Es kam am Ende überraschend und unerwartet. Erst verkündete MAGNUM-Mastermind und -Gitarrist Tony Clarkin, daß er an einer seltenen, schweren Erkrankung der Wirbelsäule leide, die zwar behandelbar, aber nicht heilbar sei. Mit der Diagnose kam auch die Absage der Konzerttournee, die eigentlich im Frühjahr dieses Jahres stattfinden sollte. Doch Clarkin versicherte den Fans, daß das nicht das Ende von MAGNUM bedeuten würde. Doch drei Wochen später kam die Nachricht wie ein Paukenschlag: Am 9. Januar gab Clarkins Familie bekannt, daß Tony im Beisein seiner Töchter friedlich entschlafen sei. Er wurde 77 Jahre alt.
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Gemeinsam mit dem charismatischen Sänger und „Storyteller“ Bob Catley bildete Clarkin den Kern von MAGNUM, einer der außergewöhnlichsten Hardrockbands Großbritanniens, die nunmehr auf eine über 50jährige Geschichte mit über 20 Alben zurückblicken kann. Wechselhafter konnte die Bandgeschichte kaum sein: Von vielversprechenden Anfängen in den 1970er Jahren – oft überschattet von Problemen mit der Plattenfirma Jet Records – zum Durchbruch Mitte der 1980er mit „On a Storyteller’s Night“ mit anschließendem Klimmzug in die Topregionen der Charts mit dem Meisterwerk „Wings of Heaven“. Auffallend in dieser Phase war Clarkins düstere Erscheinung im dunklen Mantel und hohen Hut mit Mähne und Bart, als hätte Gandalf aus „Herr der Ringe“ den Zauberstab mit der Gitarre getauscht. Später folgte der radikale Imagewechsel zu Glatze und Kinnbart.
Clarkin selbst gab einmal zu, als Songschreiber kein Naturtalent zu sein: „Ich muß wirklich hart arbeiten, um einen Song zu vollenden. In der Schule habe ich im Englisch-Unterricht genau aufgepasst und zu den Wegen der Komposition, sogar obwohl ich keine Idee hatte, daß ich am Ende dies tun würde. Aber ich wußte, es würde in meinem zukünftigen Leben von praktischem Nutzen sein.“
Die Mühe lohnte sich. Auch ohne Naturtalent gelangen Clarkin außergewöhnliche Kompositionen, thematisch in der Fantasy oder – wie sollte es bei einem Briten anders sein – im Ersten Weltkrieg. Letzteres führte zu den beliebten „Les Morts Dansant“ und dem epischen „Don’t Wake The Lion“:
Der Schnapsidee des Plattenmanagements, nun den amerikanischen Markt aufzurollen, folgte der deutliche Knick nach unten. „Goodnight L.A.“, für das Clarkin gemeinsam mit dem legendären Russ Ballard die Songs schrieb, war im Stil des US-Westküsten-Rocks den europäischen Hardrock-Fans nicht zu vermitteln. Und nebenbei – der Eroberungszug in die USA erwies sich als Flop.
An die alten Erfolge konnten MAGNUM von da an nicht mehr anknüpfen. Mitte der 1990er Jahre fühlte sich Clarkin derart ausgebrannt, daß er MAGNUM auflöste. Es folgte ein kleines Projekt namens HARD RAIN, gemeinsam mit Catley. Es schien, als sei der Sargdeckel über MAGNUM auf ewig geschlossen. Umso größer die Überraschung, als 2002 mit „Breath of Life“ die Wiederbelebung verkündet wurde. Gleichwohl, das Material auf dem Album konnte nicht überzeugen und selbst Clarkin schien sich seiner später zu schämen.
Doch wie seinerzeit bei „On a Storyteller’s Night“ bewies Clarkin, über welches Beharrungsvermögen er verfügte, um auch in den schwierigsten Situationen sein kreatives Potential auszuschöpfen. 2004 brachte „Brand New Morning“ der Band ein kaum für möglich gehaltenes Comeback. Von den ersten Takten des Titellieds bis zum Ende eines der besten Alben, die MAGNUM lieferten.
Von da an liefen MAGNUM wie eine geölte Maschine. Pünktlich alle zwei Jahre kam ein neues Album mit anschließender Europa-Tournee. Besonders erfolgreich waren sie in Deutschland, wo sie nach langer Zeit wieder in den Top-10 vertreten waren. Allerdings war ihr Stil nicht mehr der gleiche wie in der ersten Hälfte ihrer Geschichte, in der ihre Songs vor allem von raffinierten, anspruchsvollen Arrangements geprägt waren, die in epische Klangteppiche mündeten, so wie hier in „Sacred Hour“:
Was jetzt kam, war solides Handwerk, dessen Produktion Clarkin selbst übernahm. Neue Akzente konnten dem Genre des Hard Rock damit nicht hinzugefügt werden, aber die kontinuierlich hohe Qualität erfüllte die Ansprüche des Publikums zuverlässig. Und der Tradition, in jedes Album einen Titel in epischer Überlänge aufzunehmen, blieb man sich treu. Doch immerhin, „Into the Valley of the Moonking“ (2009) ragt in dieser Spätphase besonders heraus.
Einmal hatte ich sogar das unerwartete Glück eines Pressegesprächs mit Clarkin und Catley. Im März 2018 traf ich beide in der Pause vor dem Soundcheck im Colos-Saal Aschaffenburg. Die Aufregung und Anspannung meinerseits konnten nicht größer sein. Mit einer solchen Prominenz hatte ich es in den bis dahin 20 Jahren als „Freelancer“ noch nicht zu tun gehabt. Mein situationsbedingt holpriges Englisch ließ eine flüssige Konversation leider nicht zu. Dennoch, für meinen Artikel hatte ich daraus genug Stoff sammeln können. Und groß die Erheiterung, als ich sie am Schluß in Verbindung auf ihr beider Alter auf den Song „Rockin‘ Chair“ – Schaukelstuhl (1990) ansprach:
„I ain’t ready for no rockin‘ chair – Ich bin nicht bereit für den Schaukelstuhl“
Warum auch immer, aus einer Veröffentlichung in der „JUNGEN FREIHEIT“ wurde leider nichts. Aber das Erlebnis, die Bandleader meiner Lieblingsgruppe seit Teenagertagen auf ein Gespräch zu treffen, wird für mich immer ein besonderes sein, das alle vorherigen Mühen wert war.
Nun halte ich das neue Album in den Händen. „Here Comes the Rain“ ist am vergangenen Freitag, eine knappe Woche nach Clarkins Tod, erschienen. Die Covergestaltung übernahm wieder der Concept-Art-Künstler Rodney Matthews, dessen Fantasy-Motive allein schon eine Geschichte für sich erzählen. Die darauf enthaltenen zehn Songs lassen nichts zu wünschen übrig und strotzen von einer Vitalität, die jeden aus dem „Schaukelstuhl“ reißt. Musikalische Experimente blieben hier auf den Einsatz eines Harfenspiels beschränkt („After The Silence“). Unwillkürlich muß man bei „I Wanna Live“ an Clarkin denken. Sollten sich bereits in der Produktionsphase die gesundheitlichen Probleme Clarkins bemerkbar gemacht haben, so wirkten sie sich keineswegs auf das Ergebnis aus.
Die Verkaufszahlen von „Here Comes the Rain“ gehen durch die Decke, so daß die vorhandenen CD-Bestände bereits ausverkauft sind. Die Musikkritiker überschlagen sich in ihren Rezensionen. Kann sich ein Musiker einen besseren Abschluß für sein Vermächtnis wünschen?
Tony Clarkins letzte Worte an die Nachwelt:
“I didn’t look to live forever – Ich habe nicht danach getrachtet, ewig zu leben“
Aber die paar Tage, um diesen Erfolg zu erleben, hätte man ihm schon noch gewünscht.
Mit Henryk M. Broder verbindet mich ein besonderes Erlebnis. Es war zur Buchmesse Frankfurt 2013, als der Publizist auf dem Stand der „WELT“, für die er als Kolumnist tätig ist, sein Buch „Die letzten Tage Europas. Wie wir eine gute Idee versenken“ vorstellte. Gleich zu Beginn zeigte er durch eine einschlägige Mimik seine Entrüstung und sein Unverständnis darüber, daß zur gleichen Zeit nur zwei Stände weiter Charlotte Roche („Feuchtgebiete“) ihren Auftritt hatte. Nach zwei Kapiteln aus seinem Buch bot Broder dem Publikum an, ein weiteres vorzulesen, allerdings nur unter diesen zwei Bedingungen:
„Erstens: Sie kaufen mein Buch“, um dann im Ton deutlich anzuheben:
„Zweitens: Sie versprechen mir, nie wieder in Ihrem Leben Grün zu wählen!“
Zu einer Zeit, als die Grünen bereits die Lieblinge der Mainstreammedien waren, hatte die „Revolverschnauze“ (Götz Kubitschek über Broder) und Meister der pointierten Beleidigung, wenig Hemmungen, das publizistische Feuer auf die Partei zu eröffnen, die selbst in der Opposition dieses Land tiefer umgestaltet hat als kaum eine andere. Wie wenig diese „Umgestaltung“ – neudeutsch: „Transformation“ – Deutschland zum Positiven verändert hat, ist nie deutlicher geworden, als bei der gegenwärtigen Regierungsbeteiligung der Grünen in der Ampel-Koalition, die seit 2021 regiert. Gemeinsam mit Reinhard Mohr, einem abtrünnigen Altlinken, protokollierte Broder den aktuellen Zustand des Irrsinns, in dem Deutschland immer tiefer im Ampelsumpf versinkt: „Durchs irre Germanistan. Notizen aus der Ampel-Republik“.
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Schon der Neologismus „Germanistan“ im Titel weckt Assoziationen an ein Third-World-Shithole. Und genau diesem deprimierenden Befund kann man sich nach Lesen dieses im sarkastischen Tonfall gehaltenen Protokolls nicht entziehen. Die vergangenen zwei Jahre der Ampel-Regierung bieten in ihrer Ereignisdichte eine Fülle von Symptomen, die den Befund über den Abstieg unseres Landes in die Liga der Dritten Welt zwingend nahelegen:
„Endemischer Moralismus, realitätsferne Illusionen, Größenwahn und Selbstverleugnung, schlechte Laune und Angst vor der Freiheit, dazu Vollkasko-Mentalität und apokalypseversessene Wohlstandsverwahrlosung mit einer kräftigen Portion Geschichtsvergessenheit, die sich als ‚Lehre aus der Geschichte‘ tarnt – darum geht es in diesem Buch.“
Das Buch unterteilt sich in drei Kapitel, in denen die jeweiligen Ereignisse thematisch aufbereitet werden. Das erste Kapitel mit dem Titel „Schöne Illusionen oder Die Realitätsblindheit der Büllerbü-Republik“ nimmt vor allem die geistreichen Sottisen aus prominentem Mund aufs Korn, sei es Karl Lauterbach und sein merkwürdiges Verständnis von der Statistik über Impfschäden oder der Soziologe Heinz Bude, dessen seltsame Bemerkung von „Impfgegnern nach Madagaskar“ mit einem ähnlichen Plan der Judendeportation auf diese afrikanische Insel verbunden wird. Einen besonderen Verriss erfährt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, für seine Forderung, mit der Bekämpfung antijüdischer Ressentiments bereits im Kleinkindalter zu beginnen.
Persönlich wird Broder beim Selbstbestimmungsgesetz, daß jedem Menschen die freie Wahl seines Geschlechts einräumt:
„Ich hätte gerne eine andere oder eine weitere Staatsangehörigkeit. Nicht, dass ich mit meinem deutschen Pass unzufrieden wäre, aber einen monegassischen fände ich schicker. Oder einen maltesischen. Ich habe ein Faible für kleine Staaten. Gehe ich vielleicht zu weit? Habe ich da etwas missverstanden? Es ist doch ganz einfach: Wenn ich das Recht habe, der Natur ins Handwerk zu pfuschen und mich, allen männlichen Attributen zum Trotz, zur Frau zu erklären, dann müsste ich auch das Recht haben, mein Alter und meine Nationalität selbst zu bestimmen. Kann man den Sinn des ‚Selbstbestimmungsgesetzes‘ überhaupt anders verstehen?
Den ersten Schritt in mein neues Leben als Henrike habe ich bereits getan. Ich parke nur noch auf Frauenparkplätzen. Soll doch einer mal kommen und sagen, ich sei keine. Den mache ich rund, als sei ich ein Kerl.“
„Aktivismus“ ist eine der schlimmsten geistigen Verirrungen unserer Zeit. Im Kapitel „Moralismus als neue Gratis-Tugend – die gute Absicht zählt“ wird diese Untugend entsprechend gewürdigt. Zum Beispiel anhand der Ostermarschierer, der Mutter aller deutschen aktivistischen Bewegungen, über die sich die Autoren lustig machen:
„Der Aktivist Reiner Braun vom ‚Netzwerk Friedenskooperative‘ zählt im Tagesspiegel ‚etliche historische Gelegenheiten‘ auf, bei denen man eine Einigung mit Russland hätte erreichen können. Doch inzwischen, so der Friedenskämpfer, hätten die Ukrainer ‚ihr Selbstbestimmungsrecht verwirkt‘, der Staat sei bankrott, korrupt, kaputt. Putins ‚Spezialoperation‘ also ein Akt christlicher Nächstenliebe. (…)
Nun gehört es zu religiösen Exerzitien, dass sie immer gleich ablaufen, ob ‚Urbi et Orbi‘, der österliche Segen des Papstes auf dem Petersplatz, oder das Frühlingsfest der Volksmusik mit Florian Silbereisen, und so ist auch bei den Ostermärschen allenfalls in Nuancen eine Abweichung vom Ritus zu beobachten. Den lässt man sich auch von der hässlichen Wirklichkeit nicht zerschießen. Dieser Hang zum Idealismus ist ein wahres Markenzeichen von Germanistan in den Zeiten der Ampel. Und so wird die Tagesschau auch an Ostern 2024 wieder eine ‚positive Bilanz‘ der Ostermärsche vermelden, ganz egal, was bis dahin in der Ukraine, im Nahen Osten oder auf Taiwan passiert sein wird.“
Der Hang zur Apokalypse ist in wohl kaum in einem anderen Volk so tief verankert, wie dem der Deutschen. Kaum verwunderlich, daß dieser in der bunten Ampel-Republik neue Blüten treibt. Und so heißt das dritte und letzte Kapitel aus dem Buch von Broder / Mohr treffend: „Die deutsche Apokalypseverliebtheit oder Untergang ist immer“. Und kaum eine Aktivistengruppe habe diese irrationale Sehnsucht nach der Apokalypse so verinnerlicht wie die Klimaschützer der „Letzten Generation“:
„Macht man sie – freundlich und höflich – darauf aufmerksam, Deutschland sei nur mit einem Prozent an der globalen Bevölkerung beteiligt und für etwa zwei Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich, also klimapolitisch ein Zwerg, dessen Verschwinden dem Klima nichts ausmachen würde, dann erwidern sie: ‚Umso mehr kommt es darauf an, dass wir mit guten Beispiel vorangehen. Wenn die anderen sehen, dass wir es können, werden sie uns folgen.‘
Das ist deutscher Größenwahn in klimatöser Vollendung. Die Kränkung, bestenfalls ein Gartenzwerg zu sein, der mit den Alphatieren unter den Weltverschmutzern nicht mithalten kann, verwandelt sich in Stolz über eine Poleposition, die das Schicksal den Deutschen zugedacht hat. Wer, wenn nicht wir? Und wann, wenn nicht jetzt? Es ist, als würde sich der Kleingartenverein ‚Glück im Winkel‘ um den Auftrag bemühen, die nächste Bundesgartenschau ausrichten zu dürfen.“
In einer spektakulären Hungerstreikaktion in der Nähe des Reichstags 2021 haben Klimaaktivisten der Welt noch drei bis vier Jahre Zeit zum Umsteuern gegeben, es sei eine Frage auf Leben und Tod. Das würde zufälligerweise in die Zeit der nächsten Bundestagswahl fallen. Genau der richtige Zeitpunkt, um in das Bücherregal zu greifen und „Durchs irre Germanistan“ zu lesen, um festzustellen, daß zu jenem Zeitpunkt das Land immer noch nicht im Hitzesturm untergegangen ist, aber auf seinem Weg in den endgültigen Wahnsinn ein paar bedeutende Schritte weitergekommen ist.
Zwei Termine für Lesungen seines Buches stehen für Broder an. Als nächstes am 31. Januar 2024 in der Berliner Bibliothek des Konservatismus und danach am 17. März auf Schloss Ettersburg bei Weimar. Es ist bezeichnend, daß es zwei ausgewiesene Stätten des Nonkonformismus sind, die Broder, der heute nicht mehr Gast in den Medien des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks sein darf, zu Wort kommen lassen.
Henryk Broder / Reinhard Mohr Durchs irre Germanistan. Notizen aus der Ampel-Republik Europa Verlag 224 Seiten; 20,- Euro
Das historische Porträt: Hjalmar Schacht (1877 – 1970)
Nur vier Jahre nach der Abdankung des Kaisers im November 1918 erlebte die nachfolgende Weimarer Republik die schlimmste Krise seit ihrem Bestehen. Anfang 1923 besetzten die Franzosen mit belgischer Unterstützung das Ruhrgebiet, die industrielle Kernzone des Deutschen Reichs, um ihre Reparationsforderungen aus dem Ersten Weltkrieg gegenüber der Reichsregierung durchzusetzen und gegebenenfalls einen Zerfall Deutschlands herbeizuführen. Die Antwort auf den Einmarsch war die Ausrufung des Ruhrkampfs durch die Reichsregierung, die mit den Mitteln des passiven Widerstands den Rückzug der fremden Truppen erzwingen wollte. Eines dieser Mittel war der Streik der Arbeiter in den Betrieben und der Angestellten in den öffentlichen Verwaltungen. Die Lohnausfälle übernahm die Regierung, die jedoch nicht über die entsprechenden Ressourcen verfügte und einfach die Notenpresse anwarf.
Doch damit entwickelte sich die ohnehin schon galoppierende Inflation der Reichsmark in eine nie dagewesene Hyperinflation, die in einem rasenden Tempo sämtliche Bargeldbestände und Sparguthaben entwertete. Was der deutschen Exportindustrie satte Vorteile verschaffte, führte in weiten Teilen der Arbeiterschaft und des Mittelstandes zur sozialen Verelendung. Gleichzeitig polarisierte sich die politische Stimmung im Land zwischen dem rechten und linken Spektrum. Deutsche Kommunisten versuchten sich an ihrer Version der bolschewistischen Revolution und der damals noch relativ unbekannte Adolf Hitler probte im November den letztlich gescheiterten Aufstand.
Doch die Republik sollte es tatsächlich bis zum Ende dieses Krisenjahres schaffen, die Kontrolle wiederzuerlangen. Zwar mußte der Ruhrkampf erfolglos abgebrochen werden. Aber mit der im Oktober eingefädelten Währungsreform gelang wieder eine Stabilisierung des zerrütteten Wirtschaftsgefüges, durch die sich das Reich erholen konnte. Das Jahr endete mit einer Personalie, deren Name eng mit dieser Reform verbunden ist und die im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen sollte: Nach dem Tod des greisen und altersstarrsinnigen Reichbankpräsidenten Havenstein ernannte Reichspräsident Ebert am 22. Dezember 1923 – heute vor genau 100 Jahren – den Reichswährungskommissar Hjalmar Schacht zu seinem Nachfolger. Er sollte dieses machtvolle Amt über das Ende der Weimarer Republik – mit einer mehrjährigen Unterbrechung – bis 1939 innehaben.
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Die Bedeutung der Währungssouveränität kann in Krisenzeiten wie 1923 gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Geldentwertung dürfte einer der bedeutendsten Faktoren gewesen sein, die den Weg Hitlers zur „Machtergreifung“ ebneten. Und selbst heute, wo eine vom Krieg in der Ukraine ausgelöste Inflation zu einer der größten Sorgen der Bundesbürger zählt, machen sich die damals in das kollektive Gedächtnis des deutschen Volkes eingebrannten traumatischen Erfahrungen bemerkbar. Und aktuell findet sich in Russland das bestätigende Pendant zu Schacht in der Zentralbankpräsidentin Elwira Sachipsadowna Nabiullina, die wider Erwarten das Kunststück fertigbrachte, die Wirtschaft zu stabilisieren und den westlichen Sanktionen die erhoffte Wirkung zu nehmen.
Geboren wurde Horace Greeley Hjalmar Schacht am 22. Januar 1877 in Tingleff (Nordschleswig). Seine Wurzeln väterlicherseits lagen im deutschen Bürgertum, während seine Mutter dem dänischen Adel entstammte. Seine weiteren Vornamen Horace Greeley gaben einen Hinweis auf die weltoffene Prägung der Region, die durch die Hanse über die alte Tradition eines weitverzweigten Handelsnetzwerk verfügte. Seit 1906, mit einer Unterbrechung während des Nationalsozialismus, war Schacht Mitglied von Freimaurerlogen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Kindheit waren weitgehend prekär. Vorübergehend versuchte sich die Familie als Auswanderer in die USA. Aber dennoch konnten die Eltern dem jungen Schacht jenes bürgerliche Leistungs- und Bildungsethos vermitteln, das ihn zu einem erfolgreichen Studium mit Promotion verhalf. Dem Studium folgte eine kurze Berufstätigkeit im Journalismus, dem sich die Karriere im Bankgewerbe anschloß. Doch dann kam das Krisenjahr 1923 und damit Schachts große Stunde als Retter der deutschen Währung.
Die Ursachen des Währungsverfalls liegen weiter zurück als mit dem Anwerfen der Notenpresse durch den Ruhrkampf. Der entscheidende Fehler lag in der kritischen Entscheidung der damaligen Reichsregierung, die finanziellen Lasten des Ersten Weltkrieges nicht mit Steuererhöhungen – insbesondere für die Kriegsprofiteure – zu schultern, sondern mit einer steigenden Schuldenaufnahme. Den fatalen Weg in den Schuldenstaat setzte die der Monarchie folgende Republik fort, um sich so die Legitimität zu erkaufen. Später kam die Idee auf, sich mithilfe der Notenpresse zu entschulden. Doch erst im Herbst 1923, als die Krise eskalierte, unternahm die Reichsregierung robuste Maßnahmen, um gegenzusteuern. Die erste, durch den einflußreichen Reichstagsabgeordneten und früheren Finanzmister Karl Helfferich vorgetragene Idee, die bisherige Währung durch eine roggengedeckte zu ersetzen, fiel durch. Am Ende kam die Reform durch die Rentenmark, für die der Staat mit seinem gesamten Grundbesitz und seinen letzten Goldreserven einstand. Helfferich als erste Wahl für den Posten des Reichswährungskommissars, der die Reform durchsetzen sollte, war dem sozialdemokratischen Präsidenten Ebert wegen seiner Rolle als rechter Einpeitscher der politischen Stimmung im Vorfeld der Ermordung des Politikers Matthias Erzberger von 1921 nicht vermittelbar. So kam am Ende Schacht in die engere Auswahl, der sich ab November 1923 ausgestattet mit quasi diktatorischen Vollmachten umgehend ans Werk machte:
Schacht hatte die Strategie, nach der er die Inflation bekämpfte, zwar nicht selbst entworfen, doch durch seine kompromisslose und konsequente Umsetzung des Rentenmark-Plans wurde er als »der Bankier, der sein Land rettete« weltberühmt. Am 15. November 1923 wurden die Druckerpressen angehalten und auf die neue Rentenmark umgestellt. Für eine Rentenmark mußte man eine Billion (1.ooo.ooo.ooo.ooo) alte Reichsmark hinblättern; wem dieser Wechselkurs nicht paßte, der konnte es ja lassen. Wer Grundstücke besaß, konnte eine auf Rentenmark ausgestellte Anleihe zu vier Prozent erwerben, die zu fünf Prozent kündbar bar, obwohl über die Laufzeit der Anleihe keine genauen Angaben gemacht wurden. Es kam in einem heftigen Kampf mit den Spekulanten. Skrupellose Raffkes hatten verzweifelten Menschen alles abgekauft, was sie besaßen (nicht nur Häuser und Grundstücke, sondern auch Kleidung, Schmuck oder Lebensmittel — »Tausend Dollar für deine Villa, keinen Pfennig mehr! Das ist mein letztes Angebot!«) Sie hatten sich ausländisches Geld geborgt, für ihr Kapital hohe Zinsen gezahlt und beim Verkauf ihrer »Beute« hohe Spekulationsgewinne erzielt, doch gegen den neuen, knallharten Reichswährungskommissar hatten sie keine Chance. Deutsche, die noch Sachwerte besaßen, faßten wieder Mut und boten sie nicht mehr zu Schleuderpreisen an. Am 20. November hatten die meisten Spekulanten bereits kapituliert.(aus: “Hitlers Bankier – Hjalmar Schacht“; John Weitz)
Die Welle nationaler und internationaler Popularität weckte bei dem hochgewachsenen Mann von hagerer Gestalt mit markanten Stehkragen durchaus höhere Ambitionen. Gleichzeitig entfremdete sich der anfangs liberale Vernunftsrepublikaner von der Weimarer Republik, weil seine berechtigten und weitsichtigen Warnungen vor der Ausgabenpolitik der Reichsregierungen wenig Gehör geschenkt wurden. Im Streit über den Young-Plan, der Deutschlands Reparationsverpflichtungen regeln sollte, trat er von seinem eigentlich auf Lebenszeit bestellten Amt zurück. Von seinem Rückzugsort, dem Landsitz Gühlen, blieb Schacht nicht untätig und knüpfte Verbindungen zum Nationalsozialismus, der sich nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise gewaltig im Aufwind befand. Wie viele andere aus der konservativen Elite gab er sich der trügerischen Illusion hin, die durchaus als mindestens „unappetitlich“ empfundenen Nazis und ihren „Führer“ Adolf Hitler in ihrem Sinne lenken zu können: „Nein, die Nazis können nicht regieren. Aber ich kann durch sie regieren.“
Nur wenige Wochen nach seiner „Machtergreifung“ ernannte Hitler Schacht zum erneuten Reichsbankpräsidenten; 1934 zum Wirtschaftsminister in Personalunion. Mit seinem internationalen Renommee und Netzwerk verschaffte er dem Regime das vorläufige Vertrauen des Auslands. Im Inneren finanzierte er die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die massive Wiederaufrüstung. Allerdings mit Mitteln, die seinem ökonomischen Selbstverständnis vollkommen widersprachen und erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihre inflationäre Wirkung entfalten sollten, so daß 1948 mit Einführung der D-Mark in Westdeutschland eine erneute Währungsreform anstand.
Schacht wollte im konservativen Sinne die Aufrüstung Deutschlands, um das Land wieder zu einem gleichberechtigten Akteur in der Welt zu machen, denn: „Vor oder zwischen den Weltkriegen wurde ein Staat nach der Stärke seiner Armee, nach der Größe seiner Kriegsflotte und der Reichweite seiner Bomber beurteilt“ (John Weitz). Demgegenüber standen die expansiven Ziele Hitlers, der dabei wenig Rücksicht auf die ökonomischen Realitäten nahm. Der aggressive Judenhass der Nazis stieß Schacht zusätzlich ab, und er bekämpfte derartige Tendenzen in seinem Amtsbereich ohne jede Nachsicht, was ihm das Mißtrauen der Parteiführung einbrachte, obwohl er selbst keineswegs frei von antisemitischen Klischees war. Es gehörte damals schon eine gehörige Portion Mut dazu, so wie er nach den Exzessen der Kristallnacht den Lehrlingen der Reichsbank eine solche Ansage zu machen:
„Die Brandstiftung in den jüdischen Synagogen, die Zerstörung und Beraubung jüdischer Geschäfte und die Mißhandlung jüdischer Staatsbürger ist ein so frevelhaftes Unternehmen gewesen, daß es jedem anständigen Deutschen die Schamröte ins Gesicht treiben muß. Ich hoffe, daß keiner von Euch sich an diesen Dingen beteiligt hat. Sollte aber doch einer dabeigewesen sein, so rate ich ihm, sich schleunigst aus der Reichsbank zu entfernen. Wir haben in der Reichsbank für Leute keinen Platz, die das Leben, das Eigentum und die Überzeugung anderer nicht achten. Die Reichsbank ist auf Treu und Glauben aufgebaut.“
Trotz Parteiehrungen immer auf Distanz zu Hitler bedacht, geriet er in zunehmenden Konflikt zum „Führer“. Erst 1937 verlor er nach einer scharf formulierten Denkschrift zu den Autarkiebestrebungen Hitlers sein Amt als Reichswirtschaftsminister. Der endgültige Bruch vollzog sich im Januar 1939 – nur wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – als das Reichsbankdirektorium ein Memorandum an Hitler abschickte, das vor dem Verhängnis einer anhaltend „uferlosen Ausgabenwirtschaft“ warnte und seinem Adressaten die dramatischen Folgen für das Wirtschafts- und Währungsgefüge vor Augen hielt. Doch insgeheim wollte Schacht verhindern, daß auf Reichsbankkredit ein Angriffskrieg finanziert wird. Erbost über diese „Meuterei“ entließ Hitler Schacht aus seinem Amt als Präsident der Reichsbank. Auf Hitlers Wunsch erhielt er aber das Amt eines Ministers ohne Geschäftsbereich, bevor er ihn 1943 auch aus diesem entließ:
„Hitler brannte darauf, Schacht mit seinen ständigen Einwänden, seinen unangenehm rationalen Argumenten und seinem politischen und steuerlichen Konservatismus loszuwerden.“ (John Weitz)
An dieser Stelle muss der Bogen in unsere heutige Zeit geschlagen werden, um auf gewisse Analogien und Musterwiederholungen hinzuweisen, die auf bedenkliche Dispositionen im Nationalcharakter und der Mentalität der Deutschen schließen lassen. So wie im Dritten Reich ein entsetzlicher Dilettantismus brachial zu Werke ging, unbeeindruckt von der Realität und jeder gegenstimmigen Expertise, das Land nach utopischen Vorstellungen umzugestalten, so ist dieses Muster auch heute zu beobachten, sei es in der Klima- und Energiepolitik, sei es in der Migrationspolitik. Um nicht mißverstanden zu werden: Damit sollen die Grünen nicht mit der mörderischen Bewegung der Nationalsozialisten auf ahistorische und polemische Weise gleichgesetzt werden. Obwohl beide Bewegungen durchaus über gemeinsame Wurzeln in der deutschen Romantik verfügen, doch das weiter auszuführen ist hier nicht der geeignete Ort. Wie auch immer, übereinstimmend ist der ideologische Furor, mit dem Fanatiker ohne jede entsprechende fachliche Kompetenz – damals ein Postkartenmaler, heute ein Kinderbuchautor – utopische Ziele umzusetzen suchen – damals eine autarke Nation in ethnischer Reinheit, heute eine multikulturelle Gesellschaft in Klimaneutralität -, und in ihrem Gefolge eine Masse gläubiger Jünger, ungeachtet aller sich abzeichnender negativer Konsequenzen.
Doch zurück zu Schacht: Schon vor seiner „Freisetzung“ gestand er im engen Kreis seinen Irrtum über die Nazis ein: „Wir sind Verbrechern in die Hände gefallen, wie hätte ich das ahnen können.“ Nach dem gescheiterten Attentat des 20. Juli 1944 wurde Schacht festgenommen und verbrachte die Zeit bis zum Kriegsende in verschiedenen Konzentrationslagern. Nur mit knapper Not konnte er dem Tod entkommen, da das Regime ihm seine Kontakte zum Widerstand nicht nachweisen konnte. Das Schweigen der Verschwörer rettete ihn mit knapper Not.
Dennoch schloß sich dem die Internierung durch die Alliierten an, die ihm vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal den Prozeß machten. Die ohnehin schlampige Anklage, die auf ein Todesurteil abzielte, konnte herfür nichts Belastendes vorbringen. Dies wiederum hielt die Justiz der jungen Bundesrepublik ihrerseits nicht davon ab, Schacht unmittelbar strafrechtlich zu verfolgen, letztlich ohne Ergebnis.
Schachts Expertise war weiterhin gefragt. Vor allem die neugegründeten Staaten der ehemaligen Kolonien der Dritten Welt suchten seinen Rat. Ebenso gründete er erfolgreich eine Bank. 1970 verstarb Schacht hochbetagt im Alter von 93 Jahren in München.
Hjalmar Schacht in all seinen Leistungen, aber auch in seinen Widersprüchen, seinen tragischen Irrungen und Wirrungen, die eine bewegte Lebenspanne vom Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich und die Bonner Republik umfassten, ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Als letztes brachte 1997 der jüdischer Historiker John Weitz (1923 – 2002), dessen Familie vor den Nazis aus Deutschland emigrierte, eine beachtliche und faire Biographie heraus, „Hitlers Bankier: Hjalmar Schacht“. Auf die mithin wichtigste Frage in der Vita Schachts, die nach seiner Mitschuld daran, daß Hitler die Welt in Angst und Schrecken versetzte, befand Weitz:
„Er wurde beim Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg freigesprochen, als er sich erfolgreich gegen eine so eng wie möglich gefasste Anklage verteidigte. Die Glaubwürdigkeit des Militärgerichts hing von der Stichhaltigkeit und Durchsetzbarkeit der verhängten Urteile ab. Es konnte keinen Angeklagten verurteilen, weil er den Teufel geliebt hatte. Es konnte ihn nur verurteilen, wenn er dem Teufel bei einem klar zu bestimmenden Verbrechen geholfen hatte. Doch Schachts Verbrechen war seine Bewunderung für den Teufel gewesen.“
John Weitz Hitlers Bankier: Hjalmar Schacht Europa Verlag, 1998 450 Seiten Nur noch antiquarisch erhältlich
Im Herbst raschelt in Südniedersachsen nicht nur das Herbstlaub, auch der Blätterwald gerät in Bewegung. Dann ist im Oktober die Zeit gekommen für den Göttinger Literaturherbst, eine seit über 30 Jahren bestehende Kulturinstitution. Auch in diesem Jahr bot das Programm den Auftritt zahlreicher Schriftsteller, die ihre aktuellen Werke und ihr Schaffen insgesamt vorstellen. Aus dem Programm von 2023 sollen hier drei von ihnen näher vorgestellt werden.
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Andrej Kurkow: Der russischsprachige Ukrainer
Erstaunlich gering war das Interesse für Andrej Kurkow. Der 1961 in Leningrad geborene Ukrainer zählt sich zur russischsprachigen Minderheit der Ukraine und hat sich mit Romanen wie „Picknick auf dem Eis“ (1999) und „Graue Bienen“ (2019) erfolgreich international als Schriftsteller etabliert. Doch nicht nur Romane, auch Kinder-Bilderbücher wie das von Tania Goryushina illustrierte „Warum den Igel keiner streichelt“ gehören zu seinen Werken. Trotz des Ukrainekrieges, den er mit seinem „Tagebuch einer Invasion“ (2022) beobachtete, war am Freitagabend des 27. Oktober das Alte Rathaus bestenfalls zu einem Viertel mit Zuschauern belegt. Ein Zeichen dafür, daß das deutsche Publikum dieses Krieges überdrüssig ist?
Kurkov jedenfalls hatte sein neues Buch „Samson und das gestohlene Herz“ mit im Gepäck, aus dem der polyglotte Ukrainer mit russischer Muttersprache in einwandfreiem Deutsch vorlas. Es ist der Folgeband von „Samson und Nadjeschda“, einer Kriminalgeschichte aus dem Kiew von 1919, aus der Phase des Bürgerkriegs, die sich der bolschewistischen Revolution von 1917 anschloß. Obwohl es der Titel nahelegt, ist der Hintergrund der Geschichte keine Romanze, sondern spielt im Fleischgewerbe Kiews. Sein Held, der Ermittler Samson, hat nichts mit seinem biblischen Namensvetter gemeinsam, sondern versucht einfach nur zu überleben.
Auf das Thema des Krieges in der Ukraine wurde natürlich auch eingegangen. Kurkow gab einen kritischen Hieb auf die russische Literatur, die im Gegensatz zur ukrainischen vollkommen humorlos sei: „Dostojewski“, der große russische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, „ist nicht lustig.“
Als Folge des Krieges sieht er die russische Sprache in der Ukraine im Niedergang. Viele Jüngere wollten sie nicht mehr sprechen. Auch physisch werde es immer weniger Russischsprechende geben: „Die russische Kultur und Sprache wird künftig keine Rolle mehr in der Ukraine spielen“, so Kurkov ohne jedes Bedauern in der Stimme.
Die militärische Situation sieht er als konsolidiert an: „Es gibt Hoffnung.“ Im Gegensatz zum Bürgerkrieg, als sechs Armeen um die Macht in Kiew kämpften, stehe die Ukraine nur noch einem Feind gegenüber.
Hoffnung darauf, daß sich negative Einstellungen ändern können, schöpft Kurkow aus der Erfahrung, als er mit elf Jahren es ablehnte, in der Schule das Fach Deutsch zu lernen: Weil die Deutschen im Zweiten Weltkrieg seinen Großvater umbrachten. Doch immerhin, mit 36 Jahren änderte er seine Meinung.
Richard Ford: Das letzte Kapitel im Leben des Frank Bascombe
Zu den Stargästen des diesjährigen Literaturherbstes zählt zweifellos Richard Ford. Der US-Amerikaner aus New Jersey feiert vor allem mit seiner Romanreihe über das Leben seines Protagonisten Frank Bascombe weltweit Erfolge. Aktuell ist das fünfte und letzte Buch erschienen, „Valentinstag“, in dem der gealterte Frank Bascombe an eben jenem Feiertag mit seinem todkranken Sohn eine Reise zum Mount Rushmore unternimmt, jenem ikonischen Denkmal im US-Bundesstaat South Dakota, das in gigantischer Form die Köpfe der US-Präsidenten George Washington, Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt und Abraham Lincoln ziert. Auf ihrer besonderen Reise vertauschen Vater und Sohn oft die Rollen, eine Beziehung voller Urgefühle.
Die NDR-Journalistin Margarete von Schwarzkopf suchte am Sonntagabend des 29. Oktober in der restlos ausverkauften Sheddachhale das Gespräch mit Ford, unterstützt von dem Schauspieler Benno Führmann („Babylon“), der Textpassagen aus „Valentinstag“ vortrug. Alle drei ergaben ein sich perfekt ergänzendes Ensemble, das nicht nur seinen Spaß miteinander hatte, sondern diesen auch in das Publikum vermitteln konnte. Naheliegend galt ihr Interesse vor allem dem Protagonisten Bascombe, in dem man ein Alter Ego seines Schöpfers vermuten könnte. Denn beide sind fast gleich alt – Bascombe 74, Ford 79 – und Ford war zeitweise – wie Bascombe – Sportreporter, bevor er hauptberuflich Schriftsteller wurde. Bascombe, so Ford, ist eine spezielle Figur, kein Durchschnitts-Amerikaner, wie vielleicht viele Leser vermuten würden. Diese Vorstellung eines Durchschnitts-Amerikaners sieht Ford auch als abwegig an. „Valentinstag“ ist trotz des traurigen Hintergrunds auch eine Geschichte über Glück, denn: „Glück ist, wenn man Unglück hinter sich läßt.“ Seine Ehefrau, so Ford, sagte ihm: „Schreib über glückliche Menschen.“ Und vielleicht ist das der verborgene Kern von „Valentinstag“, daß man sich Frank Bascombe als einen solchen glücklichen Menschen vorstellen muß. Und so war es diese Stelle aus dem Prolog von „Valentinstag“, die Führmann mit so viel Eleganz vortrug, die die Zuhörer wohl am meisten berührte:
Wozu nicht mehr viel zu sagen ist. Wie kommt es, dass eine lange schlafende Idee wieder zum Leben erwacht und als komplett erneuertes Ziel ihr strahlend helles Lebensbanner schwenkt? Glücklich sein – bevor der graue Vorhang fällt. Oder zumindest drüber nachdenken, warum du es nicht bist, wenn du es nicht bist. Und ob es überhaupt was bringt, sich darum zu scheren. Was ich behaupten würde. Es bringt was, sich darum zu scheren – mehr Sicherheiten habe ich allerdings auch nicht anzubieten. Aber wer zur Tür hinausgeht (das wusste meine Mutter, das »wusste« sogar Pug Minokur, falls er überhaupt etwas wusste) und sich nicht darum schert, ob er glücklich ist, der zollt dem Leben weniger als den vollen Tribut. Was doch schließlich unser Daseinsgrund ist. Dem Leben seinen vollen Tribut zu zollen, egal wer wir sind. Oder etwa nicht?
Natürlich vermittelt „Valentinstag“ auch einen Eindruck über „die Lage des Landes“ (so wie der gleichnamige dritte Titel der Bascombe-Reihe). Mit dem Mount Rushmore verbindet Ford ein Erlebnis, als er zur gleichen Zeit dort war wie US-Präsident Donald Trump, dessen Blick auf das kolossale Monument ihm erschien, als wolle jener auch sein Abbild dort sehen.
Die Fahrt von Minnesota zum Mount Rushmore folgt einer korrupten amerikanischen Tradition, in der sich die Nation von Ost nach West bewegte, dabei alles unter ihr ruinierend. Amerika sei heute ein gefährdetes und gefährliches Land. Dennoch sagt Ford von sich: „I am an american patriot, even today – ich bin ein amerikanischer Patriot, selbst heute.“
Seinen Weg zum Schriftsteller beschreibt Ford als einen mit Brüchen. Auf zwei erfolglose Bücher in den 1970ern folgte eine Phase als Sportreporter, bevor er in den 1980er Jahren zum Durchbruch fand. Sein Schreibprozeß bringt in dem, was seine Figuren tun, immer wieder Überraschungen hervor; die Rollen sind nicht vorgeschrieben. In all seinen Büchern suche er nach der Gelegenheit, daß jemand sagt: Ich liebe dich. Schreiben selbst sei nicht hart. Er sei darin aufgegangen. Und wie mit einem Augenzwinkern: Auch müsse er aufgrund seines Alters keine Rücksicht auf die political correctness nehmen.
Frank Bascombe ist am letzten Kapitel seines Lebens angelangt. Doch damit ist sein Schöpfer Richard Ford noch lange nicht am Ende. Zwar fühle er sich nach jedem Buch leer. So zog er das rote Notizbuch aus seinem Jackett, in dem er immer die Ideen für neue Geschichten hineinschreibt, die ihm unterwegs einfallen. Der alte weiße Mann aus New Jersey wird uns bestimmt noch was zu erzählen haben. Das Publikum wird es mit Beruhigung aufgenommen haben.
Richard G. Kratz: Gottes Wort aus der Höhle
Was 1947 Beduinen zufällig in einer Höhle am Toten Meer entdeckten, sollte sich als der bedeutendste Fund aus der Antike erweisen. Die darin vorgefundenen Tonkrüge enthielten Schriftrollen mit den ältesten Niederschriften der hebräischen Bibel, des Alten Testament. Die Schriftrollen von Khirbet Qumran wurden zur Sensation über die Fachwelt hinaus. Erst 1991 wurde ihr Inhalt vollständig freigegeben.
Wenn es einen deutschen Experten für Qumran gibt, dann Reinhard G. Kratz. Der Professor für Altes Testament an der Georg-August-Universität Göttingen ist auch Leiter der Qumran-Forschungsstelle der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Am 1. November stellte er im Gespräch mit Jonas Maatsch, Generalsekretär der Akademie, in der Alten Mensa sein 2022 erschienenes Fachbuch „Qumran“ mit dem aktuellen Erkenntnisstand vor. Obgleich anspruchsvolles Fachbuch, so versicherte Kratz zu Beginn, daß das Lektorat des Verlags Beck auf gute Lesbarkeit geachtet hätte. Auch konnte ein Hinweis auf die aktuellen Vorgänge über den Ausbruch antisemitischer Ressentiments nicht ausbleiben.
Die in Qumran vorgefundenen Handschriften enthalten alle Bücher der Hebräischen Bibel, bis auf das Buch Ester, zuzüglich parabiblische Texte wie apokryphe Psalmen, die nicht in den biblischen Kanon kamen. Hinzu kommen auch – anonyme – Texte der in Qumran siedelnden Gruppe selbst. Ein kurioses Detail: Auch in kryptischer Schrift verfasste Texte sind aufgefunden worden, deren Inhalt sich nach ihrer Entschlüsselung allerdings als banal erwiesen. Warum sie dennoch verschlüsselt worden sind, sei ein Rätsel, so Kratz.
Die in Quamran aktive Gemeinschaft hält Kratz nicht identisch mit der fundamentalistischen Bewegung der Essener, auch wenn Schnittmengen durchaus erkennbar seien. Ehelosigkeit wie bei den Essenern wurde dort nicht praktiziert. Auch sei Qumran kein Zentrum gewesen. Seine Lage an einer belebten Straße mache es nicht zu einem Rückzugsort. Hier sei so etwas wie ein „Club“, der über mehrere Niederlassungen verfüge, aktiv gewesen, eine Bewegung frommer Zellen, die sich nach dem Vorbild antiker griechischer Vereine organisiert habe. Ihre Mitglieder standen zueinander in Gütergemeinschaft, „geistige Aussteiger“ mit Familien und in normalen Berufen tätig, deren subversive Ideologie sie abgeschirmt habe von der Versammlung der „Männer des Frevels“, also ein radikales Gegenbild des „wahren Israel / Juda“. Kratz beschrieb weiter die inneren Verhältnisse der Qumran-Gemeinschaft als die eines Kultes, in dem üblicherweise die Verstöße gegen die Gemeinschaftsordnung am härtesten bestraft wurden, in der Regel mit – temporärem – Gemeinschaftsentzug.
Die populäre Selbstbezeichnung der heutigen Klimabewegung aufgreifend, nannte Kratz die Gemeinschaft von Qumran aufgrund ihres eschatologischen – also eine nahe Endzeit des göttlichen Eingreifens erwartenden – Charakters die „Letzte Generation“. Und in gewisser Weise war sie es auch, bis sie im Zuge der römischen Niederwerfung des jüdischen Aufstands (66 – 70 n. Chr.) ausgelöscht wurde.
Die bemerkenswerteste Erkenntnis fiel zum Ende. Die in Qumran vorgefundenen Texte sind durchaus nicht identisch und weisen gewisse Abweichungen zueinander auf, was die Gültigkeit heutiger Fassungen eigentlich in Frage stellen sollte. Für die Zeit damals jedoch waren diese Abweichungen kein Problem, das die Heiligkeit der Texte in Frage stellen sollte, denn diese -so Kratz – lag nicht in ihren Buchstaben. Denn nach dem Verständnis ihrer Schreiber war der eigentliche Autor immer Gott.
Derzeit schreibt die Hamas am nächsten blutigen Kapitel in der komplexen Geschichte des Zusammenlebens zwischen Juden und Muslimen. Der britische Historiker Martin Gilbert hat diese Historie in seinem Standardwerk „In Ishmael’s House“ eingehend dargestellt. Vor zwei Jahren hatte ich dieses Buch für die Junge Freiheit rezensiert. Aus Anlaß der aktuellen Ereignisse in Nahost stelle ich den entsprechenden Beitrag wieder voran:
„Und sie sagte zu mir: ‚Wissen Sie, das ist ja sehr schön, daß Sie heute Abend hergekommen sind, und ich merke natürlich auch, wie aufgeschlossen Sie sind für alles was hier vorgeht und was uns umtreibt und beschäftigt. Aber ich bleibe dabei, die Fremdheit zwischen Ost und West ist ein Faktor, der auch 30 Jahre nach dem Mauerfall nicht zu bestreiten ist. Und das ist eure Schuld! Das ist die Schuld des Westens, das ist die Schuld der Wessis.‘“ (Der Historiker Karlheinz Weißmann über einen Besuch bei einer jungen Akademikerin in Schwerin im Jahr 2020)
Am heutigen 3. Oktober 2023 feiert Deutschland den 33. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung. Nur noch wenige Jahre und das wiedervereinigte Deutschland ist älter als die DDR, die mit dem 3. Oktober 1990 aufhörte als Staat zu existieren. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, brachte der frühere Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) die Euphorie der damaligen Zeit in einem berühmt gewordenen Satz zum Ausdruck. Deutschland war in diesen Tagen ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer. Schon ein Jahr später trat Ernüchterung ein und die Fahnen verschwanden selbst zu diesem Anlaß. Der „Aufbau Ost“ -und mit ihm der „Wohlstand für alle“ – ließ auf sich warten, und die ehemaligen Bewohner fragten sich, ob sie lediglich Verfügungsmasse eines „Anschlußgebietes“ waren.
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Auch mehr als drei Jahrzehnte konnten die durch 40 Jahre Teilung entstandenen Gräben nicht überwinden. Zwar hat sich die ökonomische Situation gebessert, aber mental bestehen Unterschiede zwischen West und Ost, die am deutlichsten im Wahlverhalten zutage treten. Nur in der ehemaligen DDR ist die im Westen gegründete AfD Volkspartei. Hier tritt eine außerordentliche Renitenz gegen die vermeintlichen Segnungen progressiven Strebens zutage, die ihr Ventil nicht nur gegen „die da oben“ sucht, sondern auch gegen die „Scheiß-Wessis“. Wächst in Wahrheit auseinander, was einstmals zusammengehörte…?
Es sind zwei Bücher, die in diesem Jahr als Bestseller zum Thema herausragen. Da ist zum einen „Diesseits der Mauer“ der in der Vorwendezeit im Osten geborenen, heutigen Wahlbritin Katja Hoyer, die die Geschichte der DDR aus einer ungewöhnlichen Perspektive erzählt. Zum anderen die Streitschrift „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ des 1967 in Gera geborenen Germanisten Prof. Dr. Dirk Oschmann. Anläßlich dieses heutigen Feiertages sollen beide Bücher hier näher vorgestellt werden.
Mehr als nur Mauer und Stacheldraht?
Bisherige historische Darstellungen nahmen vor allem die Opfer des DDR-Repressionsapparats in den Fokus, vor allem die Staatssicherheit – kurz „Stasi“ – auch bekannt als „Schild und Schwert“ der SED. Einen neuen und ungewohnten Ansatz verfolgt die Historikerin Katja Hoyer mit ihrer umfangreichen Monographie „Diesseits der Mauer: Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990“.
Sie beginnt mit der Ankunft der künftigen kommunistischen Elite unmittelbar nach der sowjetischen Einnahme von Berlin. Es ist eine Gruppe deutscher Kommunisten mit Walter Ulbricht – dem künftigen Staatsratsvorsitzenden der DDR – an der Spitze, an denen sie ein markantes Merkmal hervorhebt: Sie alle haben die stalinistischen Säuberungen „durch die Abkehr jeglicher Moral überlebt“. Hoyers deutliche Schilderungen der sowjetischen Übergriffe wie die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen, die Raubzüge der Rotarmisten und ihre Rückwirkungen auf die Deutschen sowie die zunehmende politische Unterdrückung durch die Besatzer lassen jedenfalls keinen Spielraum für die Annahme, es hätte irgendein Einvernehmen zwischen den Bewohnern der DDR und ihren sowjetischen Besatzern gegeben, das die heutige angebliche Putin- und Russlandsympathie in Ostdeutschland erklären könnte.
Obgleich Stalins Vorstellungen zur Zukunft Deutschlands sehr diffus waren, und er durchaus Offenheit zeigte für einen Fortbestand Deutschlands als einheitlicher, neutraler Staat mit Armee, zementierte der anbrechende Ost-West-Konflikt die Teilung in eine mit den westlichen Demokratien eng verbundene Bundesrepublik und eine am sowjetischen Modell orientierte DDR. Letztere nennt Hoyer „eher ein deutsches als sowjetisches Projekt“, dessen dauerhafte Existenz als SED-Staat gleichwohl – wie das Ende des Aufstandes von 17. Juni 1953 wie umgekehrt auch die Ereignisse von 1989 belegen – einzig auf der Macht der Bajonette der Roten Armee beruhte.
Nicht allein die ideologische Wirtschaftspolitik war das große Manko im Wiederaufbau der DDR nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges. Ebenso wirkten sich hemmend aus das Fehlen eines industriellen Kerns, der Mangel an effektiven Energieträgern (es gab nur die minderwertige Braunkohle), die Folgen der Reparationen, der Zwangslieferungen in die Sowjetunion und ebenso die Wirkungen der Hallstein-Doktrin der Bundesrepublik, die die DDR international isolieren sollte.
Dennoch nahmen sich Hoyer zufolge die DDR-Bürger der Aufgabe des Wiederaufbaus Ostdeutschlands als sozialistischen Staats mit Stolz, Begeisterung und Hingabe an. Nach den unersprießlichen Jahren der Weimarer Republik und NS-Regimes boten sich den Arbeitern erstmals die Chancen auf Aufstieg, Statusgewinn und Wohlstand:
„So breit der Aufstand von 1953 auch gewesen war, so sehr hatte er auch viele Menschen landauf, landab aufgeschreckt. Zehntausende junge Menschen aus dem Arbeitermilieu wurden zum Studium ermutigt, in Führungspositionen befördert und erhielten Stipendien. Ein signifikanter Teil dieser Bevölkerung sah in Ulbrichts Regime die Inkarnation eines Deutschlands, das für sie kämpfte.“
Sogar ein Apparatschik wie Ulbricht zeigte sich durchaus offen für andere Ansätze in der Wirtschaftspolitik als die des dogmatischen Kommunismus. Die 1960er Jahre boten so die besten Aussichten auf „eine stabile und prosperierende Gesellschaft“, in der „die rigorose Repression der späten 1950er-Jahre allmählich einer Neuorientierung der Beziehungen zwischen der regierenden SED und der Bevölkerung [wich]“.
Dem stand auch nicht der Bau der Mauer entgegen. Hoyer über die Zeit nach dem Mauerbau:
„Das bedeutete, dass Mittelschicht und Facharbeiter einen Weg finden mussten, mit der Situation zu leben, während der Rest der Gesellschaft aufhörte, sich um den Mangel an Ärzten, Zahnärzten, Wissenschaftlern und Bauarbeitern zu sorgen. Es gab bemerkenswerte Ausnahmen, aber im Großen und Ganzen war es so, als ob das Land kollektiv mit den Schultern zuckte und zurück zur Arbeit ging.“
Vorzeigeprojekte dieser Zeit waren das Neubaugebiet Halle-Neustadt und die Neugestaltung des Ostberliner Alexanderplatzes mit seiner berühmten Weltzeituhr, wenngleich – was Hoyer nicht erwähnt – solche Maßnahmen auf Kosten der Provinz gingen, die in Folge allmählich dem Verfall preisgegeben wurde. Dennoch mag man sich durchaus vorstellen, daß beide Orte damals ein sehr viel besseres Bild lieferten als heute, wo sie zu regelrechten Shitholes verkommen sind. Und das ist keineswegs als Kompliment an die damalige DDR-Staatsführung gemeint. Wer kann da den Ostdeutschen schon ihre Verbitterung verdenken darüber, wie die wertvollsten Früchte ihrer Arbeit nach der Wende derart verdarben?
Auf Ulbricht folgte anfangs der 1970er-Jahre der konservativ-dogmatische Honecker und mit ihm eine Verhärtung der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse. An die Stelle der Aufbruchstimmung trat Normalität, aber auch Langeweile und damit auch die sklerotische Erstarrung des Systems – eine „komfortable, jedoch perspektivlose Lethargie“. Vor allem die Jugend kehrte sich ab. Honeckers Versuch, die Bevölkerung durch die Steigerung des Konsums zu gewinnen, überforderte die wirtschaftlichen Möglichkeiten derart, daß Mitte der 1980er-Jahre nur noch der ausgerechnet über den westdeutschen, „erzreaktionären“ CSU-Politiker und bayrischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß eingefädelte Milliardenkredit bei der Bundesrepublik die DDR vor dem Bankrott retten konnte.
Die ökonomischen Randbedingungen verschlechterten sich zunehmend – vor allem durch den Bruch des sowjetischen Versprechens auf billige Öllieferungen -, während Honecker wiederum sich auf dem außenpolitischen Parkett von dem sowjetischen „Bruderstaat“ zu emanzipieren suchte – durchaus mit gewissen Erfolg -, um sich die Reformpolitik Gorbatschows vom Hals zu halten. Dieser wiederum ließ ihn dann im Wendeherbst 1989, der das Endspiel für die DDR einleitete, fallen wie eine heiße Kartoffel.
Hoyer hat schon durch ihre Herkunft – 1985 geboren im brandenburgischen Guben– eine naturgegebene Verbindung zu der Thematik der Geschichte der DDR. Die deutsche Historikerin lebt seit zwölf Jahren in Großbritannien, wo sie mit „Blood and Iron: The Rise and Fall of the German Empire 1871–1918“ bereits einen Bestseller schrieb, dem nun mit „Diesseits der Mauer“ eine deutschsprachige Veröffentlichung folgte.
Die Reaktionen auf ihr neues Buch fielen sehr breit aus. Während die Presse „Diesseits der Mauer“ fast schon euphorisch lobte, fiel die Fachkritik drastisch ins Negative aus. Die Publizistin Ines Geipel warf der Autorin einen „unverhohlenen Revisionskurs“ vor, während der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ihr Verzerrungen und Auslassungen vorhielt.
Und in der Tat wirken manche Ansichten der Autorin befremdlich. Da ist zum beispielsweise der auch von ihr vertretene Mythos von der DDR als ein Staat, der die Nazi-Vergangenheit gründlicher bewältigte und die Verbrechen der Nazis schärfer ahndete, als es in der Bundesrepublik geschah. Doch auch die DDR hat Nazi-Funktionäre allzu bereitwillig absorbiert, allerdings in Stille, und so neue Karrieremöglichkeiten eröffnet. Erwähnt sei hier nur allein jener kuriose Staatsanwalt, der der Blutrichterin Hilde Benjamin assistierte, und der als Beamter vorher allein mit dem Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem Dritten Reich drei gänzlich verschiedenen Systemen diente.
Zum anderen erhält der Leser im Kapitel um den DDR-Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich 1976 in Zeitz aus Protest gegen das kirchenfeindliche SED-Regime selbstverbrannte, einen fast schon verharmlosenden Eindruck vom Leben bekennender Christen in der DDR. Zwar benennt Hoyer den Abriss von intakten Kirchen und die Sabotage von kirchlichen Praktiken. Hier bezeichnet sie die atheistische Jugendweihe als „säkulares Äquivalent zur Konfirmation“, was tatsächlich als Konkurrenzangebot gedacht war. Dennoch ist sich Hoyer sicher:
„Tatsache war jedoch auch, dass die meisten Christen sich mit dem System arrangiert hatten, ebenso wie das System sich mit ihnen.“
In der Praxis sah dieses scheinbare Einvernehmen so aus, daß Christen sehr wohl Diskriminierungen ausgesetzt waren, so daß ihnen Abitur und Studium verwehrt blieben. So auch im Fall des erst kürzlich im hohen Alter von 94 Jahren verstorbenen Landpfarrers Uwe Holmer, der aus Nächstenliebe dem Ehepaar Honecker nach dessen Sturz für zehn Wochen Obdach und Schutz gewährte. Seinen zehn Kindern wurde in der DDR allesamt der Zugang zu einer höheren Schule verweigert. Und niemand in der SED-Staatsführung hat diese Diskriminierung erbitterter betrieben als die Ministerin für Volksbildung Margot Honecker.
Es besteht kein Zweifel: Wer Hoyer liest, könnte durchaus auf den Gedanken kommen, die DDR sei eine „kommode Diktatur“ gewesen, ja sogar ein normaler Staat, mit der sich die Mehrheit ihrer Bewohner identifizieren konnte. Hoyer spricht davon, wie den Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung durch den Westen eine Art „Ballast“ durch eine Vergangenheit zugesprochen wurde, die infolge des Sieges des westlichen Systems restlos entwertet wurde. Es ist ein Narrativ, das seit der Wende besonders von den SED-Nachfolgern PDS und später der Linkspartei gepflegt wurde. Im Fall Hoyers ist das durchaus erklärlich durch den familiären Hintergrund; ihre Eltern waren als NVA-Offizier und Lehrerin Nutznießer des DDR-Systems.
Doch wie es um die Verhältnisse in der DDR tatsächlich bestellt war, hat die DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann (1933 – 1973), deren Roman „Die Geschwister“ dieses Jahr in einer überarbeiteten Neuauflage erschien, nur wenige Monate nach dem Mauerbau drastisch auf den Punkt gebracht: „Es riecht wieder nach Zuchthausluft.“
Katja Hoyer Diesseits der Mauer Hoffmann und Campe Verlag 592 Seiten, 2023 28,00 Euro
Beitritt oder Wiedervereinigung?
„Der Diskurs des Westens über den Osten ist monolithisch und extrem binär, weil offenbar die Festlegung ‚Osten‘ aufgrund der vermeintlich eindeutigen historischen und geographischen Konturen so wunderbar leicht zu handhaben ist. Der Westen redet immer positiv von der Vielfalt der Welt, hält aber in schönster Einfalt seine eigene Perspektive für die einzig mögliche. Und mit diesem Monopol der Perspektive verbindet er zugleich das Monopol auf die Wahrheit und das Monopol auf die Moral.“ (Dirk Oschmann, „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“)
Wo Katja Hoyer auf die Vergangenheit der DDR zurückblickt, schaut Dirk Oschmann auf die Gegenwart Deutschlands 33 Jahre nach der Wiedervereinigung. Aufbauend auf einen Beitrag für die FAZ im Februar 2022 unterzieht der 1967 geborene Literaturprofessor in seiner Streitschrift „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“ der Sichtweise der Westdeutschen auf ihre Landsleute in der ehemaligen DDR einer scharfen Abrechnung.
Oschmann beklagt eine paternalistisch-herablassende Haltung des Westens gegenüber dem Osten, in welcher dieser sich stets als Norm sieht und den Osten als Abweichung. Den Osten sieht der Westen wegen seiner angeblichen Selbstradikalisierung als den gesellschaftlichen Spalter Deutschlands.
Oschmann zieht dabei eine Linie eines ausschließlich westdeutsch geführten Diskurses über den Osten von selbst konservativen Intellektuellen wie Wolf Jobst Siedler oder Arnulf Baring, die bereits zur Wendezeit den Ostdeutschen aufgrund ihrer DDR-Sozialisation eine mangelnde Anpassungsfähigkeit an die neuen Gegebenheiten attestierten. In diesem ressentimentgeladenen Bild des Defizitären ist der Ostdeutsche Oschmann zufolge bis heute verharren geblieben: Provinziell, rückständig, gar barbarisch.
Ob die Wahl von Urlaubszielen in der näheren Region – während der weltoffene Westdeutsche die ganze Welt bereist – oder das Defizit von ostdeutschen Führungskräften, vor allem im universitären Überbau – als ursächlich gelten hierfür ausschließlich intrinsische Motivatoren. Oschmann hält dem zum einen entgegen, daß in der DDR – im Gegensatz zur „alten“ Bundesrepublik – Kapitalaufbau schon von Staats wegen nicht möglich war, während der Westdeutsche zusätzlich durch Erbschaften begünstigt sich auch noch in der ehemaligen DDR mit Eigentum versorgen konnte. Die durch den wirtschaftlichen Einbruch bedingten gebrochenen Lebensläufe und Lohnrückstände zum Westen haben eine Umkehrung bislang verhindert.
Damit sind auch akademische Karrieren nur unter erschwerten Bedingungen möglich, denn auch diese setzen genügend Eigenkapital voraus, das im Osten so nicht vorhanden ist. Besondern hebt Oschmann hier den Elitenaustausch in der Post-Wendezeit hervor, als die bisherigen Lehrstuhlinhaber durch solche aus dem Westen ersetzt wurde, die ihre eigenen, westzentrierten Netzwerke mitbrachten. Hier sollte noch hinzugefügt werden, daß auf diesem Weg noch manch abgehalfterter 68er-Aktivist eine neue Karriere starten konnte. Geradezu in Bitterkeit kommt Oschmann auf den „tendenziösen Machtmißbrauch“ der Westmedien im „Diskurs über den Osten“ zu sprechen, insbesondere die Leitmedien, die vor allem Pegida und die Wahlerfolge der AfD zum Anlaß nahmen, dem Negativ-Image des Ostens noch ein paar kräftige Brauntöne hinzuzufügen.
Wie sehr der Westen die Deutungshoheit über den Osten beansprucht, ruft Oschmann durch den ersten Literaturstreit im wiedervereinigten Deutschland von 1990, als Christa Wolf und ihr „Gesinnungskitsch“ aus dem deutschen Literaturkanon ausgeschlossen werden sollten, und die jüngste Kampagne gegen den Maler Neo Rauch anschaulich in Erinnerung. Immerhin, Rauch revanchierte sich bei seinem Kontrahenten Wolfgang Ullrich von der ZEIT mit dem so treffsicheren Gemälde „Der Anbräuner“.
Was am 03. Oktober 1990 vollzogen wurde, war nach Oschmann weniger eine Wiedervereinigung als ein Beitritt zur alten Bundesrepublik nach ihren Regeln:
„Bis 1989 war man im Osten durch Besatzung und Diktatur entmündigt und eingeschlossen, seit 1990 wird man im Osten vom Westen entmündigt und ausgeschlossen.“
Seiner Ansicht nach hätte eine von beiden Seiten neu ausgearbeitete Verfassung mit neu gewählten Symbolen, wie einer anderen Nationalhymne, diesem Prozeß wenigstens eine Richtung gegeben, mit der sich beide Seiten hätten identifizieren können. Tatsächlich war die alte Bundesrepublik nur in ihrer Selbstwahrnehmung das optimale Vorbild, an dem sich andere orientieren sollten. Nur zwei Jahre nach der Wiedervereinigung haben eine Reihe von herausragenden Persönlichkeiten wie Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Publizist Meinhard Miegel ein Manifest mit dem bezeichnenden Titel „Weil das Land sich ändern muß“ herausgegeben.
Dirk Oschmann Der Osten – Eine westdeutsche Erfindung Ullstein 224 Seiten, 2023 19,99 Euro
Am heutigen Nationalfeiertag gilt nach wie vor: Auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung – oder des Beitritts – konnten die Folgen einer fast 40jährigen Teilung nicht kompensiert bzw. aufgehoben werden. Stattdessen muß konstatiert werden, daß viel Arges im Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen bereits 1990 angelegt wurde. Nach wie vor ist man in Folge einander vielfach fremd geblieben.
Das beste Mittel gegen diese Fremdheit ist der Austausch. Und zwar noch mehr als vor allem in den sozialen Medien die Vertreter des Mainstreams nach jedem unbotmäßigen Wahlverhalten der „Ossis“ nach dem Reiseboykott geschrien wird. So wie zuletzt im Juni im Fall des thüringischen Landkreises Sonneberg, dem einstigen Zentrum der deutschen Spielwarenherstellung, als der AfD-Kandidat Robert Sesselmann mit einem eindrucksvollen Ergebnis zum neuen Landrat gewählt wurde. Gerade solche Orte sollten die ersten Ziele eines „Wessis“ sein, der den Osten verstehen will.
Seit „9-11“ sind Verschwörungstheorien geradezu Massenerzählungen geworden. Zwar sind sie bis in das Mittelalter zurückzuführen, als die Mär die Runde machte, die Pest sei auf die Brunnen vergiftenden Juden zurückzuführen, aber erst in unserer Zeit hat die Vielzahl an Krisen eine Fülle von Überlegungen hervorgebracht, ihre verborgenen Ursachen und Nutznießer zu identifizieren. Aber sie betreffen nicht nur echte Krisen; auch die Abgasströme von Flugzeugen sind mit der Chemtrail-Verschwörung Inhalt recht amüsant-bizarrer Erklärungsversuche, die von ihren Vertretern vollkommen ernst gemeint sind. Daneben findet sich „9-11“ als Inszenierung amerikanischer Geheimdienste, zum bis heute ungeklärten Mord an JF Kennedy von 1963 oder dem umstrittenen Engagement sogenannter „Philanthropen“ wie George Soros und Bill Gates, letzterer im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.
Am vergangenen Wochenende vom 15.-17.9.2023 versuchte an der Evangelischen Akademie Hofgeismar ein interaktiver Workshop – NARRATIVE GEHEIMER WELTVERSCHWÖRUNGEN – der Natur der Verschwörungstheorien auf den Grund zu gehen und den Teilnehmern Hilfestellungen mitzugeben für den Umgang mit solchen Erzählungen in ihrem Umfeld. Um es vorweg zu sagen: Das Konzept wies einige inhaltliche Schwächen auf.
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Die von der Sozialpsychologin Jana Schneider (cultures interactive e.V.) geleitete und dem Studienleiter Michael Nann verantwortete Veranstaltung im Gartensaal des Schlösschens Schönburg war als Stuhlkreisrunde mit hoher Selbsteinbringung der Teilnehmer konzipiert. Die inhaltliche Vermittlung erfolgte durch interaktive Spiele mittels Multiple Choice oder auch in Rollenspielen. Die rund 20 Teilnehmer waren von mittlerem bis ins höhere Alter und teilweise nach Eigenaussage durch persönliche Erlebnisse im privaten Umfeld für das Thema sensibilisiert.
Die erste Übung am Freitagabend offenbarte auch das erste inhaltliche Defizit der Veranstaltung: Die in Dreiergruppen von jedem vorgestellte, auf sich selbstbezogene einfache Sachaussage wie beispielsweise „Ich habe eine Katze“ sollte dem jeweiligen als Fake oder Fakt identifiziert werden. An dieser Stelle hätte eine Definition und Erörterung der Begrifflichkeiten „Fake und Fakt“, „Wahrheit und Lüge“ stehen müssen! Das wäre natürlich nicht ohne Risiko gewesen. Denn gerade die Corona-Pandemie hat deutlich aufgezeigt, wie schnell scheinbare Gewissheiten, die gegen alle Kritik abgeschirmt und absolut gesetzt wurden, sich eben als Fake entpuppten, sei es die Wirksamkeit der Masken, die angebliche „Tyrannei der Ungeimpften“ oder die selbst von Karl Lauterbach als nebenwirkungsfrei angepriesenen mRNA-Impfstoffe. Jakob Hayner griff hierzu in der WELT 18.3.2023 ein recht treffendes Bonmot der Querdenkerszene auf: „Was ist der Unterschied zwischen einer Verschwörungstheorie und der Wahrheit? Ungefähr zwölf Monate.“
Das Problem läßt sich auch auf andere Bereiche ausweiten: Wie viele Geschlechter gibt es? Ist ein als Frau verkleideter Mann, der sich als Frau identifiziert, tatsächlich eine Frau? Die „falsche“ Antwort kann einem teuer zu stehen kommen und sogar Karrieren ruinieren.
Doch genau diese kritische Art der Auseinandersetzung erfolgte in Hofgeismar nicht und wäre, was im weiteren Verlauf noch deutlicher wird, auch kaum erwünscht gewesen.
Teilweise fragwürdig und holzschnittartig war die Einordnung konkreter Sachverhalte in das Schema der Verschwörungstheorie. Immerhin wies man im Publikum auch auf die fragwürdigen Seiten des Finanzspekulanten George Soros, der mit seinen üblen Spekulationen ganze Währungen ins Wanken brachte, und auf den Microsoft-Begründer Bill Gates, der u.a. dem „Spiegel“ viel Geld spendete, hin. Als klassisch wurden hierzu auch die Verschwörungserzählungen um Corona gezählt, wie auch der gegenwärtige Krieg Russlands gegen die Ukraine, dessen Einordnung als Angriffskrieg durchaus zutreffend ist, aber in der stereotypen und fast schon dogmatischen Verwendung dieses Begriffs zu einer Ausblendung der komplexen Vorgeschichte und der westlichen Einmischung führt.
Mit den letzten beiden Beispielen kann auch aufgezeigt werden, daß Verschwörungserzählungen neben den von der Referentin Schneider aufgeführten zwei Funktionen auch noch eine dritte einnehmen können. Richtig ist, daß Verschwörungserzählungen zum einen der Stabilisierung des Selbstbildes ihres Verfechters dienen. Zum anderen aber auch genutzt werden zur Verfolgung wirtschaftlicher Interessen, indem die „Gurus“ der Szene die Verschwörungsgläubigen abschröpfen. Verschwörungserzählungen haben aber noch eine dritte, weitgehend unbeleuchtete Funktion, nämlich als Kampfbegriff, um sich im Sinne eines gedankenbeendenden Klischees gegen unangenehme Kritik zu immunisieren.
In gemeinsamer Runde wurden den Verschwörungsgläubigen anhand von Studien bestimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben. So seien sie pessimistischer, seien sie durch persönlich schwierige und stressige Umstände empfänglicher für Verschwörungserzählungen und kritischer gegenüber Machtstrukturen und staatliche Einrichtungen. Sie erfahren Armut oder Marginalisierung und suchen die Ursache in Einzelpersonen und nicht im System. Ein besonderer Risikofaktor sei das Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein, ein Merkmal, das allerdings nicht weniger auf die im weit linken und woken Bereich stehenden Social Justice Worriors zutrifft, die allerdings im Gegensatz zu den in der Regel rechts verorteten Verschwörungsgläubigen kaum Problematisierung erfahren.
Doch sehr fragwürdig ist die weitere Etikettierung als „wissenschaftsfeindlich“. Auch wenn Studienleiter Nann das Gegenteil behauptete, so war die Corona-Zeit durchzogen mit einer von oben bestimmten, einseitigen Schein-Debatte, in der auch mit Hilfe einer willfährigen Presse kritische Stimmen regelrecht marginalisiert und ausgegrenzt wurden.
Und noch am Morgen des gleichen Tages konnte der Berichterstatter in der WELT lesen, wie mit einseitigen, apokalyptischen Klimastudien Politik betrieben wird. Es gibt in unserer Zeit nichts dümmeres als die Parole „Folge der Wissenschaft“, besonders wenn man nicht verinnerlicht hat, daß jede wissenschaftliche Erkenntnis generell als vorläufig bis zu ihrer Verifizierung bzw. Falsifizierung anzusehen ist und selbst danach noch durch neue Methoden oder Erkenntnisse verändert werden kann.
Oder um ein polemisches Bild zu verwenden: Vor 500 Jahren war die Ansicht, die Sonne drehe sich um die Erde – und nicht umgekehrt – wissenschaftlicher Konsens, obwohl es damals durchaus Astronomen gab, die es besser wußten und aus Angst schwiegen. Und die katholische Kirche hätte mit den modernen Methoden des „false Balance“ Kopernikus besser erledigen können als mit der Drohung des Scheiterhaufens.
Doch letztlich mache die Mehrheit der Verschwörungsgläubigen bei Kundgebungen wie der Kasseler Corona-Demo vom März 2021 nur aus einem Grund mit: „Hauptsache dagegen!“ Das mag sein, doch haben die Veranstalter hier die Ambiguität übersehen. Denn genauso gut läßt sich kritisch nach der Motivation der Masse derer fragen, die dem gängigen Corona-Diskurs und den Impf-Aufforderungen folgten. Es wäre wohl kaum eine Überraschung, wenn hier die meisten von ihnen Antworten geben würden wie „Ich wollte meine Ruhe haben“ oder gar den Klassiker des autoritätshörigen Mitläufertums: „Die da oben werden es schon wissen.“
Geradezu erstaunlich ging es in der Statistik der Verschwörungsgläubigen zu. Rund jeder zweite Deutsche hat eine Neigung, solchen Erklärungsmodellen anzuhängen. Parteipolitisch fallen Anhänger der AfD dabei besonders auf (52,9 Prozent), während hingegen die Grünen-Anhänger mit nur 6,3 Prozent angeblich am unempfindlichsten sind! Das ist insofern erstaunlich, weil gerade die Grünen bei jedem Gegenwind, der ihnen entgegen bläst, eine rechte Verschwörung wittern und überhaupt die Republik gegen jede Realität kurz vor dem Kippen nach rechts sehen, einer „fossilen Lobby“ die Bekämpfung des Klimaschutzes unterstellen und sogar soweit gehen, den deutschen Sprachkundlern des 19. Jahrhunderts durch die Festlegung auf das generische Maskulinum eine Verschwörung zur Marginalisierung des weiblichen Geschlechtes zuzuschreiben. Aber wahrscheinlich wurde in den entsprechenden Studien nicht nach solchen Verschwörungsnarrativen gefragt.
Zu guter Letzt wurde in einem Rollenspiel der Umgang mit den Verfechtern von Verschwörungserzählungen geübt. Eigene Grenzen setzen, sich empathisch geben, statt das Gegenüber unter Druck zu setzen, nicht mit Fakten auf der inhaltlichen Ebene argumentieren – schnell ist man auch nach dem Eindruck mancher Teilnehmer hier in der als unangenehm empfundenen Rolle des Therapeuten. Die Vorgaben des Rollenspiels trieften geradezu vor Klischees:
„Vor dir sitzen Peter (59), Lastkraftwagenfahrer aus Sachsen, und seine Tochter Annika (26), Kunststudentin in Düsseldorf. Früher haben die beiden in der familiären Werkstatt jeden Sonntag Metallfiguren gebastelt und geschweißt. Seit Annika zum Studium weggezogen ist, haben die beiden sich merklich entfremdet, sowohl in Alltagsfragen als auch in ihren Weltanschauungen. Beide wünschen sich, dass sich ihre Beziehung wieder verbessert und sind belastet durch die aktuelle Situation. (….)“
Und der Abschluss der Veranstaltung machte den Eindruck, womit man es in diesem interaktiven Workshop eigentlich zu tun hatte, endgültig rund: In der Auflistung der Anlaufstellen, wo man sich wegen Verschwörungstheorien hinwenden kann, standen auch die „Faktenchecker“ von Correctiv wie auch die Amadeu-Antonio-Stiftung.
Verschwörungstheorien zur Welterklärung können durchaus einen problematischen Charakter annehmen, vor allem wenn sie vollkommen absurden Inhaltes sind und zum tragenden Element für das eigene Selbstbild werden und den Betreffenden in eine Tunnelperspektive führen, mit durchaus beträchtlichen negativen Auswirkungen für das soziale Leben. Hierfür stehen beispielhaft fundamentalistische Sekten wie die Zeugen Jehovas, für die Verschwörungstheorien konstitutiv sind. Auch schreiben die Verfechter von Verschwörungstheorien den jeweiligen Akteuren eine derart außerordentliche Macht die Dinge zu lenken zu, die der Komplexität des Lebens regelrecht widerspricht. Jedoch sind Verschwörungstheorien oft identisch mit tatsächlichen Verschwörungen, wenn sie sich als wahr erweisen. Die Grenze ist fließend und kann sich bei neuen Erkenntnissen verschieben.
Das beste Beispiel hierfür ist Corona, wo sich Referentin, Tagungsleiter wie Teilnehmer des Workshops offenbar noch in den ausgetretenen Bahnen eines längst überholten Diskurses bewegten. So war eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Verschwörungstheorie und wer solchen Erzählungen aus welchen Motiven anhängt, nicht zu erwarten. Da konnte der Gartensaal des Schlösschens Schönburg zwangsläufig nur zur Echokammer werden.
„Da waren die Städte, Mikrokosmen des menschlichen Gemeinwesens, riesige Wesen von sehr stark individuellem Charakter, die ihre Bewohner durch Gewohnheit, durch Liebe und durch die unsichtbaren Fäden an sich banden, die auch die ersten Menschen aneinandergebunden hatten, denn außerhalb der Wärme des vom Feuer beleuchteten Kreises herrschte Dunkelheit und beobachtete sie das Unbekannte mit wölfischen Augen“ („Die letzten Städte der Erde“, C.J. Cherryh)
Menschliche Zivilisation ist nicht denkbar ohne Urbanisation. Erst mit der Gründung von Städten kulminierten die schöpferischen und sozialen Potentiale des Menschen derart, daß ohne sie kein technologischer Fortschritt, kein Wohlstand denkbar wären. Hier vollzog sich vielfältigster Austausch und Wandel auf engstem Raum und strahlte wiederum aus auf andere Städte. Über die meisten der ersten Stadtgründungen wie Ur und Babylon legt sich schon lange der Staub. Und doch ist einigen von ihnen schon eine lange Lebensdauer beschert und wir blicken inzwischen zurück auf eine lange und rumreiche Vergangenheit.
1981 wagte die amerikanische Science-Fiction-Schriftstellerin C.J. Cherryh einen literarischen Blick in die Zukunft einiger der berühmtesten und bedeutendsten Kapitalen der Menschheit. „Die letzten Städte der Erde“ – 1985 in deutscher Übersetzung im Heyne Verlag erschienen – vereinigt sechs Erzählungen über die Metropolen Paris, London, Moskau, New York, Peking.
Aus dem umfangreichen Opus von Cherryh sticht dieses Buch insofern heraus, daß es sich nicht eindeutig der Science-Fiction zuordnen läßt. Seit sie 1976 mit „Brüder der Erde“ ihren Durchbruch feierte – zu einer Zeit, als dieses Genre fast eine reine Männer-Domäne war -, blieb sie innerhalb des Rahmens der Space Opera bzw. der Hard-Science-Fiction. In „Die letzten Städte der Erde“ sind jedoch mit dem Auftreten von Geistern auch Elemente der Fantasy enthalten. Zudem steht es als Einzelwerk für sich alleine, denn üblicherweise überspannen Cherryhs Romane ganze Zyklen wie den der „Chanur“ oder den „Alliance-Union-Zyklus“.
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Cherryhs „Die letzten Städte der Erde“ liest sich wie ein Trauerlied. Dazu passt schon die Einbettung in eine künftige, sehr weit entfernte Epoche, in der „die Sonne matt geworden war und von Krankheiten befallen, bevor der Mond glühend und riesig am Himmel hing, in den Raumhäfen die Schiffe von den Sternen weniger geworden waren und der Gründe für Ambitionen noch weniger.“ Von Hyper-Technologie ist darin keine Spur, im Gegenteil, atavistische Tendenzen, also Rückschläge in vergangene Muster, haben sich eingestellt.
Die erste Erzählung „Der einzige Tod in der Stadt“ ist Paris gewidmet. Sie wuchs derart in Breite und Höhe, so daß sie nun den Fluß „Sin“, die einstige Seine, umschloß. Das Leben ist gezeichnet in dem Zyklus von Tod und Wiedergeburt. Es ist die Geschichte von Jade Alain und Onyx Ermine, die jeweils verschiedenen bedeutenden Häusern angehören. Alains Liebe zu Ermine erwidert diese mit einer zynischen Wette. Sie wird ihn heiraten, jedoch: „Du wirst nach diesem vierten Jahr den Tod erleiden, und ich werde im nächsten Leben nichts mit dir zu tun haben.“ Aber der Tod wird bei dieser Wette noch ein Wort mitreden…
Die vielleicht beste Erzählung ist „Der Spukturm“, angesiedelt in London. Der am Themseufer stehende Tower scheint die Konstante dieser Stadt sein. Die einst im Mittelalter errichtete Festung findet in dieser weit entfernten Zukunft wieder zurück zu ihrer früheren Bestimmung, als Gefängnis für bedeutende Personen. Dieses Mal trifft es Bettine Maunfry, die Geliebte des Bürgermeisters, die unwissentlich zum Spielball einer Intrige um dessen korrupte Machenschaften gerät und dabei zum Auslöser einer Revolution gegen seine Herrschaft wird. Doch vorher trifft sie in ihrem Verlies auf die Geister von Richard und Edward, jene zwei kleinen Prinzen, die vermutlich an ebendiesem Ort einem durch ihren Onkel, den englischen König Richard III. (1452 – 1485), in Auftrag gegebenen Mord zum Opfer fielen. Ebenso lernt sie den Geist von Marcus Atilius Regulus kennen, ein Legionär, der während der römischen Zeit Britanniens zu Tode kam und sich Bettine als Psycho-Pomp, ihren Seelenführer in das Jenseits, anbietet.
„Eis“ ist der Moskau gewidmete Titel und passt auch hervorragend in das Sujet dieser Stadt, die schon durch ihre geographische Lage besonders den winterlichen Härten ausgesetzt ist. Andreij Gorodin ist der Protagonist dieser Erzählung, der auf seinem Pony reitend, bewaffnet mit einem Bogen, außerhalb der Mauern dieser Stadt sein Jagdglück versucht. Dem eisigen Winter zum Trotz bietet der Anblick der Stadt etwas Erhabenes: „Nur die Schönheit existierte, die über Moskva lag und die die Stadt umgab. Sie würde ihm den Geist rauben oder ihn das Augenlicht kosten.“ Doch er ist nicht allein auf der Suche nach Beute. Auch die Wölfe sind auf seiner Spur.
Rom, auch die „Ewige Stadt“ genannt, wird aus dem Lotuspalast heraus regiert von Elio DCCLII (dem 752.), einem zwölfjährigen Tyrannen, „bockig, verdorben, gefährlich.“ Die Dekadenz, der diese Stadt – wie auch die übrige Erde – verfallen ist, zeichnet sich durch die Sucht nach Vergnügungen und Träumen aus; Träume, denen ein Apparat realistische Nähe verleiht. Der Inhalt dieser Träume ist die Menschenjagd – „Nächtliche Spiele“. Und wehe, wenn der Tyrann kein Vergnügen an seinen Träumen findet…
Einzig die Hommage auf New York – „Der Highliner“ – wirkt futuristisch. Es ist eine Parabel auf die wohl unausrottbare Korruption, unter der die Stadt traditionell leidet. Johnny Tallfeather gehört zur Gruppe der Highliner, die in den oberen Bereichen der gigantischen Wolkenkratzer Wartungs- und Reparaturarbeiten vornehmen. Es ist eine harte und sehr gefährliche Arbeit, der er und seine Schwester Sarah mit entsprechendem Selbstbewußtsein nachgehen. Eine Betreibergesellschaft setzt ihn und seine Mannschaft unter Druck, für ein Schmiergeld im entscheidenden Moment wegzusehen. Widerwillig läßt sich Johnny auf den Deal ein. Doch die Gegenseite spielt falsch, und seine Schwester erleidet einen tödlichen Unfall. Johnny sinnt auf Rache…
In „Der General“ wiederholt Cherryh das historische Muster, daß dem chinesischen Peking in seiner Geschichte oft widerfahren ist, die blutige Eroberung durch Usurpatoren und Invasoren. Wie im Mittelalter ist die Stadt bedroht durch einen Barbarenhäuptling, der seine Karriere mit dieser besonderen Beute krönen will. Die Bewohner der „Stadt des Himmels“ wirken hilflos im Angesicht der Gefahr, die sich aus den Weiten des Westens kommend vor den Mauern der blühenden Verbotenen Stadt aufbaut. Selbst ihre Soldaten haben das Kämpfen verlernt. Peking „liebte ihr Alter. Sie fand das Leben schön. Sie wußte kein großes Ziel mehr für sich, denn ihr letzter Zug nach draußen lag schon lange zurück; sie ruhte am Ende der Tage.“ Doch was treibt Yilan Baba, Vater Schlange, wie der Barbaren-General von seinen Männern genannt wird, wirklich nach Peking? Ist sein Eroberungszug nur eine Inszenierung, hinter der er tatsächlich etwas ganz anderes verbirgt?
Fantasy trifft Science-Fiction trifft Historik – die Geschichten der „Letzten Städte der Erde“ sind Tragödien des Niedergangs, von Cherryh formuliert in einer außerordentlich poetischen Sprache. Das Buch ist dabei aber durchaus auch tagespolitisch zu verstehen durch das darin enthaltene tragende Motiv des zwangsläufigen Niedergangs der Zivilisation durch die Dekadenz ihrer Menschen. Hier bricht deutlich die weitgereiste Altphilologin in ihr durch, die vor ihrer preisgekrönten Karriere als freie Schriftstellerin Alte Geschichte unterrichtete. Letztlich ragt das Buch wie ein Kleinod heraus aus dem Gesamtwerk einer der außergewöhnlichsten Autorinnen der Science-Fiction. Es ist ein Klassiker, den jeder Liebhaber der Scifi gelesen haben sollte.
Am 1. September 1942 in St. Louis / Missouri geboren, feiert C.J. Cherryh (eigtl. Caroline Janice Cherry) heute ihren 81. Geburtstag.
C.J. Cherryh Die letzten Städte der Erde 236 Seiten Heyne, 1985 Nur noch antiquarisch erhältlich
„Vaughan entfaltete seine ganze Obsession für mich, besessen von der mysteriösen Erotik der Wunden: die perverse Logik von im Blut schwimmenden Armaturenbrettern, exkrementverschmierten Sicherheitsgurten, mit Hirnmasse gezierten Sonnenblenden. Bei Vaughan löste jeder Unfallwagen ein Zucken der Erregung aus, die komplexe Geometrie eines eingedrückten Kotflügels, die unerwarteten Varianten eines zerquetschten Kühlergrills, die groteske Position eines verborgenen Armaturenbretts, das über die Genitalien eines Fahrers ragte wie in einem wohlbemessenen Akt maschineller Fellatio. Die Intimität von Zeit und Raum eines einzelnen Menschenwesens war in diesem Gewebe aus verchromten Messern und mattiertem Glas für die Ewigkeit erstarrt.“ (JG Ballard, „Crash“)
Als 1973 „Crash“ erschien, war der Brite James Graham Ballard (1930 – 2009) bereits ein etablierter Schriftsteller. Mit in der Science-Fiction angesiedelten Romanen wie „Karneval der Alligatoren“ oder auch „Welt in Flammen“ schuf er die Vorläufer dessen, was man heute in der Literatur Climate Fiction nennt. Doch ging es ihm nie um die Warnung vor den Folgen eines Klimawandels, der seinerzeit noch lange kein Thema war. Ballards Frühwerke sind „Literatur der psychologischen Erfüllung“. Seine Protagonisten sind darin Einzelgänger, die den Weg ihrer Erfüllung durch impressionistische Extrem-Landschaften suchten.
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„Crash“ stellte jedoch gegenüber all seinen Vorgängern ein radikales Wagnis dar, letztlich sogar ein Risiko für seinen Autoren. Darin findet sich eine seltsame Gruppe zusammen, die eine bizarre Besessenheit verbindet: Die Sucht nach dem Kick, den ein Autofahrer im simultanen Zusammentreffen von sexuellem Höhepunkt und Verkehrsunfall empfindet. Sein Ich-Erzähler, dem er seinen eigenen Namen gab, kommt nach einem schweren Zusammenstoß mit einem anderen Wagen, dessen Fahrer dabei verstirbt, auf den Geschmack. Im Krankenhaus trifft er erstmals auf Vaughan, die „Antichrist-Figur“ des Romans, der ihm zu einer Art Mentor für diese neue Leidenschaft wird. Es wird für Ballard zu „einer langen Strafexpedition in mein eigenes Nervensystem“. Angeleitet von Vaughan ersinnen beide immer bizarrere Formen von Autounfällen mit kopulierenden Insassen: „Die deviante Technologie des Autounfalls bewilligte jeden denkbaren Akt der Perversion.“
Gemeinsam fahren sie durch die Gegend, zwei Voyeure auf der Suche nach Autounfällen. Der Kreis erweitert sich durch Catherine, die Ehefrau des Erzählers, sowie Helen Remington, der Ehefrau des bei dessen Unfall verunglückten Mannes, die auch noch als Beifahrerin mitbeteiligt war. Vaughans größter Traum ist der automobile Zusammenstoß mit der Filmschauspielerin Elisabeth Taylor, bei dem beide ums Leben kommen.
Explizite Beschreibungen von sexuellen Akten während Autofahrten in allen Details ziehen sich durch den Plot, daß man das Gefühl bekommt, man hielte einen Porno in den Händen, aus dessen Seiten Sperma und Vaginalsekret nur so tropfen. Doch „Crash“ läßt auch die Lesart einer radikalen, übersteigerten Zivilisationskritik zu. Es gehört mit Ballards nachfolgenden Romanen „Die Betoninsel“ (1974) und „Der Block“ (1975) zu einem literarischen Triptychon, perfekt eingepasst in den Zukunftspessimismus der 1970er Jahre. Erstmals wurde damals die Frage aufgeworfen, ob die Menschheit den negativen Auswirkungen des technologischen Fortschritts noch gewachsen sei. Das Versprechen der automobilen Gesellschaft hat die Landschaft mit Straßen voller stinkender Fahrzeuge planiert und zergliedert. Das Auto als auch sexuelle Attraktivität ausstrahlendes Statussymbol fordert von seinen Besitzern immer größere finanzielle Opfer und erzwingt geradezu eine Entwicklung zu immer größeren Modellen, an deren Spitze heute die als SUV (Sport Utility Vehicle) bekannten Stadtpanzer stehen. Und unweigerlich kommt einem bei „Crash“ der Gedanke an die illegalen Autorennen mit oftmals tödlichem Ausgang, die ohne die Virilität der testosterongeschwängerten Fahrer nicht zu denken sind. Ballards Idee der Verbindung von Sex und Technologie ist von der Realität gar nicht so weit entfernt.
„Crash“ ist ein extrem harter, provozierender und herausfordernder Stoff. Kaum verwunderlich, daß die Reaktionen darauf nicht gerade euphorisch ausfielen. Der Autor und Scifi-Experte Charles Platt berichtete nach einem Interview mit Ballard:
„[Crash] war ein ausnehmend perverser, verstörender und gestörter Vorstoß in die Bereiche von Sadismus und Tod, und ich weiß noch, wie er glücklich lachte, als er mir erzählte, dass eine Frau, die das Buch für den Verlag gelesen hatte, erklärt hatte, dem Verfasser sei ‚medizinisch nicht mehr zu helfen.‘“
Kurioserweise erlitt Ballard zwei Wochen nach Veröffentlichung von „Crash“ selbst einen schweren Unfall. Im Nachhinein vermutete er, „wäre ich bei dem Unfall uns Leben gekommen, hätte man das wahrscheinlich als Vorsatz interpretiert, jedenfalls auf der unterbewussten Ebene, als Kapitulation vor den dunklen Mächten, die den Roman hervorgebracht haben.“
Die Inspiration für die in „Crash“ vertretene „Hypothese über die unbewusste Verbindung zwischen Sex und Autounfällen“ bezog der Autor in einer von ihm 1970 organisierten Kunstausstellung im New Arts Laboratory in London. Für einen Monat wurden dort drei auf Schrottplätzen gekaufte Unfallwagen ausgestellt. Kameras nahmen die Besucher bei ihrem Rundgang auf, den sie auf Monitoren selbst ansehen konnten. Eine junge Frau sollte die Besucher nackt nach ihren Empfindungen fragen. Nachdem ihr nach anfänglicher Zustimmung Bedenken kamen, trat sie nur oben ohne auf. So wie die Ausstellung bei der Eröffnung zu entgleiten drohte, schien sie Ballards Hypothese akkurat zu bestätigen. Ballard schrieb hierzu in seiner Autobiographie „Wunder des Lebens“:
Ich bestellte eine erhebliche Menge Alkohol und ließ den ersten Abend wie eine Galerieeröffnung ablaufen, zu der ich verschiedene Schriftsteller und Journalisten eingeladen hatte. Ich habe noch nie erlebt, dass sich Besucher einer Kunstgalerie so schnell betrunken haben. Es lag eine ungeheure Spannung in der Luft, als wären alle durch eine innere Alarmglocke aufgeschreckt worden. Hätten sie draußen auf der Straße geparkt, hätte niemand die Automobile bemerkt, aber im grellen Licht der Galerie schienen die verwüsteten Karosserien zu provozieren und zu beunruhigen. Wein wurde auf die Autos geschüttet, Scheiben eingeschlagen, das Oben-ohne-Mädchen um ein Haar auf dem Rücksitz des Pontiac vergewaltigt (behauptete sie jedenfalls; später schrieb sie eine vernichtende Rezension unter dem Titel »Ballard Crashes« in der Undergroundzeitschrift Frendz). Eine Journalistin von New Society begann in dem Durcheinander ein Interview mit mir, wurde aber derart von ihrer Entrüstung (von der die Zeitschrift einen grenzenlosen Vorrat besaß) übermannt, dass man sie festhalten musste, damit sie sich nicht auf mich stürzt.
Es sollte noch fast 25 Jahre dauern, bis „Crash“ verfilmt wurde. Erst in den 1990er Jahren war die Zeit hierfür reif genug. Der Erfolgsregisseur David Cronenberg („Die Fliege“, „Naked Lunch“) nahm sich 1996 des Stoffs an und führte die Hollywoodschauspieler James Spader („Stargate“, „The Blacklist“), die Oscar-Preisträgerin Holly Hunter („Das Piano“), Elias Koteas, Deborah Kara Unger sowie Rosanna Arquette zu einem eindrucksvollen Cast zusammen, das gewährleistete, daß „Crash“ nicht zu einem verunglückten Softporno missriet. Seltsamerweise geriet der Film in Ballards Heimat zu einem ausgewachsenen Skandal, als konservative Politiker zum Sturm gegen ihn bliesen. Die Veröffentlichung des Romans selbst zog seinerzeit bei weitem keine vergleichbaren Reaktionen nach sich. Hingegen feierte der Film in Frankreich, wo man mit „Die Marquise von O.“ bereits auf eine gewisse Erfahrung mit provozierenden Filmen zurückblicken konnte, geradezu euphorische Erfolge.
Cronenberg sagte zu seinem Film: „Ich denke, wenn man CRASH gesehen hat, und danach einen intensiven, emotionalen Zustand empfindet, den man aber nicht klar benennen kann, dann hat der Film richtig funktioniert.“ Weder für das Buch noch den Film gibt es eine Garantie, daß dieser Zustand beim Zuschauer bzw. Leser eintritt. „Crash“ ist härtester Stoff, auf den man sich einlassen muß. Und trotzdem werden nicht wenige Leser dem vernichtenden Urteil über den Autor, dem „medizinisch nicht zu helfen“ sei, nicht widersprechen wollen. Ballard hat diese scharfe Kritik humorvoll an sich abperlen lassen. Denn ihm ist mit „Crash“ das gelungen, was sich vermutlich nicht wenige Schriftsteller wünschen: Ein enigmatisches Werk zu schaffen, das seinen Verfasser noch lange überdauert.
James Graham Ballard Crash Diaphanes 2019, 240 Seiten, 20,- Euro
CRASH Regisseur: David Cronenberg Mit James Spader, Holly Hunter, Elias Koteas, Deborah Kara Unger, Rosanna Arquette 1996 1h:40 Min.
„Jetzt bin ich zum Tod geworden, zum Zerstörer der Welten.“ J. Robert Oppenheimer, die „Bhagavad Gita“ zitierend, eine der zentralen heiligen Schriften des Hinduismus
Am 16. Juli 1945 brach für die Menschheit eine neue Ära an. Mit der in der Wüste von New Mexico erfolgreich gezündeten Atombombe, der ersten ihrer Art, verlief der abschließende „Trinity-Test“ erfolgreich. Es war der Eintritt der Menschheit in das nukleare Zeitalter. Im nachfolgenden August radierten die USA mit zwei weiteren Kernwaffen die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki aus. Damit gingen die USA nicht allein als unbestreitbare Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervor, sondern als unbestreitbar dominierende Weltmacht. Nie zuvor verfügte die Menschheit über eine Waffe von derartiger Zerstörungskraft, die über das Potential der Vernichtung der ganzen Welt verfügte. Erst drei Jahre zuvor hatten die USA im Manhattan-Projekt in Los Alamos unter größter Geheimhaltung mit der Entwicklung dieser Waffen begonnen, in einem imaginierten Wettlauf mit Nazi-Deutschland. Der Leiter dieses Projektes war der geniale Physiker J. Robert Oppenheimer (1904 – 1967).
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Fast 70 Jahre nach „Trinity“ sorgt Meisterregisseur Christopher Nolan („Batman“, „Inception“) für den größten Wurf des Kinojahrs 2023: „Oppenheimer“ ist das epische Biopic des Vaters der Atombombe. Die Hauptrolle besetzte er mit Cillian Murphy („Peaky Blinders“), der damit vermutlich Colin Farrell und Liam Neeson als die berühmtesten und bedeutendsten Hollywood-Schauspieler aus Irland überholt haben dürfte. Denn so wie Leslie R. Groves – im Film verkörpert von Matt Damon – als militärischer Leiter des Manhattan-Projektes keine klügere Entscheidung treffen konnte, als Oppenheimer für die wissenschaftliche Leitung auszuwählen, so erging es Nolan mit Murphy, mit dem er bereits in früheren Produktionen tragende Nebenrollen besetzt hatte.
Die Irish Times hob in Murphys Auftreten seinen „saphirblauen Blick und die gewundene Intensität“ hervor, die ihn mit einem Millionenpublikum vertraut machten. Über seine Rolle im neuen Nolan-Blockbuster sagte er: „Ich liebe es, mit meinem Körper darzustellen, und Oppenheimer hatte eine sehr deutliche Körperlichkeit und Silhouette, die ich richtig wiedergeben wollte.“ Murphy verlor zur Vorbereitung auf die Rolle massiv an Gewicht, um Oppenheimers dürre Figur zu erreichen, angeblich aß er dazu nur eine Mandel am Tag.
Doch nicht nur die äußere Gestalt Oppenheimers vermochte Murphy perfekt darzustellen, auch seine innere Zerrissenheit, seine privaten Tragödien, seine plagenden ethischen Zweifel über den Einsatz der Bombe und wie er nach Ende des Zweiten Weltkriegs bemüht war, den mit ihr verbundenen Ungeist unter Kontrolle zu halten. In Murphys Schauspielkarriere ist „Oppenheimer“ seine bislang größte Rolle, und es dürfte keine Überraschung sein, wenn sie ihm den Oscar einbrächte.
Nolans Erzählweise ist keine linear-chronische. Die verschiedenen Abschnitte aus Oppenheimers Lebens wechseln übergangslos mit Rückblenden ab. Dazu in Schwarz-weiß jene Szenen, die von Oppenheimers heimlichem Gegenspieler Lewis Strauss bestimmt sind, einem Geschäftsmann und Politiker, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus kleinlicher Rachsucht einen intriganten Feldzug gegen Oppenheimer führte, der dann am Ende doch auf ihn selbst zurückfiel. In der Rolle von Strauss, kaum wiederzuerkennen, sorgte Robert Downey Jr. für eine der Überraschungen des Films.
Auch auf die Gefahr hin zu spoilern: Die Zündung der Trinity-Bombe, der inszenatorische Höhepunkt in dem ansonsten für Nolan-Verhältnisse an Spezialeffekten eher armen Film, haut das Publikum geradezu in die Sitze. Doch weniger diese Szene sollte dem Zuschauer in Erinnerung bleiben, als die, in denen das komplexe und konfliktträchtige Wirkungsverhältnis zwischen Wissenschaftler, Politikern und Militärs zum Tragen kommt, bei dem letztlich die Ethik auf der Strecke geblieben ist. Geradezu verblüffend, aber auch beklemmend, wirkt die Anwendung des uns heute so vertrauten Machtinstruments der Kontaktschuld, wenn es darum ging, Wissenschaftler wie Oppenheimer bloßzustellen. Wie sich die Dinge ändern und doch alles gleich bleibt: Ging es damals um Verbindungen zu Kommunisten – gerade im akademischen Umfeld der damaligen Zeit alles andere als ungewöhnlich – so kann heute der Kontakt zu allem und jedem, was „rechts“ ist, zum existenzbedrohenden Vorwurf gemacht werden. Die Führungselite des Landes, das er so sehr liebte, machte ihn noch zum Sündenbock für den damals ohnehin absehbaren nuklearen Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion und den Verlust des atomaren Monopols durch einen unter Oppenheimer in Los Alamos arbeitenden Sowjetspion. Am Ende steht die bittere Erkenntnis: Selbst in einer Demokratie, wie in den USA, war Oppenheimer nicht davor geschützt, vorgeblich aus Gründen der nationalen Sicherheit regelrecht zersetzt zu werden.
Nolans Grundlage für seinen „Oppenheimer“ war die 2010 erschienen Biographie von Kai Bird und Martin J. Sherwin. In ihrem Vorwort schrieben sie:
„Der rebellische Halbgott Prometheus stahl Zeus das Feuer und brachte es den Menschen: Oppenheimer brachte uns das atomare Feuer. Als er jedoch nach Möglichkeiten suchte, es zu beherrschen, als er versuchte, uns vor dessen fürchterlichen Gefahren zu warnen, erhoben sich die Mächtigen – wie weiland der zornige Zeus -, um den modernen Prometheus zu strafen.“
Heute, mehr als ein Jahr nach Beginn eines bis dahin nicht für möglich gehaltenen Kriegs in Europa, in welchen eine der führenden Atommächte mit dem weltweit größten Kernwaffenarsenal der Welt direkt verwickelt ist und die größte Atommacht der westlichen Welt indirekt, sind Oppenheimers Warnungen aktueller denn je. Der (Un)Geist, den Oppenheimer aus der Flasche ließ, wird man wohl nicht dahin zurückbekommen. Es bleibt nur die Hoffnung, daß er unter Kontrolle bleibt.
Kai Bird, Martin J. Sherwin J. Robert Oppenheimer: Die Biographie 2010, 704 Seiten 16,99 EU