblich unzuverlässige Personen aus dem Grenzgebiet; aufgenommen in Faulungen / © Daniel Körtel

Und in der Tat wirken manche Ansichten der Autorin befremdlich. Da ist zum beispielsweise der auch von ihr vertretene Mythos von der DDR als ein Staat, der die Nazi-Vergangenheit gründlicher bewältigte und die Verbrechen der Nazis schärfer ahndete, als es in der Bundesrepublik geschah. Doch auch die DDR hat Nazi-Funktionäre allzu bereitwillig absorbiert, allerdings in Stille, und so neue Karrieremöglichkeiten eröffnet. Erwähnt sei hier nur allein jener kuriose Staatsanwalt, der der Blutrichterin Hilde Benjamin assistierte, und der als Beamter vorher allein mit dem Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem Dritten Reich drei gänzlich verschiedenen Systemen diente.

Zum anderen erhält der Leser im Kapitel um den DDR-Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich 1976 in Zeitz aus Protest gegen das kirchenfeindliche SED-Regime selbstverbrannte, einen fast schon verharmlosenden Eindruck vom Leben bekennender Christen in der DDR. Zwar benennt Hoyer den Abriss von intakten Kirchen und die Sabotage von kirchlichen Praktiken. Hier bezeichnet sie die atheistische Jugendweihe als „säkulares Äquivalent zur Konfirmation“, was tatsächlich als Konkurrenzangebot gedacht war. Dennoch ist sich Hoyer sicher:

„Tatsache war jedoch auch, dass die meisten Christen sich mit dem System arrangiert hatten, ebenso wie das System sich mit ihnen.“

In der Praxis sah dieses scheinbare Einvernehmen so aus, daß Christen sehr wohl Diskriminierungen ausgesetzt waren, so daß ihnen Abitur und Studium verwehrt blieben. So auch im Fall des erst kürzlich im hohen Alter von 94 Jahren verstorbenen Landpfarrers Uwe Holmer, der aus Nächstenliebe dem Ehepaar Honecker nach dessen Sturz für zehn Wochen Obdach und Schutz gewährte. Seinen zehn Kindern wurde in der DDR allesamt der Zugang zu einer höheren Schule verweigert. Und niemand in der SED-Staatsführung hat diese Diskriminierung erbitterter betrieben als die Ministerin für Volksbildung Margot Honecker.

Es besteht kein Zweifel: Wer Hoyer liest, könnte durchaus auf den Gedanken kommen, die DDR sei eine „kommode Diktatur“ gewesen, ja sogar ein normaler Staat, mit der sich die Mehrheit ihrer Bewohner identifizieren konnte. Hoyer spricht davon, wie den Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung durch den Westen eine Art „Ballast“ durch eine Vergangenheit zugesprochen wurde, die infolge des Sieges des westlichen Systems restlos entwertet wurde. Es ist ein Narrativ, das seit der Wende besonders von den SED-Nachfolgern PDS und später der Linkspartei gepflegt wurde. Im Fall Hoyers ist das durchaus erklärlich durch den familiären Hintergrund; ihre Eltern waren als NVA-Offizier und Lehrerin Nutznießer des DDR-Systems.

Doch wie es um die Verhältnisse in der DDR tatsächlich bestellt war, hat die DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann (1933 – 1973), deren Roman „Die Geschwister“ dieses Jahr in einer überarbeiteten Neuauflage erschien, nur wenige Monate nach dem Mauerbau drastisch auf den Punkt gebracht:
„Es riecht wieder nach Zuchthausluft.“

Katja Hoyer
Diesseits der Mauer
Hoffmann und Campe Verlag
592 Seiten, 2023
28,00 Euro

Beitritt oder Wiedervereinigung?

„Der Diskurs des Westens über den Osten ist monolithisch und extrem binär, weil offenbar die Festlegung ‚Osten‘ aufgrund der vermeintlich eindeutigen historischen und geographischen Konturen so wunderbar leicht zu handhaben ist. Der Westen redet immer positiv von der Vielfalt der Welt, hält aber in schönster Einfalt seine eigene Perspektive für die einzig mögliche. Und mit diesem Monopol der Perspektive verbindet er zugleich das Monopol auf die Wahrheit und das Monopol auf die Moral.“ (Dirk Oschmann, „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“)

Wo Katja Hoyer auf die Vergangenheit der DDR zurückblickt, schaut Dirk Oschmann auf die Gegenwart Deutschlands 33 Jahre nach der Wiedervereinigung. Aufbauend auf einen Beitrag für die FAZ im Februar 2022 unterzieht der 1967 geborene Literaturprofessor in seiner Streitschrift „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“ der Sichtweise der Westdeutschen auf ihre Landsleute in der ehemaligen DDR einer scharfen Abrechnung.

Oschmann beklagt eine paternalistisch-herablassende Haltung des Westens gegenüber dem Osten, in welcher dieser sich stets als Norm sieht und den Osten als Abweichung. Den Osten sieht der Westen wegen seiner angeblichen Selbstradikalisierung als den gesellschaftlichen Spalter Deutschlands.

Oschmann zieht dabei eine Linie eines ausschließlich westdeutsch geführten Diskurses über den Osten von selbst konservativen Intellektuellen wie Wolf Jobst Siedler oder Arnulf Baring, die bereits zur Wendezeit den Ostdeutschen aufgrund ihrer DDR-Sozialisation eine mangelnde Anpassungsfähigkeit an die neuen Gegebenheiten attestierten. In diesem ressentimentgeladenen Bild des Defizitären ist der Ostdeutsche Oschmann zufolge bis heute verharren geblieben: Provinziell, rückständig, gar barbarisch.

Ob die Wahl von Urlaubszielen in der näheren Region – während der weltoffene Westdeutsche die ganze Welt bereist – oder das Defizit von ostdeutschen Führungskräften, vor allem im universitären Überbau – als ursächlich gelten hierfür ausschließlich intrinsische Motivatoren. Oschmann hält dem zum einen entgegen, daß in der DDR – im Gegensatz zur „alten“ Bundesrepublik – Kapitalaufbau schon von Staats wegen nicht möglich war, während der Westdeutsche zusätzlich durch Erbschaften begünstigt sich auch noch in der ehemaligen DDR mit Eigentum versorgen konnte. Die durch den wirtschaftlichen Einbruch bedingten gebrochenen Lebensläufe und Lohnrückstände zum Westen haben eine Umkehrung bislang verhindert.

Im Eichsfeld, aufgenommen 1992 / © Daniel Körtel

Damit sind auch akademische Karrieren nur unter erschwerten Bedingungen möglich, denn auch diese setzen genügend Eigenkapital voraus, das im Osten so nicht vorhanden ist. Besondern hebt Oschmann hier den Elitenaustausch in der Post-Wendezeit hervor, als die bisherigen Lehrstuhlinhaber durch solche aus dem Westen ersetzt wurde, die ihre eigenen, westzentrierten Netzwerke mitbrachten. Hier sollte noch hinzugefügt werden, daß auf diesem Weg noch manch abgehalfterter 68er-Aktivist eine neue Karriere starten konnte.
Geradezu in Bitterkeit kommt Oschmann auf den „tendenziösen Machtmißbrauch“ der Westmedien im „Diskurs über den Osten“ zu sprechen, insbesondere die Leitmedien, die vor allem Pegida und die Wahlerfolge der AfD zum Anlaß nahmen, dem Negativ-Image des Ostens noch ein paar kräftige Brauntöne hinzuzufügen.

Wie sehr der Westen die Deutungshoheit über den Osten beansprucht, ruft Oschmann durch den ersten Literaturstreit im wiedervereinigten Deutschland von 1990, als Christa Wolf und ihr „Gesinnungskitsch“ aus dem deutschen Literaturkanon ausgeschlossen werden sollten, und die jüngste Kampagne gegen den Maler Neo Rauch anschaulich in Erinnerung. Immerhin, Rauch revanchierte sich bei seinem Kontrahenten Wolfgang Ullrich von der ZEIT mit dem so treffsicheren Gemälde „Der Anbräuner“.

Was am 03. Oktober 1990 vollzogen wurde, war nach Oschmann weniger eine Wiedervereinigung als ein Beitritt zur alten Bundesrepublik nach ihren Regeln:

„Bis 1989 war man im Osten durch Besatzung und Diktatur entmündigt und eingeschlossen, seit 1990 wird man im Osten vom Westen entmündigt und ausgeschlossen.“

Seiner Ansicht nach hätte eine von beiden Seiten neu ausgearbeitete Verfassung mit neu gewählten Symbolen, wie einer anderen Nationalhymne, diesem Prozeß wenigstens eine Richtung gegeben, mit der sich beide Seiten hätten identifizieren können. Tatsächlich war die alte Bundesrepublik nur in ihrer Selbstwahrnehmung das optimale Vorbild, an dem sich andere orientieren sollten. Nur zwei Jahre nach der Wiedervereinigung haben eine Reihe von herausragenden Persönlichkeiten wie Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Publizist Meinhard Miegel ein Manifest mit dem bezeichnenden Titel „Weil das Land sich ändern muß“ herausgegeben.

Dirk Oschmann
Der Osten – Eine westdeutsche Erfindung

Ullstein
224 Seiten, 2023
19,99 Euro

Am heutigen Nationalfeiertag gilt nach wie vor: Auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung – oder des Beitritts – konnten die Folgen einer fast 40jährigen Teilung nicht kompensiert bzw. aufgehoben werden. Stattdessen muß konstatiert werden, daß viel Arges im Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen bereits 1990 angelegt wurde. Nach wie vor ist man in Folge einander vielfach fremd geblieben.

Das beste Mittel gegen diese Fremdheit ist der Austausch. Und zwar noch mehr als vor allem in den sozialen Medien die Vertreter des Mainstreams nach jedem unbotmäßigen Wahlverhalten der „Ossis“ nach dem Reiseboykott geschrien wird. So wie zuletzt im Juni im Fall des thüringischen Landkreises Sonneberg, dem einstigen Zentrum der deutschen Spielwarenherstellung, als der AfD-Kandidat Robert Sesselmann mit einem eindrucksvollen Ergebnis zum neuen Landrat gewählt wurde. Gerade solche Orte sollten die ersten Ziele eines „Wessis“ sein, der den Osten verstehen will.

Dunkle Wolken über der deutschen Einheit: Neu eingeweihtes Einheitsdenkmal;
Grenzmuseum Schifflersgrund am 9.11.2002 / © Daniel Körtel

Die Echokammer im Gartensaal

Seit „9-11“ sind Verschwörungstheorien geradezu Massenerzählungen geworden. Zwar sind sie bis in das Mittelalter zurückzuführen, als die Mär die Runde machte, die Pest sei auf die Brunnen vergiftenden Juden zurückzuführen, aber erst in unserer Zeit hat die Vielzahl an Krisen eine Fülle von Überlegungen hervorgebracht, ihre verborgenen Ursachen und Nutznießer zu identifizieren. Aber sie betreffen nicht nur echte Krisen; auch die Abgasströme von Flugzeugen sind mit der Chemtrail-Verschwörung Inhalt recht amüsant-bizarrer Erklärungsversuche, die von ihren Vertretern vollkommen ernst gemeint sind. Daneben findet sich „9-11“ als Inszenierung amerikanischer Geheimdienste, zum bis heute ungeklärten Mord an JF Kennedy von 1963 oder dem umstrittenen Engagement sogenannter „Philanthropen“ wie George Soros und Bill Gates, letzterer im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.

Am vergangenen Wochenende vom 15.-17.9.2023 versuchte an der Evangelischen Akademie Hofgeismar ein interaktiver Workshop – NARRATIVE GEHEIMER WELTVERSCHWÖRUNGEN – der Natur der Verschwörungstheorien auf den Grund zu gehen und den Teilnehmern Hilfestellungen mitzugeben für den Umgang mit solchen Erzählungen in ihrem Umfeld. Um es vorweg zu sagen: Das Konzept wies einige inhaltliche Schwächen auf.

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Die von der Sozialpsychologin Jana Schneider (cultures interactive e.V.) geleitete und dem Studienleiter Michael Nann verantwortete Veranstaltung im Gartensaal des Schlösschens Schönburg war als Stuhlkreisrunde mit hoher Selbsteinbringung der Teilnehmer konzipiert. Die inhaltliche Vermittlung erfolgte durch interaktive Spiele mittels Multiple Choice oder auch in Rollenspielen. Die rund 20 Teilnehmer waren von mittlerem bis ins höhere Alter und teilweise nach Eigenaussage durch persönliche Erlebnisse im privaten Umfeld für das Thema sensibilisiert.

Schlösschen Schönburg (Evangelische Akademie Hofgeismar) /
© Daniel Körtel

Die erste Übung am Freitagabend offenbarte auch das erste inhaltliche Defizit der Veranstaltung: Die in Dreiergruppen von jedem vorgestellte, auf sich selbstbezogene einfache Sachaussage wie beispielsweise „Ich habe eine Katze“ sollte dem jeweiligen als Fake oder Fakt identifiziert werden. An dieser Stelle hätte eine Definition und Erörterung der Begrifflichkeiten „Fake und Fakt“, „Wahrheit und Lüge“ stehen müssen! Das wäre natürlich nicht ohne Risiko gewesen. Denn gerade die Corona-Pandemie hat deutlich aufgezeigt, wie schnell scheinbare Gewissheiten, die gegen alle Kritik abgeschirmt und absolut gesetzt wurden, sich eben als Fake entpuppten, sei es die Wirksamkeit der Masken, die angebliche „Tyrannei der Ungeimpften“ oder die selbst von Karl Lauterbach als nebenwirkungsfrei angepriesenen mRNA-Impfstoffe. Jakob Hayner griff hierzu in der WELT 18.3.2023 ein recht treffendes Bonmot der Querdenkerszene auf: „Was ist der Unterschied zwischen einer Verschwörungstheorie und der Wahrheit? Ungefähr zwölf Monate.“

Das Problem läßt sich auch auf andere Bereiche ausweiten: Wie viele Geschlechter gibt es? Ist ein als Frau verkleideter Mann, der sich als Frau identifiziert, tatsächlich eine Frau? Die „falsche“ Antwort kann einem teuer zu stehen kommen und sogar Karrieren ruinieren.

Doch genau diese kritische Art der Auseinandersetzung erfolgte in Hofgeismar nicht und wäre, was im weiteren Verlauf noch deutlicher wird, auch kaum erwünscht gewesen.

Teilweise fragwürdig und holzschnittartig war die Einordnung konkreter Sachverhalte in das Schema der Verschwörungstheorie. Immerhin wies man im Publikum auch auf die fragwürdigen Seiten des Finanzspekulanten George Soros, der mit seinen üblen Spekulationen ganze Währungen ins Wanken brachte, und auf den Microsoft-Begründer Bill Gates, der u.a. dem „Spiegel“ viel Geld spendete, hin. Als klassisch wurden hierzu auch die Verschwörungserzählungen um Corona gezählt, wie auch der gegenwärtige Krieg Russlands gegen die Ukraine, dessen Einordnung als Angriffskrieg durchaus zutreffend ist, aber in der stereotypen und fast schon dogmatischen Verwendung dieses Begriffs zu einer Ausblendung der komplexen Vorgeschichte und der westlichen Einmischung führt.

Mit den letzten beiden Beispielen kann auch aufgezeigt werden, daß Verschwörungserzählungen neben den von der Referentin Schneider aufgeführten zwei Funktionen auch noch eine dritte einnehmen können. Richtig ist, daß Verschwörungserzählungen zum einen der Stabilisierung des Selbstbildes ihres Verfechters dienen. Zum anderen aber auch genutzt werden zur Verfolgung wirtschaftlicher Interessen, indem die „Gurus“ der Szene die Verschwörungsgläubigen abschröpfen. Verschwörungserzählungen haben aber noch eine dritte, weitgehend unbeleuchtete Funktion, nämlich als Kampfbegriff, um sich im Sinne eines gedankenbeendenden Klischees gegen unangenehme Kritik zu immunisieren.

In gemeinsamer Runde wurden den Verschwörungsgläubigen anhand von Studien bestimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben. So seien sie pessimistischer, seien sie durch persönlich schwierige und stressige Umstände empfänglicher für Verschwörungserzählungen und kritischer gegenüber Machtstrukturen und staatliche Einrichtungen. Sie erfahren Armut oder Marginalisierung und suchen die Ursache in Einzelpersonen und nicht im System. Ein besonderer Risikofaktor sei das Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein, ein Merkmal, das allerdings nicht weniger auf die im weit linken und woken Bereich stehenden Social Justice Worriors zutrifft, die allerdings im Gegensatz zu den in der Regel rechts verorteten Verschwörungsgläubigen kaum Problematisierung erfahren.

Doch sehr fragwürdig ist die weitere Etikettierung als „wissenschaftsfeindlich“. Auch wenn Studienleiter Nann das Gegenteil behauptete, so war die Corona-Zeit durchzogen mit einer von oben bestimmten, einseitigen Schein-Debatte, in der auch mit Hilfe einer willfährigen Presse kritische Stimmen regelrecht marginalisiert und ausgegrenzt wurden.

Und noch am Morgen des gleichen Tages konnte der Berichterstatter in der WELT lesen, wie mit einseitigen, apokalyptischen Klimastudien Politik betrieben wird. Es gibt in unserer Zeit nichts dümmeres als die Parole „Folge der Wissenschaft“, besonders wenn man nicht verinnerlicht hat, daß jede wissenschaftliche Erkenntnis generell als vorläufig bis zu ihrer Verifizierung bzw. Falsifizierung anzusehen ist und selbst danach noch durch neue Methoden oder Erkenntnisse verändert werden kann.

Oder um ein polemisches Bild zu verwenden: Vor 500 Jahren war die Ansicht, die Sonne drehe sich um die Erde – und nicht umgekehrt – wissenschaftlicher Konsens, obwohl es damals durchaus Astronomen gab, die es besser wußten und aus Angst schwiegen. Und die katholische Kirche hätte mit den modernen Methoden des „false Balance“ Kopernikus besser erledigen können als mit der Drohung des Scheiterhaufens.

Doch letztlich mache die Mehrheit der Verschwörungsgläubigen bei Kundgebungen wie der Kasseler Corona-Demo vom März 2021 nur aus einem Grund mit: „Hauptsache dagegen!“ Das mag sein, doch haben die Veranstalter hier die Ambiguität übersehen. Denn genauso gut läßt sich kritisch nach der Motivation der Masse derer fragen, die dem gängigen Corona-Diskurs und den Impf-Aufforderungen folgten. Es wäre wohl kaum eine Überraschung, wenn hier die meisten von ihnen Antworten geben würden wie „Ich wollte meine Ruhe haben“ oder gar den Klassiker des autoritätshörigen Mitläufertums: „Die da oben werden es schon wissen.“

Geradezu erstaunlich ging es in der Statistik der Verschwörungsgläubigen zu. Rund jeder zweite Deutsche hat eine Neigung, solchen Erklärungsmodellen anzuhängen. Parteipolitisch fallen Anhänger der AfD dabei besonders auf (52,9 Prozent), während hingegen die Grünen-Anhänger mit nur 6,3 Prozent angeblich am unempfindlichsten sind! Das ist insofern erstaunlich, weil gerade die Grünen bei jedem Gegenwind, der ihnen entgegen bläst, eine rechte Verschwörung wittern und überhaupt die Republik gegen jede Realität kurz vor dem Kippen nach rechts sehen, einer „fossilen Lobby“ die Bekämpfung des Klimaschutzes unterstellen und sogar soweit gehen, den deutschen Sprachkundlern des 19. Jahrhunderts durch die Festlegung auf das generische Maskulinum eine Verschwörung zur Marginalisierung des weiblichen Geschlechtes zuzuschreiben. Aber wahrscheinlich wurde in den entsprechenden Studien nicht nach solchen Verschwörungsnarrativen gefragt.

Zu guter Letzt wurde in einem Rollenspiel der Umgang mit den Verfechtern von Verschwörungserzählungen geübt. Eigene Grenzen setzen, sich empathisch geben, statt das Gegenüber unter Druck zu setzen, nicht mit Fakten auf der inhaltlichen Ebene argumentieren – schnell ist man auch nach dem Eindruck mancher Teilnehmer hier in der als unangenehm empfundenen Rolle des Therapeuten. Die Vorgaben des Rollenspiels trieften geradezu vor Klischees:

„Vor dir sitzen Peter (59), Lastkraftwagenfahrer aus Sachsen, und seine Tochter Annika (26), Kunststudentin in Düsseldorf. Früher haben die beiden in der familiären Werkstatt jeden Sonntag Metallfiguren gebastelt und geschweißt. Seit Annika zum Studium weggezogen ist, haben die beiden sich merklich entfremdet, sowohl in Alltagsfragen als auch in ihren Weltanschauungen. Beide wünschen sich, dass sich ihre Beziehung wieder verbessert und sind belastet durch die aktuelle Situation. (….)“

Und der Abschluss der Veranstaltung machte den Eindruck, womit man es in diesem interaktiven Workshop eigentlich zu tun hatte, endgültig rund: In der Auflistung der Anlaufstellen, wo man sich wegen Verschwörungstheorien hinwenden kann, standen auch die „Faktenchecker“ von Correctiv wie auch die Amadeu-Antonio-Stiftung.

Verschwörungstheorien zur Welterklärung können durchaus einen problematischen Charakter annehmen, vor allem wenn sie vollkommen absurden Inhaltes sind und zum tragenden Element für das eigene Selbstbild werden und den Betreffenden in eine Tunnelperspektive führen, mit durchaus beträchtlichen negativen Auswirkungen für das soziale Leben. Hierfür stehen beispielhaft fundamentalistische Sekten wie die Zeugen Jehovas, für die Verschwörungstheorien konstitutiv sind. Auch schreiben die Verfechter von Verschwörungstheorien den jeweiligen Akteuren eine derart außerordentliche Macht die Dinge zu lenken zu, die der Komplexität des Lebens regelrecht widerspricht. Jedoch sind Verschwörungstheorien oft identisch mit tatsächlichen Verschwörungen, wenn sie sich als wahr erweisen. Die Grenze ist fließend und kann sich bei neuen Erkenntnissen verschieben.

Das beste Beispiel hierfür ist Corona, wo sich Referentin, Tagungsleiter wie Teilnehmer des Workshops offenbar noch in den ausgetretenen Bahnen eines längst überholten Diskurses bewegten. So war eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Verschwörungstheorie und wer solchen Erzählungen aus welchen Motiven anhängt, nicht zu erwarten. Da konnte der Gartensaal des Schlösschens Schönburg zwangsläufig nur zur Echokammer werden.

Gesundbrunnen (Evangelische Akademie Hofgeismar) / © Daniel Körtel

Der Städte Niedergang ist auch der des Menschen

„Da waren die Städte, Mikrokosmen des menschlichen Gemeinwesens, riesige Wesen von sehr stark individuellem Charakter, die ihre Bewohner durch Gewohnheit, durch Liebe und durch die unsichtbaren Fäden an sich banden, die auch die ersten Menschen aneinandergebunden hatten, denn außerhalb der Wärme des vom Feuer beleuchteten Kreises herrschte Dunkelheit und beobachtete sie das Unbekannte mit wölfischen Augen“ („Die letzten Städte der Erde“, C.J. Cherryh)

Menschliche Zivilisation ist nicht denkbar ohne Urbanisation. Erst mit der Gründung von Städten kulminierten die schöpferischen und sozialen Potentiale des Menschen derart, daß ohne sie kein technologischer Fortschritt, kein Wohlstand denkbar wären. Hier vollzog sich vielfältigster Austausch und Wandel auf engstem Raum und strahlte wiederum aus auf andere Städte. Über die meisten der ersten Stadtgründungen wie Ur und Babylon legt sich schon lange der Staub. Und doch ist einigen von ihnen schon eine lange Lebensdauer beschert und wir blicken inzwischen zurück auf eine lange und rumreiche Vergangenheit.

1981 wagte die amerikanische Science-Fiction-Schriftstellerin C.J. Cherryh einen literarischen Blick in die Zukunft einiger der berühmtesten und bedeutendsten Kapitalen der Menschheit. „Die letzten Städte der Erde“ – 1985 in deutscher Übersetzung im Heyne Verlag erschienen – vereinigt sechs Erzählungen über die Metropolen Paris, London, Moskau, New York, Peking.

Aus dem umfangreichen Opus von Cherryh sticht dieses Buch insofern heraus, daß es sich nicht eindeutig der Science-Fiction zuordnen läßt. Seit sie 1976 mit „Brüder der Erde“ ihren Durchbruch feierte – zu einer Zeit, als dieses Genre fast eine reine Männer-Domäne war -, blieb sie innerhalb des Rahmens der Space Opera bzw. der Hard-Science-Fiction. In „Die letzten Städte der Erde“ sind jedoch mit dem Auftreten von Geistern auch Elemente der Fantasy enthalten. Zudem steht es als Einzelwerk für sich alleine, denn üblicherweise überspannen Cherryhs Romane ganze Zyklen wie den der „Chanur“ oder den „Alliance-Union-Zyklus“.

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Cherryhs „Die letzten Städte der Erde“ liest sich wie ein Trauerlied. Dazu passt schon die Einbettung in eine künftige, sehr weit entfernte Epoche, in der „die Sonne matt geworden war und von Krankheiten befallen, bevor der Mond glühend und riesig am Himmel hing, in den Raumhäfen die Schiffe von den Sternen weniger geworden waren und der Gründe für Ambitionen noch weniger.“ Von Hyper-Technologie ist darin keine Spur, im Gegenteil, atavistische Tendenzen, also Rückschläge in vergangene Muster, haben sich eingestellt.

Die erste Erzählung „Der einzige Tod in der Stadt“ ist Paris gewidmet. Sie wuchs derart in Breite und Höhe, so daß sie nun den Fluß „Sin“, die einstige Seine, umschloß. Das Leben ist gezeichnet in dem Zyklus von Tod und Wiedergeburt. Es ist die Geschichte von Jade Alain und Onyx Ermine, die jeweils verschiedenen bedeutenden Häusern angehören. Alains Liebe zu Ermine erwidert diese mit einer zynischen Wette. Sie wird ihn heiraten, jedoch: „Du wirst nach diesem vierten Jahr den Tod erleiden, und ich werde im nächsten Leben nichts mit dir zu tun haben.“ Aber der Tod wird bei dieser Wette noch ein Wort mitreden…

Die vielleicht beste Erzählung ist „Der Spukturm“, angesiedelt in London. Der am Themseufer stehende Tower scheint die Konstante dieser Stadt sein. Die einst im Mittelalter errichtete Festung findet in dieser weit entfernten Zukunft wieder zurück zu ihrer früheren Bestimmung, als Gefängnis für bedeutende Personen. Dieses Mal trifft es Bettine Maunfry, die Geliebte des Bürgermeisters, die unwissentlich zum Spielball einer Intrige um dessen korrupte Machenschaften gerät und dabei zum Auslöser einer Revolution gegen seine Herrschaft wird. Doch vorher trifft sie in ihrem Verlies auf die Geister von Richard und Edward, jene zwei kleinen Prinzen, die vermutlich an ebendiesem Ort einem durch ihren Onkel, den englischen König Richard III. (1452 – 1485), in Auftrag gegebenen Mord zum Opfer fielen. Ebenso lernt sie den Geist von Marcus Atilius Regulus kennen, ein Legionär, der während der römischen Zeit Britanniens zu Tode kam und sich Bettine als Psycho-Pomp, ihren Seelenführer in das Jenseits, anbietet.

„Eis“ ist der Moskau gewidmete Titel und passt auch hervorragend in das Sujet dieser Stadt, die schon durch ihre geographische Lage besonders den winterlichen Härten ausgesetzt ist. Andreij Gorodin ist der Protagonist dieser Erzählung, der auf seinem Pony reitend, bewaffnet mit einem Bogen, außerhalb der Mauern dieser Stadt sein Jagdglück versucht. Dem eisigen Winter zum Trotz bietet der Anblick der Stadt etwas Erhabenes: „Nur die Schönheit existierte, die über Moskva lag und die die Stadt umgab. Sie würde ihm den Geist rauben oder ihn das Augenlicht kosten.“ Doch er ist nicht allein auf der Suche nach Beute. Auch die Wölfe sind auf seiner Spur.

Rom, auch die „Ewige Stadt“ genannt, wird aus dem Lotuspalast heraus regiert von Elio DCCLII (dem 752.), einem zwölfjährigen Tyrannen, „bockig, verdorben, gefährlich.“ Die Dekadenz, der diese Stadt – wie auch die übrige Erde – verfallen ist, zeichnet sich durch die Sucht nach Vergnügungen und Träumen aus; Träume, denen ein Apparat realistische Nähe verleiht. Der Inhalt dieser Träume ist die Menschenjagd – „Nächtliche Spiele“. Und wehe, wenn der Tyrann kein Vergnügen an seinen Träumen findet…

Einzig die Hommage auf New York – „Der Highliner“ – wirkt futuristisch. Es ist eine Parabel auf die wohl unausrottbare Korruption, unter der die Stadt traditionell leidet. Johnny Tallfeather gehört zur Gruppe der Highliner, die in den oberen Bereichen der gigantischen Wolkenkratzer Wartungs- und Reparaturarbeiten vornehmen. Es ist eine harte und sehr gefährliche Arbeit, der er und seine Schwester Sarah mit entsprechendem Selbstbewußtsein nachgehen. Eine Betreibergesellschaft setzt ihn und seine Mannschaft unter Druck, für ein Schmiergeld im entscheidenden Moment wegzusehen. Widerwillig läßt sich Johnny auf den Deal ein. Doch die Gegenseite spielt falsch, und seine Schwester erleidet einen tödlichen Unfall. Johnny sinnt auf Rache…

In „Der General“ wiederholt Cherryh das historische Muster, daß dem chinesischen Peking in seiner Geschichte oft widerfahren ist, die blutige Eroberung durch Usurpatoren und Invasoren. Wie im Mittelalter ist die Stadt bedroht durch einen Barbarenhäuptling, der seine Karriere mit dieser besonderen Beute krönen will. Die Bewohner der „Stadt des Himmels“ wirken hilflos im Angesicht der Gefahr, die sich aus den Weiten des Westens kommend vor den Mauern der blühenden Verbotenen Stadt aufbaut. Selbst ihre Soldaten haben das Kämpfen verlernt. Peking „liebte ihr Alter. Sie fand das Leben schön. Sie wußte kein großes Ziel mehr für sich, denn ihr letzter Zug nach draußen lag schon lange zurück; sie ruhte am Ende der Tage.“ Doch was treibt Yilan Baba, Vater Schlange, wie der Barbaren-General von seinen Männern genannt wird, wirklich nach Peking? Ist sein Eroberungszug nur eine Inszenierung, hinter der er tatsächlich etwas ganz anderes verbirgt?

Fantasy trifft Science-Fiction trifft Historik – die Geschichten der „Letzten Städte der Erde“ sind Tragödien des Niedergangs, von Cherryh formuliert in einer außerordentlich poetischen Sprache. Das Buch ist dabei aber durchaus auch tagespolitisch zu verstehen durch das darin enthaltene tragende Motiv des zwangsläufigen Niedergangs der Zivilisation durch die Dekadenz ihrer Menschen. Hier bricht deutlich die weitgereiste Altphilologin in ihr durch, die vor ihrer preisgekrönten Karriere als freie Schriftstellerin Alte Geschichte unterrichtete. Letztlich ragt das Buch wie ein Kleinod heraus aus dem Gesamtwerk einer der außergewöhnlichsten Autorinnen der Science-Fiction. Es ist ein Klassiker, den jeder Liebhaber der Scifi gelesen haben sollte.

Am 1. September 1942 in St. Louis / Missouri geboren, feiert C.J. Cherryh (eigtl. Caroline Janice Cherry) heute ihren 81. Geburtstag.

C.J. Cherryh
Die letzten Städte der Erde

236 Seiten
Heyne, 1985
Nur noch antiquarisch erhältlich

Eine perverse Hymne auf die Verbindung von Sex, Gewalt und Technologie

„Vaughan entfaltete seine ganze Obsession für mich, besessen von der mysteriösen Erotik der Wunden: die perverse Logik von im Blut schwimmenden Armaturenbrettern, exkrementverschmierten Sicherheitsgurten, mit Hirnmasse gezierten Sonnenblenden. Bei Vaughan löste jeder Unfallwagen ein Zucken der Erregung aus, die komplexe Geometrie eines eingedrückten Kotflügels, die unerwarteten Varianten eines zerquetschten Kühlergrills, die groteske Position eines verborgenen Armaturenbretts, das über die Genitalien eines Fahrers ragte wie in einem wohlbemessenen Akt maschineller Fellatio. Die Intimität von Zeit und Raum eines einzelnen Menschenwesens war in diesem Gewebe aus verchromten Messern und mattiertem Glas für die Ewigkeit erstarrt.“ (JG Ballard, „Crash“)

Als 1973 „Crash“ erschien, war der Brite James Graham Ballard (1930 – 2009) bereits ein etablierter Schriftsteller. Mit in der Science-Fiction angesiedelten Romanen wie „Karneval der Alligatoren“ oder auch „Welt in Flammen“ schuf er die Vorläufer dessen, was man heute in der Literatur Climate Fiction nennt. Doch ging es ihm nie um die Warnung vor den Folgen eines Klimawandels, der seinerzeit noch lange kein Thema war. Ballards Frühwerke sind „Literatur der psychologischen Erfüllung“. Seine Protagonisten sind darin Einzelgänger, die den Weg ihrer Erfüllung durch impressionistische Extrem-Landschaften suchten.

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„Crash“ stellte jedoch gegenüber all seinen Vorgängern ein radikales Wagnis dar, letztlich sogar ein Risiko für seinen Autoren. Darin findet sich eine seltsame Gruppe zusammen, die eine bizarre Besessenheit verbindet: Die Sucht nach dem Kick, den ein Autofahrer im simultanen Zusammentreffen von sexuellem Höhepunkt und Verkehrsunfall empfindet. Sein Ich-Erzähler, dem er seinen eigenen Namen gab, kommt nach einem schweren Zusammenstoß mit einem anderen Wagen, dessen Fahrer dabei verstirbt, auf den Geschmack. Im Krankenhaus trifft er erstmals auf Vaughan, die „Antichrist-Figur“ des Romans, der ihm zu einer Art Mentor für diese neue Leidenschaft wird. Es wird für Ballard zu „einer langen Strafexpedition in mein eigenes Nervensystem“. Angeleitet von Vaughan ersinnen beide immer bizarrere Formen von Autounfällen mit kopulierenden Insassen: „Die deviante Technologie des Autounfalls bewilligte jeden denkbaren Akt der Perversion.“

Gemeinsam fahren sie durch die Gegend, zwei Voyeure auf der Suche nach Autounfällen. Der Kreis erweitert sich durch Catherine, die Ehefrau des Erzählers, sowie Helen Remington, der Ehefrau des bei dessen Unfall verunglückten Mannes, die auch noch als Beifahrerin mitbeteiligt war. Vaughans größter Traum ist der automobile Zusammenstoß mit der Filmschauspielerin Elisabeth Taylor, bei dem beide ums Leben kommen.

Explizite Beschreibungen von sexuellen Akten während Autofahrten in allen Details ziehen sich durch den Plot, daß man das Gefühl bekommt, man hielte einen Porno in den Händen, aus dessen Seiten Sperma und Vaginalsekret nur so tropfen. Doch „Crash“ läßt auch die Lesart einer radikalen, übersteigerten Zivilisationskritik zu. Es gehört mit Ballards nachfolgenden Romanen „Die Betoninsel“ (1974) und „Der Block“ (1975) zu einem literarischen Triptychon, perfekt eingepasst in den Zukunftspessimismus der 1970er Jahre. Erstmals wurde damals die Frage aufgeworfen, ob die Menschheit den negativen Auswirkungen des technologischen Fortschritts noch gewachsen sei. Das Versprechen der automobilen Gesellschaft hat die Landschaft mit Straßen voller stinkender Fahrzeuge planiert und zergliedert. Das Auto als auch sexuelle Attraktivität ausstrahlendes Statussymbol fordert von seinen Besitzern immer größere finanzielle Opfer und erzwingt geradezu eine Entwicklung zu immer größeren Modellen, an deren Spitze heute die als SUV (Sport Utility Vehicle) bekannten Stadtpanzer stehen. Und unweigerlich kommt einem bei „Crash“ der Gedanke an die illegalen Autorennen mit oftmals tödlichem Ausgang, die ohne die Virilität der testosterongeschwängerten Fahrer nicht zu denken sind. Ballards Idee der Verbindung von Sex und Technologie ist von der Realität gar nicht so weit entfernt.

„Crash“ ist ein extrem harter, provozierender und herausfordernder Stoff. Kaum verwunderlich, daß die Reaktionen darauf nicht gerade euphorisch ausfielen. Der Autor und Scifi-Experte Charles Platt berichtete nach einem Interview mit Ballard:

„[Crash] war ein ausnehmend perverser, verstörender und gestörter Vorstoß in die Bereiche von Sadismus und Tod, und ich weiß noch, wie er glücklich lachte, als er mir erzählte, dass eine Frau, die das Buch für den Verlag gelesen hatte, erklärt hatte, dem Verfasser sei ‚medizinisch nicht mehr zu helfen.‘“

Kurioserweise erlitt Ballard zwei Wochen nach Veröffentlichung von „Crash“ selbst einen schweren Unfall. Im Nachhinein vermutete er, „wäre ich bei dem Unfall uns Leben gekommen, hätte man das wahrscheinlich als Vorsatz interpretiert, jedenfalls auf der unterbewussten Ebene, als Kapitulation vor den dunklen Mächten, die den Roman hervorgebracht haben.“

Die Inspiration für die in „Crash“ vertretene „Hypothese über die unbewusste Verbindung zwischen Sex und Autounfällen“ bezog der Autor in einer von ihm 1970 organisierten Kunstausstellung im New Arts Laboratory in London. Für einen Monat wurden dort drei auf Schrottplätzen gekaufte Unfallwagen ausgestellt. Kameras nahmen die Besucher bei ihrem Rundgang auf, den sie auf Monitoren selbst ansehen konnten. Eine junge Frau sollte die Besucher nackt nach ihren Empfindungen fragen. Nachdem ihr nach anfänglicher Zustimmung Bedenken kamen, trat sie nur oben ohne auf. So wie die Ausstellung bei der Eröffnung zu entgleiten drohte, schien sie Ballards Hypothese akkurat zu bestätigen. Ballard schrieb hierzu in seiner Autobiographie „Wunder des Lebens“:

Ich bestellte eine erhebliche Menge Alkohol und ließ den ersten Abend wie eine Galerieeröffnung ablaufen, zu der ich verschiedene Schriftsteller und Journalisten eingeladen hatte. Ich habe noch nie erlebt, dass sich Besucher einer Kunstgalerie so schnell betrunken haben. Es lag eine ungeheure Spannung in der Luft, als wären alle durch eine innere Alarmglocke aufgeschreckt worden. Hätten sie draußen auf der Straße geparkt, hätte niemand die Automobile bemerkt, aber im grellen Licht der Galerie schienen die verwüsteten Karosserien zu provozieren und zu beunruhigen. Wein wurde auf die Autos geschüttet, Scheiben eingeschlagen, das Oben-ohne-Mädchen um ein Haar auf dem Rücksitz des Pontiac vergewaltigt (behauptete sie jedenfalls; später schrieb sie eine vernichtende Rezension unter dem Titel »Ballard Crashes« in der Undergroundzeitschrift Frendz). Eine Journalistin von New Society begann in dem Durcheinander ein Interview mit mir, wurde aber derart von ihrer Entrüstung (von der die Zeitschrift einen grenzenlosen Vorrat besaß) übermannt, dass man sie festhalten musste, damit sie sich nicht auf mich stürzt.

Es sollte noch fast 25 Jahre dauern, bis „Crash“ verfilmt wurde. Erst in den 1990er Jahren war die Zeit hierfür reif genug. Der Erfolgsregisseur David Cronenberg („Die Fliege“, „Naked Lunch“) nahm sich 1996 des Stoffs an und führte die Hollywoodschauspieler James Spader („Stargate“, „The Blacklist“), die Oscar-Preisträgerin Holly Hunter („Das Piano“), Elias Koteas, Deborah Kara Unger sowie Rosanna Arquette zu einem eindrucksvollen Cast zusammen, das gewährleistete, daß „Crash“ nicht zu einem verunglückten Softporno missriet. Seltsamerweise geriet der Film in Ballards Heimat zu einem ausgewachsenen Skandal, als konservative Politiker zum Sturm gegen ihn bliesen. Die Veröffentlichung des Romans selbst zog seinerzeit bei weitem keine vergleichbaren Reaktionen nach sich. Hingegen feierte der Film in Frankreich, wo man mit „Die Marquise von O.“ bereits auf eine gewisse Erfahrung mit provozierenden Filmen zurückblicken konnte, geradezu euphorische Erfolge.

US-Trailer CRASH

Cronenberg sagte zu seinem Film: „Ich denke, wenn man CRASH gesehen hat, und danach einen intensiven, emotionalen Zustand empfindet, den man aber nicht klar benennen kann, dann hat der Film richtig funktioniert.“ Weder für das Buch noch den Film gibt es eine Garantie, daß dieser Zustand beim Zuschauer bzw. Leser eintritt. „Crash“ ist härtester Stoff, auf den man sich einlassen muß. Und trotzdem werden nicht wenige Leser dem vernichtenden Urteil über den Autor, dem „medizinisch nicht zu helfen“ sei, nicht widersprechen wollen. Ballard hat diese scharfe Kritik humorvoll an sich abperlen lassen. Denn ihm ist mit „Crash“ das gelungen, was sich vermutlich nicht wenige Schriftsteller wünschen: Ein enigmatisches Werk zu schaffen, das seinen Verfasser noch lange überdauert.

James Graham Ballard
Crash
Diaphanes
2019, 240 Seiten, 20,- Euro
CRASH
Regisseur: David Cronenberg
Mit James Spader, Holly Hunter, Elias Koteas, Deborah Kara Unger, Rosanna Arquette
1996
1h:40 Min.

Der Prometheus, der Amerika das nukleare Feuer brachte

„Jetzt bin ich zum Tod geworden, zum Zerstörer der Welten.“
J. Robert Oppenheimer, die „Bhagavad Gita“ zitierend, eine der zentralen heiligen Schriften des Hinduismus

Am 16. Juli 1945 brach für die Menschheit eine neue Ära an. Mit der in der Wüste von New Mexico erfolgreich gezündeten Atombombe, der ersten ihrer Art, verlief der abschließende „Trinity-Test“ erfolgreich. Es war der Eintritt der Menschheit in das nukleare Zeitalter. Im nachfolgenden August radierten die USA mit zwei weiteren Kernwaffen die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki aus. Damit gingen die USA nicht allein als unbestreitbare Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervor, sondern als unbestreitbar dominierende Weltmacht. Nie zuvor verfügte die Menschheit über eine Waffe von derartiger Zerstörungskraft, die über das Potential der Vernichtung der ganzen Welt verfügte. Erst drei Jahre zuvor hatten die USA im Manhattan-Projekt in Los Alamos unter größter Geheimhaltung mit der Entwicklung dieser Waffen begonnen, in einem imaginierten Wettlauf mit Nazi-Deutschland. Der Leiter dieses Projektes war der geniale Physiker J. Robert Oppenheimer (1904 – 1967).

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Fast 70 Jahre nach „Trinity“ sorgt Meisterregisseur Christopher Nolan („Batman“, „Inception“) für den größten Wurf des Kinojahrs 2023: „Oppenheimer“ ist das epische Biopic des Vaters der Atombombe. Die Hauptrolle besetzte er mit Cillian Murphy („Peaky Blinders“), der damit vermutlich Colin Farrell und Liam Neeson als die berühmtesten und bedeutendsten Hollywood-Schauspieler aus Irland überholt haben dürfte. Denn so wie Leslie R. Groves – im Film verkörpert von Matt Damon – als militärischer Leiter des Manhattan-Projektes keine klügere Entscheidung treffen konnte, als Oppenheimer für die wissenschaftliche Leitung auszuwählen, so erging es Nolan mit Murphy, mit dem er bereits in früheren Produktionen tragende Nebenrollen besetzt hatte.

Die Irish Times hob in Murphys Auftreten seinen „saphirblauen Blick und die gewundene Intensität“ hervor, die ihn mit einem Millionenpublikum vertraut machten. Über seine Rolle im neuen Nolan-Blockbuster sagte er: „Ich liebe es, mit meinem Körper darzustellen, und Oppenheimer hatte eine sehr deutliche Körperlichkeit und Silhouette, die ich richtig wiedergeben wollte.“ Murphy verlor zur Vorbereitung auf die Rolle massiv an Gewicht, um Oppenheimers dürre Figur zu erreichen, angeblich aß er dazu nur eine Mandel am Tag.

Doch nicht nur die äußere Gestalt Oppenheimers vermochte Murphy perfekt darzustellen, auch seine innere Zerrissenheit, seine privaten Tragödien, seine plagenden ethischen Zweifel über den Einsatz der Bombe und wie er nach Ende des Zweiten Weltkriegs bemüht war, den mit ihr verbundenen Ungeist unter Kontrolle zu halten. In Murphys Schauspielkarriere ist „Oppenheimer“ seine bislang größte Rolle, und es dürfte keine Überraschung sein, wenn sie ihm den Oscar einbrächte.

Nolans Erzählweise ist keine linear-chronische. Die verschiedenen Abschnitte aus Oppenheimers Lebens wechseln übergangslos mit Rückblenden ab. Dazu in Schwarz-weiß jene Szenen, die von Oppenheimers heimlichem Gegenspieler Lewis Strauss bestimmt sind, einem Geschäftsmann und Politiker, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus kleinlicher Rachsucht einen intriganten Feldzug gegen Oppenheimer führte, der dann am Ende doch auf ihn selbst zurückfiel. In der Rolle von Strauss, kaum wiederzuerkennen, sorgte Robert Downey Jr. für eine der Überraschungen des Films.

Auch auf die Gefahr hin zu spoilern: Die Zündung der Trinity-Bombe, der inszenatorische Höhepunkt in dem ansonsten für Nolan-Verhältnisse an Spezialeffekten eher armen Film, haut das Publikum geradezu in die Sitze. Doch weniger diese Szene sollte dem Zuschauer in Erinnerung bleiben, als die, in denen das komplexe und konfliktträchtige Wirkungsverhältnis zwischen Wissenschaftler, Politikern und Militärs zum Tragen kommt, bei dem letztlich die Ethik auf der Strecke geblieben ist. Geradezu verblüffend, aber auch beklemmend, wirkt die Anwendung des uns heute so vertrauten Machtinstruments der Kontaktschuld, wenn es darum ging, Wissenschaftler wie Oppenheimer bloßzustellen. Wie sich die Dinge ändern und doch alles gleich bleibt: Ging es damals um Verbindungen zu Kommunisten – gerade im akademischen Umfeld der damaligen Zeit alles andere als ungewöhnlich – so kann heute der Kontakt zu allem und jedem, was „rechts“ ist, zum existenzbedrohenden Vorwurf gemacht werden. Die Führungselite des Landes, das er so sehr liebte, machte ihn noch zum Sündenbock für den damals ohnehin absehbaren nuklearen Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion und den Verlust des atomaren Monopols durch einen unter Oppenheimer in Los Alamos arbeitenden Sowjetspion. Am Ende steht die bittere Erkenntnis: Selbst in einer Demokratie, wie in den USA, war Oppenheimer nicht davor geschützt, vorgeblich aus Gründen der nationalen Sicherheit regelrecht zersetzt zu werden.

Kino-Trailer „Oppenheimer“

Nolans Grundlage für seinen „Oppenheimer“ war die 2010 erschienen Biographie von Kai Bird und Martin J. Sherwin. In ihrem Vorwort schrieben sie:

„Der rebellische Halbgott Prometheus stahl Zeus das Feuer und brachte es den Menschen: Oppenheimer brachte uns das atomare Feuer. Als er jedoch nach Möglichkeiten suchte, es zu beherrschen, als er versuchte, uns vor dessen fürchterlichen Gefahren zu warnen, erhoben sich die Mächtigen – wie weiland der zornige Zeus -, um den modernen Prometheus zu strafen.“

Heute, mehr als ein Jahr nach Beginn eines bis dahin nicht für möglich gehaltenen Kriegs in Europa, in welchen eine der führenden Atommächte mit dem weltweit größten Kernwaffenarsenal der Welt direkt verwickelt ist und die größte Atommacht der westlichen Welt indirekt, sind Oppenheimers Warnungen aktueller denn je. Der (Un)Geist, den Oppenheimer aus der Flasche ließ, wird man wohl nicht dahin zurückbekommen. Es bleibt nur die Hoffnung, daß er unter Kontrolle bleibt.

Kai Bird, Martin J. Sherwin
J. Robert Oppenheimer: Die Biographie
2010, 704 Seiten
16,99 EU

Ein neuer Adam

Der Vormarsch der Ökologiebewegung und ihres politischen Arms, den Grünen, hat auch auf dem Feld der Ernährung zu einem Kulturkrieg geführt. Deutlich wurde es zuletzt mit der Anordnung aus dem von dem Grünen Cem Özdemir geführten Bundesministeriums für Ernährung, bei offiziellen Empfängen nur noch vegetarische Gerichte aus ökologischem Anbau zu servieren. WELT ONLINE titelte: „Der Kampf um den Speiseplan wird wie ein Religionskrieg geführt“. Der Veggieday, also der eine Tag in der Woche, an dem in Kantinen nur fleischlose Ernährung angeboten werden soll, ist aus Gründen des Natur- und Tierschutzes das angestrebte Ziel und wie bei solchen Bewegungen üblich, wird es dabei kaum bleiben.

Der Kampf um die Ernährung ist so alt wie die Ökologiebewegung selbst, die – angelegt in der Gegenkultur der 1960er Jahre – ihren Aufschwung in den 1970er Jahren nahm. Entscheidende Pushs erhielt sie unter anderem durch die von dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ (1972) des Club of Rome befeuerte Zukunftsangst vor dem ökologischen Kollaps. Ihre politische Formierung als die Partei „Die Grünen“ Ende der 1970er war eine schon zwingende Folge, ebenso wie ihr Marsch in die Parlamente und Institutionen.

Umso erstaunlicher ist es, daß sich bereits in der Anfangszeit dieser Bewegung kritische Stimmen gegen sie erhoben. Eine von ihnen war die des amerikanischen Schriftstellers D. Keith Mano (1942 – 2016), der die ökologische Bewegung 1973 in seiner dystopischen Satire „Die Brücke“ aufs Korn nahm. 1980 erschien sie in der bekannten Science-Fiction-Taschenbuchreihe des Heyne Verlags. Buch wie Autor sind heute leider in Vergessenheit geraten. Doch der Furor, den die Grünen in der Regierungsverantwortung der gegenwärtigen Ampelregierung entfachen, wo sie einen bislang nicht für möglich gehaltenen Schaden anrichten, verhilft Manos 50 Jahre alte Geschichte zu einem vollkommen neuen Reiz.

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Bereits die ersten zwei Sätze des Klappentextes stimmen in ihrer drastischen Deutlichkeit den Leser ein: „Man schreibt das Jahr 2035. Nach vierzig Jahren der Diktatur der Grünen ist die Menschheit am Ende.“ Die Grüne Ökologische Bewegung hat nach einem Krieg mit der alten Ordnung vollständig gesiegt. Die einstige Zivilisation und ihre Industriegesellschaft existieren nicht mehr. Die Bevölkerung ist drastisch reduziert. Die Natur wuchert über Ruinenstädte. Statt Kleidung tragen die Menschen enganliegende, schwarze Plastikanzüge. Die Verständigung erfolgt über Fingersprache. An die Stelle gewöhnlicher Nahrung tritt die Öko-Diät, ein nicht definiertes Gebräu, das seinen Nutzer zu einem langsamen, scheußlichen Sterben verurteilt:

Krebs war neben den üblichen Infektionen die zweithäufigste Todesursache. Öko-Diät zerstörte und veränderte die Zellwandstruktur von Magen und Darm. Geschwülste wurden zu selbstständigen Lebensformen erklärt, deren Existenzrecht ebenso hoch eingeschätzt wurde, wie das ihrer Wirte. Hinzu kam, daß die Ärzte nur wenig dagegen ausrichten konnten: Medikamente, Röntgenaufnahmen und chirurgische Eingriffe waren verboten, da all diese Maßnahmen die Vernichtung einer großen Anzahl von Bakterien bedeutet hätte.

Es ist nicht weiter verwunderlich, daß in diesem System selbst die Tötung von Insekten einem Kapitalverbrechen gleichkommt.

Das verfallene New Yorker Yankee Stadion wurde umfunktioniert zu einem Gefängnis. Hier sitzt Dominick Priest ein. Sein Vergehen: Er hat „im Zorn gesprochen“.

Doch von einem Tag auf den anderen werden alle Insassen freigelassen. Nicht wegen einer Amnestie, sondern um sich auf das ultimative Ende der Menschheit vorzubereiten:

EINSTIMMIGER BESCHLUSS DES OBERSTEN RATES
Von 7. Juli 2035

Da vom Fachausschuß für Fragen der menschlichen Atmung unwiderlegbar festgestellt wurde, daß der Atmungsprozeß von jeher und auch in Zukunft unzählige Formen mikrobiologischen Lebens in ihrer Funktion lähmt und zerstört, haben wir, vom Obersten Rat, vollzählig und einstimmig beschlossen, daß der Mensch als vernunftbegabtes Wesen diese mutwillige Vernichtung anderer Lebewesen, die dasselbe Existenzrecht wie er besitzen, nicht länger hinnehmen kann. Es wird somit angeordnet, daß jedermann aus freien Stücken und innerer Zerknirschung das Aussterben seiner Art herbeiführt.

Diese Verordnung tritt für alle Zivilpersonen und Bürger am 20. Juli 2035, für alle Offiziere und Beamte des Rates am 1. August 2035 in Kraft.

Damit ist zugleich die Hoffnung verbunden, liebe Mitbürger, daß jeder seinen vergänglichen Leib der Erde in einer Haltung wiederschenkt, durch welche die abscheulichen Verbrechen und Schandtaten, die unsere Art im Laufe der Geschichte an der Natur begangen hat, wenigstens zu einem kleinen Teil wiedergutgemacht werden.

Gehet hin in Frieden und Liebe!

Nach Aushändigung der Todespille wird Priest noch einmal die Gelegenheit eingeräumt, ein letztes Mal Frau und Kind wiederzusehen. Sein weiter Weg nach Norden, nach New Loch, seinem Geburtsort, führt ihn durch albtraumhafte, von Moskitos beherrschte Landschaften. Zwei Ereignisse auf seinem Weg werden zu entscheidenden Initialzündungen für eine außergewöhnliche Transformation Priests. Zum einen die Tötung zweier Grüner Gardisten in Notwehr. Zum anderen die Begegnung mit dem uralten Xavier Paul, dem letzten christlichen Priester, dem Vertreter einer Religion, die für das Prinzip des Lebens steht:

„Jesus Christus gab sein Fleisch und sein Blut für uns. (…) Deshalb haben sie auch unsere Kirchen geschlossen. Sie meinten, das Ganze sei Kannibalismus. Außerdem konnten wir sowieso keine Messen halten… Es gab weder Brot, noch Wein. Öko-Diät hat nichts mit Christi Blut zu tun. Es steckt kein Leben drin. Das ist tote Materie.“

In Priest erwachen uralte, zutiefst menschliche Instinkte. Die groteske Inszenierung seiner Taufe transformiert Priest in einen neuen Adam, aus dem die Menschheit von neuem entsteht.

Der aus einer christlichen Perspektive schreibende Konservative Mano erkannte in der Ökologiebewegung einen antihumanistischen Kern, dem er in „Die Brücke“ eine drastisch übersteigerte Form gab und aufzeigte, wohin er in allerletzter Konsequenz führt. Schon zu Lebzeiten durfte er sich mit dem Blick allein auf den Forderungskatalog der Tierrechtsorganisation PETA ebenso bestätigt fühlen, wie bei den Vorstellungen von Philosophen wie Peter Singer, der bei Tier und Mensch keinen Unterschied sieht. Daß sich das Umfeld der Tierrechtler eine zweifelhafte Moral zu eigen macht, die andere Menschen als Bedrohung empfinden, daraus machen viele von ihnen selbst keinen Hehl.

Zwischen Manos Buch und heute liegen genau 50 Jahre. Es wundert nicht, daß an ihrem Anfang seine Warnungen vor der grünen Utopie angesichts der Wirkmächtigkeit des Zeitgeistes kein Gehör finden konnten, zumal in dieser Form einer derart radikalen Satire, die auf viele Rezensenten und Leser zu abstoßen wirkte, um verstanden zu werden. Die Hoffnung bleibt, daß an ihrem Ende die Umsetzung dieser Utopie und praktische Regierungspolitik bei den Wählern einen späten, aber heilsamen Schock auslöst, der in der Fortführung ihrer Umsetzung einen baldigen und endgültigen Abbruch erteilt.

D. Keith Mano
Die Brücke

Heyne
192 Seiten, 1980
Nur noch antiquarisch erhältlich

Musik über den Tag hinaus

I start to drift with the tide
Maybe I’ll reach, I’ll reach the beach
My heart is sealed watertight
Maybe I’ll reach, I’ll reach the beach
(Refrain aus „Reach the Beach“; THE FIXX; 1983)

Kürzlich war in einem Beitrag auf WELT ONLINE zu lesen, die Rockmusik der 1980er Jahre sei scheußlich gewesen. Sein Verfasser, der Schriftsteller und Experte für Populärmusik Frank Schäfer, sollte es als Jahrgang 1966 Geborener eigentlich besser wissen. Im Gegenteil, die 1980er Jahre waren das letzte Jahrzehnt echter Kreativität, bevor Castingshows und derselbe Klangbrei aus der elektronischen Konserve den Auswahlprozess übernahmen. Einiges davon mag dem ökonomischen Druck geschuldet sein, dem die Musiklabels vor allem durch die freie, und damit weitgehend kostenlose Verfügbarkeit unterliegen. Aber es sagt einiges aus, wenn jemand wie Phil Collins feststellt, mit seinem Gesicht hätte er in unserer heutigen Musikwelt keinen Plattenvertrag mehr bekommen. Die führenden Künstler der damaligen Zeit standen für Originale und nicht für ein künstliches Produkt. Und so ist es vermutlich auch kein Zufall, daß Mottoparties der 80er Jahre mit ebendiesem Sound sich nach wie vor bleibender Beliebtheit erfreuen. Zu der Musikwelt dieser Zeit gehört auch die Gruppe the FIXX, deren größtes Erfolgsalbum „Reach the Beach“ in diesem Monat sein 40jährigstes Jubiläum feiert (Release-Datum: 13.05.1983).

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Die 1979 in England gegründete Band hatte bereits 1982 mit dem Album „Shuttered Room“ und den Hitsingles „Stand or Fall“ und „Red Skies“ einen ersten Achtungserfolg, als ihnen zwei Jahre später mit „Reach the Beach“ der Durchbruch in die amerikanischen Charts gelingen sollte. Die zehn anspruchsvollen Songs darauf zeichneten sich durch Klangfarbe, Vielseitigkeit und gute Texte aus. Die daraus ausgekoppelte Single „One Thing Leads to Another“ sollte mit Position Nr. 4 in den amerikanischen Charts der erfolgreichste Hit der Band werden.

Das Album selbst heimste Platinstatus ein. Ein wesentlicher Teil dieses Erfolges dürfte Rupert Hines (1947 – 2020), dem genialen Produzenten aus England, zuzuschreiben sein, der auch für andere Interpreten wie Chris de Burgh, Tina Turner und Stevie Nicks arbeitete. The FIXX wurden auch für andere interessant; für The Police wurden sie Tour-Support, Tina Turner nahm sie als Konzertband in Anspruch.

Der kommerzielle Erfolg ließ in den nachfolgenden Jahren deutlich nach, obwohl der kreative Output in den Alben „Phantoms“ (1985) und vor allem „Walkabout“ (1986) noch einmal neue Höhen erklomm. Letzteres Album hätte es durchaus verdient, auch in die offiziellen Rankings der besten Produktionen des Jahrzehnts gezählt zu werden. Zu dem Kultfilm „Straßen in Flammen“ (1984) steuerten sie mit „Deeper and Deeper“ eines der stärksten Stücke zum Soundtrack bei. Es bleibt auch rätselhaft, warum der Erfolg der Band weitgehend nur auf die USA und Kanada beschränkt blieb und nicht einmal einen Nachhall in der englischen Heimat erzeugte. Dennoch, „Reach the Beach“ sollte die Grundlage dafür bilden, daß the FIXX bis heute mit einer treuen Fangemeinde aktiv sind. Zwar boten die FIXX-Produktionen nach 1991 bis 2003 nichts Aufregendes, das der Erwähnung wert wäre. Doch 2012 kam mit „Beautiful Friction“ ein Album heraus, das technisch, konzeptionell und künstlerisch an die besten Zeiten der Band anknüpfte. Auch das aufwendig gedrehte Video zu der Single-Auskopplung „Anyone Else“ konnte sich im besten Sinne sehen lassen, als eine Art Reminiszenz auf den Musiksender MTV, der dieses Format als neue Kunstform populär machte.

Vier Jahre später erhielt der Berichterstatter auf die an den Facebook-Account der Band gerichtete Frage, wann es denn ein neues Album gebe, noch die kryptische Antwort: „When you least expect it – Wenn du es am wenigsten erwartest“. Die Geduld für vier weitere Jahre hat sich indes gelohnt. Denn mit „Every Five Seconds“ kam 2022 ein Werk, welches das Niveau seines Vorgängers halten konnte.

Die Musikwelt der 1980er Jahre sah viele Erfolgsgeschichten, die nicht von Dauer waren, wie ein Meteor eine helle Leuchtspur erzeugten und doch schnell verglühten. Doch immerhin, einige kamen mit einem Nachhall, der bis heute wirksam ist. Die zähe Lebendigkeit von the FIXX zeigt sich nicht allein in der kontinuierlichen Besetzung der Band, deren harter Kern um Sänger Cy Curnin, ergänzt um Rupert Greenall (Keyboards), Jamie West-Oram (Gitarre), Dan K. Brown (Bass) und Adam Woods (Drums) bis heute weitgehend stabil geblieben ist. Auch geht die Band nach wie vor in den USA auf Tour.

Liveauftritte in Europa, gar in Deutschland, befinden sich nicht mehr in der Planung. Hier muß man von ihrem legendären Auftritt im Rockpalast (1985) auf Youtube zehren oder von dem im der Frankfurter Batschkapp, der das Live-Album „Real Time Stood Still“ (1997) zur Folge hatte. Immerhin, sie kamen im Dezember 1990 sogar zu einem Konzert nach Kassel, in das „Musik-Theater“, das inzwischen Geschichte ist. Dem Urteil des HNA-Kritikers Ralph-Michael Krum (heute Bandleader der NEW PONY), wonach die Band einen im Großen und Ganzen überzeugenden Auftritt absolviert habe, kann der Berichterstatter, der noch beste Erinnerungen an diesen Abend hat, sich nur anschließen. Aber wer weiß, vielleicht kommen sie wieder nach Deutschland, möglicherweise sogar nach Kassel – dann, wenn man es am wenigsten erwartet…?

The FIXX: Rupert Grenall, Dan K. Brown, Cy Curnin, Adam Woods, Jamie West-Oram (von li.; Quelle: Facebook)
the FIXX
REACH THE BEACH
MCA RECORDS
1983

Die Freiheit zurückerobern

„COVID-19 ist ein Anfang. Es ist nicht die erste weltumspannende Epidemie, auch nicht die schlimmste und gewiss nicht die letzte. Dennoch markiert die Krise den Beginn einer neuen Zeit: die Welt ist so eng, die Technologie so wirkmächtig, die Angebote an Wissen, an Möglichem, und an Deutung sind überwältigend geworden und schwanken so, dass unser Denken oft nicht mehr hinterherkommt und unser Handeln seinen Kompass zu verlieren droht. Die bereits bekannten Kollateralschäden sind selbstmordgefährdete Kinder, eine Verrohung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die weitere Verelendung der Elenden in der Welt. Die Krankheit unserer Zellen erweist sich als Erkrankung des Geistes, des Gewissens, der Gesellschaft.“

Ole Döring, „Wie kommen wir vor die Welle?“ (aus: Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“, Hrsg. Sandra Kostner und Tanya Lieske)

Keine andere Krise der vergangenen Jahrzehnte seit Ende des Zweiten Weltkriegs war mit derartigen Freiheitseinschränkungen verbunden wie die Corona-Pandemie. Um das Virus an seiner weiteren Ausbreitung zu hindern und damit die Zahl der tödlichen Krankheitsverläufe zu reduzieren, übernahmen fast alle Staaten der westlichen Welt die Methoden aus dem totalitären China, aus der das Virus stammte. Doch es sollte nicht bei den Lockdowns des öffentlichen Lebens bis hin zum Verbot, auf einer Parkbank sitzend ein Buch zu lesen, bleiben.

Bis dahin sollte keine andere Maßnahme tiefer in das medizinische Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen eingreifen, wie die von zahlreichen Medien durch moralisierende Narrative flankierte Impfpflicht, mit der alle Menschen durch einen bis dahin kaum erprobten Impfstoff gegen das Corona-Virus immunisiert werden sollten.

Letztendlich blieb es nur bei der Absicht und die Impfpflicht wurde nur bestimmten Berufsgruppen auferlegt. Doch die bizarren Wortmeldungen eines Boris Palmer nach Beugehaft und Rentenkürzungen für Impfverweigerer, für die er im Gegensatz zu seiner aktuellen „Neger“-Äußerung keine Konsequenzen tragen mußte, lassen erahnen, wie sehr sich durch Corona in unserer politischen Klasse die totalitäre Versuchung ausgeprägt hat.

Nach dem Abflauen der Pandemie stellt sich nun heraus, die Impfung war keineswegs ein „Game-Changer“ und schon gar nicht nebenwirkungsfrei. Die Zuschreibung der Ungeimpften als unsolidarische Pandemietreiber hatte eine reine Sündenbock-Funktion. Immens waren die durch die teilweise rechtswidrigen Maßnahmen angerichteten sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kollateralschäden. Über die als „Schwurbler“, „Covidioten“ und „Coronaleugner“ verunglimpfte Gruppe der Maßnahmenkritiker hinaus sind sich immer mehr Menschen unsicher geworden: War diese Pandemie diesen Verlust an Freiheit wert?

Freiheit für einen selbst oder Sicherheit für alle anderen? [Netzfund]

Diese Frage stellten sich auch 2022 die Publizistin Tanya Lieske und die Historikerin Sandra Kostner. Noch in der Endphase der Pandemie sammelten sie 15 Essays, die sie in dem Band „Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“ zusammenfassten, der im Herbst desselben Jahres erschien.

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Der Untertitel verspricht eine „interdisziplinäre Essaysammlung“, ein Anspruch, der leider nur eingeschränkt eingehalten wird. Zwar verfügen die Autoren über jeweils beachtliche professionelle Hintergründe aus den Geisteswissenschaften. Doch einen Fachmann mit medizinisch-naturwissenschaftlichem Background, vielleicht sogar aus der Epidemiologie oder Virologie sucht man darunter leider vergebens. Doch das schmälert den Wert der Beiträge keineswegs. Auf allgemeinverständliche Art wird die staatliche Pandemiebekämpfung unter den Aspekten der Freiheit und den Möglichkeiten einer Versöhnung der durch die Pandemie gespaltenen Gesellschaft beurteilt. Ein auffallendes und auch gravierendes Defizit ist das Fehlen eines Beitrags, der sich explizit mit dem politisch-medialen Komplex beschäftigt, der die entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der Coronamaßnahmen wie auch bei der Vermittlung des Krisenbildes hatte, in der Regel ohne diese kritisch zu hinterfragen.

Die Wissenschaft galt vorgeblich immer als Richtschnur in der Pandemiebekämpfung und überschritt dabei immer wieder ihre Grenzen, z.B. wenn sie „sich anmaßt, über den Grundrechten zu stehen und darüber zu entscheiden, wem diese zukommen und wem nicht“. Der Philosoph Michael Esfeld konstatiert daraus in seinem Essay „Freiheit und Wissenschaft“ die „Selbstzerstörung von Wissenschaft“, verbunden mit der fatalen Gefahr einer Abkehr der Menschen von derselben. Esfeld rät zur Rückkehr zum Respekt für der Vorrang der Selbstbestimmung und der Grundrechte der Menschen. Das Interesse der Wissenschaft, nach Esfeld, ist „Erkenntnisse zu gewinnen und Wahrheit über Tatsachen zu gewinnen“.

Bereits der lange Titel des von dem Psychologen Boris Kotchoubey eingereichten Essays – „Von ‚Wissenschaft und Religion‘ und ‚Wissenschaft gegen Religion‘ zu ‚Wissenschaft als Religion‘“ – läßt keine Fragen über sein Thema offen. Kotchoubey zeigt auf, wie schmal in unserer Zeit der Grat zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft geworden und selbst Wissenschaftler die Grenzen wie auch die Begrenztheit ihrer Aussagen oftmals nicht mehr zu erkennen vermögen:

Wer nicht mehr den Unterschied zwischen Glauben und Wissen begreift, nimmt seine Annahmen nicht mehr als Annahmen, d.h. als etwas nur Geglaubtes. „Wer nicht weiß, dass er glaubt, der glaubt, dass er weiß.“ Damit wird die wichtigste Eigenschaft eingebüßt, die einen Experten von einem Laien unterscheidet, nämlich das klare Bewusstsein für die Grenzen seiner Expertise. Daher kommt das typische Phänomen der letzten Jahre: der fanatische Glaube der Wissenschaftler an ihre Modelle. Das säkularisierte Hirn ist unfähig einzusehen, dass ein mathematisches oder physikalisches Modell immer auf Annahmen beruht, und dass, wenn nur eine dieser zugrunde liegenden Annahmen falsch ist, das Modell keinen Pfennig mehr wert ist, egal wie gut es berechnet wurde: „garbage in, garbage out.“

Den Mißbrauch des Begriffes „Solidarität“, mit dem Regierungsvertreter für die Akzeptanz der Freiheitseinschränkungen warben, prangert die Islamwissenschaftlerin Agnes Imhof an („Solidarität und Menschenwürde. Autoritarismus entlarvt durch sein Menschenbild“). Diese Solidarität wurde nicht freiwillig erbeten, sondern – was Imhof problematisiert – „mittels Sanktionen eingefordert“ und warnt: „Wo das Gemeinwohl dem Einzelnen übergeordnet wird, läßt sich prinzipiell jede Grausamkeit rechtfertigen.“ Ihr Fazit des die Grundrechte des Individuums und damit seine Menschenwürde negierenden Staates fällt drastisch aus:

„Wer Solidarität also gegen Menschenwürde ausspielt, verlässt das Territorium freiheitlich-demokratischer Anthropologie. Denn Solidarität ist nur unter freien Individuen möglich. Alles andere nennt man nicht Solidarität. Sondern Sklaverei.“

Herausgeberin Sandra Kostner dürfte unter allen Beiträgern am bekanntesten sein. Zu ihrer Vita zählen die Zusammenarbeit mit dem Migrationsforscher Stefan Luft, der dem Konsens seines Faches einer „Bereicherung durch Migration“ teilweise kritisch gegenübersteht, sowie ihrer Mitgliedschaft in dem von ihr gegründeten „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, das gegen die Instrumentalisierung und Vereinnahmung durch ideologische Interessen streitet. Auch vor einem Auftritt in der vom Mainstream argwöhnisch und mit gewissem Neid beäugten Sendung „Talk im Hangar-7“ des Senders Servus-TV schreckt sie nicht zurück. All das ist mehr als ausreichend, sie in den Augen des Mainstreams „höchst verdächtig“ zu machen, eine Vorstufe vor dem Label „umstritten“.

Sandra Kostner in „Talk im Hangar-7“

In „Droht ein gesellschaftliches Long Covid?“ fragt die Historikerin nach den langfristigen gesellschaftlichen Folgen über die Pandemiezeit hinaus durch eine Sündenbock-Politik, die Ungeimpften in einer teils drastischen und affektgeladenen Rhetorik („Tyrannei der Ungeimpften“) ihre Rechte absprach:

Zwei Jahre, in denen Politiker, unterstützt von Medien, Institutionenvertretern und Wissenschaftlern, leichtfertig die Geister „Ausgrenzung und Verunglimpfung Andersdenkender“ und „Allgemeinwohlideen schlagen individuelle Freiheitsrechte“ aus der Flasche ließen, haben zu beträchtlichen sozialen Verwerfungen geführt. Mit anderen Worten: Es wurde der Boden für ein gesellschaftliches Long Covid bereitet.

Der Geist ist aus der Flasche, wie bekommen wir ihn wieder hinein, wie sind die gesellschaftlichen Gräben zu überwinden? Hier spielt der Begriff der Versöhnung hinein, mit dem sich der Philosoph Henning Nörenberg beschäftigt („Die Spaltung der Gesellschaft in Zeiten von COVID-19. Worin sie besteht und wo Ansätze zu ihrer Überwindung liegen“). Er empfiehlt die Suche nach Gemeinsamkeiten – z.B. die Ohnmachtserfahrungen in dieser Zeit – zwischen zwei Lagern, die keineswegs so homogen und damit voneinander verschieden sind, wie es auf dem ersten Blick erscheint. Doch bis jetzt sieht es eher danach aus, als ob die Zeit der Pandemie unter den Tisch gekehrt werden soll, Nörenbergs Wunsch nach Versöhnung nur ein frommer Wunsch bleibt, denn vor allem die politisch verantwortlichen Akteure zeigen wenig Interesse daran, daß das Thema weiterhin im öffentlichen Bewußtsein bleibt. Eindeutigstes Indiz dafür ist die Ablehnung eines AfD-Antrags auf Einrichtung eines Corona-Untersuchungsausschusses im Bundestag im vergangenen April.

Geradezu verblüffende historische Analogien zeigt der Osteuropa-Historiker Klaus Buchenau auf. Die Einführung neuer Formen in der Liturgie führte in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu einer Abspaltung der Altgläubigen von der Russisch-Orthodoxen Kirche. Verlauf und Entwicklung dieser Bewegung sowie ihr Verhältnis zum religiösen Mainstream weisen interessante Ähnlichkeiten zu der zeitlich wesentlich geraffteren Pandemie auf („Roskol – Spaltung auf Russisch. Corona im Spiegel eines historischen Beispiels“).

Mit dem weiteren Abklingen der Corona-Pandemie verlieren die Beiträge aus „Pandemiepolitik“ keineswegs an Wert – im Gegenteil: Auch für die Abwehr künftiger „Zumutungen“ (Robert Habeck) bieten die Beiträge in „Pandemiepolitik“ einen gewaltigen Fundus an Argumenten, so auch in der Betrachtung von Worst-Case-Szenarien, dem Wert der Bildungspolitik und der Monofokalität, also der Verengung des Blickwinkels.

Die Übergriffigkeiten staatlicher wie nichts-staatlicher Akteure haben Pflöcke eingeschlagen, die für die Zukunft nichts Gutes erwarten lassen. Schon während der Pandemie wurde deutlich kommuniziert, daß die sogenannte, medial gehypte „Klimakrise“ sich als weiteres Betätigungsfeld zur Zwangsbeglückung der Bürger und damit einem weiteren Freiheitsentzug anbietet. Die irrationale Energiewende der Ampel-Regierung und damit verbunden vor allem die teuren Gesetzesvorschläge aus dem Hause des Wirtschaftsministers Habeck zum verpflichtenden Heizungsaustausch sind das erste drohende Wetterleuchten dieser unangenehmen Wahrheit.

Sandra Kostner, Tanya Lieske (Hrsg.]
Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?:
Eine interdisziplinäre Essaysammlung
(Klartext. Schriften zu Politik und Gesellschaft)
ibidem
Oktober 2022
210 Seiten; 24,- Euro